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Die Wasser Siloahs

Als Alexander, der Jüngling, der wilde, strahlende, grenzenlose, die weite Asia durchmessen hatte, kam er auf seinen Zügen einstmals an einen Strom, der plötzlich und unvermutet vor den überraschten Augen der Griechen lag. Noch waren die Schreie des von dem wunderbaren Anblick überwältigten Heeres nicht erloschen, als Alexander sich schon nach seiner Jünglingsweise von den Seinen gesondert hatte und stromaufwärtsstrebend einsam am Ufer ging. Nachdem er so eine Weile des schönen Anblicks genossen hatte, kniete er mit plötzlichem Antrieb nieder und schöpfte sich Wasser, um zu trinken. Kaum hatte das Naß seine Lippen berührt, als er sehr erschrak. Denn das schöne Bild des Stromes dünkte ihn mit einem Male wie verwandelt, alle Farben waren verblaßt, und sein Ohr war einem bitteren Schmerze aufgetan, der aus der Flut wie ein dunkles Weinen aufzusteigen schien. Das Wasser, das er getrunken hatte, war von einer vollkommenen Süße, darein aber mischte sich eine Bitterkeit so furchtbarer Gewalt, daß Alexander alsbald von einer brennenden Sehnsucht ergriffen wurde, dem Laufe des Stromes nachzugehen und seine Quelle zu erkunden.

Heimkehrend hinterließ er Befehl und Weisung seinem Heere und zog bald, gefolgt von nur wenigen Getreuen, seine Straße. Keinem verriet er das Geheimnis, um das er wußte, keinem das Ziel seiner Reise. Er sah nichts und hörte nichts, da er ging, nur das Weinen des Stromes begleitete sein erschüttertes Ohr. Tagelang zogen sie so stromaufwärts der Quelle nach, immer schöner wurden die Ufer, immer fruchtbarer die Gefilde, immer schmaler das Flußbett, immer rauschender die Wasser. Eines Tages standen sie vor einer gewaltigen Mauer, die sich weit nach Osten und Westen dehnte und einen tiefen, geheimnisvollen Garten umschloß. Unter der Mauer hervor sprudelte dunkel der Fluß, der also offenbar im Innern des Gartens seinen Ursprung hatte.

Alexander hieß die Freunde an dieser Stelle warten und umging allein einen halben Tag ostwärts die Mauer, bis er an ein mächtiges eisernes Tor gelangte. Vor dem Tore herrschte ein schauervolles Schweigen, und kaum merkbare Blitze zuckten über ihm hin und her. Beherzt sprang Alexander herzu und schlug mit dem Schwerte an das Tor: »Öffnet!« rief er laut, und die Stimme hallte in der grenzenlosen Einsamkeit wider: »Ich bin's, der Herr der Erde, Alexander!« Aber da war kein Laut und keine Antwort zu vernehmen in der Runde.

»Wie?« begann er von neuem, »ein so schöner Lustpark und kein Wächter davor? Ist dies wohl gar ein Aufenthalt der Götter, den ich fand? Mir scheint, Helena und Paris in ihrer ersten Nacht, ja, selbst die herrliche Aphrodite hätte keinen schöneren Park sich wählen können für ihre Spiele. Ich aber, Alexander, verlange Einlaß, mögen nun Sterbliche oder Götter hier wohnen, denn ich bin der Eroberer der Erde!«

Als der Fürst so gesprochen hatte, fingen auf einmal hinter Tor und Mauer die Bäume paradiesisch zu rauschen an, von dem verschlossenen Tore kam ein leuchtender Glanz, und des Jünglings Ohr vernahm plötzlich einen serafischen Sang: »Dies ist das Tor des Herrn, den Gerechten wird aufgetan!« sangen unsichtbare Stimmen, wie der Jüngling sie nie gehört. Da setzte er sich schweigend in den Staub, und die Schwermut, die ihn auf seiner ganzen Wanderung den Fluß entlang begleitet hatte, stieg wieder in ihm auf. Lange saß er so. Dann erhob er sich seufzend und rief über die Mauer: »Wenn ich denn nicht zu den Gerechten gehöre, die hier eintreten dürfen, so sagt mir wenigstens, was ist es mit dem Strome des Weinens, der mich hierher geführt? Oder gebt mir, ihr Götter drüben, ein Wahrzeichen mit, damit ich den Menschen zeigen kann, daß ich dorthin kam, wohin vor mir kein Sterblicher gelangte!«

