Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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18

»Sie meinen«, sagte Prokop zögernd, »daß – es wirklich . . .«

»Wir wissen«, unterbrach ihn Carson, »daß es in der Welt unbekannte Empfangs- und Sendestationen gibt. Jeden Dienstag und Freitag sagen sie einander etwas mehr als bloß: Gute Nacht! Sie verfügen über uns bisher unbekannte Kräfte: Entladungen, Oszillationen, Funken, Strahlen oder andere teuflische Dinge. Vielleicht über Antiwellen, Antioszillatoren oder wie man's sonst nennen sollte, kurz etwas, womit sie unsere Wellen stören oder vernichten. Verstehen Sie mich?« Herr Carson blickte sich im Laboratorium um. »Aha«, sagte er und nahm ein Stück Kreide. »Das ist entweder so«, erklärte er und zeichnete mit der Kreide einen halbellenlangen Pfeil, »oder so«; er bekritzelte dabei fast das ganze Brett und setzte mit dem befeuchteten Finger einen dunklen Strich hinein. »So oder so. Positiv oder negativ. Entweder sie senden neue Wellen in unser Medium hinein oder sie schleudern künstliche Pausen in unser gründlich mit Telegrafie durchsetztes Milieu. Man kann auf beide Arten . . . ohne unsere Kontrolle arbeiten. Beides ist bisher . . . sowohl technisch als auch physikalisch . . . absolut rätselhaft. Verdammt noch mal«, begann Herr Carson, von einem plötzlichen Wutausbruch gepackt, zu fluchen und warf die Kreide hin, daß sie in Stücke brach, »das ist denn doch zuviel! Mit uns unbekannten Kräften geheime Depeschen an ebenso geheimnisvolle Empfänger zu senden! Wer macht das? Was glauben Sie, wer?«

»Vielleicht die Marsbewohner«, bemühte sich Prokop zu scherzen, obwohl ihm aber in Wirklichkeit ganz anders zumute war.

Herr Carson warf ihm einen vernichtenden Blick zu, aber dann grölte er aus vollem Halse: »Gut, sehr gut, Meister, nehmen wir an, die Marsbewohner. Ausgezeichnet! – Aber es dürfte eher etwas sehr Irdisches sein. Angenommen, eine hiesige Macht sendet geheime Instruktionen. Angenommen, sie habe sehr schwerwiegende Gründe, sich der allgemeinen Kontrolle zu entziehen. Angenommen, es sei . . . ein internationaler Geheimdienst oder eine Organisation, die über unbekannte Kräfte, geheime Stationen und was weiß ich noch verfügt. Jedenfalls . . . jedenfalls – hat die Menschheit ein Recht darauf, sich für diese geheimen Depeschen zu interessieren – ob sie nun vom Mars oder aus der Hölle stammen. Schon . . . im Interesse der menschlichen Gesellschaft. Sie können sich denken . . . Nun, Bester, der Inhalt dieser Radiodepeschen dürfte kaum vom Rotkäppchen handeln.«

Herr Carson lief jetzt im Zimmer auf und ab. »Vor allem steht eins fest«, überlegte er laut, »die betreffende Sendestation befindet sich irgendwo in Mitteleuropa, ungefähr in der Mitte des Störungskreises. Sie ist verhältnismäßig schwach, denn sie spricht nur bei Nacht. Um so schlimmer! Die bekannten Sender sind leicht zu finden. Und nun überlegen Sie«, rief er, im Gehen innehaltend, »im Herzen Europas existiert etwas und geht höchst Merkwürdiges vor. Es ist verzweigt, hat seine amtlichen Stellen, unterhält geheime Verbindungen, besitzt uns unbekannte technische Mittel, geheime Kräfte und – jetzt sollen Sie's wissen«, brüllte Carson, »besitzt sogar Krakatit!«

Prokop fuhr entsetzt auf. »Was – wieso?«

»Krakatit. Neun Dekagramm und fünfunddreißig Dezigramm. Alles, was uns geblieben ist.«

»Was haben Sie damit gemacht?« fragte Prokop wütend.

»Versuche. Wir haben gespart damit wie – ich weiß nicht wie. Eines Abends –«

»Nun?«

»War's verschwunden. Samt der Porzellandose.«

»Gestohlen?«

»Ja.«

»Und wer – wer –«

»Die Marsbewohner natürlich.« Herr Carson feixte. »Leider durch die irdische Vermittlung eines unserer Laboranten, der samt der Porzellandose verduftet ist.«

»Wann ist das geschehen?«

»Knapp vorher, ehe man mich zu Ihnen hergesandt hat. Er war ein gebildeter Mann. Ein Sachse. Nicht ein Stäubchen ist uns davon geblieben. Deshalb bin ich hergekommen.«

»Und Sie sind der Meinung, es sei diesen . . . diesen Unbekannten in die Hände geraten?«

Herr Carson schnaubte nur.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich behaupte es. Sehen Sie mich an«, sagte Herr Carson und wiegte sich auf seinen kurzen Beinen, »sehe ich aus wie ein Hasenfuß?«

»N-ein.«

»Dann will ich Ihnen sagen, daß ich davor Angst habe. Ehrenwort! Krakatit . . . ist eine gefährliche Sache. Diese unbekannte Station ist schlimm genug. Aber beides in einer Hand vereinigt? . . . Gnade uns! Dann packt Herr Carson seinen Koffer und fährt zu den Menschenfressern nach Tasmanien. Ich möchte das Ende Europas nicht miterleben.«

Prokop rieb sich hilflos die Hände zwischen den Knien. »Mein Gott, mein Gott!« stöhnte er für sich.

