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Acher oder die Reste der Tugend

In Tiberias, am felsigen Ufer des Genezarethsees, lebte in den Zeiten des Kaisers Antoninus Pius der weise Elisa ben Abuja, gleich berühmt durch sein tiefes Forschen in der heiligen Lehre wie durch seinen makellosen und menschenfreundlichen Wandel. In seinem Lehrhause sammelte sich in jenen Tagen die ganze wißbegierige Jugend Judäas, und an seinem Tische aßen täglich zweihundert Arme. Als seine Frau starb, hatte sie ihm einen einzigen Sohn Hyrkanos hinterlassen, der ein Jüngling von vollendeter Schönheit und Anmut des Geistes war, und an dem der Vater mit unverhohlener Liebe hing. Unter seinen Schülern aber war keiner, dem er so viele Zeichen wahrhaft väterlicher Zuneigung entgegenbrachte, wie der damals noch junge Rabbi Meïr.

In den Zeiten, von denen wir reden, war Ben Abuja ein Mann von etwa fünfzig Jahren, und ein überaus starker und lebendiger Geist. Kein Wunder, daß er die zahllosen Schüler von fern und nah in seinen Bann zu ziehen und seine Schule bald zu einem Mittelpunkte der Gelehrsamkeit zu machen wußte. Ja, wie groß die Kraft und Gelehrsamkeit des Mannes war, geht daraus hervor, daß er sich Dinge gestatten durfte, die in jenen schlimmen Tagen als verpönt galten und gewiß keinem anderen als ihm verziehen worden wären. War es doch seit langem von ihm bekannt, daß er den Schriften der griechischen Weisheitslehrer eine mehr als gewöhnliche Aufmerksamkeit zuwandte, ja, daß sogar, wie man sich heimlich zuflüsterte, die griechischen Lieder aus seinem Munde nicht wichen. Trotzdem überraschte es seine Schüler, als sie eines Tages sahen, daß der Weise seinen Sohn, statt ihn nach dem Brauche der Väter in die Lehrhäuser Israels zu schicken, nach Antiochia in eine griechische Schule tat. Diese Überraschung jedoch währte nicht lange, sondern wurde bald überholt durch den plötzlichen, offenen Abfall Ben Abujas vom Gesetze der Väter: An einem heiligen Sabbattage ritt der Weise hoch zu Roß durch die Straßen von Tiberias, wobei er sein Pferd mit griechischem Zuruf antrieb und spöttisch lächelnd auf die verstummende Menge herabsah.

Das ganze Land, so wird uns überliefert, erbrauste damals ob dieses Abfalls eines seiner größten Söhne. Wie Tauben vor einem Turmfalken fliehen, stoben die Schüler seines weltberühmten Lehrhauses auseinander, und es währte nicht lange, so saß Rabbi Elisa ben Abuja völlig vereinsamt in seiner Schule. Alle hatten ihn verlassen bis auf den jungen Meïr, der als letzter und einziger seiner Schüler zu seinen Füßen blieb. Ben Abuja selbst wurde im Volke seit diesem Tage nur noch »Acher«, d.h. »der Andere«, genannt, unter welchem Namen auch die jüdische Überlieferung sein dunkles Andenken bewahrte. Wie es aber kam, daß der durch seinen frommen und gläubigen Sinn nachmals so berühmt gewordene Rabbi Meïr damals als einziger bei dem Abtrünnigen ausgehalten hat, entzieht sich völlig unserer Kenntnis. Doch scheint es, und auch die nachfolgende Überlieferung mag es wohl beweisen, daß das junge, empfängliche Gemüt des Schülers durch das aufregende Erlebnis des geliebten Lehrers völlig gebannt und aufgesogen wurde, gleich als hätte sich in der Gestalt des gottlosen Weisen das Rätsel des Lebens selbst in seiner dunklen Schreckhaftigkeit vor ihm aufgerichtet. So blieb der junge Meïr zu den Füßen Ben Abujas sitzen und teilte die große Einsamkeit mit ihm, von der die Wände des Lehrhauses doppelt hohl widertönten, wenn der Meister redete.

