Lena Christ
Erinnerungen einer Überflüssigen
Lena Christ

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Inzwischen nahte der Hochzeitstag meiner Eltern wieder heran. Es war der zehnte, seit sie geheiratet hatten, und auf den gleichen Tag fiel auch mein Geburtsfest. Ich wurde damals siebzehn Jahre alt.

Da die Eltern es gern sahen, daß ich ihnen zu den üblichen Familienfesten meine Glückwünsche darbrachte und auch die Brüder irgendein Gedichtlein lernen ließ, so beschloß ich, ihnen zu ihrem zehnten Hochzeitstage eine rechte Freude zu machen. Ich schmückte also das Nebenzimmer mit Papiergirlanden, stellte ein selbstverfertigtes Transparent auf und dazu ein Brett, in das ich zehn Nägel schlug und darauf zehn Wachskerzen befestigte. Auf einen weißgedeckten Tisch legte ich die Festesgaben, zu denen ich einen eigenen Vers gedichtet hatte. Es waren ein Paar zierliche Samtpantoffeln für die Mutter und ein gesticktes Käpplein für den Vater, nebst zwei Blumenstöcken und einem Kuchen. Auch den Stammgästen teilte ich meine Absicht mit, und sie waren gern bereit, die Feier noch durch Musik zu verschönern.

Als nun am Vorabend des Hochzeitstages meine Eltern plaudernd am dichtbesetzten Stammtisch saßen, ertönte plötzlich im Nebenzimmer Musik und man brachte ihnen ein Ständchen. Erschrocken sprang die Mutter auf und lief hinüber. Da erglänzte der also geschmückte Raum im Licht der Kerzen und des Transparents. Doch, o Wunder! es stand noch ein Brett auf dem Tisch, an dem siebzehn kleine Lichtlein brannten. Meine Brüder hatten mich damit überrascht.

Während die Mutter immer noch starr an der Tür lehnte, war auch der Vater hinzugetreten, und nun brachte ich meinen Prolog vor, worauf die Gäste ein dreimaliges Hoch brüllten.

Dann stand einer von den Stammgästen auf und brachte in umständlicher, stotternder Rede die Wünsche der Gäste zum Ausdruck und rief zum Schluß: »Unser wertes Hochzeitspaar und unser liebes Geburtstagskind mögen noch lange Jahre froh und glücklich sein! Sie leben hoch, hoch, hoch!«

Da rief die Mutter, der während des Ganzen eine dunkle Röte bis zu den Schläfen über das Gesicht lief, aus: »Ja, seid's denn alle verrückt wordn! Was red's denn allweil von zehn Jahr? Mir san do scho zwanz'g verheirat'!«

Ich verwunderte mich über diese Rede sehr; denn ich wußte doch bestimmt, daß der Vater jetzt fünfunddreißig, die Mutter aber achtunddreißig zählte, und wenn sie nun vor zwanzig Jahren schon geheiratet hätten, so... Ich schickte mich also an, ihnen dies zu erklären. Da erhielt ich einen heftigen Stoß von der Mutter, und sie rief halblaut: »Marsch, ins Bett! Und freun kannst di!«

Andern Tags aber gab es heftige Prügel dafür, daß ich die Eltern so blamiert hatte; denn sie wollten es niemand wissen lassen, daß die Mutter mich schon ledig gehabt.

Jetzt war meine gute Zeit wieder vorbei, und die Mutter quälte mich wieder ärger denn je. Dabei empfand ich es am bittersten, daß sie mich oft, besonders zu gewissen Zeiten des Monats, wegen irgend einer Kleinigkeit, die ich mir hatte zu Schulden kommen lassen, dadurch strafte, daß sie mir befahl, nach dem Mittagessen in ihrem Zimmer zu erscheinen. Dort mußte ich mich jedesmal nackt ausziehen und niederknien, und nun schlug sie unter lauten Schmähungen mit dem Ochsenfiesel so lange auf mich ein, bis sie vollkommen erschöpft war und mir das Blut über Arme und Rücken herunterrann. Bei diesen Züchtigungen waren die Schläge, an die ich mich schließlich auch gewöhnte, nicht so schmerzhaft als der Umstand, daß die Mutter oft viele Stunden zwischen meiner Verfehlung und der Strafe verstreichen ließ, während derer ich das Kommende jeden Augenblick vor mir sah und doch meine Arbeit tun mußte.

