Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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45

Er stand und lauschte, vor Angst zitternd, ob er nicht das Splittern und Krachen des an einer Straßenkehre zerschmetterten Wagens vernehme. War das nicht das Auspuffgeräusch eines Motors in der Ferne? Hatte die furchtbare, tödliche Stille denn kein Ende? Wie von Sinnen rannte Prokop dem Wagen auf der Straße nach. Er lief die Serpentine hinab bis zum Fuß des Hügels. Nirgends auch nur eine Spur von dem Auto. Er eilte wieder hinauf, forschte alle Hänge ab, kroch abwärts, wo er etwas Dunkles oder Helles zu unterscheiden vermeinte, sich die Hände abschürfend; aber es war bloß ein Hagedornstrauch oder ein Felsen. Er stolperte weiter und kletterte zur Straße hinauf, die Dunkelheit mit den Augen durchbohrend . . . ob er nicht irgendwo einen Haufen Wagentrümmer erblicke und darunter . . .

Er befand sich wieder oben an der Kreuzung; eben hier war sie in die Finsternis versunken. Er setzte sich auf einen Meilenstein. Stille, unendliche Stille ringsum, und über ihm die kalten, nachmitternächtlichen Sterne. Wo raste jetzt der dunkle Meteor des Wagens? Ließ sich denn kein Laut vernehmen, schlug kein Vogel an, kläffte kein Köter im Dorf, gab es nirgend ein Lebenszeichen? Alles war zu feierlichem Todesschweigen erstarrt. Das war nun das Ende, das stille, eisige, dunkle Ende von allem; Leere, im Kreisen der Finsternis und Stille entstanden, eisig starrende Leere. In welchem Winkel sollte er sich verbergen, um ihn mit seinem Schmerz auszufüllen? Ach, wenn doch die Sterne verlöschten und das Ende der Welt käme! Dann würde sich die Erde spalten und die Stimme des Herrn im Getöse der Welt erschallen: Ich nehme dich zurück, du schmerzenvolles, schwaches Geschöpf; es war unrein in dir, und böse Kräfte hast du entfesselt. Lieber, Lieber, ich bereite dir ein Lager aus nichtigem Nichts.

Prokop erzitterte unter der Dornenkrone des Weltalls. Also gilt das Leid des Menschen nichts und bleibt ohne Wert; ist nur ein Kleines, Zusammengekauertes, eine schwankende Seifenblase am Grunde der Leere. Gut, gut, wer da meint, die Welt sei unendlich; aber er möchte sterben!

Im Osten verblaßten die Sterne, die Straße und die weißen Steine leuchteten kalt. Da waren Räderspuren, Spuren im toten Sand. Prokop erhob sich, steif vor Kälte und wie betäubt, und machte sich auf den Weg hinunter, in der Richtung nach Balttin.

Er wanderte rastlos. Da waren ein Dorf, eine Ebereschenallee, eine kleine Brücke über einen stillen, dunklen Fluß. Der Nebel stieg und verdunkelte die Sonne. Wieder brach ein grauer, kalter Tag an, und der Wanderer sah rote Dächer und eine Herde braunroter Kühe. Wie weit mochte es nach Balttin sein? Sechzig, siebzig Kilometer. Trockenes Laub, nichts als trockenes Laub.

Früh am Nachmittag ließ er sich auf einem Schotterhaufen an der Straße nieder. Er konnte nicht mehr weiter. Ein Bauerngefährt kam vorüber. Der Bauer hielt vor dem zusammengesunkenen Menschen an. »Wollt Ihr nicht mitfahren?« Prokop nickte dankbar und setzte sich wortlos neben ihn. Dann hielt das Gefährt im Städtchen. »So, da wären wir«, meinte der Bauer. »Wohin wollt Ihr eigentlich?« Prokop stieg ab und wanderte weiter. Wie weit kann es noch bis Balttin sein?

Es begann zu regnen. Prokop war am Ende seiner Kräfte. Er setzte sich auf ein Brückengeländer; unten floß ein schäumender, kalter Bach vorbei. Aus der entgegengesetzten Richtung kam ein Auto heran, verlangsamte auf der Brücke das Tempo und hielt. Ein Herr in einem Ziegenpelz stieg aus und kam auf Prokop zu. »Was machen Sie hier?« Es war d'Hémon. Mit der Autobrille über den tatarischen Augen sah er aus wie ein langhaariger Riesenkäfer. »Ich komme aus Balttin. Man sucht Sie.«

»Wie weit ist es noch bis Balttin?« fragte Prokop mit schwacher Stimme.

»Vierzig Kilometer. Was wollen Sie dort? Es wurde ein Steckbrief hinter Ihnen erlassen. Kommen Sie, ich nehme Sie mit.«

Prokop schüttelte den Kopf.

»Die Prinzessin ist abgereist«, sagte Herr d'Hémon leise. »Heute morgen mit oncle Rohn. Vor allem, um . . . eine gewisse . . . unangenehme Sache mit einem überfahrenen Menschen zu vergessen –«

»Ist er tot?« fragte Prokop atemlos.

