Lena Christ
Erinnerungen einer Überflüssigen
Lena Christ

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Während ich also sorglos dahinlebte, geliebt von den Großeltern, getadelt von Lehrer und Pfarrer, gefürchtet von jenen Kameraden, die mich einmal in meiner Wildheit verspürt hatten, gesucht von denen, die meine Streiche verstanden und dazu halfen, kam eines Tages die Nachricht, daß die Mutter in München geheiratet hatte. Ich war nämlich nur ein lediges Kind, und mein Vater war, als ich kaum zwei Jahr alt, auf der Reise nach Amerika mit dem Dampfer Cimbria untergegangen.

Bald nach der Hochzeit meiner Mutter kam an einem Sonntagvormittag ein Brief. Die Großeltern saßen gerade mit der Nanni bei der Vesper, während ich hinter dem Rücken der Großmutter einen Riß in meinem Sonntagsgewand mit ein paar Klufen zusammensteckte.

Auf einmal schlägt der Großvater mit der Faust auf den Tisch und springt auf: »Ja, hast jatz so was scho derlebt!«

Erschreckt fragt die Großmutter: »Was hast denn, Vata? Is leicht gar ebbas passiert bei der Lena z' Münka drin?«

»Naa, aber's Lenei sollt i eahna einibringa; sie verlangt's!«

»Was!« schrie ich und sprang auf »I in d'Stadt! Naa, naa, dös tua i net!«

»Stad bist, du hast gar nix z' redn!« fuhr mich da die Nanni an. »Froh sollst sein, daß d' eini derfst in d' Stadt, wo's d' was Feins werdn kunntst!«

»Ja mei«, meinte die Großmutter, »gar so leicht is net. D' Leut han oamal z' schlecht in der Stadt und a Kind is glei verdorbn.«

Während nun die Großmutter und die Nanni noch lange hin und her berieten, hatte sich der Großvater nachdenklich auf das Kanapee gesetzt und stand jetzt mit den Worten auf: »In Gott's Nam', müaß' ma's halt hergebn.«

Dabei blieb es auch, und mir half weder Toben noch Bitten noch Schmeicheln etwas.

Also kam die Näherin auf die Stör und ich wurde mit Stoffen behängt und mit Nadeln besteckt und mußte den ganzen Tag stillstehen.

Und als der Morgen der Abreise gekommen war, badete mich die Großmutter und zog mir, nachdem der Großvater mit zufriedenem Schmunzeln meinen Rücken und das rundliche Bäuchlein befühlt und beklopft hatte, ein neues Hemd und die ersten Unterhosen an. Als ich in den Spiegel sah, ärgerte mich der hintere Hemdzipfel, der nicht in der Hose bleiben wollte, sondern wie ein Hennenschwanz starr und steif herausstand. Doch verschwand er bald unter einem roten Flanellröcklein, worüber ein grünes Bareschkleid kam, das mir bis auf die Fersen ging, und dessen Spenzer mit bunten Glasknöpfen besetzt war. Am Ende band mir die Großmutter noch ein himmelblaues Fürta und eine gestickte Halsbarbe um und steckte in das in zwei Zöpfen aufgemachte Haar einen silbernen Pfeil. Darauf wickelte sie mir den Gesundheitskuchen, den sie noch gebacken hatte, in ein buntes Tuch, der Großvater aber brachte einen Kletzenweck vom Bäcker und legte ihn in das Körblein zu den Schmalznudeln und Zwiefiäpfeln, die die Nanni geschickt hatte.

Als mir der große, schwarze Strohhut mit den roten Blumen und den karierten Bändern aufgesetzt worden war, nahm ich Abschied, wobei die Großmutter recht weinte. Auf dem Weg zum Postwagen sagte ich noch dem ganzen Dorf »Pfüat Gott«.

Unterwegs während der Fahrt gab mir der Großvater noch viele Ratschläge und sagte: »Dirnei, jatz muaßt a recht a g'scheits und recht a richtigs Madl werdn und muaßt dein neu'n Vatan recht mögn und der Münkara Muatta recht schö folgn. Muaßt aa recht g'schickt sei und überall zuawi springa, wo's was z'arbatn gibt. Jatz derf ma nimma Kuchei sagn, jatz hoaßts Küch, und statt der Stubn sagt ma Zimmer und statt'n Flöz sagt ma Hausgang. Und Kihrwisch sagt ma aa nimma, sondern Kehrbesen.«

Da versprach ich ihm, recht Obacht zu geben und brav zu bleiben.

