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Wie die Lichter der Eisenbahnstation, die roten, weißen und grünen, vorbeihuschten, so entschwanden dem Gedankenkreise des Flüchtlings alle die Leute, die vermittelst der »Universal-Stoffbelag-Teppichnägel-Gesellschaft« zu seinem luxuriösen Leben beigetragen hatten. Was war ihm heute Laemmle, was Jasper, Lewis, Nolting? Was waren ihm, was seiner Frau alle anderen lebenden Geschöpfe außer Teile des stets sich bewegenden Wandelbildes, das den Hintergrund ihrer Existenzen bildete? Sie waren Nomaden seit ihrer Heirat, seit dem Tage, an dem die spätere Frau Wallingford dem Elternhause entlaufen war, um diesen frohgemuten Glücksritter zu heiraten. Seither hatten sie keinen Ruheplatz gehabt, keine feste Wohnstätte auf der ganzen Erde, hatten keine neuen Bande geknüpft, sich keine neuen Freunde erworben. Während die ganze Welt fest verankert scheint, flatterten sie unstet von Ort zu Ort, immer auf der Suche nach dem Wohlleben, ohne das sie nicht existieren konnten. Die wenigen, übrigens recht zweifelhaften Freunde, die Wallingford von den früheren Tagen seines Abenteurerlebens her noch hatte, bildeten ihren ganzen »Kreis«. Der dauerhafteste dieser Freunde war »Blackie« Daw (er hatte den Spitznamen von seinem schwarzen Haar und Schnurrbart und von dem schwarzen Anzug, den er fast immer trug), der kürzlich sein »Bureau« von Boston nach Neuyork verlegt hatte; und Daw war denn auch ihr erster Besucher kurz nach ihrer Ankunft in Neuyork, wo sie in einem der feinsten, exklusivsten Hotels abgestiegen waren. Wallingford trug in seinem Gesicht noch immer die Spuren seines ungleichen Kampfes mit Jasper. Mit großer Genugtuung erzählte er seinem Freunde, wie er die »U. S. T. G.« und ihre Leute bis zum letzten Tropfen ausgequetscht hatte, und wie er und seine Frau geflohen waren. »Mit wenig Gepäck, aber mit 28 knisternden Tausend-Dollarnoten, die Fanny in ihrem Unterrock eingenäht hatte. Das ist doch nicht so übel für vier Monate Arbeit?«
»Einfach phänomenal«, rief Daw bewundernd aus. »Du bist wirklich ein ganz Geriebener. Mich wurmt nur, daß du das ganze schöne Geld aus dem Laemmle und seinen Freunden herausgeholt hast, aus meinem kleinen Lämmlein, das klüger war als ich, und aus seinem Anhang, diesen harmlosen Menschen.«
»Na, na«, machte Wallingford und rieb unwillkürlich mit seinen Fingerspitzen den blauen Fleck unter seinem rechten Auge. »Das stimmt nicht ganz. Ich habe es, wenn ich jemandem Geld abnehmen soll, am liebsten mit großen Leuten zu tun. Die verziehen, wenn man sie hat bluten lassen, kaum das Gesicht; zapft man aber so einem kleinen Mann ein paar elende Tausende ab, so macht er einen Lärm wie eine Dampfpfeife. Ein alter Schwachkopf wollte das Geld, das ich ihm abgenommen hatte, buchstäblich aus mir ›herausschlagen‹, und er machte sich so eifrig daran, daß ihn der Schlag rührte.«
Mr. Daw lachte zum Zeichen seiner Teilnahme.
»Du mußt von deinen Geschäftsfreunden, nach deinem Gesicht zu urteilen, einen ziemlich lebhaften Abschied genommen haben. Aber was gedenkst du jetzt zu tun?«
»Wir wollen nach Monte Carlo fahren und die Spielbank sprengen.«
»Wozu diese Fahrt über den großen Teich? Ist die Polizei dir auf den Fersen?«
»Mir auf den Fersen!« rief J. Rufus mit großer Geste aus. »Dazu kann und wird es nie kommen. Ich habe nie in meinem Leben das Gehege des Gesetzes auch nur um einen Zoll überschritten.«
»Du lehnst dich aber weit über den Zaun hinaus,« entgegnete Blackie mit verständnisvollem Kopfnicken, »und eines Tages wird das Gebälk zusammenbrechen. Du schiebst Geschäfte so lange innerhalb des Gesetzes, bis du zu sicher wirst und eines Tages zu deinem Schrecken entdeckst, daß du dich ›überschoben‹ hast.«
»Wenn es so weit ist, werde ich so viel Geld vor mir aufgehäuft haben, daß ich weich fallen werde«, meinte Wallingford zuversichtlich.
