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Nun folgte eine geschäftige Zeit. Jeden Tag hatten die Mädchen Einkäufe zu machen. Tischler, Stukkateure, Tapezierer, Maler und Zimmerleute schafften um die Wette. Es wurde gut und eifrig gearbeitet, und ehe vier Wochen vergangen waren, sah das Haus, in dem die Familie Müller aus Amerika wohnen sollte, schon recht hübsch und einladend aus. Die Mädchen richteten alles nach eigenem Geschmack ein. Die Eltern hatten nur im allgemeinen angegeben, wie jedes Zimmer möbliert und ausgestattet werden sollte.

Anfangs fanden Großmutter Ilse und Irma es ziemlich ungemütlich. In der Schlafstube standen eiserne Bettstellen ohne Vorhänge, auf dem feingeflochtenen Eisendraht nur eine Matratze von Seegras. Keine Mulldraperien um den Toilettentisch, und vor den hohen Fenstern nur Binsenvorhänge. Die Tapeten ließen sich leicht mit Wasser reinigen. Die Möbel waren zierlich, aber höchst einfach in Form und Stil, die Stühle meist mit Sitzen von feinem Flechtwerk. Wenig Zierrat, alles konnte bequem umgestellt und gesäubert werden. Nirgends Portieren oder Übergardinen; das waren, wie die Mädchen behaupteten, nur Staubfänger. In allen Zimmern und Gängen elektrische Klingeln und Beleuchtung. In der Küche ein Lift, um das Essen nach oben zu befördern, und Hähne zu kaltem und heißem Wasser in sämtlichen Schlafstuben. Kein Luxus, aber viel Komfort. Tante Elisabeth, die auch einmal die Wohnung besichtigte, mißbilligte alle diese Neuerungen auf's höchste und jammerte über die Unsummen, welche die modernen Einrichtungen verschlangen. Sie tadelte ihre Nichten, daß sie mit jugendlicher Unbesonnenheit zu Werke gegangen wären, und meinte, ihr Bruder könnte trotz seiner Vorliebe für amerikanische Verhältnisse solche Tollheiten unmöglich gut heißen. Aber Maud brachte sie dadurch zum Schweigen, daß sie ihr erwiderte, es wäre alles ganz genau nach den Wünschen und Anordnungen ihrer Eltern eingerichtet.

Die Tante begnügte sich nun damit, mißbilligend den Kopf zu schütteln und, heimgekehrt, der alten Grete ihr Leid zu klagen und auf die neumodischen Leute zu sticheln, die in ihren Häusern alles durch Maschinen verrichten ließen und sich durch alle möglichen Bequemlichkeiten über die Maßen verwöhnten.

Als das Haus fertig war und auch der Garten mit seinen breiten Kiespfaden und dem Tennisplatz im Hintergrunde sich in schönster Ordnung befand, mußten Ilse und Irma doch gestehen, daß es sehr nett aussah, wenn sie es zuerst auch ein wenig kalt und nüchtern gefunden hatten. Sämtliche Zimmer waren geräumig und hell, während das gar zu grelle Sonnenlicht durch Markisen gedämpft werden konnte. Von allen Seiten drang frische Luft herein, wo es aber nötig war, gab es Doppelfenster, die dem Zug den Eintritt wehrten. Nirgends etwas überflüssiges, nirgends ein Mangel an dem Nötigen und Nützlichen; überall herrschte auch eine harmonische Übereinstimmung der Farben, die dem Auge wohl tat. Maud und Agnes legten mit ihrer Arbeit Ehre ein, und auch Karl hatte tapfer mitgeholfen. Kein Wunder, daß sie der Ankunft ihrer Eltern mit größter Ungeduld entgegensahen.

Herr und Frau Müller befanden sich schon seit einiger Zeit auf der Heimreise und konnten in etwa acht Tagen eintreffen. Kurz zuvor kamen auch Irmas Eltern mit Gustav aus Berlin, um die Verwandten aus Amerika willkommen zu heißen. Maud und Agnes waren entzückt von ihrer Tante Ruth und deren Mann. Am Tage nach ihrer Ankunft gaben sie im Familienkreise ein Konzert, bei dem auch Onkel Heinz nicht fehlte. Er war immer glückselig, wenn Ruth im Hause ihrer Mutter als Gast weilte, seine Zuneigung zu ihr blieb sich stets gleich, und auch ihren Gatten verehrte er als großen Künstler.

Ruth von Holten war eine stattliche, schöne Frau in der Vollkraft ihres Lebens. Sie glich sehr ihrer Mutter, als diese jünger war und ehe Schmerz und Kummer ihren Zügen einen sanften wehmütigen Ausdruck verliehen hatten. Ihr Name als Sängerin war auch im Auslande rühmlichst bekannt; überall erregte sie mit ihrer schönen, in vorzüglicher Schule gebildeten Stimme und ihrem warmen Vortrage Aufsehen. Ihr Gatte, ein großer Geigenkünstler, war ihr in den ersten Jahren ihrer Ehe ein guter Lehrmeister gewesen. Wo das geniale Paar sich zeigte, ward es mit Jubel empfangen. Auch Gustav fing an, sich als Klavierspieler einen Namen zu machen. Er war ein stiller, junger Mensch, mit den verträumten Augen seines Vaters. Er freute sich, die Cousinen aus Amerika kennen zu lernen, aber die heitere, schalkhafte Agnes setzte ihn oft in Verlegenheit. Er ging ihr wie auch Irma aus dem Wege, die zwar große Stücke auf ihn hielt, ihn aber häufig mit seinem linkischen Wesen und seiner Schüchternheit jungen Damen gegenüber neckte. Er fühlte sich mehr zu Maud hingezogen, die ruhig und ernst mit ihm sprach, ihn nach seinen Studien fragte und sich nicht allein als Musikfreundin und Kennerin, sondern auch als selbst musikalisch ausgebildet zeigte. Die Mädchen waren begeistert, wenn Tante Ruth, Onkel Heinrich und Gustav im Familienkreise musizierten, vielleicht mit noch mehr Liebe und Hingabe als vor einem großen Publikum. Für die Künstlerfamilie war es eine Erquickung, ein wahres Aufatmen, einmal einige Wochen im Elternhause zu weilen und gleichzeitig die Mutter und den alten Freund der Familie, Onkel Heinz, durch ihr Spiel und ihren Gesang glücklich zu machen. –

»Ich bin ganz verliebt in Tante Ruth,« erklärte Maud, als die drei Mädchen im Schlafzimmer der Cousinen sich noch über den Abend aussprachen.

Agnes schaute sie verwundert an, denn Maud war eine sehr ruhige Natur, die nicht leicht in Entzückung geriet.

»Ja,« fuhr sie ungewöhnlich erregt fort, »nicht nur, weil sie eine so schöne Stimme hat, sondern auch, weil sie durch und durch schlicht und einfach ist. Und doch hat sie etwas so Vornehmes, gerade wie Großmama. Every inch a lady.«

»Wenn dir das jetzt schon auffällt, dann sollst du Mama erst in Konzerttoilette sehen,« meinte Irma; »früher trug sie immer weiß, jetzt meist schwarzen oder dunklen Samt. Ich sage dir, sie sieht dann aus wie eine Fürstin.«

»Du mußt eigentlich sehr stolz sein, Irma, als die Tochter von so genialen Eltern. Dein Bruder ist auch sehr talentvoll,« sagte Maud. »Hast du selbst nie Musikstunden gehabt?«

»Jawohl, als ich klein war, bekam ich Klavierstunden. Wie konnte es anders sein in einer solchen Umgebung? Ich hatte gutes Gehör und würde es wahrscheinlich zu etwas gebracht haben, wäre ich das Kind gewöhnlicher Eltern gewesen; wirkliches Talent besaß ich nicht, und da erklärten Papa und Mama es für besser, wenn ich aufhörte. Dilettanten und Klimperer gäb's in der Musik gerade genug.«

»Hast du dich nie unglücklich gefühlt?« fragte Maud sanft, »daß du in dieser Hinsicht eigentlich zu kurz gekommen bist? Ich wenigstens würde mich von der Natur für stiefmütterlich behandelt halten, wenn ich solche Eltern, solchen Bruder und selbst keine künstlerischen Anlagen besäße.«

»Ich nicht,« versetzte Irma lachend und betrachtete ihre schöne, schlanke Gestalt und ihr Engelsköpfchen, von einem Heiligenschein goldblonder Locken umrahmt, mit Wohlgefallen in dem großen Spiegel.

»Du bist freilich sehr hübsch,« fuhr Maud, über diese Eitelkeit geärgert, fort, »doch Talent zu besitzen ist viel mehr wert.«

»Vielleicht! Aber drei Talente in einer Familie, das ist wirklich genug. Ich würde es als eine schwere Bürde ansehen, wenn ich noch ein viertes vorstellen müßte.«

Agnes lachte. »Was für ein närrisches kleines Mädchen bist du, Irma! Aber sie hat recht, Maud. Es braucht doch nicht jede Frau etwas Besonderes zu sein.«

»Das habe ich auch nicht behauptet; Irma beachtet nur zu wenig, daß jetzt von den Frauen etwas anderes verlangt wird, wie in früheren Zeiten.«

»Ach was,« rief Irma. »Onkel Heinz würde sagen, die Hauptsache ist bei einer Frau zu allen Zeiten, daß sie anmutig, sanft und lieb ist.«

»Das läßt sich alles vereinigen,« versetzte Maud so ruhig, als hätte sie den Stich nicht verstanden; eine geistig hochstehende Frau kann schön, anmutig und lieb sein, das paßt sehr gut zusammen.«

»Na, dann gratulier' ich deinem John, der kriegt ein vollkommenes Wesen,« fuhr Irma gereizt fort, denn oft konnte sie Mauds etwas pedantische, überlegene Art zu sprechen, nicht ausstehen.

