Lena Christ
Erinnerungen einer Überflüssigen
Lena Christ

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In diesem Herbst war es nun, daß wir einmal zum Ausweißen gingen. Und als der Großvater bei der Arbeit war, schickte er mich wieder heim. Mein Weg führte mich am Obstgarten des Herrn Pfarrers vorbei, darinnen ich schon auf dem Hinweg einen großen Apfel hatte liegen sehen. Als ich jetzt wieder vorüberkam, suchte ich nach einer Zaunlücke, schlupfte hindurch und kroch auf allen Vieren durchs Gras und holte mir den Apfel. Da ich noch einen zweiten liegen sah, aß ich diesen sogleich und nahm den schöneren mit heim, um meiner Großmutter eine Freude zu machen.

»Großmuatterl, da schaug her«, rief ich, »i hab dir was mitbracht; an schön'n Apfel vom Herrn Pfarrer!«

Da hatte die Großmutter eine rechte Freude; denn sie meinte, der Herr Pfarrer habe ihn mir geschenkt.

»Bist halt mei bravs Lenei; vergunnst deiner Großmuatta aa ebbas.«

Unter diesen Worten schälte sie den Apfel und schabte ihn; denn sie hatte fast keinen Zahn mehr im Munde.

»Ah, der is aba guat! Hättst'n net liaba selba gessn, Dirnei?«

»A naa, Großmuatta, i hab ja scho oan g'habt.«

Ein paar Stunden später sah ich den Herrn Pfarrer daherkommen. Da rührte sich mein schlechtes Gewissen, und ich hab mich hinter die Stiege verschlossen. Inzwischen war meine Großmutter in den Hausgang oder Flöz hinausgegangen, und jetzt seh ich, wie der Herr Pfarrer richtig zu ihr hereingeht und sagt: »Liebe Handschusterin, leider hab ich sehen müssen, daß Ihr Enkelkind, das Lenei, ein paar Äpfel in meinem Garten aufhob und damit davonlief. Hört, Handschusterin: es ist mir nicht um die paar Äpfel; aber die Begierde hätte das Kind bezähmen sollen. Hätte das Lenei mich gebeten, ich hätt' ihr mit Freuden etliche geschenkt.« Nach diesen Worten trat der Herr Pfarrer ins Zimmer und unterhielt sich noch längere Zeit mit der Großmutter. Ich aber lief, was ich laufen konnte, nach Westerndorf zu meiner Nanni. Ich wollte auch zur Nacht nicht mehr heim, weil ich Strafe fürchtete; doch hat mich die Nanni schließlich überredet und heimgebracht. Ich hätte aber nicht so viel Angst zu haben brauchen; denn der Großvater hat mich verstanden. Und als die Großmutter anfangen wollte zu schimpfen, fiel er ihr ins Wort: »Stad bist ma! Nix sagst ma übers Kind; hat's dir 'n vielleicht net bracht? I sags allweil, 's Lenei hat a guats Herz!«

Da mußte die Mutter still sein. Später einmal traf mich der Herr Pfarrer und sagte: »Liebes Kind, ich hätte dir ganz gerne einen Apfel geschenkt, wenn du mich darum gebeten hättest. Aber selbst aufheben durftest du dir keinen; denn das nennt man Stehlen.«

Neben der Arbeit im Haus, Garten und Stall hat die Großmutter Mieder genäht und war weit und breit wegen ihrer Geschicklichkeit darin berühmt und gesucht.

Nun kam da zwei- oder dreimal im Jahr ein Mann aus Schwaben, der zog von Dorf zu Dorf mit seiner Kirm auf dem Rücken und gab für Haderlumpen den Leuten Nähnadeln, Steckklufen, Fingerhüte, Maßbandln und den Kindern Fingerringe. Meiner Großmutter aber gab er für die alten Flicken und die Abfälle von den Miedern neue Miederhaken und Schlingen, die er Moidala und Schloipfala nannte. Einmal waren ihm nun die Miederhaken ausgegangen, und als ihn die Großmutter fragte: »Hast heunt gar koani Miadein?« sprach er: »Noi, gar koine Moidala geits mehr; lauta Schloipfala kannscht mehr haba.« Damit wollte er zugleich sagen, daß es jetzt gar keine braven Mädeln mehr in den Dörfern gebe und die meisten sogenannte Schloapfen, das will sagen leichtfertige Wesen seien, die auf jedem Tanzboden herumschleifen und die jeder leicht haben kann.

