Karl Capek
Der gestohlene Kaktus und andere Geschichten
Karl Capek

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Das Telegramm

»Man sagt so: Kleinigkeiten«, sagte Herr Doleschal, »ich habe die Beobachtung gemacht, daß die Menschen sich nur natürlich und aufrichtig benehmen, solange es um die gewöhnlichen Alltäglichkeiten geht. Sowie aber einer in eine außergewöhnliche und irgendwie pathetische Lage gerät, dann ist es, als wäre ein neuer Mensch in ihn gefahren. Die Leute reden dann mit einer anderen, ich möchte fast sagen dramatischen Stimme, sie gebrauchen andere Worte, andere Argumente, ja sogar andere Gefühle. Heroismus erwacht in ihnen, Ruhmsucht, Opfermut und ähnliche heldenhafte Charakterzüge. Es ist ganz so, als hätten sie ein Ozon eingeatmet, das sie zwingt, große Gebärden zu machen. Möglich auch, daß sie in dem Gefühl, in einer außergewöhnlichen oder katastrophalen Situation zu sein, eine gewisse geheime Befriedigung finden, kurz, sie benehmen sich wie Theaterhelden. Ist diese Hochspannung wieder vorbei, so kehren diese Menschen wieder in ihre normalen Maße zurück. Aber dann ist ihnen so zu Mute wie eben Menschen, die enttäuscht und ernüchtert wurden.

Ich habe einen Vetter, ein gewisser Kalous, ein ordentlicher, würdiger Büromensch. Bürger, Familienvater, bis zu einem gewissen Grade ein Pantoffelheld und ein wenig Pedant, wie wir reifen Männer gewöhnlich. Seine Frau ist eine brave, häusliche Person, eine musterhafte Familiengluckhenne, ergebene Gattin, ein Haussklave, wie er im Büchel steht und so weiter. Dann ist eine Tochter da, ein hübsches Mädel namens Vera. Sie war, als die Geschichte sich ereignete, gerade in Frankreich, um sich im Französischen zu vervollkommnen, weil sie für den Fall, daß sie keinen Mann fände, die Sprachprüfung ablegen wollte. Ferner gab es den Sohn, einen Bengel vom Gymnasium, Toni heißt er, ein guter Fußballer, aber ein herzlich schwacher Schüler. Es war also eine typisch durchschnittliche Familie des sogenannten besseren Mittelstandes.

Diese Familie Kalous also saß einmal bei Tisch, als jemand klingelte. Frau Kalous öffnete, tauchte dann wieder in der Tür auf, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und sagte, rot vor Aufregung: ›Jesus Maria, Vater, ein Telegramm!‹ – Sie wissen doch, von welchem Entsetzen Frauen gepackt werden, wenn ein Telegramm kommt; irgendwie muß es mit der weiblichen Konstitution zusammenhängen, daß Frauen immer einen Schicksalsschlag erwarten.

›Nu, nu, Mutter‹, brummte Herr Kalous und versuchte seine Ruhe und seine Würde zu bewahren, ›wer mag denn wohl . . .‹ Aber seine Hand zitterte, als er das Telegramm öffnete. Alle, auch in der Tür das Dienstmädchen, starrten atemlos auf das Familienoberhaupt.

›Von Vera‹, sagte endlich Herr Kalous mit einer Stimme, die fremd klang. ›Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur ein Wort davon verstehe!‹

›Zeig her!‹ stieß Frau Kalous hervor.

›Warte!‹ meinte Herr Kalous streng. ›Es ist sicher verstümmelt. Da steht: glabserdes dsinpers fald fourre bellevue grenoble vera.‹

›Was soll das heißen?‹ stöhnte Frau Kalous.

›Sieh selber‹, sagte Herr Kalous bissig, ›wenn du glaubst, daß du es besser verstehst! Na also, du weißt natürlich schon, was es bedeutet.‹

Frau Kalous traten Tränen in die Augen. ›Es ist ihr etwas zugestoßen‹, flüsterte sie, ›sonst hätte sie nicht telegraphiert.‹

›Was du nicht sagst!‹ schrie Herr Kalous und zog sich den Rock an. Offenbar hatte er das Gefühl, daß es sich nicht schicke, einer so ernsten Situation in Hemdsärmeln gegenüberzustehen. ›Gehen Sie in die Küche, Annie!‹ befahl er dem Dienstmädchen, dann sagte er mit tragischer Stimme: ›Das Telegramm ist aus Grenoble. Ich glaube, Vera ist mit jemandem durchgegangen.‹

›Mit wem?‹ schrie Frau Kalous entsetzt.