Die Amerikanerin zuckte die Achseln, und Agnes flüsterte Irma zu:

»Nun vergißt du ja Onkel Heinz' Behauptung, daß Liebsein das Anziehendste an einem jungen Mädchen ist.«

Schmollend verzog Irma ihr hübsches Mündchen, dann leuchtete es in ihren Zügen auf, und sie trat zu Maud.

»Ich war unartig,« sagte sie, ihr die Hand reichend, »sei nur nicht böse.«

Die großen Vergißmeinnichtaugen blickten unschuldig und kindlich in das schmale, dunkle und doch hübsche Antlitz der andern. Maud begriff nicht, warum ihr Tränen in die Augen traten; sie war doch sonst nicht so weichherzig. Plötzlich schlang sie die Arme um Irmas Hals und küßte sie.

»Ich reizte dich,« flüsterte sie. »Ich glaube, ich möchte dich gar nicht anders haben als du bist.«

Endlich brach der große Tag an, der zu Fritz' und Mariannes Heimkehr bestimmt war. Ilse konnte kaum daran glauben. Einundzwanzig Jahre waren verflossen, seit die blonde Marianne ihrem Manne nach San Franzisko gefolgt war. Ihre Mutter stellte sie sich noch immer vor als das feine, zarte Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen, und nun kehrte sie heim als Frau und Mutter erwachsener Kinder, von denen die Älteste übers Jahr auch schon in die Ehe treten sollte.

Den ganzen Tag herrschte größte Geschäftigkeit. Schon früh morgens hatte die ganze Familie sich nach dem neuen Hause begeben, wo Herr und Frau Müller empfangen werden sollten. Ein großes Festmahl ward hergerichtet. Maud gab mit gewohnter Ruhe und Sicherheit den neuen Dienstboten ihre Befehle. Tante Ruth, die sich schon als junges Mädchen nie mit dem Haushalt beschäftigt hatte und seit ihrer Verheiratung die ganze Sorge dafür andern überlassen mußte, schaute bewundernd zu, wie Maud in kurzer Zeit ohne Umstände allerlei Dinge beschaffte, wozu sie selbst Stunden gebraucht hätte. Großmutter Ilse war zu aufgeregt, um sich um irgend etwas zu kümmern. Sie, die jetzt meist gleichmäßig ruhig blieb, wanderte rastlos hin und her. Sie lief durch sämtliche Räume, fragte Maud und Agnes hundertmal, ob auch alles in Ordnung sei, und zählte die Stunden, die halben Stunden, zuletzt die Minuten, die noch verlaufen mußten, ehe die Erwarteten eintreffen konnten. Im Garten waren Irma, Agnes und Karl beschäftigt, Lampions und kleine Fähnchen zwischen den Bäumen anzubringen und die letzte Hand an eine Ehrenpforte zu legen, die sie mit Hilfe von Gärtner und Zimmermann errichtet hatten. Sogar der stets so stille und zurückhaltende Gustav, der den Kopf voller Melodien, sich am glücklichsten fühlte, wenn er allein am Flügel in Großmutters Salon bleiben konnte, beteiligte sich an der allgemeinen Geschäftigkeit, stand auf einer Leiter und befestigte zwischen dem dunklen Tannengrün rote und weiße Rosen und bunte Gladiolen.

Ilse hatte an Tante Elisabeth geschrieben und sie gebeten, auch zu kommen. Die Kinder erhoben Einsprache dagegen, und Onkel Heinz behauptete, die alte Essigpflaume werde das ganze Fest und die Freude des Wiedersehens stören, aber Frau Gontrau blieb fest. Die einzige Schwester von Fritz und die rechte Tante der Kinder gehörte zu ihnen, und es wäre nicht mehr als recht und billig, sie einzuladen. Ein allgemeiner Jubelschrei brach los, als eine Absage von der alten Dame kam. Sie schrieb ein sauersüßes Briefchen, in dem zwischen den Zeilen zu lesen stand, daß der Hauptgrund ihr Ärger über die Mädchen war, die, ohne sie um Rat zu fragen oder sich an ihre Bemerkungen zu kehren, das Haus eingerichtet hatten und viel zu beschäftigt gewesen waren, um den Besuch bei der Tante zu wiederholen. Sie wolle die Freude des ersten Beisammenseins nicht stören. Sie begreife, daß man da lieber ganz unter sich sein möchte, und zöge es vor, später zu kommen, wenn man für sie mal einen Moment Zeit hätte etc. etc. Sogar Ilse war nahe daran böse auf dies Geschöpf zu werden, das sich stets zurückgesetzt fühlte und in seiner Unzufriedenheit und Böswilligkeit die besten Absichten falsch auslegte. In ihrem Herzen war sie freilich auch froh, daß Tante Elisabeth nicht kam, aber es tat ihr weh, daß die Kinder sich darüber so außerordentlich freuten, und das einsame Wesen, das sich sein Leben selbst verdarb, erregte ihr höchstes Mitleid.

Es war bestimmt, daß das junge Volk zur Bahn gehen sollte. Ilse wollte Schwiegersohn und Tochter in Gesellschaft Ruths, ihres Mannes und Onkel Heinz' im Hause erwarten. Letzteren rechnete man so ganz zur Familie, daß er nicht fehlen durfte. Mit seiner gewohnten Heftigkeit hatte er sich zuerst dagegen gewehrt. So 'n alter Knaster gehörte bei solcher Gelegenheit nicht dazu; es ginge ihn nichts an, wenn Sohn und Tochter nach so langer Abwesenheit zum ersten Male die Mutter wiedersähen. Als die Kinder kamen, war es etwas andres, jetzt aber müsse er sich schämen, wenn er auch wieder so unbescheiden wäre, seine Nase mit hineinzustecken.

»Unsinn, Onkel Heinz,« erklärte Ilse, »Mariannes erste Frage würde nach Ihnen sein. Und« fügte sie leise, nur ihm verständlich hinzu, »nun mein Leo nicht mehr ist, müssen Sie an seiner Stelle sein Kind bewillkommnen, das wissen Sie wohl.«

Da drückte der Professor seiner alten Freundin dankbar die Hand; die Augen wurden ihm feucht, aber um das nicht merken zu lassen, schrie er Karl an, daß die Transparentbuchstaben des » Willkommen«, die über der Ehrenpforte prangten, schief ständen und daß doch nie etwas ordentlich gemacht werde, wenn er sich nicht darum kümmere.

Endlich hielt Ilse ihre blonde Marianne in den Armen, und in ihre Tränen mischte sich Freude über das Wiedersehen und Trauer im Gedanken an den Heimgegangenen.

Onkel Fritz machte, nachdem die erste Rührung vorüber war, fröhlich Bekanntschaft mit seinem Schwager von Holten, seinem Neffen Gustav und seinem Nichtchen Irma und frischte sofort mit Onkel Heinz alte Erinnerungen auf. Die ganze Gesellschaft schritt paarweise durch sämtliche Räume des neuen Hauses, betrachtete und bewunderte alles und vereinigte sich in fröhlichster Stimmung bei der Abendmahlzeit. Beim Nachtisch stiegen die Raketen im Garten prasselnd in die Höhe, und zwischen den dunklen Bäumen glänzten die Lampions. Das Knallen der Champagnerpfropfen erregte lauten Jubel bei der Jugend, Professor Fuchs brachte den schwungvollsten, wärmsten Toast aus, der je über seine Lippen gekommen war, und an diesem Abend gab es in der ganzen Stadt keine glücklicheren Menschen als Großmutter Ilse Gontrau mit ihren Kindern und Enkeln.

Während der ersten Wochen, die auf die Heimkehr der amerikanischen Familie folgten, herrschte in dem sonst so stillen Haushalt der Frau Gontrau fröhliches Leben und Treiben. Sie bestand darauf, ihre Kinder und Großkinder alle Tage zu sehen, und so wurden eine Menge kleiner Familienfeste gefeiert. Zuweilen nahm auch Tante Elisabeth daran teil, aber sie hatte viel zu tadeln und zu nörgeln. Sie stöhnte über Kälte, wenn die andern es vor Hitze kaum aushalten konnten, und war rauhes Wetter, so fand sie es drückend heiß. In spitzem Ton erklärte sie, daß ihr nichts daran gelegen sei, Besuche zu machen oder zu empfangen. Doch kamen die andern ohne sie zusammen, so fühlte sie sich verletzt und beklagte sich bitter, wenn eine Woche verging, ohne daß jemand aus der Familie sie besuchte. Es war schwer mit ihr umzugehen und ohne Zureden der Großmutter, die Mitleid mit ihr hatte und stets bemüht war, Tante Elisabeth freundlicher zu stimmen, würden sich die andern wenig um sie bekümmert haben.

Ein herrlicher Sommertag folgte dem andern und Holtens fingen an, von der Abreise zu reden. Die Zeit, die sie ihrer Familie widmen konnten, nahte dem Ende, und sie mußten nach München, wo sie sich für verschiedene Konzerte und Musikaufführungen verpflichtet hatten. Vor ihrem Scheiden wollte Großmama Gontrau noch gern ein Abschiedsfest geben, doch konnten sie sich nicht recht über die Art desselben einigen. Irma schlug eine » garden-party« vor. Im Garten sollten lange Tafeln aufgeschlagen und auf dem großen Rasenplatz vor dem Hause gespeist werden. Das Eßzimmer ließe sich leicht ausräumen und in einen Tanzsaal verwandeln. Der Garten müsse am Abend glänzend illuminiert werden. Sie war sogar für ein Kostümfest; welch herrliche Wirkung würde das im Grünen mit den Papierlaternen und tausend kleinen Lämpchen machen.

