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Es war Oktober geworden. In Ilses kleinem, an den großen Eßsaal grenzenden Wohnzimmer brannte schon ab und zu ein lustiges Feuerchen, denn die Nachmittage wurden kalt. Die alte Dame saß gern mit ihrem Buch am Kamin und wenn sie aufgehört hatte zu lesen, starrte sie in die züngelnden Flammen und ließ die Bilder der Vergangenheit an ihrem Geiste vorüberziehen.

An solch einem traulichen Nachmittagsstündchen trat Irma ein, um der Großmama adieu zu sagen. Sie sah bildschön aus in dem dunkelblauen Tuchkostüm, das ihre Elfengestalt knapp umschloß, und dem hübschen, an einer Seite umgeschlagenen Hut mit der weißen Feder auf dem goldblonden Haar.

»Gehst du aus, Kind?«

»Ja, Großmama, wenn du's erlaubst.«

»Wohin?«

»Ach, ich weiß nicht, ein bißchen spazieren.«

Die Großmutter schaute sie an. »Und dafür hast du dich so schön gemacht?«

Das junge Mädchen wurde rot. »Ach, bei diesem köstlichen Herbstwetter wollte ich mein neues Kostüm doch mal an die Luft bringen.«

Ilse drohte mit dem Finger »Jungfer Eitelkeit,« neckte sie. »Na, lauf' du nur. Aber es ist doch besser, du holst Agnes oder Maud zum Spazierengehen ab. Allein finde ich's nicht ganz passend.«

»Ich weiß nicht, ob sie zu Hause sein werden,« murmelte Irma und lief dann, um weiteren Einwendungen zuvorzukommen, mit einem hastigen: »Auf Wiedersehen, Großmama,« rasch zur Türe hinaus.

Auf der Straße tat sie einen tiefen Atemzug, schlug aber nicht den Weg nach dem Hause Onkel Müllers ein. So rasch sie konnte, ging sie, sich ab und zu scheu umsehend, durch einige Gassen, bis sie die Stadt im Rücken und die große Landstraße vor sich hatte. Hier war es still. Nur das Sausen des Oktoberwindes in den hohen Bäumen ließ sich hören und das Gerassel des dürren Laubes. Von dem schnellen Gehen ermüdet, verlangsamte Irma ihren Schritt. Ängstlich spähte sie umher. Was sie tat, war nicht recht, das wußte sie, aber ihr blieb keine Zeit darüber nachzudenken, denn dort, aus einem Gebüsch am Wege, sah sie die schlanke, biegsame Gestalt Hochsteins hervortreten und eilig näher kommen.

In der ersten Verwirrung wollte sie fortlaufen; aber als ob er ihre Gedanken erriete, war er mit ein paar raschen Sprüngen neben ihr und ergriff ihre Hand. Mit glühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen stand sie vor ihm.

Otto von Hochstein betrachtete sie, und ein Gefühl des Stolzes erfüllte ihn, daß dieses wunderschöne junge Geschöpfchen endlich eingewilligt hatte, ihm heimlich hier draußen an diesem einsamen Ort ein Stelldichein zu gewähren.

»Meine teuerste Irma,« flüsterte er, »wie soll ich dir danken, daß du gekommen bist!«

»Ich tue es nie wieder,« stöhnte sie. »Ich hab' Großmama belügen müssen, und das ist schändlich.«

»Aber du tatest es doch um meinetwillen? … Du hast mich doch ein ganz klein wenig lieb, nicht wahr?«

Er schaute sie mit seinen samtschwarzen Augen so flehend an, daß sie nicht anders konnte als leise stammeln:

»Ja, sehr lieb.«

Aber als er den Arm um sie schlingen und sie entzückt ans Herz ziehen wollte, entwand sie sich ihm.

»Warum darf ich dir denn nicht einmal einen Kuß geben, Irma, wenn du mich doch liebst und meine Braut bist?«

»Nicht eher, als bis wir wirklich verlobt sind und jeder es weiß,« erwiderte sie. »Warum kann ich denn nicht, wie Agnes und Flora es taten, der Großmama und meinen Eltern alles erzählen?«

»Mein Liebling, hast du mir nicht selbst geschrieben, daß du gerade dies süße Geheimnis, um das nur wir zwei beide wissen, so herrlich fändest?«

»Ja, aber nun finde ich es nicht mehr herrlich,« schmollte Irma. »Es ist nicht recht, das fühle ich. Ich weiß, Großmama würde es nicht billigen, und ich will nicht mehr in dieser heimlichen Weise mit dir zusammenkommen.«

Ottos dunkle Augen funkelten unheilverkündend, und er biß sich auf die Lippen, um seinen Ärger zu verbergen. Aber er verstand es meisterhaft, sich zu beherrschen, und erwiderte niedergeschlagen:

»Dann machst du mich tief unglücklich.«

»Laß mich der Großmama alles sagen. Du kennst sie nicht, sie ist nicht streng, und ich kann von ihr erlangen, was ich will.«

Er schüttelte den Kopf; dann schob er seinen Arm durch den ihren und zwang sie so, mit ihm auf und ab zu gehen.

»Hör' mal zu, Liebste,« begann er. »Du zwingst mich, Dinge zu sagen, die mir peinlich sind. Frau Gontrau würde niemals ihre Einwilligung zu einer heimlichen Verlobung zwischen uns geben.«

»Wenn ich sie darum bitte, tut sie es doch.«

»Aber sie würde darauf bestehen, daß ich meinen Eltern Mitteilung davon mache.«

»Natürlich, warum willst du das denn nicht?«

»Das ist es ja gerade, Irma. Sie würden ihre Zustimmung nicht geben und sich auf jede mögliche Weise bemühen, uns zu trennen.«

Stolz hob Irma ihr reizendes Köpfchen und schaute ihn herausfordernd an.

»Aus welchem Grunde? Bin ich ihnen nicht gut genug?«

»Irma!« rief er leidenschaftlich. »Du bist das schönste, das entzückendste Wesen von der Welt. Und für mich wirst du das ewig bleiben. Aber ich wünschte, ich wäre an Stelle des Barons von Hochstein ein armer Teufel, zu dem du dich herablassen müßtest.«

Sie schaute ihn fragend und tief errötend an.