Am Ostbahnhof stand schon meine Mutter und empfing uns mit großer Freude. Ich reichte ihr die Hand und sagte, der eben erhaltenen Lehren eingedenk, möglichst nach der Schrift: »Grüß Gott, Mutter!«

»Schau, schau, wie gebildet die Leni schon wordn ist! Da wird aber der Vater viel Freud habn, wenn er so ein g'scheits und vornehmes Töchterl kriegt.« Mit diesen Worten zog sie mich rasch an sich und führte mich an der Hand, während der Großvater sich hinter uns immer mit seinem Schneuztüchl zu schaffen machte.

Wir stiegen in eine Pferdebahn, und während sich die Mutter mit dem Großvater unterhielt, sah ich unverwandt durchs Fenster und starrte die hohen Häuser und die Kirchen an und staunte über die kurzen Röcke und Hosen der Kinder, die gerade aus einer Schule kamen. Am Marienplatz, wo wir aussteigen mußten, denn damals führte noch keine Pferdebahn nach Schwabing, vergaß ich beim Anblick des Fischbrunnens plötzlich meine ganze gerühmte Bildung und schrie, indem ich eilig darauf zulief. »Großvatta, do schaug hera, wia dö Fisch s' Mäu aufreißn!«

Entsetzt wandte meine Mutter sich ab, während mein Großvater mich am Ärmel ergriff und mir zuflüsterte: »Bscht, sei stad, Dirnei! Mäu derf ma ja jatz nimma sagn, Mund hoaßt's do jatz!«

Und damit nahm er mich bei der Hand und zog mich weiter. Doch vor der Residenz gab es einen neuen Zwischenfall. Dort zog eben die Wache auf, und ich rief beim Anblick der im Paradeschritt aufmarschierenden Soldaten: »Ah, Muatta, Vata, dö schaugts o! Dö gengan ja grad wia meine hülzern' Mandln, dö wo...«

»Um Gottes willen, Leni«, fiel mir die Mutter ins Wort, »sei doch still! Das is ja Majeschtätsbeleidigung!«

Während ich noch über dies letzte Wort nachdachte, zogen sie mich schon durch die Ludwigsstraße, und stillschweigend trottete ich nun nebenher, bis wir nahe dem Siegestor in eine Seitenstraße einbogen.

Vor einem hohen Hause, auf dessen rötlicher Fassade mit großen Buchstaben das Wort »Restaurant« geschrieben stand, machten wir halt. Unter dem Tore stand schon mein neuer Vater und empfing uns mit herzlichen und guten Worten. Wir traten durch den Hausgang in einen kleinen Garten, von dem aus eine Tür in die Küche führte. Nachdem uns die Mutter dort an einen kleinen Tisch gesetzt hatte, lief sie schnell in die Wohnung und zog sich um; denn es war Mittag und die Köchin begann schon zu jammern, weil sie bei der großen Zahl der Gäste mit dem Anrichten allein nicht fertig zu werden vermochte. Die Gastwirtschaft, die der Vater schon vor der Hochzeit übernommen hatte, war nämlich damals wegen der guten Küche von den Studenten sehr besucht. Mit offenem Munde sah ich nun dem Trubel im Gastzimmer und in der Küche zu und getraute mir mit dem Großvater kaum ein Wort zu reden vor Angst, die Mutter in ihrer aufgeregten Geschäftigkeit zu stören. Als es etwas ruhiger geworden war und die meisten Gäste fort waren, bekamen auch wir zu essen und gingen danach in die Gaststube zum Vater, der den Großvater nach vielem fragte: was die Großmutter mache, wie es mit dem Vieh gehe, wie es mit der Arbeit daheim sei und auch, was ich bisher getrieben. Da gab ihm der Großvater über alles Auskunft.