›Was weiß denn ich?‹ polterte Herr Kalous. ›Wahrscheinlich mit irgendeinem Künstler oder sonst einem Lumpen! Das hat man von der Selbständigkeit der Frau! So etwas Ähnliches habe ich erwartet! Ich wollte sie nicht in dieses verdammte Paris fahren lassen! Aber du, du warst ja so sehr dafür . . .‹

›Ich? Ich soll dafür gewesen sein?!‹ Frau Kalous riß die Geduld. ›Du hast ja nicht aufgehört zu predigen, daß sie etwas lernen müsse, um sich einmal selbst erhalten zu können!‹ Frau Kalous schluchzte auf und warf sich in einen Sessel. ›Meine unglückliche Vera! Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen . . . Vielleicht ist sie krank . . .‹

Herr Kalous begann erregt im Zimmer auf und ab zu laufen. ›Krank!‹ rief er, ›warum sollte sie krank sein? Wenn es nur kein Selbstmordversuch ist! Der Kerl hat sie vielleicht entführt und jetzt läßt er sie sitzen . . .‹

Frau Kalous war im Begriff, ihre Schürze aufzubinden. ›Ich fahre hin zu ihr‹, erklärte sie weinend. ›Ich lasse sie dort nicht allein . . .‹

›Nirgendshin fährst du!‹ brüllte Herr Kalous.

Frau Kalous richtete sich hoch auf; niemals noch hatte sie eine solche Würde gehabt. ›Kalous‹, sprach sie, ›ich bin die Mutter. Ich kenne meine Pflicht.‹ – Hierauf entfernte sie sich majestätischen Schrittes.

Die beiden Herren, will sagen Kalous Vater und Toni Kalous Sohn blieben allein zurück. ›Wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen‹, sagte Kalous Vater dumpf. ›Vielleicht ist Vera irgendwohin verschleppt worden. Sprich nichts davon vor der Mutter. Ich werde selbst nach Grenoble fahren.‹

›Vater‹, sagte Toni mit der tiefsten Stimme, deren er fähig war, – sonst pflegte er ›Papa‹ zu sagen – ›überlaß das mir! Ich werde fahren, etwas Französisch kann ich . . .‹

›Ja, – so ein Bursche wie du, der wäre so der Mann, vor dem die dort Respekt hätten!‹ unterbrach ihn Vater Kalous. ›Mein Kind rette ich! Ich nehme den nächsten Zug – wenn es nur nicht zu spät ist!‹

›Mit dem Zug!‹ höhnte Toni. ›Warum nicht gleich zu Fuß? Wenn ich fahre, ich würde mit dem Flugzeug nach Straßburg . . .‹

›Und du glaubst vielleicht, daß ich nicht fliegen werde?!‹ schrie Vater Kalous. ›Daß du es nur weißt, ich fliege! Aber diesen Lumpen‹, setzte er kampflustig fort und ballte die Fäuste, ›den zerreiße ich in Stücke! Mein unglückliches Kind!‹

Toni legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war geradezu wunderbar, wie der Lausbub so mit einem Schlage zum Manne wurde. ›Vater‹, sagte er sanft, ›das ist nichts für dich; du bist nicht mehr jung genug. Laß mich machen! Du weißt doch: für meine Schwester tue ich, was nur Menschenkraft vermag!‹ – Bis dahin hatte er für seine Schwester, wie jüngere Brüder gewöhnlich, nichts als gesunde männliche Verachtung übrig gehabt.

Vater Kalous schüttelte den Kopf. ›Nein‹, sprach er düster, ›das ist meine Sache. Auf wen sollte ein Kind rechnen können, wenn nicht auf den Vater? Toni, ich reise. Du wirst inzwischen deiner Mutter eine Stütze sein. Du weißt, die Frauen . . .‹ In diesem Augenblick trat Frau Kalous in die Tür, zum Ausgehen fertig, aber sonderbarerweise sah sie nicht aus wie jemand, der eine Stütze braucht.

›Wohin gehst du, wenn ich fragen darf?‹ fuhr Kalous sie an.

Ihre Stimme klang kühl, als sie antwortete: ›In die Bank, Geld holen. Ich fahre zu meiner Tochter in die Fremde.‹

›Blödsinn!‹ schrie Kalous.

Frau Kalous zuckte die Achseln. ›Ich weiß, was ich tue. Und ich weiß auch, warum ich es tue.‹

›Frau‹, erklärte Kalous entschlossen, ›nimm zur Kenntnis, daß ich selbst zu Vera reise.‹

›Du?‹ Frau Kalous sagte es nicht ohne Geringschätzung. ›Was könntest du dort helfen? Warum solltest du dich in deiner Bequemlichkeit stören lassen?‹ fügte sie noch vernichtend hinzu.