»Meine Eltern sind sehr stolz,« fuhr er fort. »Unser Stammbaum reicht zurück bis in die Zeit vor den Kreuzzügen. Die Glieder meiner Familie haben sich immer nur mit dem allerältesten Adel verbunden; der Schlag würde meine Eltern vor Schreck rühren, wenn sie erführen, daß ich mich mit einem Mädchen verloben will, das nicht zum Hochadel gehört. Sie haben mir bereits eine steinreiche Erbtochter aus einem Geschlechte bestimmt, das eben so vornehm ist wie das unsere.«

»Und du?« fragte Irma atemlos.

»O, ich geb' auf das alles nichts und werde das häßliche Freifräulein von Staufenberg nie heiraten, das verspreche ich dir.«

»Aber dann wird aus unsrer Verlobung nichts!« seufzte Irma, »deine Eltern werden nie ihre Einwilligung geben.«

Er nahm ihre kleinen Hände in die seinen und streichelte sie.

»Das werden sie sicher nicht, geliebte Irma, wenn wir sie ohne weiteres mit dem fait accompli überfallen und erschrecken. Ich muß sie ganz allmählich darauf vorbereiten, und dann werden sie ohne Zweifel nachgeben. Wir müssen warten, das ist alles, um was ich dich bitte. Hast du mich nicht so lieb, um etwas Geduld zu haben?«

»Aber meine Eltern und Großmama,« stammelte Irma.

»Glaube mir, Liebling. Durch zu frühes Reden würden wir alles verderben. Wenn du mich liebst, so gelobe mir zu schweigen.«

Irma war sich innerlich bewußt, daß sie nicht recht tat, aber sie vermochte nicht, seinem heißen Drängen zu widerstehen; sie war von den äußeren blendenden Eigenschaften des jungen Barons so betört, daß sie ihm schließlich alles versprach, sogar ein Stelldichein in der nächsten Woche.

Solange sie bei ihm war, vergaß sie ihre Bedenken und gab sich dem Glück des Augenblicks hin, aber als sie allein nach der Stadt zurückkehrte, konnte sie sich eines Gefühls der Furcht und Beklommenheit nicht erwehren. Zum erstenmal in ihrem Leben tat sie etwas Heimliches, Unaufrichtiges, etwas, was die Ihrigen niemals gutheißen würden.

Heftig erschrak sie, als in der Nähe ihrer Wohnung Agnes plötzlich auf sie zutrat.

»Wo kommst du her, Irma? Ich war bei Großmama, die sagte mir, du hättest mich zu einem Spaziergang abholen wollen. Wie ein Hase lief ich nach Hause, dort hatte dich aber niemand gesehen.«

»Ich bin spazieren gegangen,« murmelte Irma.

Sie wurde furchtbar rot, und Agnes schaute sie verwundert und forschend an.

»Allein?« fragte sie. »Und du sagst Großmama, daß du mich abholen wolltest?«

»Ich … ich bekam plötzlich Lust, allein zu gehen.«

»Wie komisch du bist! Was hast du? Was bedeutet das? Ich verstehe dich nicht.«

»Mach doch nicht so 'nen Sums daraus,« rief Irma, in ihrer Verlegenheit plötzlich sehr reizbar werdend und nicht mehr wissend, wie sie sich herausziehen sollte. »Geht's dich was an, wenn ich mal allein spazieren gehen will? Dir hab' ich doch keine Rechenschaft abzulegen.«

»Aber Irma!« sagte Agnes, im höchsten Grade erstaunt und gekränkt.

Schweigend schritten sie nebeneinander her. Agnes war zu entrüstet, um zu sprechen, aber als sie eine Weile später verstohlen nach ihrer Cousine schaute, sah sie, daß diese bebte und ihr die Augen voll Tränen standen. Sofort fühlte sie ihren Zorn schwinden.

»Irmachen,« begann sie freundlich. »Sag mir doch, warum du so betrübt bist. Ich bin deine Freundin, mir kannst du vertrauen.«

Zum Glück befanden sie sich in einer stillen Straße, denn Irma konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Ich kann nicht, Agnes,« stammelte sie fast schluchzend, »frag mich nicht.«

Die Andere forschte nicht weiter. »Komm mit zu mir,« bat sie. »Die Eltern und Maud sind ausgegangen. Auf unsrem Zimmer kannst du dich erholen.«

Irma folgte willig. Als sie in dem gemütlichen, hellen Mädchenstübchen saßen, küßte Agnes ihre Cousine und fragte noch einmal teilnehmend:

»Kannst du mir wirklich nicht sagen, was dir fehlt, Liebling?«

»Ich kann nicht, ich darf nicht.«

Agnes schwieg.

»Gelobst du mir bei allem, was dir heilig ist, keinem Menschen ein Sterbenswörtchen zu sagen?« flüsterte Irma.

»Das versteht sich wohl von selbst, ich bin doch deine Freundin.«

»Auch Ludwig nicht?«

Agnes zögerte. »Ist's etwas, was mich gar nichts angeht, Irma?«

»O gewiß, es geht einzig und allein mich an.«

»Nun, dann werde ich auch Ludwig nichts sagen.«

Irma legte ihr Köpfchen an Agnes' Schulter und begann flüsternd ihre Erzählung, wie sie schon bei der Landpartie gemerkt habe, daß Baron von Hochstein sie sehr reizend finde, wie er einige Tage später an sie geschrieben und ihr seine Liebe bekannt, und wie sie nach Verabredung eine rote Rose im Gürtel, am Fenster stehend, ihm ihre Gegenliebe verraten habe. Auf sein wiederholtes Schreiben und dringendes Bitten habe sie nach schwerem Gewissenskampf in ein Stelldichein gewilligt und ihn heute nachmittag auf der Chaussee im Walde getroffen.