»Wenn nur das rasch zugeflogene Geld nicht ebenso rasch wieder wegfliegen würde«, seufzte Blackie. Er knöpfte seinen schwarzen Rock zu und schickte sich zum Gehen an. Die Einladung der Wallingfords, mit ihnen zu speisen, lehnte er dankend ab. »Geschäft ist Geschäft«, erklärte er. »Ich habe eine Vereinbarung für heute abend. Mit einem geistlichen Herrn, an dessen Geldbeutel ich eine Tonsur anbringen soll. Adieu. Grüßt den Fürsten von Monaco von mir.«
Knapp eine Woche später tauchte Blackie mit düsterer Miene in der Bar desselben Hotels wieder auf und rannte dabei gegen Wallingford, der, ebenso düsteren Gesichts, die Bar eben verlassen wollte. Einen Augenblick lang blickten sie einander erstaunt an, dann lachten sie laut auf.
»Du mußt drahtlos nach Monaco und zurück gesaust sein«, bemerkte Blackie. »Was ist los?«
»Mein Geld bin ich los!« rief Wallingford bitter aus. »Ich habe mich bereden lassen, Kupferaktien zu kaufen, auf die alle Kundigen tippten, und ging zu einem Makler, der mir als ehrlich empfohlen wurde. Aber der Makler war bemakelt. Er hat mich der ganzen Länge nach hereingelegt. Er hatte eine Animierbank aufgemacht, und ich war sein erster Kunde. Auf einen zweiten brauchte er nicht mehr zu warten. Er hat genug – und ich auch.«
Daw lachte herzlich. Er lachte, bis er in den Salon der luxuriös ausgestatteten Suite trat, die Wallingford in dem Hotel bewohnte.
»Möchte nur wissen, wo all das zugeflogene Geld eigentlich hinkommt, und warum niemand so klug ist, es für sich zu behalten«, reflektierte Blackie. Es war augenscheinlich das Lieblingsthema seiner Betrachtungen. »Da geht so ein gescheiter Mensch wie du nach dem Westen und nimmt einer Herde Lämmlein 28 Tausender ab. Und was tut er mit diesem lieblichen Bündelchen? Reist eigens nach Neuyork, um es einem noch gewitzteren Makler in den Rachen zu werfen. Und meinst du vielleicht, der wird so gescheit sein, das Geld für sich zu behalten? I wo! der wird auf irgendeine Goldmine in der Sahara hereinfallen, und der Mensch, der ihm das Geld abgenommen hat, wird den Buchmacher auf dem Turf glücklich machen, und der Buchmacher wird es im Poker verlieren. Geht es mir denn anders? Die nämlichen Papierchen, mit denen ich deinen Laemmle hereinzulegen gedachte, habe ich letzte Woche einem anderen glücklich angedreht und 10 000 Dollars gutes Geld dafür eingesteckt. Und was habe ich damit gemacht? Gestern abend an einer Farobank verloren! Jeden Pfennig! Ganz – ganz ausgemistet!«
Wallingford blickte sich tief aufseufzend in dem Zimmer um, und sein Auge umwölkte sich. Die Suite kostete täglich 20 Dollars! Schwere Spitzenvorhänge hingen an den Wänden, sein Fuß versank in dicken Teppichen, die ganze Einrichtung, echt Louis Quinze, war auf behaglichsten Komfort zugeschnitten – aber sie wollte bezahlt sein!
»So habe ich mich denn in dir getäuscht, Blackie«, sagte er tragischen Tones. »Du warst meine letzte Hoffnung. Ich dachte, du könntest mir aushelfen. Das ist schlimm, schlimm. Ach, Fanny!«
»Was willst du, Jim?« antwortete eine freundliche Stimme, und Frau Wallingford trat in einem herrlichen braunen Kleide, das im Verein mit ihrem Haar und ihren Augen eine Symphonie in Braun aus ihr machte, aus dem anstoßenden Zimmer. Sie schüttelte Daw herzlich die Hand und blickte ihren Mann fragend an.
