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23. Kapitel.
Worin die Farmer einen Ring bilden und wunderbare Visionen vor ihnen auftauchen.

Es war schon hohe Zeit für die Herbstanpflanzung auf dem Wallingfordschen Gute, und die ganze Grafschaft Truscot war aufs äußerste gespannt auf die Ergebnisse der neuartigen wissenschaftlichen Farmwirtschaft, die Ham Tinkle auf jenem Gute einführen wollte. »Reagenzglas-Ökonomie« nannten es die Farmer spöttisch in Anspielung auf Tinkles chemische Methoden. Dieser junge Enthusiast hatte sich vom ersten Augenblick seiner neuen Stellung an mit einem Eifer auf seine Aufgabe gestürzt, die ihm kaum sechs Stunden Schlaf ließ.

Inzwischen machte J. Rufus eine Reise nach Chicago, wo er einen Makler nach dem anderen aufsuchte. Diejenigen Bureaus, die fein polierte Holztäfelung, Messingverzierungen und teure Ledermöbel aufwiesen, verließ er sofort wieder, ohne auch nur seinen Namen anzugeben; denn solche Bühnenrequisiten kannte er nur zu genau aus seiner eigenen Regietätigkeit, und er mißtraute ihnen daher. Schließlich kam er aber in das Bureau der Maklerfirma Fox & Fleecer, ein unsauberes, matt erleuchtetes Lokal, wo das Gas den ganzen Tag über brannte, die Holztäfelung zerkratzt und geschwärzt, die Möbel schadhaft und mit Draht zusammengebunden waren, damit sie nicht auseinanderfielen, und wo auf einem wurmstichigen, splitterigen Sessel ein kleiner, fauler Bursche herumsaß. Im Vorzimmer etwa ein Dutzend Männer in mittlerem Alter, typische Figuren der Chicagoer Börse.

Mr. Fox, langsam in seiner Rede, durchaus gelassen in seinem Gehaben, ein mild dreinblickender Mann mit silbernen Bartkoteletten, war augenscheinlich bemüht, den. Eindruck hervorzurufen, daß er sich zwar durch den Besuch eines so vornehmen Herrn wie Mr. Wallingford geschmeichelt fühle, daß aber seine gewohnheitsmäßige Zurückhaltung ihm nicht gestatte, seiner Genugtuung Ausdruck zu geben.

»Wieviel Geld kann man Ihnen anvertrauen?« fragte Wallingford ohne Umschweife.

»Darüber möchte ich mich nicht äußern«, entgegnete Mr. Fox, ohne jede Spur von Staunen oder Unwillen. »Wir sind seit dreißig Jahren in demselben Bureau, und wir haben bisher noch nie soviel Geld in Händen gehabt, daß es sich für uns rentiert hätte, das Geschäft aufzugeben. Gestatten Sie mir, Ihnen unsere Bücher vorzulegen.«

Sein Hauptbuch wies einige Konten auf, die mit Beträgen wie 250 000 Dollars bilanzierten. Soviel war ihnen von einzelnen Personen anvertraut worden. Nicht oft genug konnte der Makler darauf hinweisen, daß die Firma seit dreißig Jahren ihren Sitz im selben Hause hatte. Wallingford nickte mit dem Kopf.