Agnes' Gesicht verdüsterte sich immer mehr, aber sie sagte nichts. Erst als sie hörte, was die Liebenden heute beschlossen hatten, rief sie entrüstet:

»Aber Irma, wie konntest du das tun?«

»O, ich weiß, daß es schlecht war,« schluchzte das arme, kleine Ding. »Aber ich hab' Otto so lieb. Du liebst Ludwig doch auch und mußt daher mit mir fühlen können. Hättest du denn nicht ebenso gehandelt?«

»Ich!« rief Agnes. »Wahrscheinlich hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben, ganz gewiß aber ihm den Rücken gekehrt. Was bildet er sich ein? Wie darf er's wagen, dir geradezu zu sagen, daß du ihm nicht ebenbürtig bist!«

»Aber bedenke doch, die Barone von Hochstein! So ein altadliges Geschlecht! Noch nie ist in seiner Familie eine Mesalliance vorgekommen. Er steht weit über mir!«

»Welch ein Unsinn!« entgegnete Agnes heftig. »Laß ihn mit seinem altadeligen Geschlecht nach dem Monde gehen. Welcher verständige Mensch legt in unsern Tagen Wert auf so etwas? Damit sollte er uns in Amerika kommen! Er über dir stehen! Du bist im Gegenteil unendlich erhaben über ihn, du, das Kind so genialer Eltern. Was haben seine Eltern wohl je geleistet?«

»Er denkt gewiß ebenso. Wirklich, Otto ist nicht vorurteilsvoll, aber seine Eltern sind doch nun einmal so furchtbar stolz.«

»Sprich mir nicht von Stolz! An deiner Stelle wäre ich viel zu stolz, mich in eine Familie einzudrängen, die es wagte, auf mich herabzusehen!«

Irma seufzte; sie hatte gehofft, Agnes würde die Sache ganz anders auffassen, mehr mit ihr übereinstimmen und sich wohl gar geschmeichelt fühlen, daß ein Baron ihrer Cousine seine Liebe gestanden hatte. Die nüchterne, praktische Art, mit der die Amerikanerin diesen für Irma doch so hochinteressanten Fall behandelte, enttäuschte sie sehr. Nirgends sah sie Hilfe, nirgends einen Ausweg, und sie fing wieder an bitterlich zu weinen.

Tränen waren etwas so Ungewohntes bei der sonnigen, lustigen kleinen Irma, die immer lachte und von jedem auf den Händen getragen wurde, daß Agnes plötzlich ein großes Mitleid mit dem armen Kinde fühlte.

»Weine nicht, Liebling,« sagte sie zärtlich. »Ich sehe ein, daß es hart für dich ist, aber so kann die Sache nicht weitergehen. Du mußt ihm schreiben, daß du keine heimlichen Zusammenkünfte mehr mit ihm haben willst. Es ist unverzeihlich, daß du es schon einmal getan hast, aber geschehene Dinge sind nicht mehr ungeschehen zu machen. Es ist seine Pflicht gegen dich, sofort deinen wie seinen Eltern ein offenes Geständnis abzulegen. Will er das nicht, so muß zwischen euch alles aus und zu Ende sein.«

»Nein, um nichts in der Welt,« schluchzte Irma. »Ich liebe ihn, und er liebt mich.«

»Seine Forderung beweist das Gegenteil,« versetzte Agnes entrüstet. »Ich bitte dich, du wirst ihm doch kein Stelldichein mehr geben! Versprich mir das.«

Irma schwieg.

»Du darfst es nicht. Und tust du es doch, so sag' ich's der Großmama.«

»Das wäre garstig von dir; du hast mir versprochen, es keiner Menschenseele zu verraten.«

»Ja, das ist wahr, na, ich werd's auch nicht tun, du kannst mir vertrauen, aber Irma, du handelst sehr unbesonnen.«

»Es wird schon alles recht werden,« sagte das junge Mädchen, in dem Wunsche, ihren Otto und sich zu verteidigen. »Er sagt, die Heimlichkeit würde nicht lange dauern, und er ist so edel, so feinfühlig. Du mußt doch zugeben, Agnes, daß ich mein Wort nicht brechen kann, ich hab's doch versprochen.«

Agnes war durchaus nicht einverstanden, merkte aber, daß Irma nicht zu überzeugen war. Auch überlegte sie, daß, wenn sie ihrer Empörung über Otto von Hochsteins Verhalten zu sehr Luft machte, Irma ihr das Vertrauen entziehen würde. Und es war doch besser, daß jemand um die unvorsichtigen Handlungen des kleinen Lieblings wußte, um ihn warnen und überwachen zu können. Daher tröstete sie ihr Bäschen so gut es ging, und gelobte aufs neue, das Geheimnis treu zu bewahren. Etwas erleichtert und beruhigt ging Irma nach Hause, wo sie in ihrem Leichtsinn sich einredete, keine Unwahrheit zu sprechen, als sie auf Ilses Frage, ob sie bei Müllers gewesen sei, um Agnes abzuholen, mit einem »ja, Großmama« antwortete.

Einige Tage später kam Nachricht von Holtens aus München. Gustav, dessen Name immer bekannter wurde, hatte sich um den Posten eines Lehrers am Konservatorium in I. beworben und die Stelle erhalten. Das war für einen jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren ein großes Glück. In sechs Wochen mußte er das Lehramt bereits antreten, und seine Hochzeit sollte so bald wie möglich stattfinden, denn er wollte nicht ohne Flora das neue Leben beginnen.

Großmutter Ilse schüttelte den Kopf.

»Sie sind ja beide noch Kinder. Die sollen schon heiraten? So unerfahren, wie sie sind!«

»Aber du warst doch auch sehr jung, als du heiratetest, Großmama,« wandte Irma ein.

»Ja, mein Kind, aber dein Großvater war ein anderer Mann als Gustav, der ganz in seiner Kunst aufgeht und vom praktischen Leben keinen Schimmer hat. Und Flora?«

»Es wird schon gehen,« meinte Irma, die über die Nachricht sehr glücklich war. Die Aussicht, daß ihr Bruder in I. wohnen und sie dadurch Gelegenheit haben würde, oft nach der Universitätsstadt zu fahren, war himmlisch. Auf diese Weise würde es viel leichter sein, Otto öfter zu sehen. Als sie Agnes ganz aufgeregt von diesem Glücksfall Mitteilung machte, schüttelte das praktische, kluge Mädchen sein weises Köpfchen.