»Wir müssen wieder eine Kollekte veranstalten«, sagte dieser. »Wir reisen fort von hier.«
»Genügt nicht dein Ring und deine Brillantnadel?« fragte sie ängstlich. Sie wußte schon, was eine »Kollekte« zu bedeuten hatte: daß wieder einmal die letzten Reserven herangeholt werden mußten. Sie hatte Erfahrung darin.
»Du weißt doch, daß das nicht genügt«, antwortete er im Tone milden Vorwurfs. »Ich muß unbedingt mein Ansehen nach außen hin bewahren. Sonst ist es schon besser, ich gehe ins erstbeste Wasser.«
Ohne weitere Einrede brachte sie ihm ein kleines schwarzes Lederetui, das er öffnete. Wertvolle Steine funkelten ihm daraus freundlich entgegen. Er reichte mit zufriedenem Lächeln das Etui seinem Freunde hin.
»Das wird dem ›Onkel‹ schon gefallen«, meinte er. »Wenn ich wieder ›Draht‹ habe, so wird das erste sein, daß ich mir auf der Landkarte eine neue Stadt suche, wo kluge Leute Geld auf der Bank haben. Es ist für unsereinen ein wahrer Trost, daß in diesem großen Lande immer irgendwo irgendwelche Leute jahrein, jahraus Geld zusammensparen, das auf uns wartet, um mit uns davonzugehen.«
Die beiden Männer lachten, aber Frau Wallingford lachte nicht. »Ich bin dieses Leben ehrlich müde«, gestand sie. »Wenn Jim mit dieser letzten Spekulation Glück gehabt hätte, so hätte ich ihn schon dazu gebracht, irgendwo auf dem Lande ein kleines Haus zu kaufen und darin wenigstens ein Jahr lang ruhig und – anständig zu leben.«
Daw blickte sie belustigt an. »Sie will eine respektable Frau werden!« sagte er mit ironischem Entsetzen.
»Alle Frauen wollen es«, entgegnete sie ernst.
»Du würdest es keine drei Monate aushalten«, meinte Daw. »Du wirst in deiner dörflichen Ehrbarkeit dem ›Nähkränzchen‹ und dem ›Kulturverein‹ beitreten und dutzendweise langweilige Gesellschaften geben und besuchen, bis du eines Tages die Wahrnehmung machen wirst, daß du keinen Ton reden darfst, damit die anderen Weiber nicht merken, daß du gebildet bist. Dann wirst du es überbekommen und fortziehen.«
»Du bist ja heute sarkastischer als je«, sagte Wallingford. »Immer noch der Schmerz um die 10 000?«
»Das kannst du dir doch denken«, entgegnete Blackie. »Wären mir wenigstens die anderen 1000 nicht durch die Lappen gegangen!«
»Welche anderen tausend?«
»Noch vor einer Stunde glaubte ich sie schon mit den Händen greifen zu können, aber gerade, als ich danach griff, schnappte der Telegraph sie vor meinen Augen weg.«
»Wie ist das zu verstehen?«
»Kennst du den ›Hohen Orden der Freundeshand‹?« war Daws Gegenfrage. »Nicht? Na, es gibt einen solchen mit dem Sitz in Chicago, und Mr. James Clover ist sein ›Hoher Ober-Großmeister‹. Da er mit den 3 bis 11 Cents, die seine 26 Mitglieder monatlich einzahlen, nicht schnell genug Geld verdienen kann, so hat er einen Teil des Versicherungs-Reservefonds nach Neuyork gebracht, um ihn zu verdoppeln. Ich habe es übernommen, ihm die Arbeit dieser Verdoppelung abzunehmen.« Es handelt sich hier um eine in Deutschland unbekannte, in Amerika weitverbreitete Spezialität, eine Verschmelzung von Versicherungs- und Logenwesen. Es sind dies Orden (mit ihrer Untereinteilung in Logen), die sowohl Zwecken der Geselligkeit und Wohltätigkeit, wie gleichzeitig auch der Lebensversicherung dienen. Ihre Mitglieder sind überwiegend kleine Leute. Die Versicherungszwecke könnten natürlich auch ohne die Ordensdraperie erreicht werden, aber das Logenwesen mit seinem (dem Geheimritus der Freimaurerei ziemlich plump nachgeahmten) bombastischen Aufputz lockt viele tausende Kleinbürger an, die ihren Stolz dareinsetzen, in ihren Logen – oder gar in der Groß-Loge! – zu hohen Würden zu kommen, und denen die »Einführungsabende« mit ihren grotesken, aber bitter ernst gemeinten »Geheimzeremonien« immer wieder Freude machen. Den Nicht-Amerikaner reizen schon die pomphaften Titel der Ordens- und Logenbeamten (s. o.) zum Lachen.