»Bevor ich mit Ihnen fertig bin,« sagte er, »werden Ihnen 250 000 Dollars wie ein Taschengeld vorkommen. Zunächst aber werde ich Ihnen 50 000 Dollars behändigen, mit denen Sie folgendes tun werden: Nächsten Montag vormittag kaufen Sie für 10 000 Dollars 100 000 Bushels Dezember-Weizen, mit einer Marge von zehn Cents. Zu diesem Ankauf wird über die 10 000 hinaus kein Geld aufgewendet; machen Sie erforderlichen Falles ein Gegengeschäft zur Beschränkung von Verlusten. Wenn der Weizenkurs so tief sinkt, daß die 10 000 Dollars aufgeschluckt werden, schön, dann tun Sie nichts weiter, sondern berichten mir einfach die Tatsache. Ich werde das Heulen schon alleine besorgen. Wenn der Weizen so hoch geht, daß ich fünf Cents den Bushel daran verdiene – fünf Cents netto, ausschließlich Kommission –, so verkaufen Sie und schicken mir das Geld. Am darauffolgenden Montag verkaufen Sie, wenn der Weizenkurs über den heutigen gestiegen ist, weitere 100 000 Bushels, so daß ich netto fünf Cents für mich mache; sollte der Kurs gesunken sein, dann kaufen Sie. Das nämliche wiederholen Sie an fünf aufeinanderfolgenden Montagen, behandeln aber jedes Geschäft getrennt für sich. Sehen Sie zu, daß ich wenigstens einmal unter fünf solchen Geschäften gewinne; mehr verlange ich nicht.«

Mr. Fox dachte einen Augenblick tief nach und fuhr sich dabei mit seiner Hand über seinen kahlen, roten Schädel. Er machte immer den merkwürdigen Eindruck eines Menschen, der neben der Sache, mit der er sich augenblicklich beschäftigt, auch noch über irgendein anderes, interessantes, unentwirrbares Problem tief nachsinnt.

»Sehr gut«, bemerkte er. »Die Firma Fox & Fleecer macht niemals Versprechungen; wenn Sie aber so freundlich sein wollen, Ihre Instruktionen schriftlich zu wiederholen, so werde ich sie unserem Mr. Fleecer weitergeben, der für uns die Börsengeschäfte macht. Was er tun kann, wird geschehen.«

Wallingford blickte um sich und suchte mit den Augen einen Stenographen. Da aber die Firma keinen solchen beschäftigte, setzte er sich an einen kleinen Schreibtisch, den Mr. Fox ihm zeigte, und schrieb die Instruktionen nieder. Währenddessen fuhr Mr. Fox fort, seine glänzende Schädeldecke zu reiben; er arbeitete augenscheinlich noch immer an jenem interessanten, unlösbaren Problem.

Zehn Tage später traf auf der »Reagenz-Farm« ein Bericht der Firma Fox & Fleecer ein. Dem Brief war ein Scheck auf 15 000 Dollars beigelegt. Der Weizenkurs war in der Woche nach der Verkauforder Wallingfords erfreulicherweise um sechs Cents gestiegen. Diesen Scheck und den Begleitbrief, in dem ein Bericht über die Transaktion enthalten war, zeigte Wallingford seinem Betriebsleiter Ham Tinkle. Er tat dies natürlich ganz zufällig, ganz nebenher; und Ham, begeistert und von Ehrfurcht erfüllt, vertraute diesen Gewinn von 5000 Dollars unter dem Siegel der Verschwiegenheit dem Hiram Hines an, der seinerseits in der ganzen Grafschaft Truscot verbreitete, daß »Richter« Wallingford auf einmal 15 000 Dollars an einem Weizengeschäft verdient habe. 15 000 Dollars, das stellte bei einem gewöhnlichen Menschen die Ersparnisse eines ganzen Lebens dar. Hatte Hines den Gewinn Wallingfords von 5000 auf 15 000 erhöht, so wuchs der Betrag auf 50 000, als er von der Grafschaft Truscot in die Grafschaft Mapes gelangte. Zwei Wochen später sandten die Herren Fox & Fleecer ihren Bericht über die zweite Order Wallingfords: der zu 94 verkaufte Weizen war auf 88 gefallen. Das Glück war offenbar auf seiten Wallingfords.