»Es ist und bleibt verkehrt, und überdies, wenn Gustav in I. wohnt, wird er bald etwas merken.«

»Gustav! der merkt nichts. Du weißt doch, wie verträumt er immer ist. Glaubst du, daß er überhaupt noch an etwas anderes denken kann, als an seine Musik und an Flora?« –

Die junge Braut kam nun wieder mit ihrer Mutter zu Gontraus auf Besuch, um alles für ihre Aussteuer zu besorgen. Irma ging oft mit nach I., und fand dann ab und zu Gelegenheit, Hochstein zu sehen. So geschah es, daß die Kleine, – bisher die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit selbst – Schritt für Schritt weiter in den Irrgarten der Lüge und des Betrugs hinein geriet. – Es kostete ihr keine große Mühe mehr, ihre aufsteigenden Zweifel und Gewissensbisse zu beschwichtigen und mit sich selbst Frieden zu schließen. Auch gab Otto ihr immer von neuem die Versicherung, daß sie durchaus nichts Unrechtes tue, indem sie vor ihrer Großmutter und ihren Eltern etwas verbarg. Er verstand es, sehr besorgt und schön über Frau Gontrau zu reden, die doch schon alt sei und sich ganz unnütze Sorgen machen würde, wenn sie wüßte, daß der Baron und die Baronin von Hochstein noch nicht ihre Einwilligung zur Verlobung gegeben hätten. Und Irmas Eltern, die so fern von ihr weilten, würden sich auch nur unnötig aufregen. Es war doch viel besser zu schweigen, bis die Geschichte ganz in Ordnung käme, und daß dies bald geschähe, daran brauchte Irma doch nicht zu zweifeln. So beruhigte sie sich immer wieder und fuhr fort, wissentlich Unrecht zu tun, wobei sie sich trotzdem glückselig fühlte. –

Flora und Gustav sollten kurz vor Weihnachten heiraten. Die ganze Familie begab sich zu dem Feste nach dem Landgut, auf dem Flora Werner wohnte.

Ilse war wehmütig bewegt, als sie das Haus wieder betrat, wo sie vor vielen Jahren als junge Frau mit Nellie zu Gaste gewesen war. Wie anders sah jetzt alles aus als damals! Die Besitzung hatte sich in den letzten Jahren unter der Oberleitung von Hans ganz außerordentlich gehoben und verschönt, und Flora, wenn sie auch nicht mehr so tätig war wie früher, stand auch jetzt noch, wo sie konnte, den Dorfbewohnern mit Rat und Tat bei. Ab und zu schrieb sie auch noch Verse, und am Hochzeitsmorgen überraschte sie die junge Braut mit einem langen Gedicht, das sie in der Nacht verfaßt hatte.

Es kam darin viel vor von Liebe und Kunst und herrlichem Beruf, von Lorbeeren, die der Künstler ernte, und die er seinem angebeteten Weibe zu Füßen lege. Die kleine Flora verstand zwar nicht viel davon, fand es aber doch sehr schön.

In vollstem Glanze stieg die Wintersonne an dem Hochzeitstag des jungen Paares empor. Die enge Dorfstraße, die der Festzug passieren mußte, wimmelte von Menschen. Fast aus jedem Hause wehte eine Fahne, und hier und da waren Ehrenpforten errichtet aus Tannengewinden, mit bunten Papierrosen verziert. Bäume, Felder und Wiesen hatten sich in ein fleckenloses Brautgewand gehüllt; die goldenen Sonnenstrahlen spielten auf dem Schnee und streuten glitzernde Diamanten darüber aus. An den funkelnden Farben, die sich über die blendend weiße Welt ergossen, konnte das Auge sich nicht satt sehen. Das Innere der kleinen Dorfkirche im Lichterglanz und Blumenschmuck war wie ein Feenmärchen. Fast noch die reinen Kinder standen Gustav und Flora vor dem Altar. Die junge Braut in einem einfachen weißen Kleide, die grüne Myrtenkrone auf den goldschimmernden Flechten, und der schlanke Bräutigam mit dem verzückten Blick und dem träumerischen, ernsten Antlitz.

Die Freunde und Verwandten erschienen als gute Feen und Beschützer – alle beseelt von dem innigsten Wunsch, das junge, eben verbundene Paar möge so glücklich werden, wie es zwei Menschen, die sich lieben, hier auf Erden nur sein können.

Auch Irma befand sich als Brautjungfer mit im Zuge. Ihr Brautführer war ein junger Rechtsgelehrter, ein Freund der beiden Reichers. Eigentlich hätte Hans sie führen müssen, aber seit Irmas Ankunft hatte er nicht den geringsten Versuch gemacht, sich ihr zu nähern. Er war sehr heiter, was sie mit Staunen wahrnahm, während sie in ihrer unbewußten Eitelkeit geglaubt hatte, den armen Hans bedauern zu müssen, weil er hoffnungslos in sie verliebt wäre. Er behandelte sie höflich und freundlich, aber von der Verehrung, die er ihr noch vor kurzer Zeit bewiesen, konnte sie nichts mehr entdecken. Sie behauptete zwar, daß ihr das ganz gleichgültig sei, aber im Grunde fühlte sie sich doch verletzt und ärgerte sich. Die Kleine, von allen verwöhnt und bewundert, wußte, daß sie auffallend hübsch war – ihre Umgebung hatte ihr das nur zu oft gezeigt – aber bis jetzt hatte das noch keinen schlechten Einfluß auf ihren Charakter gehabt. Ihre Koketterie war unschuldiger Art, seit jedoch Baron Hochstein ihr eitles Köpfchen mit seinen Redensarten und Schmeicheleien verdrehte, bildete sie sich ein, etwas ganz Besonderes zu sein, und fand es daher nicht mehr wie recht und billig, daß Hans Reicher ihr Sklave und Anbeter bliebe, vielleicht gar an seiner unglücklichen Liebe zu Grunde ginge. Wäre er ihr mit einer Liebeserklärung lästig gefallen, würde sie ihn jedenfalls ausgelacht haben, aber geschmeichelt hätte sie sich dadurch doch gefühlt. Nun er ihr zeigte, daß er ohne sie leben konnte, grollte sie ihm.