»Aber das erklärt noch nicht, wieso dir 1000 Dollars durch die Finger gegangen sind.«
»Warte! Einer seiner Versicherten ist in Chicago gestorben. Hätte er damit nicht einen Tag länger warten können? Dann hätte von mir aus ganz Chicago ein Friedhof sein können. Aber nein! Der Mann starb eben einen Tag zu früh. Ich war schon drauf und dran, die 1000 Dollars, die Clover mit sich gebracht hatte, zu besagten ›VerdoppeIungszwecken‹ an mich zu nehmen, als der ›Hohe Ober-Großmeister‹ ein Telegramm vom ›Hohen Ober-Großsekretär‹ erhielt, in dem der Todesfall mitgeteilt und die sofortige Überweisung des Sterbegeldes gefordert wurde. Du hättest nur hören sollen, wie wir beide, Clover und ich, den toten Mann verflucht haben. Es war geradezu skandalös, aber es dauert einige Zeit, bis man für 1000 Dollars geflucht hat.«
Wallingford dachte tief nach.
»Eine Brüderschafts-Versicherungs-Gesellschaft«, sagte er vor sich hin. »Hört sich gut an. In diesem Geschäft habe ich mich noch nicht versucht. Fahre doch schnell in sein Hotel, Blackie, und bring' ihn zum Diner hierher zu uns. Sag' ihm, daß ich beabsichtige, ins Versicherungsgeschäft zu gehen, und daß er mich möglicherweise dazu bringen könne, mich an seinem Unternehmen irgendwie zu beteiligen. Ich möchte gar zu gern diesen 1000 Dollars nachreisen und sie zurückbringen – und noch mehr dazu. Fanny« rief er ins Nebenzimmer hinein. »Es ist vielleicht das beste, du fängst mit dem Packen an, während ich zum ›Onkel‹ gehe und die Diamanten bei ihm gut aufheben lasse.«
So kam es, daß Mr. James Clover an diesem Abend die Bekanntschaft Mr. J. Rufus Wallingfords machte, von ihm neue Anregungen im Versicherungswesen empfing und gleichzeitig lernte, wie man auftritt, um den Leuten zu imponieren. Wenn Wallingford in seinem Smoking in einem Speisesaal erschien, elektrisierte der bloße Anblick alle Kellner, und gewöhnliche Sterbliche fühlten sich zwerghaft klein. Seine breite, weiße Hemdenbrust schüchterte das stärkste Selbstbewußtsein ein, so daß es zu demütiger Untertänigkeit zusammenschrumpfte. Er hatte das Auftreten eines Monarchen, dem, so weit sein Auge reicht, alles gehört. Ob die Fülle der Rechnungen drängte, ob Bargeld knapp war – ihm verschlug es nichts. Auf seiner glatten Stirn war nie eine Spur von Sorge zu bemerken. Die Sorge gehörte den anderen; denen, die für ihn zahlen mußten. Auch Clover war ein recht stattlich gebauter Mann, aber sein Auftreten machte keinen besonderen Eindruck. Als sein Auge auf Wallingford fiel, überkam ihn ein tröstliches Gefühl. Das war ohne Frage unbegrenzter Reichtum! Wenn diese verkörperte Wohlhabenheit veranlaßt werden könnte, den »Hohen Orden der Freundeshand« zu finanzieren, so durfte Clover in eine neue, schönere, fruchtbare Welt mit hellem Sonnenschein und heiterem Himmel blicken. Clover war ein eckig gebauter Mann mit kantigem Gesicht, schwerer Faust und lauter Stimme; er besaß eine gewisse rednerische Übung und eine daraus sich ergebende Neigung zu oratorischen Wirkungen, die, wie er meinte, der Welt Respekt einflößten. Er hatte eine lange Reihe geschäftlicher Mißerfolge hinter sich, über die er sich immer wieder aufs neue wunderte, da er nie allzu gewissenhaft gewesen war.