Zu all dieser Arbeit zog die Großmutter, wie ich schon sagte, Kostkinder auf, welche die Gemeinde ihr wegen ihrer Gewissenhaftigkeit und Sauberkeit übergab. Es waren dies Kinder von Bauerndirnen, von ledigen Gemeindeangehörigen, die wer weiß wo weilten und ihre Kinder der Gemeinde aufbürdeten; aber auch Kinder von Gauklern, die diese einfach den Leuten vor die Tür legten.

So war es auch einmal um die Weihnachtszeit. Draußen lag tiefer Schnee, und wir saßen in der Wohnstube beisammen und jedes hatte seine Beschäftigung: der Großvater band einen Besen, die Großmutter spann und der Hausl baute mir ein Haus aus großen Holzscheiten. Da klopft es mit einem Male ans Fenster. Erschreckt schreit die Großmutter auf; der Großvater aber geht hinaus, um zu sehen, wer so spät noch Einlaß begehrt. Er sperrt auf und tritt vor die Tür; im gleichen Augenblick aber hören wir ihn rufen: »Heiliges Kreuz! a Kind!«, und herein bringt er ein kleines Bündel und legt's auf den Tisch. Die Großmutter springt auf und wickelt es aus. Da liegen zwei kleinwinzige Wesen vor ihr, und wie sie das eine nehmen will, kann sie es nicht heben, weil das andere auch mit in die Höhe geht. Als sie dann die Windeln aufmachte, sahen wir erst, daß die Kinder zusammengewachsen waren. Außen am Bündel war ein Papier befestigt; darin lagen die Taufscheine der Zwillinge und ein Brief des Inhalts, daß eine Seiltänzerin die Kinder geboren und bei der Geburt gestorben sei. Man habe von der Handschusterin gehört und bitte nun um Gottes willen um Aufnahme für die Kinder; die Gemeinde würde schon zahlen. Da sagte die Großmutter: »Um Gottes willen is aa was; auf die Mautschein geht's aa nimmer z'samm!«

Und so behielt sie die armen Waislein. Als sie aber größer wurden und sitzen lernen sollten, fand man, daß die gewöhnlichen Stühlchen zu klein, eine Bank aber nicht für sie geeignet war; denn das Gesäß, mit dem sie seitlich zusammengewachsen waren, war nicht breiter als das eines Kindes; von den Hüften aufwärts aber nahmen sie den Raum von zweien ein. Also verfertigte ihnen der Großvater ein eigenes Stühlchen, sowie ein Bänklein mit einer runden Lehne, in das er zwei Löcher schnitt, das Bänklein polsterte und die Löcher mit Deckeln versah. Darunter stellte dann die Großmutter bei Bedarf zwei Nachthäflein. Auch alle Kleidungs- und Wäschestücke mußte sie eigens machen und das Süpplein gab sie ihnen nicht aus der gebräuchlichen Saugflasche, sondern nahm ein großes Glas und ließ einen zinnernen Deckel mit zwei Löchlein machen, durch die sie zwei lange Gummischläuchlein zog. Daran befestigte sie dann die Sauger.

Als die Mädchen zwei Jahr alt waren, erkrankte eines von ihnen an Diphtherie, während das andere seltsamerweise ganz gesund blieb.

Sieben Jahre hatten meine Großeltern diese Zwillinge bei sich, bis sie von der Gemeinde an den Besitzer einer Schaubude abgegeben wurden, der sie auf vielen Jahrmärkten herumzeigte.

Doch nicht immer waren es Kinder solch armer oder heimatloser Leute; mitunter wurde auch eins von besserem Stand uns vor die Tür gelegt.

So war eine reiche Dame in Rosenheim, die lange Zeit glücklich mit ihrem Manne, einem Doktor, gelebt hatte. Da ward sein Geist umnachtet und er vertat in kurzer Zeit all sein Gut. Zuletzt sperrte man ihn in ein Irrenhaus und wies die unglückliche Frau, die ihrer schweren Stunde entgegensah, von Haus und Hof. Dies brachte die Ärmste gleichfalls um den Verstand, und sie lief eines Nachts von Rosenheim fort und kam bis nach Ebersberg. Dort brachte sie in einem Schuppen das Kind, ein Mädchen, zur Welt. Sie hatte nichts, worein sie es wickeln konnte, und so zog sie ihren Rock aus, bettete das Würmlein hinein und band es mit ihren Strümpfen zusammen. In der Nacht machte sie sich wieder auf den Weg und lief, nun barfuß und nur halb bekleidet, bei bitterer Kälte, denn es war im Januar, fort bis in unser Dorf. Vor dem Haus des Bürgermeisters brach sie tot zusammen, und man brachte das Kindlein meiner Großmutter, die das erstarrte, halbtote Wesen wieder zum Leben brachte und aufzog.