Hans war in seinen Gefühlen kein anderer geworden; er begriff jedoch, daß die einzige Möglichkeit, auf ein Wesen wie Irma Eindruck zu machen, darin bestand, ihr zu imponieren. Von Herzen gern wäre er zu ihr gegangen und hätte sie beschworen, ihm gut zu sein, aber als er ihr reizendes Gesichtchen erblickte, aus dem die kindliche, unbefangene Lieblichkeit verschwunden war, kam ihm sein Stolz zu Hilfe, er erwiderte ihre Spöttereien mit kühler Höflichkeit und wendete sich zu Maud, in deren Gesellschaft er sich jetzt am glücklichsten fühlte. –

»Hans ist einer der tüchtigsten jungen Leute, die ich je gesehen habe,« sagte Maud, als sie alle wieder in F. waren. »Er ist ein ganzer Mann, klug und bedächtig, einer, der weiß, was er will, wie mein John auch. Damals im Sommer glaubte ich, er sei ernstlich in dich verliebt, Irma. Wenn du ihn durch deine Koketterie abgeschreckt haben solltest, würdest du mir leid tun, denn nicht jedes Mädchen findet einen solchen Mann.«

Doch vor Irmas Seele tauchte in diesem Augenblick eine hohe, aristokratische Gestalt auf, vornehm und elegant, mit der verglichen Hans ihr wie ein Bauer erschien. Sie zuckte nur geringschätzig die Achseln, als ob sie sagen wollte:

»Ich kann doch wohl noch etwas Besseres bekommen.«

»Kennst du das Märchen vom Schweinehirten, Irma?« fragte Onkel Heinz.

»Nein,« versetzte die Kleine, und da sie auf dem Antlitz des Professors einen spöttischen Ausdruck sah, vor dem ihr unwillkürlich bange ward, fügte sie hinzu:

»Und ich will es auch nicht kennen.«

»Aber ich,« fiel Agnes ein, »ich liebe Märchen über alles; als wir Kinder waren, wollte Vater jedoch nicht, daß wir Märchen lesen oder hören sollten; »das ist nur unpraktisches Zeug,« meinte er, »das euch einen ganz falschen Begriff vom Leben gibt. Märchen, Balladen, Legenden – in Deutschland mögen sie am Platze sein, für Amerika passen sie nicht.«

»Komm her, Irma,« nahm Onkel Heinz von neuem das Wort, »und hör' zu.« Er ergriff ihr widerstrebendes Händchen und zog sie näher zu sich heran. Die andern lachten über ihr böses Gesicht. Das kleine Fräulein war in letzter Zeit oft so reizbar; aber hier gab es doch wirklich keinen Grund, zornig zu werden.

»Es war einmal,« begann Onkel Heinz.

»Wie abgeschmackt,« schmollte Irma.

»Es war einmal ein armer Prinz Aus Andersens Märchen: Der Schweinehirt., er besaß ein Königreich, welches ganz klein war, aber doch groß genug, um sich darauf zu verheiraten, und verheiraten wollte er sich.

Freilich schien es etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers sagte: ›Willst du mich haben?‹ Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gern ja gesagt hätten, – ob sie es tat?

Auf dem Grabe seines Vaters wuchs ein Rosenstrauch, der blühte nur jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur eine einzige Blume, aber diese eine Rose duftete so süß, daß jeder, der daran roch, allen Kummer und alle Sorge vergaß. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle säßen. Diese Rose und diese Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und deshalb wurden sie beide in große silberne Behälter gesetzt und ihr zugesandt.

Der Kaiser und der ganze Hof waren bei der Ankunft der Geschenke zugegen; aber die Prinzessin war dumm, sie glaubte, es seien eine künstliche Rose und Nachtigall, und als sie sah, daß es natürliche waren, fand sie nichts Besonderes daran; sie zertrat die Rose und ließ die Nachtigall fliegen und wollte nicht gestatten, daß der Prinz käme.

Dieser ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Er bemalte sich das Antlitz schwärzlich, zog die Mütze tief über die Augen, klopfte an die Türe des kaiserlichen Palastes und fragte, ob er nicht auf dem Schlosse einen Dienst bekommen könne.

Jawohl, er konnte die Schweine hüten. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer, und da saß er nun den ganzen Tag und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen kleinen Topf gemacht; rings um denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie schön und spielten die alte Melodie:

Ach, du lieber Augustin,
Alles ist weg, weg, weg!

›Das Stück kann ich auch spielen,‹ sagte die Prinzessin, die des Abends mit ihren Hofdamen spazieren ging. ›Fragt mal den Schweinehirten, wieviel der Topf kostet.‹

›Ich will zehn Küsse von der Prinzessin haben, für weniger tu ich's nicht.‹

Das war ein Schreck, es wurde gehandelt und gebettelt, aber der Schweinehirt bestand auf seiner Forderung.

›In Gottes Namen,‹ sagte die Prinzessin zu ihren Begleiterinnen, ›aber ihr müßt dicht um mich herumstehen, damit mich wenigstens niemand sieht.‹

Die Hofdamen umringten sie, breiteten ihre Kleider aus, der Schweinehirt bekam zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.

Nun machte der geschickte Jüngling eine Spieldose, wenn die aufgezogen wurde, spielte sie alle Walzer und Polkas, die auf der Welt existieren.

›Das ist ja superbe,‹ rief die Prinzessin, ›fragt ihn, was er dafür haben will, aber küssen tu ich ihn nicht wieder.‹

Der Schweinehirt verlangte hundert Küsse; da ging die Kaisertochter böse fort.

Aber die Spieldose war doch zu wundervoll, und als die Prinzessin einsah, daß der Schweinehirt sie nicht anders hergab, mußten die Hofdamen wieder einen Kreis schließen, und sie ließ sich küssen.

›Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein?‹ dachte der Kaiser, der verwundert sah, wie alle Hofdamen auf einem Klümpchen beisammen standen, und trotzdem er noch in Pantoffeln war, lief er eilig hinunter, um zu sehen, was es gäbe.

Sobald er den Hof betrat, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel zu tun, die Küsse zu zählen, daß sie seine Anwesenheit nicht bemerkten. Er erhob sich auf den Zehen und wurde so wütend, als er sah, wie sich seine Tochter von dem Schweinehirten küssen ließ, daß er beiden die Pantoffeln um die Ohren schlug und sie vom Hof herunterjagte.

Da standen sie nun in Regen und Kälte, die Prinzessin weinte, und der Schweinehirt fluchte.

›Ach, ich unglückliches Geschöpf,‹ schluchzte sie, ›hätte ich doch den Prinzen genommen und die Rose und die Nachtigall nicht fortgeworfen; wie dumm bin ich gewesen!‹

Der Schweinehirt ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze aus dem Gesicht, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun im fürstlichen Gewande hervor, so schön, daß die Kaisertochter sich verneigen mußte.