»Warum, o, warum gelingen solch einem hergelaufenen Menschen gleich zum erstenmal alle möglichen schwierigen Kunststücke, während alte, erfahrene Praktiker ihre Talente nutzlos auf dem Broadway vergeuden?« jammerte Blackie Daw. »Wo ist aber die Pointe, J. Rufus? Daß du Glück hast, sehe ich; wo aber bleiben die ›gedrückten, geknechteten Farmer‹? Belehre mich. Ich bin ein kleines Kind.«

»Du würdest es doch nicht verstehen, Blackie«, sagte J. Rufus mit herablassender Miene. »Die bloße Tatsache, daß du diese armseligen Profite als wirkliches Geld betrachtest, zeigt, daß du tatsächlich ein kleines Kind bist. Warte nur, bis der große Coup kommt! Morgen abend mußt du der Eröffnung der ›Literarischen Gesellschaft für Studienfreunde‹ beiwohnen, die im Schulhause von Willow Creek stattfindet, dann wirst du Gelegenheit haben, zu sehen, wie kluge Leute handeln.«

Bei dem denkwürdigen Anlaß, den Wallingford soeben erwähnte, trug er einen pelzgefütterten Mantel und einen handgestrickten, blauen Seidensweater. Er wurde mit großem Hurra begrüßt, und auf seinen Vorschlag wurde folgende brennende Frage zur Debatte gestellt: »Die Mißerfolge des Farmers als Geschäftsmann.«

Die ersten Redner, Abe Johnson und Dan Price, die die These bejahten, und Jim Whorley und Ed Wiggin, die die gegenseitige Anschauung vertraten, erörterten den Gegenstand mit reichlichem Stampfen der Füße und Fuchteln der Hände. Der Farmer wurde als gutgläubiges Opfer aller Arten von Schwindler hingestellt, als Beute eines jeden habgierigen Kaufmanns, als ein Erzeuger, der aus seinem Kapital und seiner Arbeit geringeren Nutzen zog, als jeder andere Berufsmensch. Diese Auffassung, von Leuten vorgetragen, die ihren Beruf und dessen Schattenseiten genau kannten, trug den Sieg über die gegenteilige Ansicht davon. Sichtlich hocherfreut und außerordentlich befriedigt, erhob sich, als der vorgeschrittenste, weitestblickende Farmer, J. Rufus Wallingford, von seinem Sitz und erbat sich von dem geehrten Vorsitzenden die Vergünstigung, einige Worte an die Versammlung richten zu dürfen – eine Gunst, die ihm mit Vergnügen, ja mit Entzücken gewährt wurde.

Es war ein ereignisreicher Augenblick, als Wallingford den Mittelgang entlang schritt, an dem glühendroten, bauchigen Ofen vorbei, und die Rednerbühne bestieg, von der herab schon so viele leidenschaftliche Ansprachen gehalten worden waren. Als er sich auf diesem historischen Podest seinen Zuhörern zuwandte, schien er diesen ganzen Teil des Schulzimmers auszufüllen, das Pult des Lehrers, die Tafel und die vierfarbige Landkarte der Vereinigten Staaten, die hinter ihm hing, in Schatten zu hüllen. Er war ein vornehm aussehender Mann, ein solide aussehender Mann, ein Gentleman von Reichtum und Kultur, den das Glück nicht hochmütig gemacht hatte, der vielmehr allen Menschen ein Bruder war. Er hatte bereits diesen beneidenswerten Glauben in der Versammlung erweckt.

