Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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6

Nichts mehr. Nur wie im Nebel, der sich ab und zu teilte, wurden ein Muster der Wandmalerei sichtbar, der geschnitzte Rand eines Schrankes, ein Stück Gardine oder der Fries der Zimmerdecke. Manchmal neigte sich ein Gesicht gleichsam wie über einen Brunnenrand, ohne daß jedoch die Züge erkennbar wurden. Etwas ging vor, hin und wieder befeuchtete jemand die heißen Lippen oder hob den ohnmächtigen Körper auf; aber alles schwand wieder dahin und löste sich in verschwommene Bilder eines Traumes auf.

Es waren Landschaften, Teppichmuster, Differentialrechnungen, feurige Kugeln, chemische Formeln. Zeitweise trieb etwas an die Oberfläche, wurde einen Augenblick lang zu einem klareren Traum, aber gleich darauf zerrann es wieder im breiten Strom der Bewußtlosigkeit.

Endlich trat der Augenblick ein, da er erwachte. Er sah über sich eine anheimelnde, sichere Zimmerdecke mit einem Stuckfries, fand mit den Augen seine eigenen abgezehrten, todblassen Hände auf der geblümten Bettdecke und entdeckte dahinter die Bettleiste, einen Schrank und eine weiße Tür, alles gleichsam liebenswert still und vertraut. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er wollte darüber nachdenken, doch sein Kopf war unsagbar matt. Alles begann wieder zu verschwimmen; da schloß er die Augen und ruhte, in seine Schwäche ergeben, aus.

Die Tür knarrte leise. Prokop öffnete die Augen und setzte sich im Bett auf, als hätte ihn etwas emporgehoben. Ein Mädchen stand in der Tür, groß und schön, blickte aus klaren, ungemein erstaunten Augen und hielt ein weißes Linnen an die Brust gedrückt. Sie rührte sich nicht vor Verlegenheit; ihre langen Wimpern zuckten, und ihr rosiger Mund begann unsicher und scheu zu lächeln. Prokop blickte finster drein. Er bemühte sich angestrengt, etwas zu sagen, aber sein Kopf war leer. Er bewegte lautlos die Lippen und beobachtete das Mädchen mit strengen, nachdenklichen Augen.

»Gúnúmai se, anassa«, kam es jäh und unbewußt von seinen Lippen, »theos ny tis é brotos essi?« Und weiter, Vers um Vers, strömte der göttliche Gruß, mit dem Odysseus Nausikaa angeredet hatte. »Flehend nah' ich dir, Hohe, der Göttinnen, oder der Jungfraun! Bist du der Göttinnen eine, die hoch obwalten im Himmel; Artemis gleich dann acht' ich, der Tochter Zeus der Erhabenen, dich an schöner Gestalt, an Größ' und jeglicher Bildung. Bist du der Sterblichen eine, die rings umwohnen das Erdreich, dreimal selig dein Vater fürwahr und die würdige Mutter, dreimal selig die Brüder zugleich! Muß ihnen das Herz doch stets von entzückender Wonne ob deiner Schöne durchglüht sein, wenn sie schaun, wie ein solches Gewächs hinschwebt zum Reihntanz!«

Das Mädchen lauschte reglos, wie versteinert, dieser Begrüßung in einer ihr unbekannten Sprache. Ihre glatte Stirn kräuselte sich vor Verwirrung, und ihre Augen blickten so kindlich und unerschrocken, daß Prokop den Eifer des ans Ufer geschleuderten Odysseus verdoppelte, obgleich er selber nur unklar den Sinn der Worte begriff.

»Keinos d'au peri kéri makartatos«, sagte er rasch her. »Aber wie ragt doch jener an Seligkeit hoch vor den andern, der mit Geschenk obsiegend, als Braut zum Heime dich führet! Denn noch nie so einen Sterblichen sah ich mit Augen, weder Mann noch Weib; mit Staunen erfüllt mich dein Anblick.«

Das Mädchen war über und über errötet, als ob sie den Gruß des griechischen Helden verstanden hätte. Eine linkische und zugleich anmutige Verwirrung lähmte ihr die Glieder, und Prokop sprach, die Hände über der Bettdecke gefaltet, als ob er bete:

»Da warf hierher mich ein Dämon, daß noch hier ich dulde des Weh's. Denn schwerlich ja wird's nun endigen; viel noch drohn mir vorher zu erfüllen die Götter!«

Prokop atmete schwer und hob die erschreckend mageren Hände. »Alla, anass', eleaire! Aber erbarme dich, Hohe! Denn dir, nach unendlicher Trübsal, naht' ich zuerst hilflos – der anderen Sterblichen kenn' ich niemand, welche das Land und die Stadt hier bewohnen. Zeige mir jetzt doch die Stadt, und gib mir ein Stück zur Bedeckung, etwa ein Wickeltuch, worin du die Wäsche gebracht hast.«

Nun hellte sich das Gesicht des Mädchens ein wenig auf, die feuchten Lippen öffneten sich leicht. Vielleicht wird Nausikaa antworten, aber Prokop wollte sie noch für das Wölkchen lieblichen Mitleids, das ihr Gesicht so rosig färbte, segnen. »Mögen die Götter dir schenken, so viel dein Herz nur begehret, einen Mann und ein Haus, und Fried euch gewähren und Eintracht, selige! Nichts ist wahrscheinlich so wünschenswert und erfreulich, als wenn Mann und Weib, in herzlicher Liebe vereinigt, ruhig ihr Haus verwalten; dem Feind ein kränkender Anblick, aber Wonne dem Freund, und mehr noch genießen sie selber.«