Viele Monde waren so vergangen, ohne daß sich irgend etwas verändert hatte. Acher lebte gegen das Gesetz, das er seinen Schüler lehrte, betete nicht mehr, fastete nicht mehr und verachtete den heiligen Brauch der Väter. An jedem Sabbat aber ritt Acher ins Freie hinaus, und Meïr lief neben ihm her. Wenn sie dann an die Sabbatgrenze kamen, sprach Acher lächelnd vom Pferd herab: »Hier ist die Grenze, Meïr, weiter darfst du nicht.« Dann kehrte Meïr um, Acher aber ritt hinaus ins weite Land.

Eines fiel Meïr auf: Je abtrünniger der Meister sich zeigte, um so mehr wurden der Armen an seinem Tische. Und waren es früher zweihundert, so waren es jetzt Heere von Hungernden, die er um sich sammelte und speiste. Ja, es schien dem Schüler, als wenn ein Lächeln ganz besonderer Liebe und Milde die Züge des Meisters verklärte, das um so heller strahlte, je feindlicher ihm Blick und Zuruf der verletzten Menge folgten.

Eines Morgens saßen sie wieder im Lehrhause beisammen, und das große Schweigen kam über sie. Nachdem sie eine Zeit so gesessen, unterbrach Acher die Stille:

»Du siehst, Meïr, die ganze Welt hat sich von mir abgewandt. Warum bleibst du noch bei mir? Du wirst den Tadel der Welt erfahren.«

Als der Schüler auf diese Anrede schwieg, blickte ihn der Lehrer verwundert an und fragte:

»Was grübelst du, Meïr?«

»Meister,« antwortete dieser, »seit langem bewegt mich eine schwere Frage: Du hast Gott und sein Gesetz verlassen, Meister, aber du bliebst ein Vater der Armen und ein Hort der Waisen und Witwen. So sehe ich einen tugendhaften Gottlosen in dir und frage mich: Wo nimmst du deine Tugend her, wenn du sie von Gott nicht nimmst und seinem heiligen Gesetz? Woher nimmst du das Lächeln deiner Liebe, da die Quellen des Gebetes dir versiegelt sind? Meister, die Welt ist mir schwer, seit ich deine Gottlosigkeit und Güte sah!«

Als Acher solche Worte hörte, sah er den Sprecher mit liebevollem Blicke an und sagte: »O Meïr, auch der weise Sokrates kannte kein Gesetz und kein Gebet und war doch gut!«

Beide schwiegen eine Weile, und es war totenstill im Haus. Endlich richtete Meïr seine Augen flehend auf den Lehrer und sagte leise: »Rabbi, kehr' um!«

Da stand Acher auf, verließ schweigend den Raum und trat auf die Gasse. Meïr folgte ihm. Als sie eine Weile stumm nebeneinander gegangen waren, begann Acher: »Höre, Meïr, die Einsamkeit ist zu schwer für uns beide. Ich habe Sehnsucht nach meinem alten Vater. Folge mir!«