»Er möchte schon ganz gern ein Betrüger sein, wenn er es nur verstünde; er stolpert aber über seine eigenen Beine.« Das war das zutreffende Urteil, das Daw im Gespräch mit Wallingford über Clover fällte. Diesem aber sagte Daw: »Sehen Sie sich mit dem großen Mann, dem Wallingford, nur vor. Er ist ein ganz raffinierter Junge, und wenn Sie nicht aufpassen, so zieht er ihnen das Gold aus den Zähnen.«
Das war in Clovers Augen eine nicht geringe Empfehlung. Machte sie auf ihn schon unleugbar Eindruck, so vertiefte sich dieser im Laufe des Abends zur Bewunderung, ja Verehrung. Die Bewunderung begann schon, als sein Wirt das Diner bestellte. Nicht nur, was er bestellte, sondern wie er es bestellte, zeigte den Mann, der gewohnt ist, gut und teuer zu essen; und Clover, dessen Lebensführung auf dem Bierniveau stand, war von dem Aufstieg zur Champagnerhöhe wie benommen. Der geschäftliche Teil der Unterhaltung begann erst bei der zweiten Flasche.
»Ich habe gehört, daß Sie eben Pech gehabt haben«, sagte Wallingford und lachte, als ob Pech etwas Spaßhaftes wäre.
Clover verbarg seinen Ärger unter einer heiteren Miene. »Nicht weiter schlimm«, antwortete er. »Es war auch zu erwarten. Sie sprechen vermutlich von dem Ableben eines unserer Mitglieder. Da aber unser Orden jetzt über eine große Mitgliederzahl verfügt, so halten wir Schritt mit dem Sterblichkeitsdurchschnitt.«
»Wie hoch beläuft sich Ihre Mitgliederzahl?« fragte Wallingford geradeheraus.
»Wenn die jetzige Zunahme anhält,« begann Clover beredt, seine Schultern wie zu einer Ansprache zurechtrückend, »so werden wir Ende nächsten Jahres Tausende zu unseren Mitgliedern zählen. Wir sind jetzt schon dabei, ein neues, vervollkommnetes Registriersystem vorzubereiten, um das sicher bevorstehende große Geschäft bewältigen zu können. Schon jetzt nimmt es sprunghaft zu.«
Wallingford kniff ein Auge zu.
»Darf ich um trockene Zahlen bitten?« fragte er. »Wieviele Mitglieder glauben Sie Ende nächsten Jahres zu haben? Natürlich echte, zahlende Mitglieder, die jeden Monat ihren kleinen Beitrag abladen?«
Der »Hohe Ober-Großmeister« wand sich hilflos und lächelte matt.
»Es ist schon besser, Sie sagen es mir offen«, erklärte Wallingford. »Denn wenn ich mich bei Ihnen einkaufe, so werde ich natürlich erst Ihre Bücher einsehen. Haben Sie tausend Mitglieder?«
»Nicht ganz.« Die Antwort kam, gegen seinen Willen, etwas belegt heraus.
»Haben Sie fünfhundert?« fragte Wallingford unbeirrt weiter.
Clover dachte eine Weile nach; Daw, der die Zeit über schwieg, blickte diskret vor sich hin.
»Fünfhundertsiebzehn«, sprudelte Clover heraus, und sein Gesicht wurde rot.
»Nicht so übel«, sagte Wallingford ermutigend. »Freilich keine große Einnahme. Wie steht es um andere Einnahmequellen? Von fünfhundert Mitgliedern kann der Orden bei dem geringen Monatsbeitrag nichts verdienen.«
Jetzt war Clover in der angenehmen Lage, selbstzufrieden zu lächeln, ja sich stolz in die Brust zu werfen.