Wie Alexander so rief, raschelte es im Laube über ihm, und ein Gegenstand flog über die Mauer. Als er zusah, war es ein verdorrter Zweig vom Dornbusch, der vor ihm lag. Unmutig hob er ihn auf: »Dies also ist die Gabe,« rief er, »die das Paradies dem Eroberer der Erde zugedacht! Dies also ist der Mühe Lohn!« Schon wollte er das dürre Reisig fortwerfen, als es plötzlich auf seltsame Weise in seiner Hand zu zucken begann. Er blickte auf den Zweig, blickte auf die grünen Bäume, die über Tor und Mauer hingen und wieder spürte er das Zucken. Es zuckte aber auf so bestimmte Art und in so gewiesener Richtung, daß es Alexander mit einem Male klar war, daß hier ein höheres Wunder zu walten begann. So beschloß er, sich diesem Walten vertrauensvoll hinzugeben und befand sich, der zuckenden Rute folgend, bald wieder bei seinen Freunden. Keiner aber wagte den Fürsten zu fragen, denn sie sahen, daß seine Erregung groß war.

Schweigend, wie man gekommen war, ging es stromabwärts, und bald war das Heerlager erreicht, das jubelnd den Fürsten begrüßte. Am nächsten Morgen zog das Griechenheer weiter. Niemand ahnte, daß der Jüngling Alexander allmorgendlich ein dürres, dorniges Reis als sein Schicksal befragte, das ihn nach Süden wies, wo nach vielen Tagen seinem siegreichen Heere die schönen Gefilde eines Landes winkten, das seine Bewohner mit dem stillen Namen Kanaan nannten.

 

Um die Zeit, wo dieses geschah, lebte im Lande Indien, fern im Osten, der junge Königsohn Dhariputta in allem Glanze seines väterlichen Hofes. Dem fiel eines Tages das Wissen vom Leiden wie ein schwerer Stein in die Seele, er schor sich das Haupt, zog ein gelbes Büßergewand an, nahm eine hölzerne Schale und wanderte als ein bettelnder Mönch in die Welt hinaus. Das Volk aber sah den Ehrwürdigen, neigte sich vor ihm, und wo er schweigend und mit gesenkten Augen seine Bettelschale in eine Tür streckte, füllte man sie ihm mit Reis oder anderer Speise, damit der Ehrwürdige nicht Hunger litte.

Eines Tages wanderte Dhariputta durch einen dunklen Hain, als sich auf einmal die hohen, schweigsamen Bäume teilten und er sich am Ufer eines Flusses sah, der still und mild zwischen den grünen Wipfeln wallte und die schöne Welt mit Freuden spiegelte. Man hatte ihm am Morgen Salzfische in die Schale gelegt. Die wollte Dhariputta jetzt essen, darum tauchte er sie zuvor in das Wasser des Flusses, um das Salz abzuspülen. Wie er sie nun zum Munde führte, siehe, da atmeten die kleinen Fische einen gar wundersamen Duft, und ihr Geschmack glich dem der köstlichsten Fische, die je auf die Tafel seines königlichen Vaters gekommen waren. Überrascht neigte sich der Jüngling über den Wasserspiegel und schöpfte mit seiner Schale, um zu trinken. Wie nun gar der Geschmack des Wassers auf seine Zunge kam, da war es von einer himmlischen Süße, und das Ohr Dhariputtas hörte von diesem Augenblick an nichts anderes als eine große Freude um sich herum. Wie Lachen tönte es aus der Flut, und auf ihrer Glätte schwamm, wie Lotosblüte, ein vollkommenes Seligsein.

»Wie ist es denn, Dhariputta,« fragte er sich da, »wie ist es denn, daß du mit einem Male der Heimat denken mußt, die du schon lange vergaßest, des gütigen Vaters und der zärtlichen Mutter und all der Gespielen in des Vaters Hain? Welch ein Wasser hat dieser Fluß, daß du auf einmal so voll seliger Unruhe bist, wo du doch ein Ehrwürdiger sein solltest, eingedenk des Leidens und wie du es überwindest? Geh doch dem Wasser nach, Dhariputta, und forsche nach seiner Quelle, denn wahrhaftig, dieser Fluß scheint mir anderen und viel selteneren Ursprungs zu sein als die Flüsse der Heimat.«

So begann der ehrwürdige Jüngling Dhariputta stromaufwärts zu wandern und ging viele Tage weit, bis er dorthin kam, wo keine Menschen mehr wohnten, und seine Schale nur noch Wasser schöpfte aus dem Strome seiner heiteren Sehnsucht. Nachdem er so, von den Wurzeln des Waldes lebend, lange und rüstig fortgeschritten war, kam er eines Tages an eine Mauer, die sich von Norden nach Süden dehnte und die Wipfel der herrlichsten Bäume über sich sehen ließ.