Meïr horchte auf, hatte der Meister ihm bis dahin doch nie von seinem Vater gesprochen. Da er aber sah, daß Acher mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, fragte er nicht weiter, sondern folgte ihm schweigend. Der Weg führte aus der Stadt heraus, zwischen den Mauern der Weinberge hinauf, bis sie auf eine Ebene hinauskamen, die einen weiten Blick auf die fruchtbaren Felder bot. Es war die Zeit der Weizenernte, und von allen Seiten erscholl der frohe Sang der Schnitter. Als sie einige Stunden gegangen und durch manche Dörfer gekommen waren, sahen sie endlich von ferne ein einsames Gehöft liegen. Acher blieb stehen und überschattete mit der Hand die Augen. Gleich darauf ließ er einen frohen Ruf vernehmen, und als Meïr den Augen des Meisters folgte, sah er von ferne in der Mitte von Knechten und Mägden einen ehrwürdigen Greis herankommen. Er trug eine Sichel wie die andern und war auf dem Wege zur Ernte. Es war der alte Abuja, und Acher begrüßte den Vater, dem er entgegengelaufen war, mit so viel Zeichen kindlicher Liebe und Ehrfurcht, daß der junge Meïr ganz ergriffen war. Der Alte segnete den Sohn, begrüßte auch den Schüler mit freundlichen Worten und lud beide ein, mit ihm den Tag auf dem Felde zu verbringen. Sie folgten den Knechten und Mägden und befanden sich bald mitten in der Arbeit auf dem Weizenfelde, wobei Meïr die Rüstigkeit des Greises bewunderte, der allen voran seine kräftige Sichel schwang. Noch mehr aber staunte er über die freudige Gier, mit der Acher hinter dem Vater gehend dessen sinkende Garben erraffte.

Um die Mittagszeit blickte der Alte nach der Sonne, sammelte die Seinen um sich und begann nach seiner Gewohnheit das Gebet zu sprechen. Acher stand dabei und bewegte die Lippen, sodaß Meïr sehr erstaunte und sich fragte, ob er denn wirklich bete oder nur aus zärtlicher Rücksicht auf den Vater so tat. Nach dem Gebet kam eine größere Schar armer Frauen und Kinder das hügelige Gelände herauf, und der Alte ging mit ihnen zur Ecke des Feldes, die ungeschnitten geblieben war und nach dem Gesetze Moses den Armen gehörte. Als die Armen sie für sich geerntet hatten, wurden sie unter den Schatten eines hohen Baumes geführt, wo sie mit Abuja und den Seinen das Mittagsmahl halten durften. Acher saß neben dem Vater und wurde nicht müde, die Erinnerungen seiner Kindheit wachzurufen, den Vater auszufragen, ob er noch gedenke, und die alten Hausgenossen zu beglücken mit der Erinnerung an entschwundene Zeit. Meïr verglich dabei im stillen Vater und Sohn, und indem er hörte und schwieg, bemerkte er in den Augen des Meisters einen Fieberglanz der Erinnerung, der ihn seltsam erregte. Nach dem Mahle wurde wieder Gott gedankt für die Gabe des Brotes, wie es sich gehörte. Als die Armen sich darauf verabschieden wollten, verteilte Acher zuvor reiche Almosen unter sie, wobei er sich an ihren Ausrufen und freudigen Dankbezeugungen von Herzen ergötzte. Aber schon forderte die Tagesstunde ihre Pflicht, und die Ernte ging fort, bis die Sonne zur Rüste kam. Mitarbeitend, mitgenießend, mitbetend konnte der junge Meïr seine Augen nicht von dem wunderschönen Bilde des anmutigen Greises lassen und spürte mit immer größerem Entzücken Würde und Glück so frommen und arbeitsamen Lebens, wie es heißt: »So du die Mühsal deiner Hände issest, Heil dir, so geht dir's wohl!«

Als der Abend kam, nahmen Acher und sein Schüler von dem alten Abuja Abschied. Wieder legte der Alte dem Sohne segnend die Hände auf, und Meïr stiegen die Tränen in die Augen, als er an des Tages schönem Ende gedachte, was gestern war und morgen wieder sein würde, wenn das einsame Lernen von neuem begann. Als der alte Abuja ihm daher zum Abschied die Hand reichte und bat: »Sage mir ein gutes Wort, junger Meister, damit ich mich deiner erinnere!« war er sehr erregt und konnte sich zuerst nicht fassen. Plötzlich aber erfüllte den Jüngling eine hohe Freude, er blickte mit glänzenden Augen vom Vater auf den Sohn und vom Sohn auf den Vater, und ganz aus einem ersten und reinen Gefühle rief er aus: »Ich danke dir, Vater Abuja, daß du mich in deinem Sohne die Reste deiner Jugend hast genießen lassen!«