Die andern aber lachten sie gründlich aus. Onkel Heinz fragte, wo die Herren wohl herkommen sollten? Außer Gustav und dem kleinen Karl gab es keine jungen Leute; er neckte sie so mit ihrem schönen Plan, daß sie sich erst beschämt zur Großmama setzte und dann ganz bös erklärte, Onkel Heinz solle etwas besseres vorschlagen.

»Ich schlage vor, daß wir gar nichts unternehmen. Wir haben in der letzten Zeit nichts getan als Feste gefeiert und gut gegessen. Ich meine, nun könnten wir wohl Schluß machen.«

Aber gegen diese Meinung erhob sich ein wahrer Sturm der Entrüstung von seiten des jungen Volkes. Onkel Heinz wurde von den Mädchen so in die Enge getrieben, daß er sich schließlich schuldig bekannte und untertänig gelobte, an jeder Festlichkeit teilzunehmen, wie verrückt sie auch sein möchte.

»Hört mal,« nahm Ilse das Wort, »ich habe einen Plan. Aber erst muß ich euch erzählen, daß ich gestern einen Brief von meiner Jugendfreundin Flora Werner erhielt. Ruth, Marianne, erinnert ihr euch noch ihrer beiden Töchter Thusnelda und Hildegard?«

»Ja, Mama,« versetzte Marianne. »Mir ist, Thusnelda hätte sich verlobt, als Fritz und ich nach San Franzisko abreisten.«

»Du hast ganz recht, sie war damals mit einem Kaufmann verlobt, ist aber nun schon seit zehn Jahren Witwe. Auch der alte Herr Werner ist gestorben, und Flora lebt bei ihrer Tochter.«

»Und Hildegard?«

»Die ist in Indien. Thusnelda hat drei Kinder, ihr ältester Sohn ist Offizier, der zweite Ingenieur, bewirtschaftet aber gegenwärtig die ausgedehnten Landgüter, die sein Großvater hinterließ; dann ist noch eine Tochter da in deinem Alter, Agnes.«

»Aber was hat das alles mit unsrem Fest zu schaffen, Großmama?«

»Wartet nur. Flora Werner schrieb mir, daß ihre beiden Großsöhne mit der Schwester einen Ausflug in unsere Gegend machen würden, und sie fragt an, ob unser Haus ihnen für einige Tage offen stünde. Da dachte ich, wenn ihr die beiden jungen Leute aufnehmen wolltet, Marianne, und das Mädchen bei uns wohnte, dann würden sie unser Fest verherrlichen können.«

»Das ist eine gute Idee, Mama,« meinte Marianne. Ihr Mann fing sofort an, Irma und Agnes zu necken mit der wundervollen Aussicht, einen Leutnant in ihrer Gesellschaft zu haben.

»Paßt nur auf,« spottete Onkel Heinz, »was geschieht, wenn er einer von euch besonders den Hof macht! Dann kratzt ihr euch gegenseitig die Augen aus.«

Natürlich hatten die beiden Herren für ihre Neckereien zu büßen und mußten klein beigeben. Nachdem wieder Ruhe eingetreten war, fuhr Großmutter Ilse fort:

»Ich würde es nun sehr nett finden, eine Landpartie zu unternehmen. Wenn wir z. B. nach dem Wasserfall führen und dort im Wirtshaus speisten. Wir könnten morgens früh abfahren, nach der Abtei gehen und spät abends heimkehren. Ich bin seit Jahren nicht dort gewesen, und die Aussicht, einen ganzen Tag in der wildromantischen Natur zu verleben, lockt mich sehr.«

»Ja, ja, Frau Ilse, Sie haben solch abenteuerliche Touren immer geliebt,« scherzte der Professor. »Ich erinnere mich noch, daß Sie uns mal im Mondenschein auf den Schneekopf schleppten.«

»Das war in der guten alten Zeit,« entgegnete sie gedankenvoll, »es war herrlich damals mit Leo und meiner lieben Nellie.«

Irma, Agnes und der kleine Karl waren in Jubel ausgebrochen über diesen köstlichen Plan. Auch Gustav und Maud fanden die Idee sehr hübsch, wenn sie auch ihren Beifall weniger lebhaft äußerten.

»Wir müssen in geschmückten Wagen fahren, Großmama,« schlug Irma vor, »lauter Landauer zu vier Personen.«

»Nein, nein, ein paar große Kremser, das ist gemütlicher.«

»Wie viele sind wir denn?« zählte die Kleine. »Tante Marianne und Onkel Fritz; ihr drei Kinder, Großmama, Papa, Mama, Gustav und ich, Onkel Heinz, die drei Gäste, das macht vierzehn Personen.«

»Und Tante Elisabeth?«

»Nein, ach bitte, die nicht,« riefen die Kinder. »Wenn die mitkommt, geht alles schief. Du wirst sehen, dann haben wir schlechtes Wetter und es passiert ein Unglück.«

»Welcher Unsinn! Ihr braucht euch nicht um sie zu kümmern. Onkel Heinz wird bei dieser Gelegenheit ihr Kavalier sein, nicht wahr?«

»Besten Dank,« seufzte der Professor erschreckt; »das Frauenzimmer hat ein Gesicht, als ob sie beständig in eine Zitrone beißen würde; da kommen einem ja die Tränen in die Augen.«

Alle lachten, Frau Gontrau erklärte aber in entschiedenem Tone:

»Ich gebe die Landpartie und habe daher das Recht einzuladen, wen ich will. Tante Elisabeth kommt mit.«

Wenn Großmutter Ilse so energisch sprach, ließ sich kein Widerspruch hören. Ruth und Marianne gaben den Kindern einen Wink zu schweigen. Es wurde nicht mehr über Fräulein Müller gesprochen und alles, was auf die Landpartie Bezug hatte, weiter beraten.

Einige Tage darauf kamen die jungen Gäste an. Flora Werners ältester Großsohn, Ludwig Reicher, war ein schneidiger Offizier. Sein hübsches Gesicht mit dem keck aufgedrehten Schnurrbart hatte einen angenehmen Ausdruck. Es zeigte sich indessen bald, daß er nicht wenig von sich eingenommen war, und noch hatte Onkel Heinz keine Stunde in seiner Gesellschaft zugebracht, da nannte er ihn in Gegenwart der jungen Mädchen schon einen Affen in Uniform; diese aber erwiderten, daß man es dem alten Brummbären nie recht machen könne, und alle erklärten einmütig den Leutnant für einen sehr netten Menschen mit feinen Manieren, der sich höchst vorteilhaft einführte. Der zweite Bruder, Hans, war ganz anders. Kurz und breit von Gestalt, stach er gewaltig gegen den schlanken, zierlichen Leutnant ab. Sein Antlitz, mit der gebräunten Farbe, den grauen Augen, dem großen Munde und der gebogenen Nase war eher häßlich zu nennen; einem erfahreneren, scharfblickenden Auge aber erschien es viel intelligenter als das Antlitz des schönen Ludwig. Wenn dieser sprach, schwieg Hans meistens; er ließ sich von seinem Bruder völlig in den Schatten stellen, und in gewisser Hinsicht war ihm das sogar angenehm; denn er zeigte sich sehr verlegen und wurde zum großen Gaudium, besonders der Amerikanerinnen, bis über die Ohren rot, wenn jemand ihn unverhofft anredete. Vorzugsweise war das der Fall, wenn Irma die großen blauen Augen zu ihm aufschlug; und da das kleine, eitle Ding sofort merkte, daß es ihn in Verlegenheit setzte, machte es ausgiebig Gebrauch davon, um hinterher mit Agnes herzlich über »den Bauer« zu lachen. Die Jüngste, nach ihrer Großmutter Flora getauft, war eine einfache, liebliche Erscheinung mit blonden Zöpfen, auch wohl ein wenig schüchtern und verlegen, aber so sanft und gretchenhaft in ihrem ganzen Wesen, daß jeder sich gleich zu ihr hingezogen fühlte.

Das innige Zusammenleben von Frau Gontrau und ihren Kindern und Enkeln dehnte sich auch auf die Gäste aus, die sich bald ganz wie zu Hause fühlten. Als der Tag der Landpartie anbrach, ging der Leutnant Ludwig mit den amerikanischen Mädchen schon ganz kameradschaftlich um und flirtete lebhaft mit Agnes, was Irma ein klein wenig ärgerte. Hans wagte ganz schüchtern der bezaubernden kleinen Holten einige Komplimente zu machen, und Flora lauschte, Tränen in den Augen, dem Klavierspiel Gustavs, zu dem sie mit großer Bewunderung und Ehrerbietung emporschaute.

Karl hatte an dem wichtigen Tage keine Ruhe. Schon ganz früh tobte er durch das Haus, lief von Zimmer zu Zimmer und klopfte an jede Tür, um seinen Eltern, seinen Schwestern und den beiden Reichers zuzurufen, daß das Wetter schön sei. Die Sonne strahlte hell und warm vom wolkenlosen Himmel herab, und es war ein solcher Überfluß von Duft, Licht und Farbenpracht in der Natur, daß jedes Herz freudig gestimmt wurde.

Als Fritz und Marianne mit ihren Kindern und den beiden Gästen zu Frau Gontrau kamen, fanden sie die ganze Familie schon im Garten versammelt. Großmutter Ilse war, wie immer, schwarz gekleidet, aber mit einem so hübschen Hut auf dem krausen, schlohweißen Haar, daß Agnes, sie umarmend, erklärte, Großmama sei die schönste alte Dame, die sie kenne. Onkel Heinz bemühte sich nach Kräften, ein recht grimmiges Gesicht zu machen, schaute aber doch mit vor Lebenslust funkelnden Augen unter seinem breitrandigen Schlapphut auf all die fröhlichen Menschen. Tante Elisabeth, trotz der Hitze in einem braunwollenen Kleide, einen großen Regenschirm in den Händen, prophezeite, daß die Witterung sich ändern werde. Ruth und ihr Mann mit ihrem eigenartig künstlerischen und eleganten Äußern, durch das sie überall und jederzeit auffielen, verlachten ihre Befürchtungen. Gustav, der sich mit Flora etwas abseits hielt, erzählte dieser, wie schwer es ihm fiele, einen ganzen Tag auf sein Klavierspiel zu verzichten. Irma sah so bezaubernd aus in einem weißen Mullkleidchen mit hellblau verziert, daß Hans gar nichts zu sagen wußte, Ludwig sie bewundernd anschaute und ihr eitles Herzchen vor Stolz hoch aufschwoll.