Dadurch wurde mir das Leben im Hause immer mehr zur Qual und ich beschloß, auf irgend eine Weise dasselbe zu verlassen.

Da besuchte uns ein junges Mädchen, welches sich vor seinem Eintritt ins Kloster noch von einer meiner Basen, die bei uns in Dienst war, verabschieden wollte. Diese schilderte mir den Beruf und das Leben der Nonnen so schön, daß ich voller Begeisterung beschloß, ebenfalls ins Kloster zu gehen. Ich äußerte diesen Wunsch meiner Mutter gegenüber und sie war ganz wider mein Erwarten einverstanden. Doch wohin? Man versuchte es im Institut der Englischen Fräulein; doch wies man mich dort ab, weil ich ein lediges Kind war. Da erfuhren wir durch eine Magd, deren Schwester schon lange Klosterfrau war, daß der alte Pater Guardian des Kapuzinerordens in München uns gewiß raten könne; der hätte auch ihre Schwester ins Kloster gebracht.

Meine Mutter ging also mit mir dahin und stellte mich dem Pater vor, und nachdem ich ihm meinen Wunsch, ins Kloster zu gehen, vorgetragen hatte, meinte er: »Viele sind berufen, aber wenige nur sind auserwählt! Wenn du wirklich den festen Willen hast, Nonne zu werden, so will ich dir gerne dazu helfen!« Darauf nannte er mir als die geeignetste Stätte, Gott in gänzlicher Abgeschiedenheit von der Welt zu dienen, das Kloster Bärenberg in Schwaben, und nachdem er noch meine Schulzeugnisse geprüft und mich auch in religiösen Dingen nicht unwissend befunden hatte, empfahl er mir, dorthin zu schreiben; denn daselbst könne ich Lehrerin, oder was ich wolle, werden.

Auf meine Anfrage bei den frommen Frauen dieses Klosters, das dem heiligen Josef geweiht war, erhielt ich denn auch wirklich den Bescheid, daß man, obwohl ich schon siebzehn Jahre alt sei und man gewöhnlich nur jüngere Bewerberinnen zulasse, dennoch gewillt sei, mich als Kandidatin aufzunehmen; zugleich war dem Schreiben ein Zettel beigelegt, der alles enthielt, was mir zu wissen vonnöten war und auch was ich an Garderobe, Wäsche und dergleichen brauchte.

Als Tag meines Eintrittes war der fünfte Dezember, der Todestag meines Großvaters, ausersehen und ich erwartete ihn sehnsüchtig und mit großer Aufregung.

Die letzte Nacht vor meinem Scheiden aus dem elterlichen Hause schlief ich nur wenig, und als mich am frühen Morgen die Mutter aus den Federn holte, war ich in ganz seltsamer Stimmung. Verflogen war alle Lust und Freude, und ich wäre viel lieber im Bett geblieben, statt mich für die Reise bereit zu machen. Da ich nun aber einmal daran glauben mußte, kleidete ich mich rasch an. Bald trat auch schon die Mutter reisefertig in die Stube, und nachdem ich meinem Vater und den Geschwistern Lebewohl gesagt, machten wir uns auf den Weg. Oftmals blickte ich noch zurück auf unser Haus, und als wir durch die menschenleeren Straßen dem Bahnhof zueilten, nahm ich noch Abschied von den alten Frauentürmen, die freundlich aus dem Frühnebel grüßten.