Als Acher solche Worte hörte, blickte er einen Augenblick auf, dann wandte er sich schnell und ging, ohne ein Wort zu sagen, den Feldweg hinab. Da riß auch Meïr sich von dem Alten los und folgte, sich noch oftmals umsehend, dem Lehrer. Schweigend schritten sie beide zwischen den wogenden Saaten, und die sinkende Sonne beschien sie. Meïr merkte wohl, daß der Lehrer ihm grollte, aber er war noch zu freudevoll ob der Fülle des Erlebten, als daß er seine Worte hätte bereuen mögen. Vielmehr heftete er seine Schritte eng an die des Lehrers, und als ihm das Schweigen unerträglich wurde, bat er leise zum zweiten Male: »Rabbi, kehr' um!« Der aber beschleunigte nur seine Schritte und tat, als hörte er nicht. Endlich seufzte er, blieb stehen und sprach: »Es hilft nichts, ich muß schnell zu meinem Sohne. Wir wollen uns noch heute Nacht einen Esel nehmen und gen Antiochia ziehen!«

Wie sie weitergingen, kamen sie an einem Weiher vorbei, wo sich ihnen ein liebliches Abendbild bot: Am Ufer lagerte mit seiner Herde ein Hirt und schnitzte an einem Holunderstab. Mitten auf dem Wasser aber saß in einem Nachen ein braunes nacktes Kind. Offenbar hatte es sich den Nachen vom Ufer losgebunden, und da ein Bach durch den Weiher floß, war das Boot in die Strömung geraten und glitt langsam dahin. »Sieh, Vater, ich rudere!« schrie das Kind und schlug das Wasser mit einem leichten Blütenzweig. Da sprang der Hirt auf und lief ängstlich hin und her, denn er fürchtete, das Kind möchte durch die Strömung in den Bach getrieben werden, der an seiner Ausgangsstelle einen zwar nur kleinen, aber reißenden Absturz hatte. »Ich rudere! Ich rudere!« rief das Kind immer wieder und kümmerte sich nicht um die Zurufe des Vaters, der schließlich, wie er war, in den Weiher springen mußte, um im letzten Augenblick den Nachen abzufangen und, halb scheltend, halb lachend, ans Ufer zu ziehen. Bald sah man ihn mit dem nackten Kinde auf dem Arm in der untergehenden Sonne davonschreiten.

Traurig sah Acher auf den stillen Wasserspiegel, der zurückblieb, während der Schüler mit freudigen Augen den beiden nachschaute, bis sie verschwunden waren. »O Meïr,« seufzte der Meister endlich, »was habe ich dir getan, daß du mir meine Tugend streitig machst?« Da antwortete jener: »Meister, hast du den Nachen gesehen und den Hirten und das Kind?« Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, fügte er hinzu: »Was wir sahen, Meister, war ein Gleichnis.«

Acher ging weiter. Sie waren nicht mehr fern von der Stadt, als sie den Lärm eines Volkshaufens hörten, der ihnen entgegenkam. Hinter einer Biegung des Weges trafen sie vor der Tür eines alten Bethauses einen Schuldherrn, der durch seinen Sohn und seine Knechte einen jungen Menschen abführen ließ. Ein armes Weib klammerte sich an den Jüngling und wollte den Knechten wehren. Der Schuldherr hieß sie vor der Tür des Bethauses mit dem Gefangenen warten und betrat das Heiligtum, um sein Abendgebet zu verrichten. In der Zwischenzeit erfuhren Acher und Meïr, daß das Weib, eine arme Witwe, dem Wucherer, der drinnen betete, verschuldet war, und deshalb ihr Sohn jetzt in die Schuldknechtschaft abgeführt werden sollte.