»O der schöne Hain, Dhariputta,« sagte der Jüngling zu sich selbst, »o der schöne Hain! Gleicht er nicht dem Hain eines ganz ehrwürdigen Mönches oder einem der Haine, wo der erhabene Buddha dereinst geredet? Ein Hain des Versenkens, Überwindens, Erlöschens? Sicher kommt mein heiterer Fluß aus diesem Hain, ich will doch sehen, ob ich den Eingang finde.«

Da wanderte Dhariputta die Mauer entlang nach Süden und kam, nachdem er eine Meile so gegangen war, an ein hohes Tor, das war von purem Silber. Über dem Tore aber standen zwei milde Flammen in der Luft, daß der Jüngling ganz erstaunte.

Demütig und flehend klopfte er an und rief: »Tut mir auf dort drinnen, tut mir auf! Ich bins, der Büßer Dhariputta, der das Leiden der Welt erkannt hat, der überwinden will, erkennen will, erlöschen will! O tu mir auf, du heiliger Büßerhain, tu mir auf deine Schatten, deine Stille, deine Versenkung.«

Als Dhariputta also gesprochen hatte, fingen droben die Bäume zu rauschen an, und himmlische Stimmen wurden vernehmbar, die sangen jenseits der Mauer: »Dies ist das Tor des Herrn, den Gerechten wird aufgetan.«

Wie der Jüngling nun den Zaubersang hörte, das silberne Tor aber verschlossen blieb, setzte er sich traurig unter die Mauer, zog die Knie unter das Kinn und sprach vor sich hin: »Also ist es dir nicht vergönnt, Dhariputta, den schönen Hain zu sehen und den seligen Quell deiner Unrast zu finden. Also bist du noch kein Gerechter, Dhariputta, sondern ein ganz Unwürdiger bist du. Du hättest dem Strom des Lachens nicht folgen dürfen, vielleicht gibt es einen Strom des Weinens, fändest du den, so würde dir aufgetan.«

Wie der Jüngling so sprach, raschelte es über ihm, und ein blühender Mandelzweig fiel von der Mauer auf ihn herab. Er hob ihn auf, besah ihn von allen Seiten und sprach: »O Mandelblüte, Mandelblüte, was soll ich mit dir? Leiden ist die Welt, und Welken ist die Welt, und Schwinden ist die Welt, und Verbrennen ist die Welt, du aber, Mandelblüte, bist nicht die Welt.«

Wie der ehrwürdige Jüngling Dhariputta so sprach, zuckte der Zweig so heftig in seiner Hand, daß ihm seine Blüte in die traurigen Augen schlug. Da bestaunte Dhariputta das Wunder, sprach nochmals zum Zweige und erfuhr das Schlagen zum zweiten Male. Da beschloß er in seinem Herzen, es als ein Zeichen des Himmels zu nehmen und dem zuckenden Schlage zu folgen, wohin er ihn immer führte. Und nahm die Schale in die rechte, den Zweig in die linke Hand und fing wieder zu wandern an. Und als er ins Land der Menschen kam, achtete er nicht der Rede derer, die da riefen: »Sehet den Ehrwürdigen, in der einen Hand trägt er die Schale der Leiden, in der anderen die Blüte der Freuden. Garnicht ehrwürdig ist er!« –sondern ging, wohin der Zweig ihn wies. Und der Zweig war auch darum ein Wunder, daß er nicht verblühte, seine Blätter welkten nicht, seine Blüten sanken nicht, sondern durch viele Orte führte er den unruhigen, traurigen Königssohn, bis ihn die grünen Weiden eines Landes aufnahmen, dessen Name ihm wie Engelstimme tönte: Kanaan. –

 