›Ich will nichts mit dir zu schaffen haben,‹ sagte er. ›Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen heiraten; die Rose und Nachtigall hast du verachtet, aber den Schweinehirten konntest du um einer Spielerei willen küssen. Das hast du nun davon!‹

Dann ging er in sein kleines Königreich und schlug ihr die Türe vor der Nase zu. Da konnte sie draußen stehen und singen:

›Ach, du lieber Augustin,
Alles ist weg, weg, weg!‹«

»Das war sehr hübsch,« meinte Irma mit erzwungenem Lächeln, »ich sehe nur nicht ein, was dies Märchen mit mir oder Hans Reicher zu schaffen hat.«

»Dann bist du gerade so dumm wie die Prinzessin,« versetzte der alte Herr trocken, sie von sich weg schiebend.

Agnes blickte Irma vielsagend an, aber an diesem Abend fand sie keine Gelegenheit, ihre Cousine allein zu sprechen.

Wußte Onkel Heinz am Ende gar, daß sie mit Otto von Hochstein im geheimen Briefe wechselte, ihn auch mitunter an einem vorher verabredeten Platze traf? Irma erbebte bei diesem Gedanken; sie fragte Agnes, was sie davon dächte, aber diese meinte, Onkel Heinz ahne nichts; denn wäre das der Fall, so würde er sicher mit der Großmama darüber gesprochen haben; er sei doch nicht der Mann, so etwas zu verschweigen. Nein, er zog nur seine Schlüsse aus Irmas Benehmen gegen Hans und aus dem, was er bei der bewußten Landpartie beobachtet hatte.

Trotzdem riet Agnes ihr, vorsichtig zu sein, und nahm gleichzeitig nochmals die Gelegenheit wahr, ihr das Unrecht vorzuhalten. Sie bemühte sich, Irma zu überzeugen, daß Otto es unmöglich gut mit ihr meinen könne, wenn er fortfuhr zu verlangen, daß sie ihre nächsten Angehörigen so hintergehen solle. Anfangs hatte er doch nur von einigen Wochen gesprochen, bis es so weit sein werde, daß sie ihrer Großmutter alles erzählen könne; nun waren bereits Monate ins Land gezogen, und noch immer gebot er ihr Schweigen.

Unter Tränen und Seufzen mußte Irma zugeben, daß die Cousine recht hätte; aber sie liebte Otto zu sehr, sie könnte nicht von ihm lassen, sie würde sterben, wenn alles aus sein müßte.

»Unsinn,« wandte Agnes ein, »daß du großen Kummer haben würdest, will ich glauben, aber an so etwas stirbt man nicht.«

»Wie kannst du so reden? Versetz' dich doch an meine Stelle. Würdest du nicht sterben, wenn du Ludwig entsagen müßtest?«

»Nein. Ich würde sehr unglücklich sein; aber ich würde mich bemühen, daran zu denken, daß es noch so viele gibt, die mich lieben: Eltern, Geschwister, Freunde, und daß ich daher nicht das Recht hätte, mich so ganz und gar meinem Schmerz hinzugeben.«

»Ach du,« nahm die Kleine wieder das Wort, »du bist verlobt und bist doch so kalt, so scheußlich praktisch – du weißt ja gar nicht, was Liebe ist.«

»Möglich,« versetzte Agnes, »eins aber weiß ich wohl. Wenn Ludwig mich überreden wollte, etwas Unredliches und Schlechtes zu tun, dann würde ich ihn laufen lassen, und wissen, daß er nicht der ist, für den ich ihn hielt. Die Versicherung gebe ich dir – und meinen Kummer würde ich überwinden.«

Irma schwieg. Die widersprechendsten Gedanken stritten sich in ihrem Köpfchen. Sie besaß genug gesunden Verstand, um sich bei ruhiger Überlegung zu sagen, daß Agnes recht habe. Aber Otto war so schön, so unwiderstehlich, er hatte ihr Herz ganz mit Beschlag belegt, und sie, sie glaubte ihn wahrhaft zu lieben. Wie sehr sie auch an Großmama, den Eltern und den andern hing, wenn sie Otto aufgeben müßte, würde deren Liebe sie nicht zu trösten vermögen, und dann … der Gedanke, Baronin von Hochstein zu werden, war ihr in letzter Zeit immer lieber und vertrauter geworden. Manchmal stellte sie sich bereits vor, wie es sein würde, wenn sie als Ottos Frau ihren Platz in den glänzenden Sälen des Schlosses seiner Ahnen, von dem er ihr solche Wunder erzählte, einnehmen würde. Sie sah sich als Braut in der Familienkapelle vor dem Altar, nicht in einfachem, weißem Nesseltuch wie Flora, sondern in einem Kleide von Silberbrokat, mit funkelnden Diamanten bestreut, und in ihrer Nähe, außer den eigenen Verwandten, einen weiten Kranz hochadliger Damen und Herren, vornehme Offiziere und Minister, die Brust mit Orden bedeckt. Ja, wer weiß, vielleicht ließ sich der Kaiser gar durch einen seiner Adjutanten vertreten, denn am Hof würde sie dann natürlich schon vorgestellt sein.

Es war hart, all diesen schönen Aussichten Lebewohl zu sagen, noch härter aber, ihren glänzenden Studenten aufzugeben. Und doch, wenn sie sich aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück versetzte, vernahm sie eine Stimme in ihrem Innern, die ihr zurief, daß ihr nichts andres übrig bleiben werde. Sie seufzte tief und brach aufs neue in Tränen aus.

»Aber was willst du denn? Was soll ich tun?« fragte sie endlich, als Agnes sie in ihre Arme zog und sich bemühte, sie zu trösten.

»Ihn zum letzten Male fragen, ob du alles erzählen darfst, und wenn er es nicht zugeben will, unwiderruflich und für immer Abschied von ihm nehmen.«

»Ich kann nicht,« stöhnte Irma, »er wird mir böse werden und mir vorwerfen, daß ich mein Versprechen nicht halte.«

»Wann hast du wieder eine Zusammenkunft mit ihm?«

»Morgen nachmittag.«

»Soll ich an deiner Stelle gehen und ihm sagen, wie der Hase läuft?« fragte Agnes, mit einem streitlustigen Gesicht.

»Nein, ums Himmelswillen nicht! Er weiß nicht, daß du meine Vertraute bist. Er würde mir das nie verzeihen.«

Agnes zuckte ungeduldig die Achseln. Noch eine Weile weinte Irma, dann stand sie auf.