Freunde, Nachbarn und Berufsgenossen, sagte er etwa, es ist eine ganz eigentümliche Tatsache, daß der Landwirt der einzige Produzent in der ganzen Welt ist, der bei der Preisbildung für sein Produkt nicht mitbestimmen kann. Der Fabrikant erzeugt seine Ware und bestimmt ihren Preis, und der Konsument hat diesen Preis zu bezahlen. Und auf welche Art wird dieses Ergebnis herbeigeführt? Indem man die Konkurrenz erwürgt. Und wie wird die. Konkurrenz erwürgt? Indem alle Interessenten eines bestimmten Erwerbszweiges sich konsolidieren. Eisen und Stahl werden von einer mächtigen Körperschaft kontrolliert, gegen die keine Konkurrenz aufkommen kann; Petroleum und alle seine Nebenprodukte sind in den Händen einer anderen solchen Korporation, und jede derselben setzt den Preis fest, der ihr beliebt. Nur der Farmer, der Monate hindurch schwer, mühselig arbeitet, der allen Unbilden der Witterung ausgesetzt ist, der gegen alle Launen der Natur und gegen eine erschreckend große Zahl verderblicher Möglichkeiten zu kämpfen hat, der sein Produkt selbst auf den Markt zu schleppen hat und der jeden Preis annehmen muß, der ihm geboten wird: der Farmer bildet die einzige Ausnahme von dieser eisernen Regel. Die Preise eines jeden Bodenerzeugnisses werden von einer Clique von Spekulanten diktiert, die sehr wahrscheinlich in ihrem Leben nie Weizen wachsen Und Vieh weiden gesehen haben. Freunde, Nachbarn und Berufsgenossen! Diesen traurigen Zuständen muß ein Ende gemacht werden! Wir müssen uns zusammenschließen! Wenn wir eine geschlossene Einheit bilden, so können wir Farmer so fest wie ein Felsen dastehen, können einen vernünftigen, angemessenen Preis verlangen und ihn auch erhalten. Heute wird der Weizen von der Chicagoer Börsenkammer mit 94 notiert; der Farmer aber ist glücklich, wenn er franko Bestimmungsort 82 erzielt. Es ist nicht einzusehen, warum die Farmer nicht übereinkommen sollten, einen ständigen Preis von anderthalb Dollar für den Bushel Weizen festzustellen. Das muß unser Schlachtruf sein: Weizen zu anderthalb Dollar!«

Er sei persönlich an diesem Projekt außerordentlich lebhaft interessiert, fuhr er fort, und er sei bereit, sein Leben und sein Vermögen für die Verwirklichung dieser großen Aufgabe herzugeben; und er lade hiermit seine Freunde, Nachbarn und Berufsgenossen ein, zur Förderung dieser guten Sache am nächsten Sonnabend abend sich in seinem Hause zu versammeln, und dort über die geeignetsten Mittel zu beraten, diese große Idee in die Wirklichkeit umzusetzen. Ein Imbiß und ein paar gute Zigarren würden sich schon auftreiben lassen, um sie seinen Gästen darzubieten. Alle diejenigen, die seiner Einladung Folge leisten wollten, möchten sich von ihren Sitzen erheben.

Wie ein Mann stand die Versammlung auf, und als J. Rufus Wallingford, von seinem ungeheuren Projekt ganz erfüllt, von der Plattform herabstieg, hallten die Wände des Schulhauses von Willow Creek von den donnernden Hurras wieder, die seiner Rede folgten.

Die »Handels-Genossenschaft der Farmer«! Farmerverbände hatte es in Amerika schon ohne Zahl gegeben, mit politischen, wirtschaftlichen, erzieherischen Tendenzen. Ebenso auch Vereinigungen für den Ankauf en gros aller Farmgeräte und für alle erdenklichen anderen Zwecke; aber nichts, was der neuen Genossenschaft gleichkam. Denn fürs erste erhob die »Handels-Genossenschaft der Farmer« weder Eintrittsgebühr noch Monatsbeiträge, sondern ihr ausschließlicher Zweck war, einen einheitlichen Preis von anderthalb Dollar für den Bushel Weizen herbeizuführen. Die erste Versammlung, der jeder Bodenbebauer in der Grafschaft Truscot und sogar mehrere aus der Grafschaft Mapes beiwohnten, war so groß, daß das Haus Wallingfords nicht Platz genug hatte, um sie alle zu fassen, und daß die Versammlung in der neuen großen Scheune stattfinden mußte, wo der Enthusiasmus hinreichend Platz hatte, sich auszubreiten. Eine einzige Zusage Wallingfords hatte alle etwa aufgetauchten Zweifel und Bedenken zerstreut: J. Rufus Wallingford wird alle Kosten tragen!