»Ihr ergebener Diener hat in den Statuten des Ordens ein kleines Astloch entdeckt«, rühmte er sich. »Mein Orden unterscheidet sich von allen übrigen Brüderschafts-Versicherungs-Orden in einem wesentlichen Punkt: Unsere Mitglieder glauben, daß sie abstimmen und beschließen, aber sie tun es in Wirklichkeit nicht. Wenn sie je einen anderen ›Hohen Ober-Großmeister‹ wählen, so wird seine ganze Herrlichkeit darin bestehen, eine Messingkrone und eine rote Robe zu tragen; S. die auf die Geheimzeremonien dieser Orden bezügliche Fußnote auf Seite 108/109 mit den Fonds des Ordens wird er nichts zu tun haben. Die Fonds verbleiben in meinen Händen. Wie das kommt? Wir haben eben unsere erste Jahresversammlung abgehalten, und alle Mitglieder haben auf meinen Vorschlag für einen Vertrag auf ewige Zeiten gestimmt, durch den unser ganzes Einkommen (natürlich zum Zwecke erhöhter Sicherheit!) einer staatlich beaufsichtigten Gesellschaft zur Verwaltung überwiesen wird. Dieser Gesellschaft zahlt jedes Mitglied 10 Cents monatlich, und dafür bezahlt die Gesellschaft alle Ausgaben, legt die Gelder des Ordens nutzbringend an, führt das Versicherungsgeschäft durch und nimmt im allgemeinen die Interessen des Ordens wahr. Es ist, als ob eine Sparbank zur Treuhänderin des Ordens gemacht würde. Der Unterschied ist nur der: diese Treuhand-Gesellschaft – bin ich.«
Wallingford nickte beifällig. »Sie müssen doch noch andere Nebeneinnahmen haben«, sagte er.
»Sehr richtig!« stimmte Clover lebhaft zu. »Als da sind: Gebühren für das Mitgliedsattest, Gebühren für rückständige Zahlungen, Gebühren für die Ordensregalien und ähnliches. Aber die hauptsächlichste Einnahmequelle sind doch die besagten 10 Cents. Ein winziger Betrag an sich, zugegeben. Wenn wir aber erst eine Viertelmillion Mitglieder haben, so wird dieser winzige Betrag auf 25 000 Dollar monatlich anschwellen. Läßt sich hören, was?«
»Ja, wenn Sie erst so viele Mitglieder haben! Wie hoch ist Ihr handelsgerichtlich eingetragenes Kapital?«
»Zehntausend.«
»Ich sehe schon, daß Sie einen Mann wie mich brauchen«, sagte Wallingford mit nachsichtigem Lächeln. »Sie sollten mich ganz umsonst mit halbem Profitanteil ins Geschäft nehmen.«
Clover richtete sich selbstbewußt stramm in die Höhe. »Kann ich Ihnen sonstwie dienen?« fragte er sarkastisch.
Wallingford blickte ihn mit gelindem Spott an. »Jawohl, ich werde vielleicht auch ein Gehalt beanspruchen; ein rein nominelles, sagen wir 100 Dollars wöchentlich.«
Clover war über den Vorschlag Wallingfords höchlich belustigt. Einen halben Profitanteil umsonst abgeben! Zumutung! Er konnte einen Kompagnon überhaupt nur dann gebrauchen, wenn er dabei Bargeld in die Hand bekam. Seine Schuhsohlen fingen an, dünn zu werden.
»Ich glaube kaum, daß unser Geschäft etwas für Sie ist«, sagte er zwischen Scherz und Hohn. »Unser Bureau ist sehr einfach eingerichtet, wir haben keinen Läufer auf dem Fußboden.«
»Einen Läufer kann man bald haben«, entgegnete Wallingford ruhig. »Und wenn das Bureau nicht schön genug ist, so kann man ziehen. Ich will Ihnen übrigens etwas sagen: ich gebe Ihnen 2000 Dollars für einen halben Profitanteil.«
Clover schlürfte ein Glas Champagner aus und dachte nach. 2000 Dollars waren bei dem jetzigen Stande seiner Finanzen eine Menge Geld. Der »Hohe Orden der Freundeshand«, mit ganz geringen Mitteln ins Leben gerufen, hatte bisher gar keinen Gewinn abgeworfen. Wallingfords Anerbieten war eine sehr starke Versuchung. Er blieb trotzdem äußerlich ruhig.
»Denke nicht daran!« sagte er kühl. »Aber ich will Ihnen die Hälfte meines Aktienbesitzes zu pari verkaufen. Kostet 4300 Dollars.« Er fing an, ihm den Aktienbestand vorzurechnen, aber Wallingford fiel ihm ins Wort.
»Und Sie meinen wirklich, daß ich Ihnen so viel für eine ganz unrentable Sache, wie die Ihre, geben werde!« rief Wallingford aus. »Sie vergessen übrigens, daß ich Ihnen nicht nur 2000 Dollars anbiete, sondern dazu noch meine Dienste und den Wert meiner geschäftlichen Erfahrungen.«
»Verstehen Sie überhaupt etwas vom Brüderschafts-Versicherungswesen?« fragte, kühner geworden, der andere.