In der Eisenbahn gab mir die Mutter noch allerhand Ratschläge und meinte zum Schluß: »Kost's, was's mag, wannst nur recht a brave Klosterfrau wirst! Schickn tean ma dir alles, was d' magst, brauchst bloß z'schreibn. Aber aushaltn mußt und drin bleibn! Net, daß d' auf amal nimma magst und kommst ma daher; da tät's spuckn!«

Nach dieser Rede verstummte sie, und auch ich lehnte mich schweigend in meine Ecke.

Verschneite Wiesen, Wälder und Ortschaften glitten draußen vorüber, Stationen wurden gerufen, Leute stiegen aus und ein, deren Redeweise immer mehr das Schwabenland verriet, und bald waren wir in der Hauptstadt, in Augsburg. Den mehrstündigen Aufenthalt benutzten wir dazu, uns die Stadt ein wenig anzusehen. Mich aber interessierten nur etliche Klosterfrauen, die eben über den Marktplatz in eine Kirche gingen; doch gefiel mir ihre Kleidung gar nicht und ich fürchtete, es möchten die Frauen des heiligen Josef ebensolche unschöne Gewandung tragen. Während ich ihnen noch nachblickte, stürmte plötzlich keuchend ein Hund an mir vorüber, der einen andern, der laut heulte, hinter sich herschleifte. Entsetzt sprangen die Nonnen zur Seite, während sich im Nu ein großer Menschenhauf ansammelte, aus dem die Rufe: »A Schäffla Wass'r her! A Töpfla Wass'r drufgießa!« erschollen. Ich aber war höchst erstaunt vor diesem scheinbaren Naturwunder stehen geblieben und starrte mit offenem Munde den Hunden nach. Da riß mich meine Mutter mit den Worten: »Marsch, weiter, dös is nix für di!« mit sich fort und führte mich auf dem kürzesten Wege wieder zum Bahnhof

Während der weiteren Fahrt war die Mutter recht einsilbig, und als wir jetzt an der Endstation Kamhausen anlangten, sagte sie nur: »So, jetz müß ma schaun, daß ma no an Platz im Stellwagn kriegn!« welchen Worten ich nicht zu widersprechen wagte, obgleich ich viel lieber zu Fuß gegangen wäre.

Während nun die Mutter wegen der Fahrscheine drinnen am Postschalter verhandelte, besah ich mir die Gegend: da erblickte ich grad vor mir, kaum eine halbe Stunde entfernt, angelehnt an einen bewaldeten Hügel, ein imposantes Gebäude und rings um dasselbe eine Menge kleinerer, die den Eindruck einer kleinen Stadt machten. Etwas abseits lagen wieder eine Anzahl Häuser, die mehr ländlichen Charakter hatten und von Bäumen umgeben waren. Um das große Gebäude und den Berg zog sich eine Mauer und von dem Dach grüßten ein paar große, mit hohen Schneehauben überzogene Storchennester. Dazwischen ragten mehrere kleine Türmlein in die klare Luft und von einem größeren klang einladend das Mittagläuten zu mir herüber. Da schreckte mich jemand aus meinem Betrachten auf: »He, Mädla! Was luagscht denn allweil nach Bäraberg rüba? Magscht ebba au e Kloschtafrau wera?«

»Ja. Dös hoaßt, naa, naa; i woaß's net!«

Nach diesen ungeschickten Worten lief ich wieder auf die andere Seite des Bahnhofs, wo die Mutter mich schon überall suchte. Ich sagte ihr, daß ich Bärenberg schon gesehen hätte; doch schien sie es nicht zu hören und trieb mich zur Eile, da der Stellwagen gleich abfahren wolle.