Mit Blitzeseile organisierte sich die Versammlung; »Richter« Wallingford wurde einstimmig zum Präsidenten erwählt und von der Versammlung unter großer Begeisterung ermächtigt, alles Geld (aus seiner eigenen Tasche) auszugeben, das er zum Wohle der Genossenschaft zu verausgaben für gut befand. Nur eine ganz geringfügige Verpflichtung wurde den Mitgliedern auferlegt. Präsident Wallingford verlas ein Schriftstück, das als Kettenbrief von den Mitgliedern weitergegeben werden sollte. Er war kurz und sachlich. Er brachte in wenigen Sätzen die Ziele zum Ausdruck, die die »Handels-Genossenschaft der Farmer« sich gesteckt hatte, und was die Genossenschaft zu ihrer Verwirklichung zu unternehmen gedachte; besonderer Nachdruck wurde auf die Tatsache gelegt, daß keine Eintrittsgebühren erhoben, daß den Mitgliedern keinerlei Ausgaben, unter welchem Titel immer, aufgebürdet werden sollen. Alles, was man von den Mitgliedern verlangte, war, in möglichst großer Anzahl einzutreten, andere zu werben, und, wenn die Genossenschaft stark genug sein werde, anderthalb Dollar für ihren Weizen zu fordern. Es war eine glänzende, verheißungsvolle Sache, denn die Mitgliedschaft war mit keinerlei Mühen, keinen Ausgaben und keinem Risiko verknüpft, dagegen war viel zu gewinnen. Jeder der etwa neunzig Anwesenden sollte sich nur verpflichten, drei oder mehr dieser Briefe an seine Freunde und Berufsgenossen zu schreiben, und jeder Empfänger eines solchen Briefes wurde in dem Schreiben aufgefordert, daß von ihm nichts mehr verlangt werde, als daß er sich in die Genossenschaft als Mitglied eintragen lasse, auch seinerseits drei oder mehrere solcher Briefe schreibe und seinen Namen schriftlich bei dem Sekretär Horatio Raven anmelde.

Der wohledle Horatio Raven war auch anwesend. In der Scheune stand ein Faß guten Apfelweins, und jede paar Minuten konnte man den Herrn Raven sehen, wie er ein oder zwei Bekannte in aller Stille in den Keller hinunterführte, wo noch andere Fässer und Flaschen lagen. Die guten Zigarren, die herumgereicht wurden, trugen das ihrige zur Erhöhung der ohnehin gehobenen Stimmung bei, und als die Versammlung auseinanderging, war jeder einzelne fest überzeugt, daß J. Rufus Wallingford der Moses war, der die Farmer von Amerika aus der Wüste ihrer Kümmernisse führen werde.

In den nächsten zwei oder drei Tagen wurden in den Grafschaften Truscot und Mapes ungefähr dreihundert Briefe geschrieben, in denen ungefähr dreihundert Farmer im großen Weizengürtel aufgefordert wurden, volle 60 % für ihren Weizen mehr zu fordern, als der Durchschnittspreis betrug, den sie bisher stets erhalten hatten, und daß sie diese Aufforderung an ihre Freunde und Berufsgenossen weitergeben. Es wurde nicht vergessen, ausdrücklich zu erwähnen, daß sie diese große Wohltat ohne jede Geldausgabe würden entgegennehmen können. Eine wahre Flut von Briefen ergoß sich in den nächsten Tagen über alle Weizenstaaten der nordamerikanischen Union. Knapp eine Woche später begannen bei dem Sekretär Horatio Raven Anmeldungen und Bitten um weitere Auskunft flutartig einzulaufen, und das Kartenregister, das der edle Raven eigentlich mehr als einen Scherzartikel gekauft hatte, leistete jetzt sehr erhebliche Dienste. Eine, dann zwei, dann drei Kontoristinnen mußten eingestellt werden. Eine Broschüre, in der die Zwecke und Ziele der »Handels-Genossenschaft der Farmer« ausführlich dargelegt wurden, wurde gedruckt und an alle Mitglieder verschickt. Wallingford bezahlte natürlich den Druck und das Porto.