»Wie groß ist deine Schuld?« fragte Acher die Witwe, und als er die Summe erfuhr, zog er seinen Beutel und zahlte sie vor Zeugen dem Sohn des Wucherers aus. Als der aus dem Bethause kam und erfuhr, was geschehen war, riß er dem Sohne das Geld aus der Hand. »Gott ist groß,« schrie er, »weil ich fromm war, hat er mir diesen geschickt, daß ich zu meinem Gelde käme!« Der Sohn aber stand dabei und blickte böse auf den Vater.

Da lachte Acher, schlug dem Wucherer auf die Schulter, daß er zusammenknickte, und rief, nicht ohne einen bitteren Seitenblick auf Meïr zu tun: »Nimm die Reste deiner Tugend, Mensch, und füttere deinen Gott damit, ich will mit meinen Resten zu den Menschen gehen!« Darauf leerte er seinen Beutel bis auf den letzten Rest, warf die Münzen unter die Menge und ging seiner Wege.

Als er den Pfad zwischen den Weinbergen hinabstieg, um die Stadt zu erreichen, begann schon die Nacht die Hügel zu umschatten. Wie nun Meïr dem immer eiliger Voranschreitenden folgte und sein Keuchen vernahm, wurde er von einer unerklärlichen Angst ergriffen, die ihn den Meister am Mantel fassen ließ: »Rabbi, kehr' um!« rief er. Der aber riß sich los, daß der Mantel in Meïrs Händen blieb. Stöhnend sprang Acher im Dunkel die Stufen der Weinberge hinab, angstvoll folgte ihm der Schüler.

Rabbi Meïr konnte noch, als er schon als Greis in seinem Lehrhause saß, von den Schaudern dieser nächtlichen Heimkehr nicht erzählen, ohne Tränen zu vergießen und auf seine grauen Haare zu weisen, die er am Morgen jener Nacht zum ersten Male auf seinem Haupte fand. Als sie sich dem Lehrhause näherten, kam ihnen in der Finsternis ein Zug mit Fackeln entgegen. Männer trugen eine Bahre und murmelten Gebete. Zitternd und atemlos blieb Meïr stehen, indes der Meister weiterlief. Dann hörte er plötzlich aus einiger Entfernung den Schrei Achers, der sich schmerzerfüllt über die Bahre warf, die den Leichnam seines einzigen Sohnes trug.

Man hatte sie ihm drei Tagereisen weit von Antiochia gebracht, und nun saßen Meister und Schüler allein im verödeten Lehrhause und hielten beim Scheine der einsamen Totenlampe die nächtliche Wacht. Sie schwiegen lange. Um die Mitternacht fing der Meister zu reden an:

»Was war das für ein Gleichnis mit dem Kind im Nachen?«

Die Frage war an Meïr gerichtet, und doch war es, als spräche Acher in der Stille der Nacht zu sich selbst.

»Das Kind glaubte zu rudern,« sagte Meïr, »und doch war es nur die Strömung, die den Nachen trieb. So schlagen wir Menschen gar oft mit leerer Rute die Lebensflut und jubeln laut, wenn unser Nachen treibt. Der Strom der Liebe trägt uns immer noch, wenn das Ruder der Gottesfurcht längst zerbrochen ist.«

Meïr schwieg eine Weile, als warte er auf Antwort. Dann legte er seine Hand auf die Hand Achers: »Rabbi, kehr' um!«

»Ich kann nicht!« stöhnte Acher und ließ das Haupt noch tiefer auf die Knie sinken. So saßen sie lange, bis ein herannahender Lärm von der Straße sie erweckte. Man hörte Drohungen, Schreie, und Fackellicht erhellte die Gasse. Meïr lehnte sich zum Fenster hinaus, gleich darauf taumelte er bleich zurück und mußte sich an die Wand lehnen, so ergriff ihn, was er gesehen hatte.