In Jerusalem, an der Westseite der Tempelmauer, wo der hohe Turm am Walkerfelde stand, flossen die Wasser Siloahs. Mit denen hatte es folgende Bewandtnis. Kein Mensch wußte, woher das Wasser kam, denn die Tiefe der Grotte, aus der es sprudelte, hatte noch keiner erkundet. Es war nur ein schmales Rinnsal, das aus der kleinen Felsenöffnung floß. Und doch war es kein Quell, denn irgendwie war es klar, daß das Wasser ganz aus der Tiefe der Erde kam, wie denn auch der uralte Name Siloah, das ist »Wasser der Sendung« auf eine solche Herkunft hinzudeuten schien. Wer sein Ohr an die Ausflußstelle hielt, konnte deutlich ein dumpfes Brausen vernehmen, das tief unten schwoll und von mächtigen und abgründigen Gewässern herrühren mußte. Im Volke ging die Sage, daß bereits der König Salomo dieses Brausen gehört habe, und da die Wasserader gar so spärlich war, habe er versucht, die Öffnung der Grotte zu erweitern. Als seine Bauleute aber mit der Spitzhacke dem Felsen zu Leibe gingen, da versiegten, so erzählte man, die Wasser plötzlich, und die Grotte trocknete aus. Erst als durch neues Mauerwerk die Felsenöffnung wieder verengt und zugeschlossen wurde, kehrte das Wasser wieder und blieb von da an das schmale Rinnsal, das es vorher war. Seitdem hüteten Volk und Priester die Wasser Siloahs als eine geheimnisvolle und heilige Flut, und Propheten weissagten von kommenden und letzten Tagen, wo diese Wasser steigen und, nach allen Seiten strömend, das große Meer im Westen und den toten See im Osten erreichen würden. Dann würden die Wasser des Weltmeers süß, und die Wasser des toten Sees würden gesund und fischreich werden, die Bäume an ihren Ufern würden nicht aufhören zu blühen und Früchte tragen Monat um Monat. So erzählte man sich, und mit noch leiserer Stimme fügte man hinzu, daß niemand es wagen sollte, nachts zu der Felsenöffnung zu treten. Denn dann wüschen sich die abgeschiedenen Seelen der Frommen in den Wassern Siloahs, um in völliger Reinheit vor Gott zu treten und vor den heiligen Rat in der Höhe. Auch wäre das Brausen der Wasser im Erdinnern nachts so gewaltig, daß jeder, der es dann vernähme, für irdische Geräusche sein Gehör verliere.

Noch eines glaubte das Volk: Daß nämlich die ganze Stadt Jerusalem unterirdisch von uralten Kanälen durchzogen sei, die von den Wassern Siloahs gespeist würden. Trug einem sein Acker in einem Jahre hundertfältig, so hieß es, die Wasser Siloahs hätten das Feld berührt. Kaufte einer ein Haus oder einen Garten, so legte er gewiß zuvor sein Ohr an die Erde, ob auch darunter das Brausen vernehmbar sei. Wo aber eigentlich die Quelle all der Gewässer war, wußte niemand. Zwar bemühten sich die Priester immer wieder, den Glauben wachzuhalten, daß das Wasser im Innern des Tempelberges seinen Ursprung habe, aber wer wollte da Sicheres erkunden? Wußte man nicht von unterirdischen Strömen, die irgendwo vom Lichte in die Tiefe sanken, um niemals wieder hervorzukommen oder im Dunkel zu bleiben, bis Gott sie einmal rief? Wer konnte da etwas sagen? Aber das Brausen der Wasser Siloahs konnte jeder hören, der sein Ohr an die Felsengrotte hielt, und so war eine Stimme da, in der das große Vergangene und das große Zukünftige sich raunend begegneten und das Ohr des Volkes mit Geheimnissen und Rätseln erschütterte.

Die Priester, die das alles sahen, hatten schon vor vielen hundert Jahren einen heiligen Brauch mit jenen Wassern eingeführt. Alljährlich in der Morgenfrühe der Laubhütten, wenn die Sonne aufging, versammelte sich alles Volk im Tempel. Da wurde in die Posaune gestoßen, und ein Priester schritt mit großem Gefolge zu den Wassern Siloahs hinab. Dort schöpfte er mit goldenem Kruge, kehrte beim zweiten Stoß der Posaune zurück und stieg dann feierlich im Morgenlicht den Altar hinan. Dort wandte er sich nach links, und alsbald schrie alles Volk den uralten Ruf: »Hebe hoch die Hand, daß wir das Wasser sehn!« In diesem Augenblicke ließ der Priester das Wasser aus dem Kruge fließen, und der Jubel des Volkes hatte kein Ende. Wer diese Freude beim Feste der Wasserspende nie erlebt, so sagen die alten Bücher, der wisse überhaupt nicht, was Freude sei. So waren die Wasser Siloahs das Lachen des Volkes bei Tag, wie sie sein Grauen bei Nacht waren, und ihr Fließen drunten und droben, ihr Brausen drinnen und ihr Frieden draußen begleitete viele Geschlechter in Israel in guter und böser Zeit.

