Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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12

Als der Morgen dämmerte, hielt es ihn nicht mehr länger im Hause. Er hatte sich vorgenommen, Blumen zu pflücken, die er Anni auf die Schwelle des Schlafzimmers legen wollte. Beflügelt von Freude, schlich er schon gegen vier Uhr morgens aus dem Hause.

Wie herrlich es draußen ist! Jede Blüte glitzert wie ein Auge. (Sie hat die sanften, großen Augen einer Färse. Sie hat auch lange Wimpern. Jetzt schläft sie, ihre Lider sind oval und zart wie Taubeneier. O Gott, ihre Träume kennen! Wenn sie die Hände über der Brust gefaltet hält, dann heben und senken sie sich mit dem Atem; hält sie sie unterm Kopf verschränkt, so ist gewiß der Ärmel hochgerutscht, und das kräftige, rosige Rund des Ellbogens ist zu sehen. Neulich sagte sie, sie schlafe immer noch in einem eisernen Kinderbett. Im Oktober, sagte sie, werde sie schon neunzehn. Auf dem Hals hat sie ein Muttermal.)

Wahrhaftig, nichts gleicht der Schönheit eines Sommermorgens! Dabei blickte Prokop zu Boden, lächelte, soweit er es vermochte, und schlenderte nachdenklich zum Fluß. Dort entdeckte er, freilich am andern Ufer, Knospen von Seerosen. Ungeachtet aller Gefahren, entkleidete er sich und sprang in den dicken Wasserschleim der Bucht, zerschnitt sich die Beine an dem tückischen Riedgras und kehrte mit einer Handvoll Seerosen zurück.

Die Seerose ist eine poetische Blume, bis auf den dicken Stengel, dem ein häßliches Wasser entquillt. Prokop eilte mit seiner Beute nach Hause und überlegte, wie er seinen Strauß passend einwickeln könnte. Auf der Bank vor dem Hause fand er die Zeitung, die der Doktor gestern dort vergessen hatte. Prokop riß sie vergnügt in Stücke und schlug die nassen Stiele in das Papier ein. Als er dann sein Werk stolz betrachtete, traf es ihn wie ein Blitz. Auf der Manschette aus Zeitungspapier las er das Wort: Krakatit.

Eine Weile starrte er darauf, ohne seinen Augen zu trauen. Dann faltete er in fieberhafter Hast die Zeitung auseinander, ließ all die schönen Seerosen zu Boden fallen und fand schließlich eine Anzeige: ›Krakatit! Ing. P. soll seine Adresse bekanntgeben. Carson. Hauptpostlg.‹ Prokop las von neuem: ›Ing. P. soll seine Adresse bekanntgeben. Carson.‹ Zum Kuckuck . . . wer ist Carson? Und wieso weiß er, woher kann er wissen . . . Prokop las die Anzeige vielleicht schon zum zehnten Male, aber er wurde nicht klug daraus.