»Noch nicht. Ferner ist die Prinzessin, wie Ihnen vielleicht bekannt, ernstlich tuberkulös – Man bringt sie deshalb nach Italien.«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht. Niemand weiß es.«

Prokop erhob sich schwankend. »Dann ist es also –«

»Fahren Sie mit mir?«

»Nein. – Ich weiß nicht. Wohin?«

»Wohin Sie wollen.«

»Ich – ich möchte nach – Italien.«

»Kommen Sie.« Herr d'Hémon half Prokop in den Wagen, warf einen Pelz über ihn und schlug die Wagentür zu. Das Auto fuhr los. Wieder entfaltete sich die Landschaft vor ihm, aber so merkwürdig wie im Traum und in verkehrter Reihenfolge; Städtchen, Pappelallee, Straßenschotter, kleine Brücke, Ebereschenbeeren, Dorf. Das Auto fuhr keuchend die Serpentinen den Hang hinan. Hier war die Kreuzung, wo sie sich verabschiedet hatten. Prokop erhob sich, um aus dem Wagen zu springen. Aber Herr d'Hémon riß ihn zurück, trat aufs Pedal und schaltete den vierten Gang ein. Prokop schloß die Augen; sie fuhren jetzt nicht mehr auf der Straße, sie erhoben sich in die Luft und flogen. Der Wind schlug ihm ins Gesicht, an den Wangen fühlte er die nassen Schläge der Wolkenfetzen, während sich die Geräusche des Motors zu einem langgezogenen, tiefen Geheul vereinigten; irgendwo unten lief die Erde vorbei. Prokop fürchtete sich, die Augen zu öffnen, um nicht die dahinfliegenden Alleen zu sehen. Rascher! Daran ersticken! Noch rascher! Ein Ring des Schreckens und des Taumels preßte sich um seine Brust, er atmete kaum mehr, so sehr erfüllte ihn das Rasen durch den Raum mit atemberaubender Lust. Der Wagen glitt hinauf und hinunter, Menschen schrien auf, Hunde bellten, manchmal nahm er eine Kehre, daß er beinahe auf der Seite lag, dann war es, als hätte sie ein Wirbelsturm erfaßt, und wieder, wieder gerader Flug, reine Schnelligkeit, das bebende, dröhnende Zittern der Luft, als hätten sie die Sehne der Fernen berührt.

Er schlug die Augen auf. Es herrschte neblige Dämmerung, Lichterketten durchdrangen das Halbdunkel, Fabriklampen versprühten Helle. Herr d'Hémon wand sich mit dem Wagen durch den Straßenknäuel, glitt durch die ruinenartige Vorstadt und schoß wieder auf die freie Straße hinaus. Der Wagen warf seine langen Lichtfühler voraus, betastete Mist, Kot, Steine, knirschte in den Kehren, puffte ein wahres Trommelfeuer aus und stürzte sich auf das lange Band der Straße, als ob er es aufwickelte. Rechts und links wand sich ein enges Tal zwischen Bergen; der Wagen bohrte sich hinein, verschwand in Wäldern, schraubte sich heulend bergan und ließ sich kopfüber in ein neues Tal hinab. Dörfer atmeten Lichtstreifen in den dichten Nebel aus, brüllend flog der Wagen vorüber, einen Funkenschweif hinter sich schleudernd, glitt dahin, kreiste in Spiralen aufwärts, aufwärts, aufwärts, übersprang etwas und senkte sich wieder bergab. Stopp! Sie hielten in dunkler Nacht; nein, da war ein kleines Haus, Herr d'Hémon stieg brummend aus, klopfte an die Tür und sprach mit den Leuten. Nach einer Weile kehrte er mit einer Kanne voll Wasser zurück und goß es in den zischenden Kühler. Im scharfen Licht der Scheinwerfer sah er in seinem Pelz wie der Teufel in einem Kindermärchen aus. Nun schritt er um den Wagen herum, befühlte die Reifen, hob die Motorhaube und sagte etwas; Prokop schlief, von Müdigkeit übermannt, ein. Dann erfaßte ihn wieder das endlose, gleichmäßige Gerüttel. Er schlief in der Ecke des Wagens und wußte von nichts; wußte stundenlang von nichts anderem als dem gleichbleibenden Schlingern. Er erwachte erst, als der Wagen vor einem hellerleuchteten Hotel in scharfer Bergluft zwischen Schneefeldern hielt.

Er war ganz erstarrt und gerädert. »Das . . . das ist nicht Italien«, stotterte er verwundert.