Am Abend gingen wir zeitig ins Bett, und man führte mich in ein kleines Kammerl, in dem nur ein Bett und ein Stuhl stand; denn meine Eltern besaßen damals nur das Allernötigste. Mein Großvater teilte das Bett mit mir und gab mir noch viele Ermahnungen, bis ich endlich in seinem Arm einschlief.

Andern Tags reiste er wieder heim, und ich mußte nun alles ländliche Wesen ablegen. Zuerst bekam ich ebenfalls kurze, städtische Kleider, und dann wurden mir meine schönen, langen Haare abgeschnitten, weil ich Läus' hätte, wie die Mutter sagte. Auch lernte ich jetzt arbeiten. In der Wirtschaft mußte ich kleine Dienste tun: Brot und Semmeln für die Gäste in kleine Körbchen zählen, den Schanktisch in Ordnung halten, Sachen einholen und manchmal auch den Kegelbuben ersetzen.

Meine Mutter war damals eine sehr schöne Frau und sprach immer sehr gewählt; denn sie war jahrelang Köchin in adligen Häusern gewesen. Darum schalt sie nun täglich über meine bäuerische Sprache, wodurch sie mich so einschüchterte, daß ich oft den ganzen Tag kein Wort zu sagen wagte. Auch in der Schule spotteten mich die Kinder aus und nannten mich nur den Dotschen oder die Gscherte. So dachte ich oft des Nachts, wenn ich allein in meiner Kammer war, denn bei Tag hatte ich nicht viel Zeit zum Nachdenken, mit Sehnsucht zurück an das Leben bei meinen Großeltern und erzählte unserer großen Katze, die ich mit ins Bett nahm, mein Unglück.

Im Sommer des darauffolgenden Jahres kam der Großvater das erste Mal auf Besuch. Hiefür hatte die Mutter mich ein Trutzliedlein gelehrt; und als er nun bei uns in der Küche saß und mich auf dem Schoß hielt, drängte ich ungeduldig: »Großvata, Großvata, i kann was; du, Vata, hör doch! I kann was!«

»Glei derfst es sagn, Dirnei, glei«, entgegnete er; denn er sprach noch mit der Mutter.

Und als ich es endlich sagen durfte, da sang ich:

»Was braucht denn a Bauer, a Bauer an Huat;
Für an so an gschertn Spitzbuam is a Zipflhaubn guat!«

Da sah ich statt des erwarteten Beifalls Tränen, die dem Großvater über die Wangen liefen, und nun merkte ich erst, was ich angestellt hatte.

»Großvata, i kann fei nix dafür!« rief ich. »D' Mutter hat mir's g'lernt.«

Er antwortete nichts darauf und strich mir nur wie zur Beruhigung übers Haar.

Nachts dann im Bett, ich schlief bei ihm, klagte ich ihm mein Leid und bat ihn, mich doch wieder mitzunehmen.

Und als er am Abend des darauffolgenden Tages vom Ostbahnhof fortfuhr, hängte ich mich an ihn, und als er eingestiegen war, sprang ich auf das Trittbrett und klammerte mich fest, so daß es der Mutter nur mit großer Mühe gelang, mich von dem fahrenden Zuge herunterzureißen. Danach bekam ich meine Prügel, die wohl berechtigt, aber nicht das rechte Mittel waren, um die Dinge besser zu machen.

Nachdem mein Stiefvater das Geschäft einundeinhalb Jahr geführt hatte, konnte er das Anwesen mit gutem Nutzen wieder verkaufen; denn er war ein tüchtiger Metzger und Schenkkellner und hatte die Wirtschaft in kurzer Zeit in die Höhe gebracht. Daraufhin beschlossen die Eltern, einige Zeit zu privatisieren und nachträglich ihre Hochzeitsreise zu machen.

Während ihrer Abwesenheit blieb ich bei der Tante Babett, einer Schwester meines Stiefvaters, die den Haushalt bei uns führte. Sie war fast den ganzen Tag in der Kirche und hat mich recht gequält und geschunden; denn sie wollte mich auch zu einer so heiligen Person machen, wie sie war. Ich wurde allen Pfarrern vorgestellt, und denen klagte sie, wie mürrisch und ungut ich sei, worauf mich die geistlichen Herren ermahnten, ich solle mich bessern.