Nun fuhren die Wagen vor; zwei bequeme, wenn auch altmodische Fahrzeuge, die aber jetzt elegant und malerisch aussahen, so reich hatte das junge Volk sie mit Blumengewinden und Tannenguirlanden geschmückt.

Das war ein Leben! Großmutter Ilse und Tante Elisabeth wurden zuerst hineingehoben; letztere erkundigte sich mehrmals, ob die Pferde auch nicht wild seien, und versicherte, daß sie sich eigentlich gar nichts aus Spazierfahrten mache. Mit einem wahren Märtyrergesicht wollte Onkel Heinz zwischen den beiden Damen Platz nehmen, als Agnes und Ludwig erklärten, daß er zu den jungen Leuten gehöre.

»Ich? Seid ihr denn ganz verrückt?« rief er scheinbar wütend aus; »was wollt ihr mit so 'nem alten Querkopf anfangen?«

Irma aber warf ihm lachend einen in der Eile geflochtenen Kranz von Eichenblättern über den Hut und sagte:

»Siehst du, Onkel, wenn wir nun noch einen Esel hätten, könntest du gut als Silen gehen. Wir Mädchen sind die Nymphen, die jungen Leute Faune, bis auf Hans, der hat die prächtigste Gestalt für Gott Bacchus selbst.«

Alle lachten. Hans wurde rot, besiegte aber seine Verlegenheit und rief:

»Wenn ich Bacchus vorstellen soll, hab' ich als Gott zu befehlen, und dann will ich mit Ihnen allein auf der vordersten Bank sitzen, Irma.«

»Bravo,« jubelte Ludwig, und unter allgemeinem Scherzen erkletterten die jungen Leute den vordersten Wagen. Professor Fuchs wurde in die Mitte genommen. Ruth und Marianne mit ihren Männern kamen natürlich zu Großmama und Tante Elisabeth. Auch Gustav zog es vor, bei den älteren Leuten zu sitzen; die lebhafte jugendliche Schar war ihm zu lärmend, und Floras Herz klopfte vor Freude, als er ihr erklärte, neben ihm sei noch ein Plätzchen für sie frei.

So rasch wie möglich ging es zur Stadt hinaus, um Aufsehen zu vermeiden. Dann mäßigte die Steigung der bergan führenden Chaussee die Schnelligkeit der Fahrt. Wurde der Weg zu steil, so stiegen die Kutscher ab und schritten, die Zügel in der Hand, neben den Wagen her. Manchmal gingen auch die Herren ein Stück Wegs zu Fuß, und dann blieben die Damen mit Onkel Heinz, dem das ewige Aus- und Einsteigen zu mühsam war, sitzen. Zu beiden Seiten der Straße dehnten sich dichte, endlose Wälder; als etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt war, ersuchte der Kutscher des vordersten Wagens, ein dicker gemütlicher Schwätzer, die ganze Gesellschaft auszusteigen, um die weit und breit berühmte Aussicht zu bewundern.

»Ich rühre mich nicht vom Fleck,« erklärte Fräulein Müller. Die Übrigen folgten gern der Aufforderung und meinten, es täte nach dem langen Sitzen gut, sich mal die Beine zu vertreten. »Was habt ihr denn von so 'ner Aussicht; es ist doch immer dasselbe, und eine ist genau so wie die andre,« murrte das alte Fräulein.

Selbst Großmutter Ilse zuckte ungeduldig die Achseln, als sie sich am Arm ihres ältesten Schwiegersohnes auf den Felsvorsprung begab, um die herrliche Aussicht zu bewundern.

Tief unten lag, wie ein ovaler Silberspiegel, ein kleiner See inmitten eines fruchtbaren Tales. Ab und zu ertönten die Glocken der Herden wie eine wohllautende, aus weiter Ferne herüberklingende Musik, und auf den umliegenden Bergen grasten friedlich schwarz- und weißgefleckte und rotscheckige Kühe. Soweit das Auge reichte, waren die Felsen mit Schlingpflanzen und Farnen wie mit Mänteln überhangen, zwischen denen schneeweiße und goldgelbe Blütendolden hervorschimmerten. Wunderbar strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab und tauchte die reiche, üppige Landschaft in glühende Farben.

Die ausgelassene Heiterkeit verstummte, selbst laute Bewunderung hätte störend gewirkt. Ärgerlich schaute Gustav Irma an, als sie Hans scherzend fragte, ob er einen senkrecht steilen Felsen in ihrer Nähe erklettern und ihr die blauen und weißen Blumen pflücken wolle, die sich um die Spitze schlangen.

»Seien Sie praktisch und stellen Sie erst im voraus Ihre Bedingungen, was Sie dafür haben wollen,« rief Maud lachend, während Hans mit zweifelnder Miene hinaufschaute und dann eingestand, daß ihm seine gesunden Gliedmaßen doch zu lieb seien, um sie bei einem solchen Wagestück aufs Spiel zu setzen.

Dadurch war der Zauber gebrochen. Ruth von Holten wischte sich eine Träne aus den Augen und tippte ihrem Manne auf die Schulter, der träumerisch in die Ferne blickte und wie aus tiefem Sinnen auffuhr, als er sah, daß die andern sich wieder nach den Wagen begaben.

Tante Elisabeth hatte sich unterdessen damit die Zeit vertrieben, daß sie in dem unter dem Sitze stehenden Korbe herumschnüffelte, einen Sack mit glasierten Früchten herausholte und sich daran labte. Als der kleine Karl, der vorausgelaufen war, wie eine Katze über die Bänke des Wagens sprang, schrie er laut:

»Schnell, Großmama, Tante Elisabeth nascht aus deinem Korbe!«

Fräulein Müller erschrak so heftig, daß sie den Sack fallen ließ; die leckeren Früchte würden sicher auf den Boden gerollt sein, wenn Agnes nicht herbeigeeilt wäre und das Unglück noch rechtzeitig verhütet hätte.

Tantes dürre Finger krümmten sich, und da Karls Haupt sich gerade in ihrem Bereich befand, griff sie in seine Locken und schüttelte ihn tüchtig hin und her.

»Laß mich los,« rief der Junge, alle Höflichkeit vergessend. »Bist du verrückt geworden, Tante? Ich hab' nicht genascht, sondern du!«

Die ganze Gesellschaft war jetzt herangekommen. Karl befreite sich mit einem Ruck und wollte mit feuerrotem Gesicht und einem drohend nach der alten Dame ausgestreckten Finger verkündigen, was sich zugetragen hatte, als Großmutter Ilse ihm zuvorkam. Mit einem einzigen Blick begriff sie alles und sagte ruhig:

»Das ist auch wahr. Tante Elisabeth erinnert mich daran, daß ich noch eine kleine Erfrischung für unterwegs mitgenommen habe. Reiche sie herum, Agnes.«

Alle schmunzelten verstohlen, schauten sich verständnisvoll an, wagten aber keine Bemerkung zu machen. Agnes prustete los, als sie mit dem Sack zur Tante kam und diese schroff und giftig dankte. Onkel Heinz und Irma lachten laut auf. Böse und neidisch wie eine Spinne, zog sich die alte Jungfer in ihr Eckchen zurück und machte ein Gesicht, als sei ihr das größte Unrecht von der Welt geschehen.

Langsam ging die Fahrt nun wieder bergan, aber die jungen Leute wurden jetzt ungeduldig. Das einförmige Schrittfahren langweilte sie; sie sehnten sich, den Bestimmungsort zu erreichen. Endlich verengte sich die Fahrstraße und einige große Holzgebäude wurden sichtbar. Das waren die Stallungen der Wirtschaft, die ungefähr noch eine Viertelstunde entfernt lag. Hier hatte das Fahren ein Ende, es wurde ausgespannt und die Gesellschaft machte sich zu Fuß auf den Weg.

In der Ferne hörte man schon das Rauschen des Wasserfalls, der das Wirtshaus und seine Lage berühmt gemacht hatte. Bald wurde der Pfad so schmal, daß nur einer hinter dem andern hergehen konnte. Der Professor erbot sich, den Zug anzuführen, er kannte den Weg und sagte, er sei gefährlich. Nun wollte Tante Elisabeth zurückbleiben, sie sei zum Vergnügen mitgekommen und hielte es für eine Sünde, sich Gefahren auszusetzen.

»Unsinn,« erklärte Frau Gontrau, »Onkel Heinz will uns nur necken; gehen Sie hinter mir her, Elisabeth, und seien Sie nicht bange, es ist nicht schwierig.«

Ängstlich, mit kleinen, vorsichtigen Schrittchen folgte die Tante; sie hielt sich zu Karls unaussprechlichem Gaudium an Ilses Kleid fest, was der Junge gleich nachmachte, indem er die Tante bei den Röcken packte. Dies Beispiel wirkte ansteckend; die jungen Leute faßten einander am Rock oder Kleid, und so ging es im Gänsemarsch in Schlangenwindungen vorwärts. Immer schmäler wurde der Pfad; er führte durch eine tiefe Schlucht. Rechts und links erhoben sich hohe Felswände, von Tannen, Fichten und Buchen gekrönt und mit Moos und Ginsterbüschen über und über bedeckt.