Den ganzen langen Winter hindurch war der Präsident dieses großen Verbandes ständig auf Reisen, immer in seinem Anzug aus Manchestersamt, seinem breiten Filzhut auf dem Kopf und seine Beinkleider in die hohen Schaftstiefel aus Seehundsfell gesteckt. Seine Reisen erstreckten sich von Pennsylvania im Osten bis Nebraska im Westen, und von Minnesota im Norden bis Texas im Süden, und überall bildete seine Ankunft den Kristallisierungspunkt einer Zweigabteilung der »Handels-Genossenschaft der Farmer«. Jeden Abend hielt er Ansprachen an eine Versammlung skeptischer Farmer, die zunächst nur aus Neugierde kamen, dann aber durch die eindrucksvolle Persönlichkeit des »Richters« Wallingford sofort belehrt wurden, die, als sie ihm lauschten, den Einfluß jenes magnetischen Fluidums verspürten, das er auf seine Zuhörer immer zu übertragen verstand, und die dann begeistert fortgingen, um das große Werk, das er in Angriff genommen hatte, in immer weitere Gegenden zu tragen. Als die Weihnachtszeit hereinbrach, hatte er bereits ein Dutzend Staaten bereist und in beinahe hundert Zweigverbänden Reden gehalten. In jeder dieser Versammlungen wurden die Kettenbriefe ins Unendliche fortgesponnen, und die Dezember-Versammlung der Zentralorganisation der »Handels-Genossenschaft der Farmer« gestaltete sich gleichzeitig zu einer Weihnachtsfeier in der Scheune jenes fortschrittlichen und opferfreudigen und edlen Farmers J. Rufus Wallingford.

Es war dies ein riesiges Familienfest, das zwei Abende vor Weihnachten abgehalten wurde, damit der Feier in der Baptistenkirche von Three Roads oder jener in der Presbyterianerkirche zu Millers Crossing kein Abbruch getan werde. Die große Scheune war vom Fußboden bis zu den Deckenbalken mit Kränzen und Girlanden geschmückt. Am oberen Ende der Scheune stand ein riesiger Weihnachtsbaum, in dessen Zweigen hunderte von kleinen elektrischen Lichtern glühten, und Baumschmuck ohne Zahl, hell gefärbt und metallisch leuchtend herabhing. Für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind gab es eine hübsche kleine Bescherung. In der Länge, des Saales dehnten sich zwei große Tische aus, auf denen hinreichend Eßwaren gedeckt waren, um eine kleine Armee zu füttern, hauptsächlich riesige Truthähne mit allem Zubehör. An der Spitze des Damentisches saß Frau Wallingford, mit glitzernden Diamanten geschmückt; es war das erstemal, seitdem sie in diese Gegend gekommen war, daß sie diese Juwelen trug; und an der Spitze der Herrentafel saß, festlich im Smoking, kostbare Diamantenknöpfe auf seiner breiten, weißen Hemdenbrust, der Spender aller dieser Gaben, »Richter« J. Rufus Wallingford, der Präsident der großen »Handels-Genossenschaft der Farmer«. Das Gefühl seines Triumphes erfüllte ihn ganz, und er nahm im passenden Augenblick Gelegenheit, es ihnen auch zu sagen. Weit über seine kühnsten Hoffnungen hinaus, erklärte er, hat die »Handels-Genossenschaft der Farmer« sich in jedem Staat ausgebreitet, ja in jeder Gemeinde, wo Weizen gepflanzt wird; und die Zeit nähert sich mit Riesenschritten, da der Farmer, jetzt Geschäftsmann geworden, in der Lage sein wird, volle Entschädigung für seinen Aufwand an Zeit, Geld und Mühe zu erlangen. Außerdem wird die Genossenschaft alle die Raubvögel vernichten, die sich an dem Farmer mästen, alle samt und sonders, mit allen Federn, Knochen, Schnäbeln, mit ihrer Brut, ihren Eiern und Nestern.