Auch das Kind eines katholischen Priesters hatten wir einmal in der Kost. Es war von einem schönen Mädchen, einer Müllerstochter, die von dem Unhold betört und in großes Elend versetzt worden war. Sie ertränkte sich, während der Geistliche seine Pfarrei verlassen und mehrere Jahre lang einen Strafposten bekleiden mußte. Zum Glück starb das Büblein bald; es hatte den ganzen Kopf voll großer Blutgeschwüre gehabt.

Von den zwölf Kostkindern, die die Großmutter um diese Zeit aufzog, wuchsen zusammen mit mir die Urschl, der Balthasar, genannt Hausei, der Bapistei und die Zwillinge auf. Sie schliefen alle mit mir bei den Großeltern in der gemeinsamen großen Schlafkammer, die vier Fenster hatte. Mein Bett war auf der Seite, wo der Großvater schlief, während bei der Großmutter drüben das der Zwillinge stand. Nahe an ihrem Bett hatte die Großmutter die alte, buntbemalte Bauernwiege stehen. Daran war ein Ring und an diesem hing ein langes Band, das die Großmutter beim Schlafengehen um die Hand wickelte. An dem Bande zog sie nun leise, wenn das Kind unruhig war, und oft hörte ich, wenn ich nicht schlafen konnte, die ganze Nacht hindurch das leichte Knarren der Dielen. In die Wiege kam das Kleinste, außer es war ein anderes krank, das dann hineingebettet wurde. Darum lag die meiste Zeit der Bapistei darin; denn er war ein recht schwächliches, streitiges Kind. Mitunter nahm der Großvater der Großmutter das Bandl aus der Hand: »Geh, Muatta, laß mi hutschen; tua jetz a bißl schlafa!«

Aber er konnte es nicht so leise, wie sie, und da schrie dann der Bapistei so lang, bis die Großmutter wieder das Bandl nahm.

Das Kostgeld für jedes Kind war von der Gemeinde auf monatlich vier bis fünf Mark festgesetzt; trotzdem sorgte die alte Frau für sie wie für eigene. Sie war auch in der Krankenpflege sehr erfahren und hatte viele Hausmittel und wußte Krankheiten zu beschwören, was beim Landvolk unter dem Namen Abbeten bekannt ist.

Als unser Bapistei durch das viele Schreien einen Nabelbruch bekommen hatte, heilte ihn die Großmutter auf folgende Weise: Sie suchte beim wachsenden Mond drei kleine Kieselsteine unter der Dachrinne und drückte jeden Abend beim Mondaufgang einen davon dem Kinde auf den Nabel, drehte ihn mit dem Daumen und sprach dazu:

»Bruch, ich drucke dich zu,
Geh du mit der Sonne zur Ruh;
Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit,
Im Namen des Vaters und des Sohnes und
    des heiligen Geistes. Amen.«

Dann band sie das Steinlein mit einer Binde fest und gab dem Kinde einen heilkräftigen Tee. Nach einigen Tagen wurde der Bapistei wirklich gesund.

Eine meiner schönsten Erinnerungen aus dieser Zeit sind die Sonntagnachmittage im Winter. Da hat die Großmutter mir vorgelesen aus uralten, heiligen Büchern und mir erzählt von gottseligen Leuten und deren wunderbarem Tod; hat mir Beispiele von der Hilfe unserer lieben Frau von Frauenbründl und Birkenstein erzählt und wundersame Gebete mir vorgebetet und mich gelehrt. Wenn sie dann beim Lesen eingenickt war und ich zu ihren Füßen auf dem Schemel saß, geschah es manchmal, daß ihr die alte Hornbrille von der Nase und in den Schoß fiel. Beim Erwachen wollte sie weiterlesen; da sie aber ohne Glas nichts sehen konnte, rückte sie das Buch immer näher an die Augen und griff endlich nach der Stelle, wo die Brille gesessen, um sie zurechtzurücken. Da merkte sie erst, daß sie ihr entfallen war.

Oft geschah es auch, daß sie in der Eile die Brille auf die Stirn schob, wenn sie mit jemandem sprach. Wollte sie dann später etwas lesen, so suchte sie überall: »Habt's es denn nindascht g'sehgn? Woaß neam'd, wo i s' hing'legt hab? I find s' scho wieda net!«

»Ja, was suachst denn, Muatta; was findst denn scho wieda net?« fragte dann der Großvater.

»Ah, was wer i denn suacha! 's Augnglas!«

»Jessas, Jessas! Hast es ja a so drobn am Hirn; bist da du dumm, Muatta!«

Mit diesen Worten schob er ihr die Brille wieder auf die Nase.