»Wie unheimlich,« meinte Fräulein Müller. »Karl, laß mich los; du zerreißt mir mein Kleid. So laß doch los.«

»Wenn wir fallen, liegst du zu unterst, Tante,« schrie ihr Plagegeist mit lauter Stimme, um das Rauschen des Wasserfalls zu übertönen, das immer gewaltiger klang und bald in ein ohrenbetäubendes Brausen überging.

Plötzlich ward der Weg breiter, der Professor bog um eine Ecke und blieb auf einem großen Felsblock stehen. Die lebende Guirlande verteilte sich und drängte sich auf dem engen Raume zusammen. Die jungen Leute lachten, die Mädchen kicherten, Fräulein Müller stand Todesängste aus, daß sie herunterstürzen könnte, obschon der ganze Aussichtspunkt mit einem Geländer von rohen Baumstämmen umgeben war. Karl und Irma drängten sie immer mehr nach vorne; Elisabeths entrüstete Ausrufe übertönte das donnerähnliche Brausen des Wasserfalls.

Endlich hatte jeder einen bequemen Platz und Stützpunkt gefunden und gab sich mit Andacht dem großartigen Naturschauspiel hin. In gewaltigen Massen stürzte das Wasser in die Tiefe, zum Teil über einen steilen Abhang strömend und sich bei jeder vorstehenden Felsspitze in tausend Strahlen verteilend, die zusammen einen unsagbar schönen Fächer von Silberschaum bildeten.

Atemlos standen alle und staunten und konnten sich von dem Anblick des prächtigen Falles nicht trennen, bis Onkel Heinz endlich mit Stentorstimme ein »Vorwärts!« kommandierte und vorsichtig eine in den Felsen gehauene Treppe hinabstieg, die direkt zu dem freundlichen Wirtshaus führte. Es lag mitten im Walde, von hohen Fichtenstämmen umgeben, aus denen in geringer Entfernung die malerischen Türme der alten Abtei hervorragten.

Im Garten des Wirtshauses herrschte reges Treiben. Es war noch in der Ferienzeit; eine Menge Fremder sowie Bewohner der umliegenden Ortschaften hatte gleichfalls das schöne Wetter herausgelockt, um dem Wasserfall und der Abtei einen Besuch abzustatten. Viele Studenten mit farbigen Mützen und weißen Beinkleidern bildeten fröhliche Gruppen.

Alle Stühle waren besetzt, und die Gäste, die weder an den Tischen noch auf den Bänken Platz gefunden, wanderten unruhig auf und ab. Etwas verstimmt schaute sich unsre Gesellschaft um; es war nicht verlockend, bei diesem herrlichen Wetter drinnen im Saale zu speisen, aber es schien nichts andres übrig zu bleiben. Mittlerweile hatten die jungen Mädchen Aufmerksamkeit erregt; Irma und Agnes standen in der Nähe einer Gruppe von Studenten, die sich mit den Augen zuwinkten und einander anstießen. Plötzlich erhob sich einer von ihnen, nahm die kleine Cerevismütze von dem pechschwarzen Kraushaar, näherte sich dem Professor und fragte höflich:

»Ich habe doch die Ehre, Herrn Professor Fuchs zu sprechen?«

Der alte Herr schaute ihn durchdringend an.

»Ich glaube, ich kenne Sie, junger Mann, kann Sie aber nicht unterbringen.«

»Von Hochstein,« stellte sich der Student vor, indem er dem ganzen Kreise seine Verbeugung machte. »Ich gehöre noch zu Ihren ehemaligen Schülern, Herr Professor. Darf ich Ihnen und Ihrer Gesellschaft unsern Platz anbieten? Wir sind fertig, unsre Tafel kann schnell abgeräumt werden.«

Mit einer höflichen Verbeugung auf die Dankesbezeugungen der Gesellschaft antwortend, rief er einige Kellner und erteilte ihnen seine Befehle. Sie waren so dienstbeflissen, als ob er eine bekannte und einflußreiche Persönlichkeit wäre.

Dann winkte er einem in der Nähe sitzenden Blumenmädchen und kaufte die schönsten Rosen aus ihrem Körbchen. Mit vollendeter Ritterlichkeit näherte er sich Maud und Agnes und überreichte ihnen ein paar Sträußchen, welche die amerikanischen Mädchen ohne die geringste Verlegenheit freundlich dankend annahmen und in den Gürtel steckten. Flora erhielt ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Heliotrop, worüber sie bis über die Ohren errötete; endlich trat er zu Irma und reichte ihr zwei prachtvolle La France-Rosen.

»Sollten Sie die Blumen auch nachher fortwerfen, ich würde mich doch für den glücklichsten der Sterblichen halten, wenn Ihre Hände sie nur einmal berührten,« flüsterte er leise.

Irma fühlte, daß sie rot wurde, aber sie zwang sich aufzuschauen und blickte in ein paar schwarze, schmelzende und doch kecke Augen. Das schöne Gesicht mit seinen feinen, aristokratischen Zügen wäre ohne den gewaltigen Schmiß auf der rechten Wange vielleicht etwas weibisch erschienen. Sie schlug verwirrt die blauen Augen nieder und nahm die Rosen mit ein paar gestammelten Dankesworten.

Er schwenkte sein Cerevis, als ob es ein Marschallshut mit wallendem Federbusch wäre, verbeugte sich fast bis zur Erde und entfernte sich mit seinen Kommilitonen.

»Wer war das, Onkel Heinz?« fragte Ruth.

»Jetzt erinnere ich mich, er war mein Schüler und benahm sich immer ein bißchen verdreht. Er ist ein Baron von Hochstein, der zum ältesten Adel des Landes gehört.«

»Er ist ein Geck,« brach Hans Reicher los, »und ihr,« fuhr er entrüstet zu den Mädchen fort, »solltet euch schämen, Blumen von jemand anzunehmen, der euch total unbekannt ist.«

Maud erwiderte ruhig, sie sehe kein Unrecht darin, eine Höflichkeit anzunehmen, die im Beisein der Eltern und der ganzen Familie erwiesen werde.

Irma schaute Hans lachend an, roch an ihren Rosen und befestigte sie sorgfältig in ihrem Gürtel. Ruth näherte sich ihr und flüsterte tadelnd:

»Du mußt nicht so kokett sein, Irma, mein Kind.«

»O, es ist doch nur Hans,« versetzte sie, während sie sich mit einem strahlenden Lächeln auf dem reizenden Gesichtchen zu Agnes gesellte. Ruth warf einen mitleidigen Blick auf den jungen Mann.

Die Gesellschaft nahm an den inzwischen gedeckten Tafeln Platz und tat sich gütlich an den schmackhaft bereiteten Speisen und dem Rheinwein, der in zierlichen, goldglänzenden Römern perlte.

Nach dem Essen gingen Ruth und ihr Mann noch einmal zu dem Wasserfall, um das großartige Schauspiel in aller Stille zusammen zu genießen. Fritz und Marianne wanderten mit Maud ein Stück in den Wald. Ilse sehnte sich, nun die lebhafte Mittagsstunde vorüber und es im Garten fast leer geworden war, still unter dem Laubwerk der hohen Bäume zu ruhen und Onkel Heinz teilte ihren Wunsch. Tante Elisabeth suchte sich im Hause ein bequemes Sofa, wo sie ihr Mittagsschläfchen halten konnte. Das junge Volk beschloß, der Abtei einen Besuch abzustatten.

Ludwig und Agnes gingen voraus. Der Pfad durch den Wald war nicht sehr eben, hier und da sogar recht ungebahnt. Es dauerte denn auch nicht lange, so bot der junge Leutnant seiner Dame den Arm. An einer Stelle, wo große, knorrige Wurzeln und ein ganzer Baumstamm den Weg sperrten, legte er den Arm um die Taille des jungen Mädchens und half ihr über die Hindernisse hinweg. Irma folgte mit Hans, behielt aber Karl an ihrer Seite und nahm keine Notiz von ihrem Anbeter. Des Morgens im Wagen war sie ganz freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn zwar geneckt, sich jedoch seine etwas ungeschickten, aber gut gemeinten Huldigungen gern gefallen lassen. Nun würdigte sie ihn kaum einer Antwort, beschäftigte sich nur mit Karl und sprang ausgelassen mit diesem über die Baumwurzeln. Hans seufzte. Vom ersten Augenblick an, als er in Irmas strahlende Augen geschaut, hatte das verwöhnte, von allen verhätschelte Kind sein Herz im Sturm erobert. Er kämpfte dagegen, sagte sich, daß es eine Torheit sei, sich so plötzlich zu verlieben, aber trotz seiner ernsten Natur konnte er nicht anders. Er fühlte, daß er Irma wahrhaft liebte und daß es keine Tändelei, sondern eine ernste, tiefe Zuneigung war, die unzerstörbar in seinem Herzen lebte. Daher tat es ihm weh, sie jetzt so launisch und flatterhaft zu sehen. Ein bitteres Gefühl bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken an den glänzenden Studenten, der Irma erröten gemacht und den sie mit einem Blick angesehen hatte, wie ihn, Hans, noch keiner getroffen, auch wohl nie einer treffen würde. Trotz seiner Verliebtheit aber war er kein Narr; er bewahrte seine Würde und ließ Irma ganz unbehelligt.

Er wollte sich Flora und Gustav anschließen, die den Nachtrab bildeten. Doch auch ihnen schien seine Gesellschaft nicht erwünscht zu sein. Der sonst so verträumte Gustav warf ihm einen unzufriedenen Blick zu, und endlich bat ihn Flora, ob er nicht nach dem Wirtshause gehen und ihren vergessenen Spitzenshawl holen möchte. Sie fände es kalt und wolle ihn dort mit Gustav auf jener Bank erwarten. Gutmütig erfüllte Hans ihren Wunsch, aber als er mit dem Shawl zurückkam, fand er das junge Paar nicht mehr; er nahm auf dem aus unbehauenen Stämmen errichteten Sitze Platz und verlor sich in Betrachtungen über die Torheit verliebter Leute.