Gleich nach dieser Rede ließ der Sekretär Horatio Raven ein ganzes Bündel von Berichten über die verschiedenen erfolgreichen Geschäfte herumreichen, die Wallingford in dieser kurzen Zeit gemacht hatte, und von denen jedes ihm 5000 Dollars bei einer Anlage von 10 000 Dollars eingebracht hatte. Und tatsächlich war der Erfolg diesem Manne ganz außerordentlich günstig gewesen. Durch eine jener merkwürdigen Glücksserien, die manchmal die Eintönigkeit fortwährenden Pechs beim Spielen unterbrechen, hatte er nicht weniger als fünfmal von jeden sechs Geschäften, die er der Firma Fox & Fleecer anvertraut hatte, gewonnen. Die Mißerfolge behielt er natürlich für sich. Harn Tinkle goß noch Öl in die Flamme, welche diese Belege eines ganz außergewöhnlichen Erfolges entfacht hatten, indem er eine Ansprache hielt, in der er den Anwesenden mitteilte, wie er selbst auf Grund der zuverlässigen Informationen Wallingfords über die Marktlage in der Lage gewesen war, sein bescheidenes, kleines Vermögen von 200 Dollars in den letzten drei Monaten auf 700 zu erhöhen, wobei noch verschiedene gewinnbringende Geschäfte ausständen.

Wallingford, der sich nochmals zu einer Ansprache erhob, prophezeite jedoch, daß solche Profite in der Zukunft verschwinden würden; denn er beabsichtige, mit Hilfe der »Handels-Genossenschaft der Farmer« die verruchte Weizen- und Produktenbörse aus der Welt zu schaffen, und nicht nur diese Börse, sondern jede Art von Spekulation in Nahrungsmitteln in den ganzen Vereinigten Staaten. Das Tätigkeitsgebiet der »Handels-Genossenschaft der Farmer« sei viel größer, viel weiter reichend, als er selbst es sich vorgestellt habe, da er den Plan zuerst entwarf. Wenn die Genossenschaft genügend stark sein werde, dann werde sie nicht bloß einen festen Barpreis für Getreide erwirken, sondern auch jenes Geschwür am Körper der amerikanischen Landwirtschaft, die Börsenkammer, ausbrennen, und zwar durch einen sehr einfachen Prozeß – indem man ihnen ihr Geld abnahm. Wenn die Farmer im entscheidenden Augenblick genau wissen werden, welchen Preis ihr Weizen bringt, dann werden sie auf die Märkte gehen und kraft ihrer vereinigten Profite jeden Menschen ruinieren, dessen Beruf und Geschäft darin besteht, durch ruchlose Manipulationen künstliche Preise für Weizen, Hafer, Mais und Vieh zu schaffen. Fast eine Million Namen seien jetzt bereits in die Mitgliederliste des Verbandes eingetragen, und an diese Million Namen seien Zirkulare verschickt worden, in denen die Pläne und Ziele der Organisation eingehend dargelegt seien; das Porto für diese Sendungen belaufe sich allein auf nahezu 10 000 Dollars. Diese Ausgabe habe er gern getragen, um das große Reformwerk zu fördern. Kein anderes Mitglied des Verbandes habe auch nur einen Pfennig für diesen Zweck auszugeben gebraucht. Er habe beinahe 20 000 Dollars für Reise- und andere Ausgaben hergegeben, aber die günstige Marktlage habe ihm alles wieder hereingebracht, so daß er keine Verluste erlitten habe; aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre, so würde er es nicht bedauern, würde es seine Hand nicht lähmen. Er sei fest entschlossen, jede Regierungsobligation, jede Industrie- und. Eisenbahnaktie, die er besitze, zu verkaufen, ja sogar, wenn nötig, eine Hypothek auf seine Farm aufzunehmen, um die Genossenschaft auszubauen und sie zu dem mächtigen und unüberwindlichen Faktor im landwirtschaftlichen Handel zu machen, die sie nach seiner Absicht werden soll. Es sei sein Traum, sein Ehrgeiz, sein felsenfester Entschluß, diesen großen Verband als einen Beweis zu hinterlassen, daß er nicht vergeblich gelebt habe; und wenn er es erleben sollte, daß die Weizenspekulanten aus ihrem schändlichen Gewerbe hinausgedrängt werden, daß die Farmer der Vereinigten Staaten endlich nach so vielen Generationen mühevoller Arbeit ihre gerechten Ansprüche erfüllt sehen, dann würde er, Frieden im Herzen und ein Lächeln auf seinen Lippen, sterben, gern sterben, selbst wenn ein Armengrab seine letzte Ruhestätte sein sollte.