»Ich will es tun,« sagte sie, »du hast recht, es ist furchtbar, so etwas vor Großmama geheim zu halten, aber verliere ich Otto, so sterbe ich ganz gewiß.«

»Es stirbt sich nicht so leicht,« dachte Agnes, aber sie war klug genug, das nicht zu sagen. »Hör' mal,« sagte sie laut, »ich will morgen mit dir kommen; hab' keine Angst, dein Baron soll mich nicht sehen, erst wenn eure Begegnung vorüber ist, wollen wir uns auf einem vorher verabredeten Platze treffen und zusammen nach Hause gehen.«

Am folgenden Tage goß es in Strömen, die Straßen waren naß und schmutzig, alles sah trostlos grau und düster aus. Eilig schritten die beiden Mädchen nebeneinander her, bis sie die Chaussee erreichten. Irma hatte fast kein Wort gesprochen und auf alles, was die Freundin sagte, nur einsilbig geantwortet. Besorgt schaute letztere ihre Cousine an. Selbst jetzt, in einem grauen Regenmantel gehüllt, ein einfaches Filzhütchen auf dem Goldhaar, war die Kleine bildhübsch. Um sie etwas aufzumuntern, scherzte Agnes:

»In meinem Regenmantel seh' ich aus, als ob ich in einem Sack steckte; deiner steht dir famos, wie alles, was du anziehst.«

Selbst diese Schmeichelei, für die sie sonst nicht unempfindlich gewesen wäre, lockte kein Lächeln auf Irmas Lippen. Ihre Mundwinkel bebten und sie kämpfte sichtlich mit den Tränen.

»Nur Mut, nicht verzagt!« tröstete Agnes, »vielleicht läuft die Sache gut ab. Wenn du ihm gehörig ins Gewissen redest, sieht er wahrscheinlich selber ein, daß er nicht recht tut. Wer weiß, ob er dir nicht erlaubt, noch heute deinen Eltern zu schreiben und der Großmama alles zu sagen, dann wird in den nächsten Tagen deine Verlobung angezeigt, und du gehst mit deinem schönen Baron Arm in Arm einher!«

Irma antwortete nichts, der Ton, in dem Agnes über Otto sprach, ärgerte sie, aber sie fühlte sich zu unglücklich, um sich in ein Wortgefecht einzulassen.

Sie hatten schon ein gutes Stück Weges zurückgelegt. Kein Mensch ließ sich auf der Chaussee blicken; die kahlen Bäume tropften vor Nässe, der Boden war durchweicht und schlüpfrig. Agnes schaute umher und mußte leise lächeln. »Kein poetisches Wetter für ein Stelldichein,« dachte sie, und hatte Lust, einige spöttische Bemerkungen zu machen, bezwang sich aber, blieb stehen und sagte nur:

»Ich kehre um, Irma, denn Baron von Hochstein kann jeden Augenblick erscheinen. Bei diesem Wetter hab' ich keine Lust, hier draußen auf dich zu warten. Ich geh' in die Konditorei von Bauer. Komm mir dahin nach, sobald du kannst.«

»Ja.«

»Wirst du's kurz machen?«

»Ja.«

»Und tapfer sein?«

Agnes seufzte, gab ihrer Cousine einen Kuß und entfernte sich rasch, denn sie glaubte in der Ferne die hohe Gestalt Hochsteins zu erkennen. Nach einigen Minuten schaute sie sich um. Ein Gartenzaun entzog sie den Blicken der beiden, sie selbst aber konnte deutlich sehen, wie Irma und der Student unter einem Regenschirm zusammen weitergingen, bis sie im nahen Wäldchen verschwanden.

Bedrückten Gemüts begab Agnes sich in die Konditorei. Zum Glück waren keine Gäste dort. Sie setzte sich ans Fenster und bestellte Schokolade und Kuchen. Irma würde gewiß verfroren und betrübt ankommen und ein warmes Getränk ihr gut tun. Wenn sie jetzt nur tapfer war und fest blieb, dann nahm diese ganze elende Geschichte ein Ende. Agnes fühlte sich so zu sagen mitschuldig an dem Betrug, weil sie Schweigen gelobt hatte, und doch sah sie ein, daß sie ihr Wort nicht brechen durfte.

Während sie bei sich das für und wider überlegte, verging die Zeit. Sie sah nach der Uhr, eine halbe Stunde war schon verstrichen. Die Schokolade wurde kalt, sie wollte frische bestellen, wenn Irma kam. Himmel, wie lange dauerte das! Ob sie Abschied nahmen? Agnes fing an unruhig zu werden und stand im Begriff, sich nach dem Ort des Stelldicheins zu begeben. Da knarrte die Ladentür. Gott sei Dank, Irma trat ein mit strahlendem Gesicht, glühenden Wangen und glänzenden Augen. Agnes flog ihr entgegen.

»Ich brauche nicht zu fragen,« rief sie, »alles ist gut?«

Irma nickte, setzte sich an den Tisch und nahm sofort von dem Kuchen.

Agnes freute sich aufrichtig, Otto stieg in ihrer Achtung, und sie bereute, daß sie ihm oft in ihren Gedanken unrecht getan hatte.

»Du mußt vergessen, daß ich an Otto zweifelte und sagte, er meine es nicht gut mit dir. Ich sehe, daß ich mich geirrt habe,« sagte sie.

»Er ist ein Engel,« versetzte Irma, »wenn du ihn später kennen lernst, wirst du das selber finden.«

»Na, das ist ja nicht gerade nötig, aber nun erzähle wie es war. Fand er's gleich in der Ordnung, daß die Heimlichkeit aufhören soll? Hat er wohl gar schon mit seinen Eltern gesprochen? Wann wird eure Verlobung veröffentlicht?«

Irma hatte den dritten Kuchen verzehrt, schob nun den Teller zurück und rührte nachdenklich in der Schokolade.

»Otto sieht sehr wohl ein, daß dieser Zustand auf die Dauer unhaltbar ist,« begann sie, »daher begreift er auch, daß ein Ende damit gemacht werden muß.«

»Recht so. Ich fürchte nur, Irma, Großmama wird doch ein bißchen böse auf dich sein, aber du bist ihr Liebling, da wird sie's schon verzeihen. Du sagst es ihr doch natürlich noch heute?«

»Nein, heute nicht.«

»Was?« Agnes fiel wie aus den Wolken.