In der Zwischenzeit hatten die Übrigen die Ruine des ehemaligen Klosters erreicht und schweiften zwischen den Mauerresten, Treppen, Spitzbogen und Gewölben umher. Durch die Öffnungen und Spalten, durch die klaffenden Risse blickten überall der wolkenlos blaue Himmel und die dunklen Wälder herein. Die grauen, von der Zeit geschwärzten Mauern waren ganz mit Efeu, Schlingpflanzen und wilden Blumen bewachsen; hier und da erhoben sich zwischen den moosbedeckten Steinen einige kleine Fichten- und Tannenbäumchen. Im Grase verstreut lagen noch einzelne Grabsteine, deren Inschriften der Zahn der Zeit fast verwischt hatte; einige freilich waren noch lesbar und trugen die Namen längst verstorbener Mönche und Äbte. Totenstille herrschte, und die ganze Umgebung atmete die Romantik des Verfalls und zeugte von vergangener Größe. Sogar Irma fühlte sich davon bewegt; ruhig setzte sie sich in die Nische eines verwitterten Bogenfensters und schaute träumerisch vor sich hin. Karl, zu lebhaft, um still zu sitzen, hatte ein paar Eichhörnchen entdeckt, deren lustige, flinke Sprünge ihn tiefer in den Wald lockten; die andern beiden Paare wählten sich auch ein ihnen zusagendes Ruheplätzchen, und so war Irma allein. Sie bot ein entzückendes Bild, von der Fensternische wie von einem breiten Rahmen umgeben. Sie nahm die Rosen aus ihrem Gürtel und atmete ihren süßen Duft ein, dann, einer plötzlichen Aufwallung nachgebend, drückte sie ihre Lippen auf die feinen Blättchen. In demselben Augenblick hörte sie einen raschen Schritt, fühlte sie, wie das Blut ihr in die Wangen schoß und Baron von Hochstein stand vor ihr.

Er tat, als habe er nichts gesehen, grüßte höchst ehrerbietig, schien erst vorüberschreiten zu wollen und blieb dann plötzlich stehen.

»Hat die romantische Schönheit dieses Ortes Sie auch verlockt, hier etwas zu ruhen, gnädiges Fräulein?« fragte er.

»Ja, mein Herr,« stammelte Irma verlegen; gleichzeitig erhob sie sich, um weiter zu gehen.

»Ich bitte Sie,« rief er erschrocken, »lassen Sie sich durch mich doch nicht stören. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich die Ursache wäre, daß Sie dies herrliche Fleckchen Erde verließen. Soll ich gehen?«

Sie überwand ihre Schüchternheit und sah ihn an. Auf seinem Antlitz las sie eine so unverhohlene Bewunderung, daß ihr der Mut wuchs.

»Dies Reich gehört mir nicht,« entgegnete sie lächelnd, »folglich habe ich nichts zu befehlen.«

»Dann darf ich also einen Moment verweilen? Kommen Sie oft hierher?«

»Nein, im vorigen Jahr machten wir zuletzt die Fahrt. Es ist von F. immer eine ganze Reise nach hier.«

»Sie wohnen in F.?«

»Ja, bei meiner Großmutter.«

»Welch ein Glück!«

»Warum?«

»Weil F. kaum zwanzig Minuten mit der Eisenbahn von unserer Universität I. entfernt ist.«

Wieder wurde Irma rot. »Es wird Zeit, daß ich meine Gesellschaft aufsuche,« sagte sie, sich erhebend, »Karl, wo bist du?« rief sie laut.

»La, la, la, la,« ließ sich die lachende Jungenstimme aus der Ferne vernehmen. Mit einer Verbeugung verabschiedete sie sich und schritt dem Knaben entgegen, bevor er merkte, daß sie nicht allein gewesen war.

Ludwig und Agnes ließen nicht lange auf sich warten. Als letztere Irma sah, flog sie ihr ausgelassen entgegen.

»Wo hast du gesessen?« fragte sie. »Wir haben dich überall gesucht.«

»Wer's glaubt!« lautete die scherzende Antwort. »Ihr überlaßt mich ruhig meinem Schicksal.«

»Ich glaubte, Hans sei bei Ihnen,« entschuldigte sich Ludwig.

»Hans!« Irma lachte laut auf. »Nein, der hat mich auch im Stich gelassen.«

»Sicher nicht freiwillig,« meinte Agnes. »Armer Hans.« Sie schob ihren Arm durch den ihrer Cousine und flüsterte:

»Liebling, ich bin so unendlich glücklich.«

Irma wußte selbst nicht, warum ihr eignes Herzchen so heftig klopfte, warum ihr so leicht, so selig zu Mute war. Doch nur um Agnes' willen, dachte sie.

»Hat … hat Ludwig sich erklärt?« fragte sie leise.

»O Irma, ich glaube wirklich, er liebt mich,« versetzte Agnes, und ihr heiteres Gesichtchen war eitel Sonnenschein.

Zu weiteren vertraulichen Mitteilungen blieb keine Zeit, denn Gustav und Flora tauchten eben auf. Der jugendliche Künstler sah sehr ernst aus; er ging Hand in Hand mit Flora und schien es nicht zu bemerken, daß die andern sich vielsagend anschauten.

Gemeinsam kehrten sie nach dem Wirtshause zurück. Im Stillen wunderte sich Irma, daß Agnes so heiter war und tat, als sei nichts vorgefallen. Und doch war ihr etwas ganz Besonderes widerfahren. Ludwig hatte ihr seine Liebe erklärt. Irma blickte den Leutnant von der Seite an. Wie hatte sie ihn nur jemals hübsch finden können! Nein, er war gar nicht hübsch, wenn sie ihn mit dem Baron von Hochstein verglich.

Im Garten fanden sie die ganze Gesellschaft beisammen. Onkel Heinz und Hans waren an einem abgesonderten Tisch mit der Bereitung einer Riesenbowle beschäftigt. Verschiedene Flaschen Rheinwein, ein paar Flaschen Champagner, Teller mit Erdbeeren, Pfirsichen und andern Früchten, standen vor ihnen. Die Damen umringten den Professor und wollten ihm einige Anweisungen geben, er aber erklärte, er sei stets wegen seiner Bowlen berühmt gewesen und könne ohne Hilfe fertig werden. Trinken dürften sie davon, um die Zubereitung brauchten sie sich aber nicht zu kümmern. Tante Elisabeth sagte mit saurer Miene, daß sie es ganz unpassend fände, wenn junge Leute so viel tränken, worauf ihr Bruder Fritz lachend erwiderte, sie habe ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht, wenn sie annähme, daß sie allein etwas davon bekäme.

Am andern Ende des Gartens saßen die Studenten. Irma konnte nicht anders; sie mußte dann und wann verstohlen hinsehen, und ihr Herz begann ungestümer zu schlagen, als sie Hochstein aufstehen und von einigen seiner Kommilitonen gefolgt auf sie zutreten sah.

Er näherte sich Frau Gontrau, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und begann:

»Haben Sie etwas dagegen, gnädige Frau, wenn wir die jungen Damen und Herren Ihrer Gesellschaft einladen, an einem improvisierten Balle teilzunehmen?«

Aus dem Speisesaal des Hauses erklangen heitere Tanzweisen, und beim Schein der mittlerweile angezündeten Lampen drehten sich verschiedene Paare fröhlich im Kreise.

»Habt ihr Lust, Kinder?« fragte Ilse freundlich.

»Ach ja, Großmama!« rief das junge Volk entzückt. Selbst Floras Augen glänzten, aber sie schlug sie nieder und fragte Gustav sittsam, ob er gern tanze.

Nachdem die gegenseitigen Vorstellungen stattgefunden, bot Baron Hochstein Irma den Arm, und die junge, fröhliche Schar wollte sich entfernen, als der Professor rief:

»Das ist alles gut und schön, aber nach dem Tanze kommen Sie her, meiner Bowle Ehre zu erweisen, ich lade die Herren Studenten zu einem altmodischen Rundgesang ein, an dem wir alle teilnehmen wollen.«

Ein ohrzerreißendes »Vivat«, dann stürmten die jungen Leute in den Saal.

Fritz Müller, der mit seiner Frau dem Tanz zusehen wollte, blieb vor Tante Elisabeth stehen und sagte, ihr lachend den Arm bietend:

»Komm, Schwesterlein mein, wollen wir mal probieren, ob wir das Walzen noch nicht verlernt haben?«

»Du tätest besser, dich nicht so verdreht anzustellen,« versetzte die alte Jungfer giftig. »Sieh lieber, was deine Töchter treiben; ich für mein Teil finde es mehr als unpassend, die jungen Mädchen mit unbekannten Studenten tanzen zu lassen und noch dazu Maud, die Braut sein will.«

Fritz wurde dunkelrot; die sanfte Marianne schaute ihre Schwägerin vorwurfsvoll an, Großmutter Ilse aber kam beiden zuvor:

»Sie sollten sich schämen, Elisabeth,« rief sie heftig. »Daß Sie selbst sich nicht amüsieren können und alles verurteilen, was einfache, schlichte Menschen nett finden und gern mögen, ist Ihre Sache, aber ich verbitte mir ernstlich, daß Sie gegen einen meiner Gäste gehässige Bemerkungen machen. Ich hab' es gut geheißen, daß die jungen Mädchen tanzen – nehmen Sie daran Anstoß, so behalten Sie Ihre Bedenken für sich, wir werden uns jedenfalls nicht daran kehren.«

Erschrocken schwieg Elisabeth. Sie fürchtete sich ein bißchen vor Frau Gontrau, die ihr noch immer am höflichsten und freundlichsten entgegenkam. Die Augen der alten Dame blitzten vor Zorn und für einen Moment lebte die alte, aufbrausende Ilse wieder auf.