Nun lebte in jenen Tagen, von denen wir hier erzählen, in Jerusalem ein Hoherpriester, der hieß Simon und hatte den Beinamen der Gerechte, weil er allezeit ein guter und weiser Vater seines Volkes war. Der konnte in eben einer solchen Nacht, die den Laubhütten voranging, nicht schlafen, und sein Geist war sehr beunruhigt. Als aber die Mitternacht kam, erschrak der Greis, denn es drang ein Brausen und Donnern an sein Ohr, als wenn Felsen bersteten. Er sprang von seinem Lager, da kamen schon die dienenden Priester in sein Gemach, die ebenfalls von dem furchtbaren Getöse geweckt worden waren. Der Ursache nachforschend, eilten sie über den mondhellen Tempelplatz, als auf einmal der Ruf erscholl: »Die Wasser Siloahs sind ausgebrochen!« Und sieh, da strömten auch schon die ersten Fluten über den Marmorboden des Vorhofs. Zur Westmauer vordringend, erreichten die Priester, des Wassers nicht achtend, die Felsengrotte, wo wirklich in wütendem Wogenschwall aus der schmalen Öffnung sich ungeheure Wasser wälzten und zu Tale stürzten. Oberhalb der Grotte aber sahen sie über dem Wasser hängend zwei fremde Gestalten, die sich dorthin geflüchtet hatten, um von den Fluten nicht fortgerissen zu werden, und wie von Sinnen die Felsen umklammerten. Zwei beherzte Priester sprangen herzu, befreiten die beiden aus ihrer Gefahr und führten sie durch eine geheime Tür in den Tempelraum, während andere talwärts eilten, um die untere Stadt zu wecken. Kaum aber waren diese einige Schritte den Berghang hinabgelaufen, als sie verwundert stehenblieben. Denn so, als wäre alles nur ein Spuk in der Nacht gewesen, hörte in dem Augenblick, als die Fremden von der Grotte fortgeführt waren, das Brausen auf. Die Wasser beruhigten sich und traten zurück und, als wenn nichts geschehen wäre, hörte man das Rinnsal rieseln wie vorher, und die Stille der Nacht war vernehmbar.

Der Hohepriester hatte die Fremden in die Quaderhalle führen lassen. Jetzt sah er sie an und bemerkte, daß der eine ein Krieger, der andere ein kahlgeschorener Bettler war. Da er aber aus ihrem Benehmen erkannte, daß sie edelgeboren waren, hieß er die Priester hinausgehen und schloß sich mit ihnen ein. Dann begann er sie mit strengen Worten zu fragen, was sie, die ja offenkundig von fremdem Volke waren, zur Zeit des Festes in der heiligen Stadt zu suchen hätten und noch dazu bei Nacht unter der Tempelmauer, und was denn überhaupt ihr Geschäft und Vorhaben sei.

Da begannen die Jünglinge von ihren seltsamen Wegen zu erzählen, einer nach dem andern. Die ganze Nacht erzählten sie so, und weder sie noch der lauschende Greis merkten, daß allgemach der Morgen kam.

»Nun will ich dir berichten, weiser Seher, wie ich diesen traf!« nahm Alexander die Rede wieder auf: »Am Ende gelangte ich mit meinen Heeren an die Grenzen Eures Landes. Dort fand ich große Freude allen Volkes, denn Euer Fest war gekommen, und viele Wallfahrer füllten Eure Straßen. Da gab ein Gott mir ein, mein Heer zu verlassen und mich allein dem Strome der Menschen anzuvertrauen, der nach Süden zog. Auch war ja der Dornzweig in meiner Hand, der furchtbar an mir zog, gleich als hätte das eherne Schicksal seine Hand an ihn gelegt, dem ich nicht entrinnen kann. So kam ich auf meiner Wanderung an eine Stelle, wo die Wege sich teilten, und fand diesen da, der mir sehr sonderbar schien. Denn er kauerte an der Erde und hielt einen blühenden Zweig in seiner Hand, wo ihm mein dürrer doch besser zu taugen schien. Da ich ihn nun fragte und er mich, gerieten wir beide in ein großes Staunen, als wir jeder die Geschichte des anderen erfuhren. Wir beschlossen gemeinsam weiter zu wandern und nicht zu ruhen, als bis wir das Geheimnis unserer beiden Reiser ergründet hätten.«