»Noch nicht«, sagte Herr d'Hémon. »Aber jetzt kommen Sie etwas essen.« Er führte Prokop, der von so viel Licht wie geblendet war, in einen abgeteilten kleinen Speiseraum. Blütenweißes Tischtuch, Silber, Wärme, ein Kellner, der aussah wie ein Botschafter. Herr d'Hémon setzte sich nicht; er ging auf und ab und betrachtete dabei eingehend seine Fingerspitzen. Prokop ließ sich stumpf und verschlafen auf einem Stuhl nieder; ihm war es völlig gleichgültig, ob er jetzt aß oder nicht. Trotzdem trank er die heiße Fleischbrühe, stocherte, vor Müdigkeit kaum imstande, die Gabel zu halten, in einigen Speisen herum, drehte ein Weinglas zwischen den Fingern und verbrannte sich die Eingeweide mit der glühenden Bitterkeit eines Mokka. Herr d'Hémon ging die ganze Zeit über auf und ab und verzehrte im Gehen ein paar Bissen. Als Prokop fertig war, bot er ihm eine Zigarre an und reichte ihm Feuer. »So«, sagte er, »und nun zur Sache.«

»Von jetzt ab«, begann er im Aufundabgehen, »bin ich für Sie einfach . . . Kamerad Daimon. Ich bringe Sie zu unsern Leuten. Es ist nicht weit von hier. Sie dürfen sie nicht allzu ernst nehmen. Teils sind es politische Heißsporne, Gehetzte und Flüchtlinge, aus allen Teilen der Welt hierher verschlagen, teils Fantasten, Maulhelden, Dilettanten des Erlösungsgedankens und weltfremde Doktrinäre. Nach ihren Programmen dürfen Sie nicht fragen; sie sind nur Material, das wir in unser Spiel einsetzen. Hauptsache ist, daß wir ihnen eine weitverzweigte und bisher geheime internationale Organisation zur Verfügung stellen können, die überall ihre Zellen hat. Einziges Programm ist die direkte Aktion. Dafür gewinnen wir alle ohne Ausnahme, man lechzt ohnehin danach wie nach einem neuen Spielzeug. Übrigens wird die ›neue Aktionslinie‹ und die ›Destruktion in den Köpfen‹ einen unwiderstehlichen Zauber auf sie ausüben. Nach den ersten Erfolgen laufen sie Ihnen nach wie die Schafe, besonders wenn Sie diejenigen aus der Führung entfernen, deren Namen ich Ihnen nennen werde.«

Er sprach gewandt wie ein geübter Redner, das heißt, er dachte dabei an etwas anderes, und mit jener selbstverständlichen Sicherheit, die jeden Widerstand und Zweifel ausschließt. Prokop schien es, als hätte er ihn schon irgendwann einmal gehört.

»Ihre Situation ist einzigartig«, fuhr er, weiter auf und ab gehend, fort, »Sie haben das Angebot einer bestimmten Regierung abgelehnt, also wie ein vernünftiger Mensch gehandelt. Was kann ich Ihnen bieten im Vergleich damit, was Sie sich selbst nehmen können? Sie wären ein Narr, wenn Sie Ihre Sache aus der Hand ließen. Sie haben ein Mittel, womit Sie alle Mächte der Welt bezwingen können. Ich biete Ihnen unbegrenzten Kredit. Wollen Sie fünfzig oder hundert Millionen Pfund? Sie können sie in einer Woche haben. Mir genügt, daß Sie bisher der einzige Besitzer von Krakatit sind. Fünfundneunzig Gramm befinden sich derzeit im Besitz unserer Leute, ein sächsischer Kamerad aus Balttin hat sie uns gebracht. Aber diese Idioten haben ja keine Ahnung von Ihrer Chemie! Sie hegen es wie ein Heiligtum in der Porzellandose, und dreimal wöchentlich liegen sie sich in den Haaren, welche Regierungsgebäude der Welt sie damit in die Luft sprengen sollen. Übrigens, Sie werden sie ja selbst hören. Von dieser Seite droht Ihnen also nichts. In Balttin haben sie nicht einmal ein Stäubchen Krakatit mehr. Herr Tomesch scheint am Ende zu sein mit seinen Versuchen.«

»Wo ist Georg – Georg Tomesch?« fragte Prokop stockend.

»Sprengstoffwerke Grottup. Dort hat man seine ewigen Versprechungen schon über. Sollte ihm jedoch die Herstellung durch einen Zufall doch noch gelingen, wird er sich nicht lange darüber freuen. Dafür bürge ich Ihnen. Kurzum, Sie als einziger haben Krakatit in der Hand und liefern es niemandem aus. Sie werden Menschenmaterial und unsere gesamte Organisation zur Verfügung haben. Ich gebe Ihnen die Presse, die ich bezahle. Und schließlich steht Ihnen das zu Diensten, was in den Zeitungen ›der geheimnisvolle Rundfunk‹ genannt wird, nämlich unsere illegale drahtlose Verbindung, die mit Hilfe von sogenannten Gegenwellen oder Extinktionsfunken Ihr Krakatit auf eine Entfernung bis zu dreitausend Kilometer zur Spaltung bringt. Das sind Ihre Trümpfe. Nehmen Sie das Spiel auf?«

»Was – was – meinen Sie damit?« ließ sich Prokop vernehmen. »Was soll ich damit?«

Kamerad Daimon blieb stehen und blickte Prokop unverwandt an. »Sie werden tun, was Sie wollen. Sie werden große Dinge vollbringen. Wer kann Ihnen noch befehlen?«


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