»Nun ja«, meinte Herr Carson, »wissen Sie, ich wundere mich nur, daß es bisher keine . . . grandiose Explosion gegeben hat. Die brauchen doch bloß auf einen Hebel zu drücken . . . und Tausende Kilometer entfernt geht alles in die Luft. Worauf warten sie noch?«

»Es ist klar«, sagte Prokop, wie von Fieber geschüttelt, »Krakatit darf nicht aus der Hand gegeben werden. Und Tomesch? Dem muß man verwehren . . .«

»Herr Tomesch«, wendete Carson rasch ein, »verkauft Krakatit selbst dem Teufel, wenn er dafür bezahlt. In diesem Augenblick bedeutet Herr Tomesch eine Gefahr für die ganze Welt.«

»Was soll also geschehen?« fragte Prokop verzweifelt.

Herr Carson schaltete eine längere Pause ein. »Das ist klar«, sagte er endlich, »Sie müssen Krakatit aus der Hand geben.«

»Nein! Niemals!«

»Aus der Hand geben. Und zwar deshalb, weil es . . . ein Dechiffrierschlüssel ist. Ich sage Ihnen nur: höchste Zeit. Zum Kuckuck, geben Sie's, wem Sie wollen, aber zögern Sie nicht mehr lange. Geben Sie's der Schweiz, dem Verband alter Jungfern oder meinetwegen des Teufels Großmutter. Man wird erst ein halbes Jahr darüber sitzen, ehe man begreift, daß Sie kein Narr sind. Oder geben Sie's uns. In Balttin steht schon eine besondere Vorrichtung, ein Empfangsapparat, bereit. Stellen Sie sich vor . . . unendlich rasche Explosionen mikroskopischer Teilchen des Krakatits. Entzünder ist ein unbekannter Strom. Sobald ihn die Gegenpartei irgendwo einschaltet, geht die Sache bei uns los: Trrr ta ta trrr trrr ta trrr ta ta ta. Dann heißt es nur dechiffrieren, und alles ist erledigt. Aber dazu braucht man Krakatit!«

»Ich gebe es nicht her«, widerstand Prokop, dessen Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt war. »Ich glaube euch nicht. Ihr würdet Krakatit . . . für eigenen Gebrauch herstellen.«

Herrn Carsons Mundwinkel zuckten. »Wenn's nur darum geht . . .«, sagte er. »Übrigens, wenn Sie wünschen, rufen wir Ihnen die Vereinten Nationen, den Weltpostverein, den Eucharistischen Kongreß – wen oder was immer Sie wollen – zu Hilfe. Damit die arme Seele ihren Frieden hat. Ich bin Däne und pfeife auf die Politik. Und Sie übergeben Krakatit zu Händen einer internationalen Kommission. Was ist Ihnen?«

»Ich . . . ich war lange krank«, entschuldigte sich Prokop, bleich wie der Tod. »Ich bin . . . noch immer nicht . . . ganz hergestellt. Und dann . . . ich habe . . . zwei Tage nichts gegessen.«

»Schwäche«, sagte Herr Carson, setzte sich zu ihm und schlang den Arm um ihn. »Das geht gleich vorüber. Sie fahren nach Balttin. Eine sehr gesunde Gegend. Nachher können Sie Herrn Tomesch aufspüren. Geld werden Sie haben wie Heu. Aus Ihnen wird noch ein big man. Nun?«

»Ja«, flüsterte Prokop wie ein kleines Kind und ließ sich sanft wiegen.

»Na also. Überanstrengt, ist ja verständlich. Das geht vorüber. Die Hauptsache . . . die Hauptsache ist die Zukunft. Sie müssen viel Elend durchgemacht haben. Aber Sie sind ein ganzer Kerl. Sehen Sie, es ist schon besser.« Herr Carson rauchte nachdenklich. »Eine großartige Zukunft. Sie werden eine Menge Geld bekommen. Übrigens – zehn Prozent für mich, abgemacht? Das ist internationaler Brauch. Carson hat es auch nötig . . .«

Vor der Baracke hupte ein Auto.

»Wunderbar, der Wagen ist auch schon da«, sagte Herr Carson aufatmend. »Also, fahren wir!«

»Wohin?«

»Zunächst einmal essen.«


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