Als die Eltern von der Hochzeitsreise, die sie zu Verwandten in die Schlierseer Berge gemacht hatten, nach zwei Monaten zurückkamen, begann die Mutter zu kränkeln, stand oft nicht auf, mußte sich häufig erbrechen und wurde doch von Tag zu Tag dicker. Die Tante aber saß hinter verschlossenen Türen und nähte an Hemdlein, an Tüchlein und Windeln.

Inzwischen hatte der Vater die Wohnung gekündigt und ein Haus mit einer Altmetzgerei in der Corneliusstraße gekauft. Mit dem Umzug dahin begann für mich ein ganz anderes Leben; denn die Tante Babett übernahm jetzt die Führung des Haushalts bei einem geistlichen Herrn, und da meinte die Mutter, ich sei groß genug, ihre Stelle zu versehen. Ich war damals neun Jahre alt.

In aller Frühe mußte ich zuerst das Fleisch austragen, dann Feuer machen, Stiefel putzen, Stiegen wischen und der Mutter die Sachen einholen, die sie zum Kochen brauchte. Sie blieb jetzt immer am Morgen liegen, und so ging ich gewöhnlich nüchtern in die Schule.

In einer Februarnacht aber kam das Kind, und damit begann für mich eine harte Zeit. Nun hieß es um fünf Uhr aufstehen und zu den übrigen Arbeiten noch das Bad, Wäsche und Windeln für den kleinen Hansl herrichten. Kam ich mittags aus der Schule, wurde ich meistens mit Schlägen empfangen; denn ich hatte nachsitzen müssen, weil ich in der Früh zu spät gekommen war. Vor dem Essen mußte ich noch den Laden und das Schlachthaus putzen und das Nötige einkaufen. Bei Tisch hatte ich dann laut das Tischgebet zu beten. Als ich einmal beim Vaterunser statt auf das Kruzifix zum Fenster hinaussah, schlug mich die Mutter ins Gesicht, daß mir das Blut zu Mund und Nase herauslief, auch bekam ich nichts zu essen und mußte während der Mahlzeit am Boden knien. Nach Tisch hatte ich das Geschirr zu spülen, die Kindswäsche zu waschen und den Buben einzuschläfern. Ganz abgehetzt kam ich dann des Nachmittags in die Schule und konnte während der Handarbeitsstunden nur mühsam den Schlaf bekämpfen. Deshalb lernte ich nur schlecht handarbeiten und bekam in diesem Fach meist die Note »Ungenügend«. Zudem strengte mich besonders das Stricken an und verursachte mir stets heftiges Kopfweh. Das wußte die Mutter. Hatte ich nun bei der Hausarbeit etwas nicht recht gemacht, so gab sie mir mit einem spanischen Rohr sechs und manchmal zehn Hiebe auf die Arme und die Innenfläche der Hände, daß das Blut hervorquoll. Hierauf mußte ich mir die Hände waschen und an einem Strumpf in einer gewissen Zeit einen großen Absatz stricken. Vermochte ich vor Schmerzen bis zu der bestimmten Minute nicht fertig zu werden, so wurde die Züchtigung wiederholt.

Im übrigen machte ich in der Schule gute Fortschritte und war bald die Erste. Meine Lehrerinnen nahmen sich meiner an, und als ich einmal in der Früh barfuß in die Schule kam, schickte mich mein Fräulein mit einem Brieflein nachhause, worin sie der Mutter Vorwürfe machte. Doch hatte dies nur eine erneute Züchtigung mit einem Spazierstock meines Vaters zur Folge, einem sogenannten Totschläger oder Ochsenfiesel, in den ringsherum kleine Bleikugeln eingegossen waren.

Geliebt hat mich meine Mutter nie; denn sie hat mich weder je geküßt, noch mir irgend eine Zärtlichkeit erwiesen; jetzt aber, seit der Geburt ihres ersten ehelichen Kindes, behandelte sie mich mit offenbarem Haß. Jede, auch die geringste Verfehlung wurde mit Prügeln und Hungerkuren bestraft, und es gab Tage, wo ich vor Schmerzen mich kaum rühren konnte.


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