»Nein,« fuhr Irma etwas nervös und gereizt fort. »Du brauchst dich nicht gleich zu ereifern. So rasch geht das nicht. Otto muß erst eine günstige Gelegenheit abwarten, seine Eltern vorzubereiten.«

»Himmel, Irma, was hat er dir denn wieder vorgeflunkert? Das ist ja immer die alte Leier.«

»Die alte Leier. Hör' mal, du hast selbst gesagt, daß du Otto unrecht getan hast; nun fängst du schon wieder an.«

»Ich höre,« versetzte Agnes, mit einem Gesicht, auf dem Ungeduld und Entrüstung deutlich zu lesen standen.

»In drei, höchstens vier Monaten macht Otto sein Examen. Daß er durchkommt, ist sicher, er ist ja so klug. Seine Eltern werden riesig erfreut sein, denn in den ersten Semestern hat er viel gekneipt und gebummelt, aber wenig studiert. Wenn er durchkommt, kann er von seinen Eltern verlangen, was er will – dann will er ihnen alles sagen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie ihre Einwilligung geben.«

»Und in der Zwischenzeit?«

»Bleibt alles natürlich, wie es ist. Was bedeuten drei bis vier Monate? Nun wir wissen, daß es nur noch so kurze Zeit dauert, wäre es doch mehr als dumm, alles durch zu frühe Veröffentlichung aufs Spiel zu setzen.«

Agnes sagte nichts. Sie stand auf und bezahlte, was sie verzehrt hatten. Dann setzte sie sich noch einmal, schwieg aber.

»Warum sagst du nichts?« fragte Irma endlich mit bedrückter Miene.

»Ach, du lieber Augustin, alles ist weg, weg, weg,« sang die andere.

»Agnes,« rief Irma zornig, »du bist unausstehlich!«

»Bin ich? So? Na, dann wollen wir nur nach Hause gehen, mein armes, dummes Prinzeßchen.«

Die Kleine war sehr böse. Mit stolz erhobenem Haupte schritt sie neben ihrer Cousine her und sagte ihr sehr kühl Lebewohl, als sie an ihrer Wohnung angelangt waren.

Einige Tage später erhielt Frau Gontrau einen Brief von ihrem Großsohn Gustav von Holten, mit der Bitte, ihm Irma doch einige Wochen nach I. auf Besuch zu schicken. Er selbst wäre durch seine rege Berufstätigkeit viel von Hause fort und sein noch so wenig an das Stadtleben und die neue Umgebung gewöhntes Frauchen fühle sich ein bißchen einsam. Es wäre daher herrlich, wenn sie für eine Zeitlang Gesellschaft bekäme.

Das Blut stieg Irma in die Wangen, und ihre Augen glänzten vor Freude. Wie entzückend in I. auf Besuch zu sein und dort vielleicht Otto häufig zu begegnen!

»Möchtest du gerne hin, Kindchen?« fragte Ilse.

»Ach, wie gern, Großmama! Aber dann bist du so allein!«

»O, das tut nichts, ich kann mich schon beschäftigen, und seit Müllers hier wohnen, habe ich ja immer Gesellschaft.«

»Das ist wahr. Agnes und Maud können dich alle Tage besuchen.«

»Gewiß, mein Liebling, und dann ist noch Onkel Heinz da, so wird mir's an Unterhaltung nicht fehlen. Ich glaube, daß es auch für dich heilsam ist, einmal in andre Umgebung zu kommen, Irma, denn du siehst in der letzten Zeit nicht gut aus; auch hast du dich überhaupt sehr verändert.«

»Aber Großmama,« sagte die Kleine mit erzwungenem Lächeln und klopfendem Herzen.

Ilse streichelte das blonde Gelock ihrer Enkelin und küßte sie. »Du hast doch nichts, was dich bekümmert?«

»Gewiß nicht, Großmama; wie kommst du nur darauf?«

»Ich beobachte dich, mein Liebling, und finde, daß du oft so sonderbar bist. Weißt du, was ich mir einbildete?«

»Nein, wie sollte ich das wissen?«

»Daß der schöne Student, der auf unsrer Landpartie so aufmerksam gegen dich war, tieferen Eindruck auf dich gemacht hat, und daß du dich unglücklich fühlst, weil er seitdem nichts mehr von sich hören ließ.«

Im Zimmer herrschte Dämmerung, und Irmas Köpfchen lag an Ilses Schulter. So konnte die Großmama die Schamröte nicht sehen, welche die Wangen der Enkelin bedeckte, als diese zögernd erwiderte:

»Aber Großmama, wie hast du dir nur so was in deinen lieben, alten Kopf setzen können?«

»Nicht wahr, Kindchen? Sie haben mir bange gemacht, Onkel Heinz und deine Mama, die in jedem Brief fragte, ob ich nichts von jenem Baron gesehen habe; und dann, wie ich schon erwähnte, warst du mitunter so sonderbar; aber ich glaubte, wenn etwas derartiges wäre, würde mein Kind mir's doch sagen, denn nicht wahr, Irma, du hast Vertrauen zu mir und läßt mich an deiner Freude, wie an deinem Kummer teilnehmen?«

»Natürlich, Großmama.«

»Also war's nur eine Aufwallung, eine vorübergehende Verliebtheit! In Wirklichkeit hast du dir nie etwas aus dem Baron gemacht?«

»Nein.«

»Ich bin so froh darüber und fühle mich nun ganz beruhigt. Daraus hätte doch nie etwas werden können. Die Barone von Hochstein halten sich ja für ganz besonders vornehm. Ich bin dankbar, mein Liebling, daß dieser Kummer dir erspart geblieben ist.«

Irma begab sich in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und schluchzte, als sollte ihr das Herz brechen. Sie kam sich so schlecht vor, so heuchlerisch und doppelsinnig, daß sie einen Ekel vor sich selber empfand und im Begriff stand, wieder hinunterzugehen und ihre Schuld zu gestehen. Aber dann fiel ihr ein, wie Otto gesagt hatte, daß dies unwiderruflich alles verderben würde. So beschwichtigte sie ihr Gewissen, indem sie sich vorhielt, es werde ja nur noch ein paar Monate dauern. Dann durfte sie alles beichten und um Verzeihung bitten, daß sie die Großmama in dieser Weise hatte hintergehen müssen.

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