Die letzten Worte hatte Prokop nur noch geflüstert. Er verstand sie selbst kaum. Sie entströmten fließend und ohne seinen Willen einem unbekannten Winkel des Gedächtnisses. Es war fast zwanzig Jahre her, seit er sich durch die süße Wortmelodie des sechsten Gesanges so schlecht und recht hindurchgearbeitet hatte. Es bereitete ihm geradezu eine körperliche Erleichterung, die Worte frei verströmen zu lassen. Sein Kopf wurde unbeschwerter und klarer; er fühlte sich selig in dieser schlaffen, angenehmen Mattigkeit. Ein verlegenes Lächeln trat auf seine Lippen.

Auch das Mädchen lächelte, regte sich und sagte: »Nun denn?« Sie trat einen kleinen Schritt näher und begann zu lachen. »Was haben Sie da gesagt?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Prokop unsicher.

Da flog die nur angelehnte Tür auf: etwas Kleines, Zottiges kam hereingeflitzt, quietschte vergnügt und sprang aufs Bett.

»Hansi!« schrie das Mädchen erschrocken auf, »gleich gehst du herunter!« Aber der kleine Hund leckte bereits Prokops Gesicht und schmiegte sich mit leidenschaftlichem Vergnügen in die Bettdecke. Prokop fuhr sich über die Wangen, um sie zu trocknen; da verspürte er entsetzt einen richtigen Vollbart unter der Hand. »Wie – wieso denn?« stotterte er und verstummte erstaunt. Der Hund tollte umher, biß Prokop aus überströmender Zärtlichkeit in die Hände, knurrte vergnügt, bellte und erreichte schließlich mit seiner nassen Schnauze Prokops Brust.

»Hansi«, rief jetzt das Mädchen, »bist du verrückt? Gleich wirst du das Herrchen in Ruhe lassen!« Sie eilte ans Bett und nahm den Hund in die Arme. »Bist du aber dumm, Hansi!«

»Lassen Sie ihn«, bat Prokop.

»Aber Sie haben doch eine schlimme Hand«, wandte das Mädchen mit deutlichem Ernst ein, während sie den sich zur Wehr setzenden Hund fest an die Brust drückte.

Prokop sah verständnislos auf seine Rechte. Vom Daumen über die Handfläche zog sich eine breite Narbe, die mit einem neuen, ganz dünnen, angenehm juckenden roten Häutchen überzogen war. »Wo . . . wo bin ich denn eigentlich?« fragte er erstaunt.

»Bei uns«, antwortete das Mädchen mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit, die Prokop sofort beruhigte. »Bei Ihnen«, wiederholte er erleichtert, obgleich er keine Ahnung hatte, wo das war. »Und wie lange schon?«

»Seit zwanzig Tagen. Und immer haben Sie . . .«, sie wollte etwas sagen, verstummte aber wieder. »Hansi hat bei Ihnen geschlafen«, setzte sie dann rasch hinzu und errötete, ohne zu wissen, warum, wobei sie den Hund wie ein kleines Kind wiegte. »Wissen Sie davon?«

»Nein«, antwortete Prokop nachdenklich. »Habe ich denn geschlafen?«

»In einem fort«, entfuhr es ihr. »Jetzt könnten Sie schon ausgeschlafen sein.« Sie ließ den Hund auf die Erde und näherte sich dem Bett. »Geht es Ihnen besser? . . . Haben Sie einen Wunsch?«

Prokop schüttelte den Kopf; ihm fiel nichts ein. »Wie spät ist es?« fragte er unsicher.

»Zehn. Ich weiß nicht, was Sie essen dürfen. Sobald der Vater kommt . . . Vater wird sich freuen . . . Möchten Sie etwas?«

»Einen Spiegel«, bat Prokop zögernd.

Das Mädchen lachte und eilte hinaus. In Prokops Kopf rumorte es. Er versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, aber alles entglitt ihm immer wieder. Da kam schon das Mädchen zurück, sagte irgendwas und reichte ihm einen kleinen Spiegel. Prokop wollte die Hand heben; es ging nicht. Das Mädchen drückte ihm den Griff zwischen die Finger, doch der Spiegel fiel auf die Bettdecke. Da erblaßte das Mädchen und hielt ihm, seltsam beunruhigt, den Spiegel vor die Augen. Prokop starrte hinein und erblickte ein vollkommen fremdes Gesicht mit dichten Bartstoppeln auf Wangen und Kinn. Er starrte und konnte nicht begreifen; seine Lippen begannen zu zittern.

»Legen Sie sich gleich nieder, legen Sie sich gleich wieder nieder«, gebot ihm eine zarte, fast schluchzende Stimme, und flinke Hände rückten ihm das Kissen zurecht. Prokop legte sich zurück und schloß die Augen. Ich werde noch ein Weilchen schlafen, dachte er, und fühlte eine angenehme, tiefe Stille um sich.


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