»O Rabbi, der Sohn des Schuldherrn prügelt seinen Vater auf der Straße und schreit um Geld.«

»Das ist der Rest vom Reste, Meïr,« sprach weinend der Meister, »jetzt mußt du mir den letzten Brief meines Sohnes lesen, der mit seiner Leiche kam, damit ich auch diesen Rest vom Reste höre. Meine Seele ist müde zum Tode.« Damit reichte er ihm eine versiegelte Briefrolle, die Meïr zitternd nahm.

Der Lärm der Straße war vorüber, der Meister war stiller geworden, Totenruhe herrschte, als Meïr die Rolle löste und in griechischer Sprache las:

»Wenn du diese Worte liest, mein Vater, wirst du an meiner Leiche sitzen. Da ich sie schreibe, steht ein Becher mit Gift neben mir, den ich trinken werde, wenn der Brief geschlossen und versiegelt ist.

Ich habe die Schriften der Griechen studiert, wie du wolltest, und habe aus ihnen erkannt, daß das Leben sinnlos ist. Ich habe auch das Leben genossen, und wo ich es genoß, war es schal und leer. Liebe ist sinnlos, und Güte ist sinnlos, und daß alles so sinnlos ist, auch das ist sinnlos. Ich kann dieses Leben nicht mehr ertragen, es ist mir in der Seele zuwider.

Vielleicht, Vater, wäre es besser gewesen, du hättest mich zum Vater Abuja in die Berge geschickt statt nach Antiochia. Dann hätte ich wenigstens eine Erinnerung gehabt, wo ich jetzt noch nicht einmal die Erinnerung einer Erinnerung habe. Du hast sie noch, und sie gab deiner Liebe den Sinn. Mir ist alle Erinnerung alt geworden, so alterte ich selber, und mein Leben verlor seinen Sinn.

Denke über das alles nicht nach, mein Vater, sondern lebe wohl und vergib mir den Schmerz, den ich dir bereite. Grüße auch den Vater Abuja in den Bergen, daß auch er mir vergebe nach der Frommheit seiner Seele.«

Als Meïr den Brief zu Ende gelesen hatte, sah er, daß Acher zurückgesunken war. Er beugte sich über ihn und erkannte, daß er vom Schlage gerührt war und sich nicht mehr bewegen konnte, obwohl er noch lebte.

Da kniete Meïr neben dem Sterbenden, bettete sein Haupt in seinem Schoße und fing zu weinen an: »Kehr' um, mein Vater, es ist noch Zeit!« Acher konnte nicht mehr reden, seine Zunge war gebrochen. Meïr saß die ganze Nacht bei ihm und hielt das Haupt des geliebten Lehrers umfangen. Als die Morgenröte ins Fenster schien, zuckte der Leib des Sterbenden, und Meïr sah, daß Acher weinte, als er starb. Da jauchzte seine Seele vor Freuden hoch auf, denn er hatte erkannt, daß der Weise als ein Reuiger zu seinen Vätern eingegangen war.

Am Morgen versammelten sich auf den Ruf Meïrs alle früheren Schüler Achers im Lehrhause und trugen den Weisen und seinen Sohn zu Grabe. Auch folgten unzählige Arme weinend dem Leichenzuge. Rabbi Meïr aber hielt ihnen beiden die Leichenrede mit den Worten:

»Zwei Dinge nehmen zu, wenn sie beieinander sind, und ab, wenn sie auseinander sind: Gottesfurcht und Menschenliebe. Wer Gottesfurcht hat, aber keine Menschenliebe, der ist noch gut, aber seine Güte nimmt ab. Wer Menschenliebe hat, aber keine Gottesfurcht, der ist noch nicht böse, aber seine Bosheit nimmt zu. Wer aber Menschenliebe hat und Gottesfurcht dabei, der ist gut, und seine Güte nimmt immer noch zu.«


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