»Ich darf doch wohl sagen, was ich für unpassend finde,« stammelte Elisabeth, in ihrem Innern noch viel zu entrüstet, um nachzugeben.

»Nicht, wenn keiner danach fragt,« entgegnete Ilse. »Sie haben schon mehr als zuviel Kritik geübt. Geh nur mit Marianne, Fritz. Ruth und Heinrich haben auch die Absicht, sich in den Saal zu begeben. Wer weiß, wenn die Bowle ganz fertig ist, kommen Onkel Heinz und ich vielleicht auch auf ein Weilchen und gucken zu. Was meinen Sie, Herr Professor?«

»Vortrefflich, Frau Ilse! Wenn mein dummes Bein mir nicht so aufspielte, würde ich Ihnen allen einen Hornpipe Alter englischer Tanz. vortanzen, daß Sie Ihr blaues Wunder erleben sollten.«

Heiter gingen die andern ins Haus. Ilse widmete ihre Aufmerksamkeit einen Augenblick der Bowle und schaute dann nach Fräulein Müller. Steif und kerzengerade saß diese auf ihrem Stuhl. Frau Gontrau, die ebenso rasch versöhnt war, wie sie heftig werden konnte, fürchtete, die alte Jungfer doch zu hart angefahren zu haben, und hatte schon wieder Mitleid mit dem einsamen Wesen, das so unglücklich in seiner Ecke saß, während alle andern sich gut unterhielten. Der Professor schüttelte den Kopf, als sie sich zu ihr wendete und freundlich sagte:

»Sie müssen nicht böse sein, Elisabeth, weil ich zornig war. Sie sind mein Gast, und es würde mir leid tun, wenn ich Sie gekränkt hätte.«

Fräulein Müllers Mienen wurden nicht sanfter, als sie in sauersüßem Tone erwiderte:

»Ach, Frau Gontrau, mir gegenüber brauchen Sie sich wirklich nicht zu entschuldigen. Auf mich kommt's nicht an. Jeder darf mich ungestraft beleidigen. Wenn die Mädchen mich auslachen und Karl frech zu mir ist und mich zum Gespött macht, haben alle ihre Freude dran. Um mich kümmert sich niemand, und Sie brauchen es auch nicht zu tun.«

Der Groll und der gekränkte Stolz, die aus diesen Worten sprachen, taten Ilse weh und sie näherte sich Elisabeth.

»Wollen Sie nicht ein wenig mit mir im Garten spazieren gehen?« fragte sie. »Ich habe schon so lange gesessen. Der Professor ist noch mit seiner Bowle beschäftigt.«

Wider Willen geschmeichelt, daß Frau Gontrau sich so um sie bemühte, stand Fräulein Müller auf. Ilse nahm ihren Arm.

Der Abend war hereingebrochen. Die Kellner zündeten die Laternen im Garten an; überall leuchteten bunte Lampions zwischen dem Grün auf. Aus dem Tanzsaal erschallte Musik und heiteres Stimmengesumme. Mit Absicht schlug Frau Gontrau einen Seitenpfad ein und begann milde:

»Liebe Elisabeth, ich war eine Freundin Ihrer Mutter und habe Sie und Fritz von Geburt an gekannt. Da darf ich mir doch wohl herausnehmen, Ihnen einen Rat zu geben.«

Elisabeth warf den Kopf in den Nacken:

»Natürlich, Frau Gontrau.«

»Sie beklagen sich, daß die Menschen nicht lieb zu Ihnen sind; daß die jungen Mädchen Sie unfreundlich behandeln und gerne necken. Vielleicht haben Sie recht, aber denken Sie einmal nach, und sagen mir ehrlich und aufrichtig, ob Sie daran wirklich ganz unschuldig sind.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen,« entgegnete Tante Müller steif. Ilse aber ließ sich nicht abschrecken.

»Wenn Sie sich bemühten, es den Leuten in Ihrem Hause etwas behaglicher zu machen,« fuhr sie herzlich fort, »würden Sie selbst viel glücklicher sein. Was haben Sie von all den Zimmern, die niemals eines Menschen Fuß betritt, in denen nie ein Fenster geöffnet wird, aus Furcht vor Staub, wo stets alles gleich tadellos und dadurch so kalt und ungemütlich ist? Wenn es regnet und jemand kommt zu Ihnen, lautet Ihre erste Frage, ob er sich auch gut die Füße abgewischt hat, und ich glaube, Sie würden sich totunglücklich fühlen, wenn etwas Schmutz und Nässe die Fliesen Ihres Flurs befleckte. Das ermutigt die Leute nicht; sie fühlen, daß sie nicht willkommen sind und bleiben lieber fort.«

»Mich besucht doch niemand,« versetzte Elisabeth, die ganz böse werden wollte, aber in Frau Gontraus warmem, teilnehmendem Ton lag etwas Besänftigendes. »Übrigens begreife ich eigentlich nicht, was Sie das angeht.«

»Machen Sie doch einmal den Versuch,« fuhr Ilse, die letzten Worte nicht beachtend, fort. »Machen Sie Ihr Haus etwas heller und fröhlicher. Laden Sie das junge Volk einmal ein, bewirten Sie es einfach, aber gastlich und herzlich. Ärgern Sie sich nicht, wenn es lustig und ausgelassen zugeht, und vor allem, legen Sie nicht so großes Gewicht auf nichtige, kleinliche Dinge. Sorgen Sie, daß in Ihrem einsamen Herzen kein Platz für düstere Stimmung und Mißgunst bleibt. Ich halte viel von Ihnen, Elisabeth, habe Sie gern, und wenn Sie sich so benehmen, daß andere das auch tun, dann würden Sie viel glücklicher sein als bisher. Liebe ist das einzige, wahrhaft Nötige auf der Welt.«

»Sie haben gut reden,« sagte die alte Jungfer, die sich am meisten über sich selbst wunderte, daß sie nicht böse wurde. »Sie sind ihr ganzes Leben lang von allen angebetet und verwöhnt worden, während ich …«

»Ich weiß,« fiel Großmutter Ilse ihr ins Wort, »Sie haben vieles entbehren müssen, aber das kann noch gut gemacht werden. Der Anfang ist freilich nicht leicht, doch glauben Sie mir, der einzige Weg, Liebe zu ernten, ist Liebe zu säen.«

»Ja, für unglückliche, zu kurz gekommene Wesen wie ich vielleicht, aber nicht für die Glücklichen, die vom Schicksal Bevorzugten.«

»Wenn andre wirklich bevorzugt sind, ist es weise, sich darüber nicht zu ärgern, sondern sich bemühen, durch eigene Verdienste das zu erwerben, was jenen mühelos in den Schoß fällt.«

»Frau Ilse, wo bleiben Sie?« ließ sich plötzlich die Stimme des Professors vernehmen. »Meine Bowle ist fertig. Ich habe dem Kellner den Auftrag gegeben, alles in Ordnung zu bringen. Nun wollen wir einen Blick in den Tanzsaal werfen.«

»Gern, Onkel Heinz. Kommen Sie, Elisabeth.«

Fräulein Müller wußte nicht, ob sie ja oder nein sagen sollte, und Professor Fuchs machte ein verdutztes Gesicht, als Ilse seinen Arm nahm und ihm einen Wink gab, Elisabeth den andern zu bieten.

Er brummte etwas, aber ebenso wie Elisabeth konnte er doch nicht gut anders, als der Großmutter gehorchen. Fritz, Ruth und Marianne zeigten nicht wenig erstaunte Mienen, als sie die drei eintreten sahen. Fritz, der den boshaften Ausfall seiner Schwester noch nicht vergessen hatte, kam gerade mit spöttischem Gesicht auf sie zu, als Ilse ihm winkte, ihm etwas ins Ohr flüsterte, und schnell unterdrückte er eine unfreundliche Bemerkung.

Im Ballsaal herrschte die fröhlichste Stimmung, und über eine Stunde schauten die älteren Leute dem lustigen Treiben zu. Tante Elisabeth wollte etwas Gehässiges sagen, als ihr Bruder und seine Frau sich erst an einer Quadrille und dann an einer Polka, ja sogar an einem Walzer beteiligten, aber sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. Sie äußerte auch keine Mißbilligung, als sie den ernsten Heinrich von Holten mit Ruth und dann auch mit Maud tanzen sah. Kerzengerade saß sie neben Ilse und bemühte sich redlich, sich über das Courmachen und das eitle Getue der jungen Mädchen zu ärgern.

»Wie sich Irma amüsiert,« sagte Ilse froh zu Ruth, »und wie wunderbar lieblich sie aussieht.«

Ruth beugte sich zu ihrer Mutter und entgegnete leise:

»Ich finde, daß sie zu viel mit dem Baron tanzt, Mama. Das ist nun schon das viertemal, und sie ist so aufgeregt.«

»Ach was, das hat doch nichts zu sagen! Nach dem heutigen Abend sieht sie ihn vielleicht nie wieder. Überdies sind Ludwig und Agnes auch fast unzertrennlich.«

»Das ist etwas andres. Jetzt sehe ich sie überhaupt nicht mehr. Ob sie hinausgegangen sind?«

»Vielleicht für einen Moment. Es ist arg heiß im Saal. Das machen die vielen Menschen. Laß Irma nur nicht merken, daß du unruhig bist, Ruth; wirklich, das wäre nicht richtig. Da sind sie schon wieder.«

In der Tat kehrten Irma und ihr Kavalier in den Saal zurück. Der Ball näherte sich seinem Ende. In einer Ecke, hinter einer Gruppe hochstämmiger grüner Blattpflanzen und Rosen konnten sie ungestört plaudern.