Ich hatte sie längst bemerkt; doch freute es mich, die Großmutter so ratlos zu sehen, und ich lief überall mit ihr herum und suchte. Kopfschüttelnd ging dann der Großvater in den Stall oder gegen Abend wohl auch auf den Heuboden, um für die Kühe das Gsott zu schneiden.

Ich aber schlich mich in die Künikammer oder Königskammer, die zu betreten mir verboten war. Es war das die beste Stube des Hauses, angefüllt mit den Schätzen, die von den Ureltern auf uns gekommen waren; auch die Möbel darin stammten aus alter Zeit. Da standen zwei Truhen, an denen gar seltsame Figuren und Zierate zu sehen waren und darinnen der Brautschatz der Urgroßmutter lag. Es war dies ein bald bläulich, bald wie Silber schimmerndes Seidenkleid, ein köstliches, bunt und goldgesticktes Mieder, dazu eine goldbrokatene Schürze, in die leuchtend rote Röslein gewirkt und die mit alten Blonden besetzt war. Dabei lag eine hohe Pelzhaube, wie sie vor hundert Jahren die Bräute als Kopfputz trugen, und zwei Riegelhauben, eine goldene und eine schwarze, mit Perlen besetzt. Daneben stand ein Kästlein aus schwarzem Holz und mit Perlmutter eingelegt; darin lag das schwere, silberne Geschnür mit uralten Talern und einer kostbaren silbernen, neunreihigen Halskette und Ohrgehänge und silberne Nadeln. Ganz versteckt in der untersten Ecke aber lag, sorglich in ein zerschlissenes, seidenes Tuch gewickelt, das Brautkrönlein der Ururgroßmutter. Es war das ein zierliches Kränzlein, dessen Blumen und Blätter aus Rauschgold und Edelsteinen gearbeitet und mit Perlen und Filigran eingefaßt waren. Nach Art der Riegelhauben aber war es steif gefüttert, und über der verblichenen Seide lag noch ein matter, rötlicher Schimmer.

Die andere Truhe war voll des feinsten, selbstgesponnenen Flachses und schöner, gestrickter Spitzen. In einem großen, buntbemalten Schrank lag handgewirktes Bauernleinen, darunter ein großes Tischtuch, in welches das heilige Abendmahl gewebt war.

Zwischen den beiden Fenstern, deren dichte Vorhänge keinen Sonnenstrahl hereinließen, stand das Kostbarste, ein Glaskasten, dessen Rückwand mit Spiegeln belegt war. Darin spiegelten sich zierliche Meißener Figuren, Teller und Tassen und bunte gläserne Krüge. Im Vordergrund auf einem Ehrenplatz aber stand die alte Hausapotheke. Sie war voller Geheimnisse und sah aus wie ein Bild, das die heilige Familie vor dem Hause zu Nazareth darstellte; nur waren die Figuren rund und in Silber getrieben. Rechts im Vordergrunde stand der heilige Joseph mit einer Axt und zimmerte an einem Balken, während ihm gegenüber Maria mit einer Spindel saß und spann. In der Mitte aber war das Jesuskindlein und hielt in der einen Hand eine Axt und in der andern ein Kreuzlein, das es selbst gezimmert hatte. Die Figuren konnte man abschrauben und fand dann im Innern ein Fläschlein mit Medikamenten. Schraubte man das Jesuskind ab, so lag darinnen ein kleiner Schlüssel; der sperrte das Schlüsselloch im Hintergrunde und öffnete das Haus von Nazareth. Da fanden sich im Innern Lanzetten, Scheren und silberne Büchslein für Pflaster und Salben. Umgeben war das Ganze von einem alten, silbernen Rahmen.

In der Kommode lag mein Taufzeug und das der Kinder, die die Großmutter in der Kost gehabt hatte, dazu eine Menge seidener Tücher für Hals und Mieder. Eine andere Schublade war voll von Büchern, deren Druck so alt war, daß ich kaum ein Wort zu lesen vermochte. Auf dem alten Sesselofen stand eine große Schüssel, darin die Eier unserer Hennen für den Verkauf gesammelt wurden; ferner ein großer Blechbehälter mit Schmalz, etliche Krüge voll Honig und in der Bratröhre das feine Eingekochte. Unter der Bettstatt, deren Bett kaum zu ersteigen war vor Höhe und Fülle des Flaums, stand eine große Holzschachtel, in der die Kränze und der Grabschmuck aufbewahrt wurden. An den Wänden hingen alte Bilder mit sonderbaren Gestalten und Gesichtern und ein großes Kruzifix, dessen Christusfigur so erschreckend zerfleischt aussah, daß ich sie immer mit geheimem Grauen betrachtete.


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