»Laß mich«, unterbrach Dhariputta den Bericht Alexanders, »laß mich, ganz Ehrwürdiger, weiter erzählen, denn immer sonderbarer wurde unser Weg. Als wir Eure Stadt ganz nahe vor uns liegen sahen, riet mir dieser große König da, das Gewand meiner Demut auszuziehen und mich reich zu kleiden, damit man uns beide als Könige erkenne und ehre. Ich aber riet ihm, das Büßerkleid zu nehmen, so würde keiner uns achten, und wir würden ohne Not suchen und finden können, was uns fehlt. Aber ganz seltsam, o Ehrwürdiger, ganz überaus seltsam, wir redeten und redeten und blieben doch jeder, wie er war, und gingen zusammen und fühlten im Gehen, daß die Wahrheit des Ortes, dem wir nahten, nicht duldete, daß wir das Kleid unserer Wahrheit vertauschten. Und dann, ganz furchtbar, Ehrwürdiger, rissen und peitschten die Zweige in unserer Hand. Da aber vielerlei Volks unterwegs war und auch aus fremden Ländern kamen, die vom Ruhm Eurer Stadt gehört, gelangten wir im Zuge der Wallfahrer unangefochten durch Eure Mauern, bis wir vor den Toren Eures Tempels standen. Dort aber geschah es uns, daß wir einander festhalten mußten, um nicht vor Zittern umzusinken. Denn als sich langsam und breit die Tempeltore vor uns öffneten, hörten wir in der dichtgedrängten Menge stehend einen wunderbaren Chor singen und du wirst es begreifen, Ehrwürdiger, daß wir in unserem Herzen erschraken, als wir die Worte verstanden: »Dies ist das Tor des Herrn, den Gerechten wird aufgetan!«

»Ganz unwürdig, Ehrwürdiger, völlig unwürdig fühlten wir uns da, aber die Zweige ließen uns nicht los, sondern zogen an uns mit Zaubergewalt, und wir standen alsbald im Vorhof des Heiligtums, sahen den Dienst der Priester, hörten die Chöre, das Volk jubelte und schrie, und wir verstanden nur wenig. Alles schien uns ein Wirrwarr und erschütterte uns doch, und unser Staunen war sehr groß.«

Als Dhariputta seine Erzählung geschlossen hatte, wandte er sich gegen die Wand und weinte. Da nahm Alexander die Rede auf und erzählte das Ende:

»Das Merkwürdigste, o Seher,« sagte er, »waren aber doch die Zweige, an denen wir hingen. Ja, wir hingen an ihnen, ich kann es nicht anders sagen. Je länger wir gingen, um so mehr merkten wir, daß all unser Wille aus uns gewichen war, und wir nur dem Gebot unserer schrecklichen Reiser folgten. Wie der Bär seine Beute schleift, so schleiften sie uns weiter und weiter, bis wir uns, als die Nacht hereinbrach, am Eingang jener Felsengrotte sahen. Da geschah das Wunderbare, daß unsere Reiser in unseren Händen sich vereinigten, das dürre mit dem blühenden, und verschlungen, wie sie waren, sich zum Wasser neigten. Kaum aber hatten sie die Oberfläche des Wassers berührt, als das Donnern aus der Erde kam. Wie es aber weiter geschah, wissen wir nicht, denn unsere Sinne verwirrten sich.«

So schloß Alexander. Anfangs hatte der Hohepriester Simon seine Augen geschlossen, aber je länger die beiden erzählten, um so weiter taten sie sich auf, und schließlich fing ein großes Erkennen aus ihnen zu leuchten an. Da begann der Greis den beiden mit liebevollen Worten zuzusprechen:

»Ein großes Geheimnis«, sagte er, »habt Ihr mir, o Jünglinge, offenbart. Aber wahrt Eure Zunge, damit es ein Geheimnis bleibe. Keiner darf wissen, was ich Euch jetzt erklären will, was aber ganz Euch zu deuten selbst mir nicht gegeben ist. Eines ist klar: Die Wasser Siloahs wurden wild, weil Eure Zweige ihnen Kunde brachten vom Garten des Paradieses, der auch ihre Quelle birgt. Wahrhaftig, Ihr Jünglinge, sie sind der dritte Strom, den Ihr nicht gefunden. Das ist nicht der Strom deiner Sinnenlust, Alexander, und auch nicht, Dhariputta, der Strom deines Entsagens, sondern der Strom, der gemischt ist aus beiden, aus den Wassern oben und den Wassern unten, überirdisch dem Paradies entsprungen, unterirdisch Gottes Stadt umbrausend, der Strom des heiligen Lebens auf dieser Welt. Glaubt mir, er führt gewiß auch zum dritten und goldenen Tor des Paradieses. Unterm Baum der Erkenntnis, dort, wo die Tränen der ersten Menschen, Mannes und Weibes, den Boden benetzt, entspringt sein heiliger Quell.«

Mit Staunen vernahmen Alexander und Dhariputta solche Worte: »So laß uns das Wasser deines Stromes trinken!« riefen beide aus einem Munde.

»O, Ihr Schnellen!« lächelte der Greis, »laßt uns lieber erst Eure Zweige besehen!« Damit hob er sie von der Erde auf und zeigte dem ganz erschütterten Alexander, daß sein dürres Reis Keime und Knospen angesetzt hatte, aber das blühende Reis Dhariputtas war ganz verwelkt.

»Still!« sagte er, als die beiden fragen wollten, »es ist nicht gut, alles zu wissen. Wenn Ihr nun trinken wollt von den Wassern Siloahs, so trinkt nur immerhin, aber bedenkt, daß Ihr Euch dann eine Sehnsucht trinkt, die nimmer erlischt. Denn noch gibt es einen vierten Strom des Paradieses, den noch kein lebendiges Auge sah, das ist der Strom jenes Lebens und nicht dieses mehr, der Strom der Erfüllung, der am Tage des Gerichtes fließt, und wenn wiederkehrt Gottes ewige Wiederkehr. O Alexander, Griechenkönig, und du, Mönch Dhariputta, Ihr seid noch so jung, warum wollt Ihr Euch diese Sehnsucht trinken?«

Aber sie tranken doch. Der Morgen war da, als Simon, der Gerechte, mit ihnen zu den stillen Wassern Siloahs kam, und alle drei zuerst in langem Schweigen dem Brausen in der Tiefe lauschten. Dann tranken sie.

»Süß!« sagte Alexander schwer.

»Süß und weh!« sprach Dhariputta.

»–und weh!« bestätigte der erste.

Sie faßten sich an den Händen und erkannten mit einem Male die Wahrheit und Schönheit der Welt. Dann stiegen sie in der Morgensonne auf den Tempelturm und sahen von dort, hoch zwischen Himmel und Erde, das erhabene Schauspiel vom Morgen der Laubhütten, hörten den Schall der Posaune, sahen den Priester in goldenem Kruge das Wasser holen, hörten das Volk schreien, als es in den Altar floß, hörten die Chöre mit Zymbel, Pauke und Saitenspiel und war ihnen alles kein Wirrwarr mehr, sondern sie verstanden die heilige Welt.

Danach machte Dhariputta sich auf, kehrte zu Vater und Mutter zurück und hörte auf, ein Mönch und Büßer zu sein. Aber ein weiser und gütiger Fürst wurde er seinem Volke, als der Vater starb.

Alexander begab sich zu seinem Heere, ließ in die Posaune stoßen und Freiheit ausrufen über das ganze Land. Dann hielt er als ein Fürst des Friedens seinen Einzug in Jerusalem. Simon, der Gerechte, aber ordnete an, daß alle Knaben seines Volkes, die in jenem Jahre geboren wurden, den Namen Alexander trügen.

Simon wurde sehr alt, beinahe hundert Jahre. Als er einige Zeit später –er war fast erblindet –erfuhr, daß Alexander bis zu den Enden der Erde gedrungen sei und schließlich in den Wellen eines Stromes einen frühzeitigen Tod gefunden habe, erschrak der alte Mann und fragte mit Zittern den Boten, der die Nachricht brachte:

»In den Wellen eines Stromes?«


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