Mit uns hatten noch einige Frauen und ein junger Mann Platz genommen, und der letztere veranlaßte mich durch sein sonderbares Betragen und sein vogelartiges Gesicht, immer wieder nach ihm zu schauen. Er spielte unablässig mit seinen Fingern, schnitt Grimassen und lallte unverständliche Worte vor sich hin. Ich erfaßte aus der lebhaften Unterhaltung der Frauen, die bei ihm saßen, daß der junge Mensch blöd und epileptisch krank sei und nun in der Kretinenabteilung Bärenbergs untergebracht werde. In der Ecke saß ein altes Weiblein mit einem kaum zwanzigjährigen Mädchen, und es fiel mir auf, daß die beiden garnichts miteinander redeten. Auch die andern Frauen interessierten sich anscheinend für das Paar; denn die eine fragte plötzlich die Alte: »Fahrat Se au uf Bäraberg?«

»Ja freili«, antwortete diese, »mei Dirndl ist toret und a Stummerl is 's aa. Jatz han i mi beim Burgamoasta vürstelli g'macht und der hat ins a G'schreibats gebn, daß s' auf G'moaköstn in dö Anstalt z'Bärnberg kimmt. Dö ham ja lauta söllane Dalkn!«

»Du lieb's Herrgottl! Isch dies abr schad! 's isch ganz e frätzig's, herztausig's Mädla! Moi Jakala muß au hin, weil er irr ischt und 's Hiefallat hat.«

Nun war mit einem Mal meine ganze Schneid fort und ich hatte nicht geringe Angst vor dem Kloster und allem, was dazu gehörte. Und als sich die redseligen Frauen nun auch an uns wandten, muß ich wohl ganz den Eindruck einer verschüchterten Irren gemacht haben; denn die eine sagte zu meiner Mutter: »So, so Sie fahrat au mit uns! Sie wollet g'wiß au Aufnahm für dies Mädla; ischt's ebba au e Deppala?«

Da sagte meine Mutter, daß ich Klosterfrau werden wolle.

»Schau, schau!« sagte die Alte darauf, »so a schwera und aaschtrengada Beruf möcht's Mädla und ischt so blaß und mag'r! Lasset Sie's do wied'r hoifahra, Fraule! Die ischt 'it passad für e Kloschterfrau!«

Doch meine Mutter entgegnete nur kurz: »Es wäre mir gleich, was s' tät; aber sie will selber ins Kloster.« Damit war die Unterhaltung zu Ende.

Inzwischen waren wir an dem Hügel angelangt und mußten nun ganz um ihn herumfahren. Da sah man erst, daß er den eigentlichen Ort ganz verdeckt hatte, und ich war überrascht von der Schönheit des alten Städtleins.

Vor dem großen Gebäude machte der Postillon halt und wir standen wartend an der verschlossenen Pforte. Aus dem kleinen Fensterchen daneben sah eine schwarze Katze, und als die Tür sich endlich öffnete, stand eine kleine, alte Nonne vor uns, liebenswürdig und demütig nach unserm Begehr fragend.

Nachdem sie die Wünsche eines jeden gehört, führte sie uns in ein kahles Zimmerchen, aus dem erst die Taubstumme, dann die Frauen mit dem Kranken geholt wurden. Zuletzt kam eine blasse, junge Schwester, die uns nach den Gemächern des Superiors führte.

Vor der Tür des Sprechzimmers standen etwa sieben bis acht Nonnen und warteten auf Einlaß. Sie standen da, gesenkten Hauptes, die Arme vor der Brust gekreuzt und beteten leise vor sich hin, während mitunter ein halb scheuer, halb neugieriger Blick uns streifte.

Inzwischen hatte die Schwester uns angemeldet und wies uns nun in ein mit dem Sprechzimmer verbundenes Gemach.

Da trat nach einer kleinen Weile, während der mir fast die Brust zersprang vor Erregung, aus der Tür des Sprechzimmers ein ernster Mann von ehrfurchtgebietender Größe und Haltung und lud uns ein, näher zu treten. Er führte uns in sein Zimmer, das fast wie der Laden eines Buch- und Schreibwarenhändlers aussah. Überall lagen Stöße von Büchern, Heften, Zeitschriften, Akten und Briefen umher und dazwischen große Pakete, ganze Bündel Wachskerzen, Rosenkränze und Sterbkreuze. Über einem Stuhl hingen eine Menge violettgelber Ordensgürtel und an einem Schrank lehnten etliche Krücken.


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