»Dies ist der seligste Abend meines Lebens,« begann Hochstein. »Es ist beinahe zu schön für einen gewöhnlichen Sterblichen: mir ist, als weilte ich unter den Göttern des Olymps.«

Irma lachte. »Wie mag Ihnen da wohl zu Mute sein?«

»Ich möchte die ganze Welt ans Herz drücken, mir ist, als ob das Leben all seine Schönheit und Herrlichkeit über mich ausschüttete, als ob alles, was ich je geträumt, Wirklichkeit würde, so daß ich mein Glück kaum fassen kann!«

Die Musik, die eine Pause gemacht, begann aufs neue. Irma stand auf.

»Das ist der letzte Walzer,« erklärte sie, »den hab' ich versprochen.«

Schon legte der Baron ihren Arm in den seinen.

»Mir?« bat er flehend.

»Nein, nein, Hans Reicher,« stammelte sie.

Er fing an zu lachen.

»O, das ist wohl der Herr mit dem wütenden Gesicht, der uns, so oft wir vorbeitanzten, ansah, als wollte er uns fressen?«

Irma lächelte; sie konnte sich Hans schwer mit einem wütenden Gesicht vorstellen. Leise aber sagte sie:

»Ich hab's ihm versprochen.«

»Nun gut, er kann mich fordern, wenn er will. Ein Duell um Ihretwillen wird ihm wie mir etwas Göttliches sein!«

Irma schaute entsetzt auf. Hochsteins samtschwarze Augen strahlten, unwillkürlich senkte sie die ihren.

Da schlang er den Arm um sie; sie fühlte sich emporgehoben, ihr war, als schwebte sie. Schneller und immer schneller ward das Tempo. So hatte sie noch nie getanzt. Sie vergaß alles: Hans, der sie, die Lippen zusammengepreßt, mit einem tieftraurigen Ausdruck in seinen treuen Augen ansah; ihre Herzensangst, als der Baron vom Duellieren sprach – sie fühlte nur, wie schön das Leben war, entzückend. Mit geschlossenen Augen und halb geöffneten Lippen gab sie sich dem Zauber dieser Stunde hin und fühlte sich von seligem Traum umfangen.

»Irma, mein Kind, es ist genug, du machst dich zu müde.«

Es war die Stimme ihrer Mutter, die sie zur Besinnung brachte. Noch ganz schwindlig schaute sie sich um, während Hochstein sie zu einem Stuhl führte.

»Gnädige Frau, dies war der letzte Tanz. Die Musik geht schon fort.«

»Um so besser,« versetzte Ruth, »komm Irma!«

»Auf Wiedersehen, meine Damen.«

Der Baron entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung.

»Es ist mir gar nicht lieb, daß Onkel Heinz die jungen Leute zur Bowle eingeladen hat,« sagte Ruth.

»Weshalb, Mama?«

»Weil ich finde, daß du dich zu viel mit jenem jungen Manne unterhältst. Das fällt auf.«

»Aber Mama, wir haben ein paarmal zusammen getanzt. Was tut denn das?«

»Nichts, doch du hättest auch mit andern tanzen können, mit Hans zum Beispiel.«

Irma schwieg und schwebte auf den Professor zu, der mit einigen Studenten plauderte.

»Onkel, nun kommt deine Einladung an die Reihe.«

»Ja, kleiner Schelm,« und er kniff ihr in die glühenden Wangen. »Heute ist unser Kind in seinem Element, was?«

Irma wurde rot, weil der alte Herr sie in Gegenwart der jungen Leute so behandelte, aber sie war doch zu glücklich, um etwas anderes zu tun, als lächelnd zu nicken.

Professor Fuchs zog ihren Arm in den seinen.

»Darf ich die Damen und Herren bitten!« rief er und eröffnete den Zug; paarweise folgten die übrigen. Die Kellner hatten im Garten eine lange Tafel hergerichtet. Auf der blau und rot karierten Tischdecke prangte die Riesenbowle, umgeben von den goldschimmernden Gläsern, rechts und links flankiert von zwei großen Blumensträußen.

Wie es zuging, wußte sie selbst nicht, aber wieder fand Irma ihren Platz neben Hochstein. Bald schallte fröhlicher Gesang und Gelächter durch den Garten. Unter ohrbetäubendem Jubel stimmte Professor Fuchs das alte Studentenlied an:

Hochgesang und Rebensaft
Lieben wir ja alle!
Darum trinken wir mit Kraft
Schäumende Pokale!

Und da Ilse neben ihm saß, stieß er mit ihr an und fragte:

»Schwester, Dein Geliebter heißt?« worauf sie lachend versetzte: »Heinrich« und alle im Chor:

Heinrich, er soll leben!
Soll leben, soll leben!
Heinrich, er soll leben!
Er lebe hoch!!

Das »Hoch« wurde lange ausgehalten, und nun ging's weiter die ganze Tafelrunde durch, unter Necken und Scherzen. Die jungen Leute trieben es fast zu toll. Ludwig und Agnes flüsterten miteinander, und dann nannten beide einen fremden Namen, den niemand je gehört. Gustav und Flora gaben sich einfacher, aber das junge Mädchen wurde verlegen und stammelte so schüchtern: »Gustav,« daß sie den Namen noch zweimal wiederholen mußte. Die größte Heiterkeit erregte Tante Elisabeth, die erst erklärte, sich mit solchen Narrenspossen nicht abzugeben und auf dem Punkt stand böse zu werden, als ihr Bruder Fritz ausrief:

»Unsinn, Elisabeth, in deinem zehnten Jahr warst du sterblich verliebt in den Küster unserer Kirche; er schielte und hieß Georg.«

Alle jubelten und lachten »Georg, er soll leben!« schallte es hell durch die Abendluft. Vielleicht war es der Einfluß der Bowle, aber so viel steht fest, daß die alte Jungfer ihren Ärger vergaß und mitlachte.

Baron von Hochstein sah Irma tief in die Augen und rief dann: »Maria!«

Einen Augenblick vorher hatte er sie gefragt, wie sie hieße, und sie hatte geantwortet:

»Irma Maria.«

Während des nun folgenden Gesangs löste er, ohne daß es in der dämmerigen Beleuchtung außer ihr jemand bemerkt hätte, gewandt eine der hellblauen Schleifen, mit denen ihr Kleid verziert war, drückte einen Kuß darauf und ließ sie in der Tasche verschwinden.

»Das ist nicht erlaubt,« flüsterte sie; aber sie fühlte mehr als sie sah, wie flehend er sie anschaute, und schwieg.

Endlich mußte doch an die Rückfahrt gedacht werden. Es war höchste Zeit. Als die älteren Damen hörten, wie spät es schon war, erschraken sie. Der Befehl zum Anspannen wurde gegeben. Das ganz aus Rand und Band geratene junge Volk schlug vor, wieder den Weg zu Fuß über den Wasserfall zu machen und erst an den Stallungen einzusteigen; das würde eine entzückende Mondscheinpromenade sein.

Verschiedene Ausrufe wie: »Ach ja! Das wollen wir! Himmlisch! Bitte, Großmama!« ließen sich hören; Fritz aber erklärte kurz und bündig:

»Daraus wird nichts; wir fahren den andern Weg, der ist um eine gute Stunde kürzer!«

Hochstein half Irma in den Wagen und flüsterte ihr zu, wie scheußlich er es fände, daß er und seine Freunde nicht mitfahren könnten.

»Adieu, adieu! Herzlichen Dank, Herr Professor!« klang es von allen Seiten, dann setzten die Fuhrwerke sich in Bewegung. Das letzte, was Irma zu unterscheiden vermochte, war die schlanke Gestalt ihres Anbeters, der sein Cerevis schwenkte und sie, sie allein, grüßte.

Der Wagen bog um die Ecke, und plötzlich schien es ihr, als sei alles dunkel und trübe geworden. Jetzt bemerkte sie erst, daß sie neben Hans Reicher saß. Sie fühlte sich so glücklich, daß es ihr leid tat, den armen Jungen unfreundlich behandelt zu haben.

»Sind Sie mir böse?« fragte sie sanft.

»Weshalb?«

»Weil, nun weil ich den letzten Walzer nicht mit Ihnen tanzte, wie ich versprochen hatte.«

Er tat, als müsse er sich erst besinnen. »Ach ja, richtig, den letzten Walzer? Nein, durchaus nicht. Ich war froh über Ihr Vergessen, weil ich eine andere junge Dame engagiert hatte.«

Hans log. Er war still hinausgegangen, um seine Enttäuschung und seinen Ärger niederzukämpfen, doch sein Stolz verbot ihm, Irma zu zeigen, wie tief sie ihn verletzt hatte.

Im vordersten Wagen schlief Tante Elisabeth und ärgerte den Professor, weil sie schnarchte; schnarchende Frauen konnte er nicht ausstehen. Großmutter Ilse war müde und lehnte sich schweigend, mit geschlossenen Augen, zurück. Ruth und Marianne unterhielten sich leise und schauten dazwischen nach Flora und Gustav, die auf der vordersten Bank Hand in Hand saßen, aber kein Wort sprachen. Onkel Heinz blickte auf die prachtvolle, mondbeglänzte Landschaft und verkürzte sich die Zeit mit Rauchen. Im zweiten Wagen saß Maud neben ihrem Vater. Ludwig und Agnes waren so in ihr Geflüster vertieft, daß sie nicht einmal hörten, wenn jemand sie anredete. Irma drehte Hans den Rücken. Was bildete der Bauer sich ein? Sie wollte ihm freundlich entgegenkommen, und er wagte es, ihr solche Antwort zu geben! Ihr eitles Herzchen schwoll vor Entrüstung. Nun wollte sie sich nie mehr um ihn kümmern; sie hatte an Angenehmeres zu denken.

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