Wirkliche, echte Tränen schwammen in seinen Augen, und seine Stimme zitterte, als er mit diesen Worten seine Rede beschloß. Vom unteren Ende der Tafel aus beobachtete ihn Blackie Daw mit einem eigenartigen Lächeln, das beinahe ein sardonisches Grinsen war. Von der Spitze des Damentisches aus beobachtete ihn Frau Wallingford mit bleichem Gesicht, das immer blasser wurde; aber niemand im ganzen Raume beachtete dieses sehr bezeichnende Mienenspiel. Und als J. Rufus Wallingford sich wieder setzte, brachen die Anwesenden in ein so betäubendes Hurrageschrei aus, daß jeder Zweig des glitzernden Weihnachtsbaumes zitterte.

Er war ein ganz wunderbarer Mann, dieser Wallingford, ein Genie, ein Märtyrer, ein Wesen, ganz zusammengesetzt aus der Milch menschlicher Güte und brüderlicher Liebe (diese gewagte Metapher schwebte auf aller Lippen). Aber die schnell anwachsende Genossenschaft, die er gegründet hatte, war noch wunderbarer. Die Farmer konnten so deutlich wie durch Glas sehen, welche riesigen Vorteile der Verband ihnen bringen würde; und noch deutlicher konnten sie sehen, wie sie selbst an der Hand sicherer Kenntnis des Preises, welchen der Weizen in naher Zukunft erzielen werde, mit fiktivem Weizen Geschäfte machen und dann kraft ihrer enormen vereinigten Gewinne alle Börsenkammern sprengen würden. Es war ein Gedanke, riesenhaft in seiner Weite, perfekt in jeder Einzelheit, verblüffend in seiner Lückenlosigkeit. Als die Farmer nach jenem denkwürdigen Abend nach Hause zurückkehrten, trug jeder J. Rufus Wallingfords lederne Brieftasche in seinem Rock, jede Frau J. Rufus Wallingfords Karton mit Spitzenhandschuhen, jedes kleine Mädchen trug in seinem Arm J. Rufus Wallingfords zierlich gekleidete französische Puppe, und jeder kleine Junge hielt J. Rufus Wallingfords Spielschachtel in seiner Hand; und jeder einzelne Farmer, der der Feier beigewohnt hatte, sah – nicht etwa bloß als Traumbild, sondern als greifbare Wirklichkeit, nach der man nur die Hand auszustrecken brauchte – den unausbleiblichen goldenen Erfolg der »Handels-Genossenschaft der Farmer«; und der Genius dieser frohen Zukunft trug auf seiner Stirn in flammenden Goldbuchstaben die Inschrift:

» Weizenpreis: 1.50!«


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