Prokop saß da, wie von einem Keulenschlag getroffen. Warum habe ich bloß diese verdammte Zeitung zur Hand genommen, fuhr es ihm in seiner Verzweiflung durch den Sinn. Wie heißt es da? › Krakatit! Ing. P. soll seine Adresse bekanntgeben.‹ Ing. P. bedeutete Prokop. Und Krakatit, das war eben jene verlorene, vernebelte Stelle im Gehirn, die gefährliche Geschwulst, das, woran er nicht zu denken gewagt, was er mit sich herumgetragen hatte, mit dem Kopf gegen die Wand rennend, was längst keinen Namen mehr hatte, und nun plötzlich . . . wie heißt es da? Krakatit! Prokop empfand einen Stoß von innen, daß ihm die Augen fast aus den Höhlen traten. Da sah er es wieder vor sich . . . jenes Bleisalz, und mit einemmal lief der verworrene Film der Erinnerung vor seinen Augen ab: der endlose, wütende Kampf im Laboratorium mit der schweren, trägen, gleichgültigen Substanz; blinde, törichte Versuche, wenn ihm alles mißlang, das ätzende Gefühl, wenn er den Stoff zwischen den Fingern zerkleinerte und zerrieb, der beißende Geschmack auf der Zunge und ein stickiger Rauch, Ermüdung, die ihn auf dem Stuhl einschlafen ließ, Verbohrtheit und jäh – vielleicht im Traum oder sonst wann – der letzte Einfall, ein scheinbar widersinniger, aber wunderbar einfacher Versuch; ein physikalischer Trick, den er noch nie angewandt hatte. Er sah die zarten, weißen Nadeln, die er schließlich in eine Porzellandose schüttete, überzeugt, daß es am nächsten Tag eine prächtige Explosion geben werde, wenn er das Zeug in der Sandgrube oben in den Feldern, wo sich seine höchst ungesetzliche private Schießstätte befand, zur Entzündung bringen würde. Er sah seinen Laboratoriumslehnstuhl, aus dem Werg und Drähte hervorlugten. Dort hatte er sich damals völlig erschöpft niedergelassen und war offenbar eingeschlafen, denn es herrschte vollkommene Finsternis, als er inmitten der furchtbaren Explosion und des Klirrens splitternden Glases aus dem Lehnstuhl zu Boden stürzte. Dann kam der heftige Schmerz in der rechten Hand, die eine tiefe Rißwunde aufwies, und dann – und dann –

Prokop zog in heftigem Nachdenken die Stirn so krampfhaft in Falten, daß es schmerzte. Gewiß, da ist die Narbe quer über die Hand. Dann wollte er Licht machen, aber die Glühlampen waren dahin. Er tastete im Dunkeln, um zu erkennen, was geschehen war: der Tisch übersät mit Scherben, an der Stelle, wo er gearbeitet hatte, das Zinkblech aufgerissen, verbogen, geschmolzen, und die Eichenplatte gespalten, als wäre der Blitz hineingefahren. Beim Weitertasten fand er die Porzellandose; sie war unversehrt. Erst da wurde er von Entsetzen gepackt. Das, ja, das war Krakatit! Und dann –

Prokop litt es nicht mehr länger auf der Bank. Er trat über die verstreuten Seerosen, lief im Garten umher. Und dann? Ja, dann war er davongestürzt, über Felder und Äcker gelaufen, einigemal gestolpert, aber – wo war das nur gewesen? Hier blieb der Zusammenhang der Erinnerungen entschieden gestört. Unzweifelhaft waren bloß der quälende Schmerz unter den Stirnknochen und irgendeine Sache mit der Polizei. Nachher hatte er mit Georg Tomesch gesprochen, sie waren zu ihm gegangen, nein, mit einer Droschke gefahren. Er war krank gewesen, und Tomesch hatte ihn gepflegt. Das war anständig von ihm. Und weiter, was weiter? Tomesch wollte zu seinem Vater nach Teinitz fahren, aber er ist gar nicht gefahren. Merkwürdig! Inzwischen hatte er wohl geschlafen oder –

Dann klingelte kurz und zart die Glocke, er ging öffnen, und auf der Schwelle stand ein Mädchen mit verschleiertem Gesicht.

»Wohnt hier Herr Tomesch?« hatte sie atemlos gefragt. Sie schien gelaufen zu sein – an ihrem Pelz schimmerten Regentropfen, und dann –

»Sie werden ihn retten?« hatte sie gefragt und ihn ganz nahe aus ernsten, unruhigen Augen angeblickt. Dabei hatte sie ein Päckchen, einen steifen versiegelten Briefumschlag in den vor Erregung zitternden Händen gehalten.

Prokop spürte es wie einen Schlag im Gesicht. Wohin hatte er das Päckchen getan? Wer immer auch das Mädchen sein mochte: er hatte ihr versprochen, es Tomesch zu übergeben.