»Nicht das geringste. Alles, was ich verstehe, ist, wie man zu Geld kommt. Wenn ich Ihr Kompagnon werde, so ist das das erste, was wir tun, daß wir die Gesellschaft auf der Grundlage von 250 000 Dollars Kapital umgründen.«
Clover schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten, und lachte so laut, daß der Oberkellner zusammenfuhr und die Stirn runzelte; als dieser aber sah, daß dieses Geräusch von dem Tisch des äußerst freigebigen Mr. Wallingford herrührte, glättete sich seine Stirn und er lächelte.
»Guter Witz!« rief Clover aus. »Gut genug fürs Varieté! Lieber Herr, wenn wir es auch je fertig bekämen, für 250 000 Dollars Aktien an den Mann zu bringen, so würden wir uns noch am Tage des jüngsten Gerichts nicht darüber klar sein, woher wir das Geld für die erste Dividende nehmen sollen.«
Wallingford zündete eine Zigarette an und setzte wieder sein mitleidiges Lächeln auf. »Ja natürlich, wenn Sie beabsichtigen, das Geschäft fortzuführen, bis Sie tot umfallen, so werde ich Sie nicht aufwecken«, sagte er. »Ich dachte aber, Sie brauchten Geld.«
»Lieber Herr, in unserem Staat gibt es Gesetze«, sagte Clover kopfschüttelnd.
»Das will ich hoffen«, kam es zurück. »Wenn es nicht gute, solide, zuverlässige Gesetze gäbe, so würde ich nie einen Pfennig verdienen. Mein Lieber, das Gesetz steht immer auf meiner Seite, und der Schutzmann ist der beste Freund, den ich habe. Er zeigt mir nachts den Weg nach Hause.«
Clover blickte ihn verständnislos an. »Sie kennen das Brüderschafts-Versicherungs-Geschäft eben nicht. Es erfordert eine Menge harter, geduldiger Arbeit, um einen rentablen Orden aufzubauen.«
» Sie verstehen das Geschäft nicht«, gab Wallingford zurück. »Was zum Beispiel gedenken Sie mit den 1000 Dollars zu tun, die Sie von Chicago mitgebracht haben?«
»Diese 1000 Dollars«, entgegnete Clover, sich kerzengerade aufrichtend und mit tugendhaft geschürzten Lippen, »werde ich selbstverständlich der Witwe unseres eben verstorbenen Mitgliedes Henry L. Bishop behändigen. Die Witwen und Waisen, die beim »Hohen Orden der Freundeshand« Schutz suchen, sollen nicht vergeblich suchen.«
»So etwas liest sich recht herzerhebend in einem Prospekt«, sagte Wallingford mit verständnisvollem Zwinkern. »Ich habe aber nicht die Absicht, mich bei Ihnen versichern zu lassen. Sagen Sie mal, wenn ich Ihnen zeige, wie man es macht, daß die Witwe Bishop Ihnen die 1000 Dollars unter heißen Dankeszähren zurückgibt, – bekomme ich dann 250 Dollars davon?«
»Wenn Sie das tun können, ohne das Gesetz zu übertreten,« rief Clover in plötzlich auflodernder Begeisterung aus, »so nehme ich Ihren Vorschlag hinsichtlich des halben Profitanteiles an.«
»Ich reise mit Ihnen nach Chicago,« erklärte Wallingford, »mit dem nächsten Zuge, der Ihnen paßt und der einen anständigen Salonwagen hat.« Damit erhob er sich.
Der »Hohe Ober-Großmeister« blickte ihn in tiefer Bewunderung an. Dieser Mann war allem Anschein nach wirklich bares Geld! Er war ja, wie Daw gesagt hatte, ein gerissener Junge, aber er, Clover, war ja auch keiner von den dümmsten. Er war nicht dumm genug, sich das Gold aus den Zähnen ziehen zu lassen!
»Bist doch ein heller Kopf«, sagte Daw, als er mit Wallingford einige Minuten allein war. »Wo willst du aber die 2000 für den halben Profitanteil hernehmen?«
»Aus dem Geschäft – wenn ich sie überhaupt je bezahle«, entgegnete Wallingford. »Verlaß dich ruhig auf Onkel Rufus.«