Er lief in sein Zimmer hinauf und durchsuchte alle Schubladen. Nichts, nichts war zu finden. Immer wieder durchstöberte er seine Habe, Blatt um Blatt, Stück um Stück. Dann ließ er sich inmitten der wüsten Unordnung nieder und stürzte die Stirn auf die Hand. Entweder hat es der Doktor, oder Anni hat es genommen; irgendwer muß es doch haben! Als das unwiderlegbar feststand, empfand er plötzlich ein sonderbares Unbehagen, eine Art Verwirrung. Wie im Traum schritt er auf den Ofen zu, griff tief hinein und zog – das Gesuchte heraus. Dabei kam es ihm dunkel vor, als ob er das Päckchen selbst einmal dort versteckt hätte, als er noch nicht ganz gesund gewesen war. Im Dämmerzustand der Ohnmacht und der Fieberträume hatte er es bei sich im Bett gehabt und war immer wütend geworden, wenn man es ihm nehmen wollte. Wahrscheinlich hatte er damals das Päckchen mit der List eines Narren vor sich selber versteckt, um endlich Ruhe zu haben. Wer kennt sich letztlich in den Geheimnissen des Unterbewußtseins aus! Nun war er wieder da, der starke, verschnürte Umschlag mit den fünf Siegeln und der Aufschrift: ›Für Herrn Georg Tomesch.‹ Prokop bemühte sich, aus der reifen und charakteristischen Handschrift einige Anhaltspunkte herauszufinden. Aber er sah nur das Mädchen vor sich, wie es verzweifelt den Umschlag in den bebenden Fingern hält; jetzt, jetzt blickt sie wieder auf . . . Er roch an dem Päckchen; ein zarter, ferner Duft entströmte ihm.

Er legte das Päckchen auf den Tisch und umkreiste es. Er wüßte für sein Leben gern, was sich unter diesen fünf Siegeln verbarg; sicherlich ein Geheimnis, eine wichtige, schicksalhafte Sache. Sie hatte zwar gesagt, sie tue es . . . für jemand andern, aber dabei war sie so aufgeregt gewesen . . . Trotzdem, daß sie, sie, Tomeschs Geliebte sein könnte, war fast unglaublich. Tomesch ist ein Lump, stellte Prokop mit dunkler Wut fest, ein Zyniker, der immer Glück bei den Weibern hatte. Gut, ich werde ihn finden und ihm das Liebespäckchen überbringen; aber dann Schluß damit –

Plötzlich dämmerte es ihm: Zwischen Tomesch und diesem wie hieß er denn nur, diesem verdammten Carson – zwischen den beiden mußte doch eine Verbindung bestehen! Niemand wußte oder weiß etwas von Krakatit. Georg Tomesch muß es auf irgendeine Weise ausspioniert haben. – Ein neues Bild drängte sich von selbst in den verworrenen Film der Erinnerung: Prokop spricht im Fieber (das scheint in Tomeschs Wohnung zu sein), und er, Georg, beugt sich über ihn und vermerkt etwas in seinem Notizbuch. Das war gewiß die Formel! Er hat sie im Fieber verraten, Georg hat sie ihm entlockt, hat sie ihm gestohlen und diesem Carson verkauft! Prokop war wütend über so viel Gemeinheit. Und diesem Menschen war das Mädchen in die Hände gefallen! Sie mußte unbedingt sofort gerettet werden!

Aber erst galt es, Tomesch, den Dieb, ausfindig zu machen. Er wird ihm das Päckchen übergeben und ihm dabei die Zähne einschlagen. Dann muß ihm Tomesch Namen und Wohnung des Mädchens nennen und sich verpflichten – nein: nur keine Versprechen von diesem Schuft! Nachher wird er zu ihr gehen und ihr alles sagen. Und dann wird er für immer ihren Augen entschwinden.

Zufrieden mit dieser ritterlichen Lösung stand Prokop vor dem unglückseligen Umschlag. Wenn man nur wüßte, nur eines wüßte: Ob sie Tomeschs Geliebte war? Wieder sah er sie vor sich stehen; mit keinem Blick hatte sie damals Tomeschs sündhaftes Lager gestreift. War es möglich, mit den Augen, mit diesen Augen zu lügen –

Da erbrach er die Siegel, riß den Bindfaden entzwei und öffnete den Umschlag. Banknoten und ein Brief waren darin.


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