Vater Kalous richtete sich auf, und Zornesröte überzog sein Antlitz. ›Kümmere du dich nur nicht darum, was ich dort zu tun habe‹, sagte er scharf. ›Ich habe längst alles erwogen, was dort zu geschehen hat. Ich bin auf alles vorbereitet. Sag' dem Dienstmädchen, sie soll mir den Koffer vorbereiten, ja?‹

›Aber ich kenne dich doch‹, sagte Frau Kalous. ›Wenn dir dein Chef keinen Urlaub gibt, rührst du dich nicht weg.‹

›Ich pfeife auf den Chef!‹ brüllte Kalous. ›Ich pfeife auf das Büro! Und wenn sie mich hinausschmeißen! Ich schlage mich schon irgendwie durch! Ich habe mich mein Leben lang für meine Familie aufgeopfert und ich werde auch dieses letzte Opfer bringen, verstanden?‹

Frau Kalous ließ sich auf den Rand des Sessels sinken. ›Mann‹, sagte sie mit gepreßter Stimme, ›begreife doch, um was es hier geht! Ich fahre doch hin, um sie zu pflegen, ich habe das sichere Gefühl, daß Vera zwischen Leben und Tod schwebt. Und da muß ich bei ihr sein . . .‹

›Und ich habe eine sichere Ahnung‹, erklärte Kalous, ›daß sie in die Klauen eines Schurken geraten ist. Wenn wir wenigstens wüßten, was in dem Telegramm steht! Damit wir uns auf die Wahrheit gefaßt machen können!‹

›Auf die entsetzliche Wahrheit!‹ jammerte Frau Kalous.

›Möglich‹, sprach düster Herr Kalous, ›ich fürchte mich auch nur daran zu denken, was das Telegramm bedeuten könnte.‹

›Du‹, äußerte Frau Kalous unsicher, ›wir könnten vielleicht Herrn Horvat fragen.‹

›Wonach denn?‹ Herr Kalous stutzte.

›Danach, was in dem Telegramm steht; der Herr Horvat ist doch der Mann, der diese chiffrierten Sachen zu entziffern hat –‹

›Richtig, der könnte das herausbekommen. Annie!‹ brüllte er, ›springen Sie in den fünften Stock zu Herrn Horvat, wir lassen ihn sehr bitten, herunterzukommen!‹

Dieser Herr Horvat war nämlich in unserem Geheimdienst tätig, zu seinen Hauptobliegenheiten gehörte die Entzifferung von Geheimschriften. Er soll ein ganz genialer Kerl sein, dieser Horvat. Wenn man ihm genug Zeit läßt, so gibt es keine Chiffre, die er nicht enträtselt. Aber so etwas gibt furchtbar viel Arbeit, und die Leute, die sich damit befassen, sind gewöhnlich etwas verrückt.

Herr Horvat erschien also nach einiger Zeit bei Familie Kalous. Der Horvat ist ein schmächtiger Mensch, ziemlich nervös, er riecht furchtbar nach Pfefferminz.

›Herr Horvat‹, sagte Herr Kalous, ›ich habe ein Telegramm bekommen und kann es nicht entziffern. Da habe ich mir gedacht, ob Sie nicht so liebenswürdig sein würden –‹

›Zeigen Sie!‹ sagte Herr Horvat, las das Telegramm von Anfang bis zu Ende und blieb mit geschlossenen Augen sitzen. Es herrschte Grabesstille.

›Von wem ist denn das Telegramm?‹ ließ sich Herr Horvat nach einer Weile vernehmen.

›Von unserer Tochter Vera‹, erklärte Kalous. ›Sie studiert augenblicklich in Frankreich.‹

›Aha!‹ äußerte sich Herr Horvat, ›so schicken Sie ihr ruhig telegraphisch sagen wir zweihundert Francs ins Hotel Bellevue nach Grenoble, und die Sache ist erledigt.‹

›Sie haben es entziffert?‹ fragte atemlos Herr Kalous.

›Keine Spur‹, brummte Herr Horvat. ›Das sind doch keine Chiffren, das ist nur ein verstümmelter Text. Aber ich bitte Sie, weshalb sollte so ein junges Mädel sonst telegraphieren? Vermutlich hat sie ihr Handtäschchen mit ihrem Geld irgendwo angebaut, und das ist die ganze Geschichte. So was kann vorkommen.‹

›Und könnte nicht . . . könnte in dem Telegramm nicht vielleicht was Schlimmeres stehen?‹ fragte Kalous unsicher.

›Warum sollte denn gerade etwas Schlimmes darin stehen?‹ wandte Herr Horvat erstaunt ein. ›Im allgemeinen passieren nur gewöhnliche Dinge. Diese Damentäschchen sind alle miteinander nichts wert.‹

›Dann also danke ich Ihnen bestens, Herr‹, sagte Kalous eisig.

›Keine Ursache‹, knurrte Herr Horvat und ging.

Bei Kalous' war es nun eine Weile still.

›Hör mal‹, brach Herr Kalous verlegen als erster das Schweigen. ›Dieser Horvat gefällt mir nicht besonders; er ist . . . hm, ein Grobian.‹

Frau Kalous begann ihre Sonntagskleider aufzuknöpfen. ›Ein Ekel ist er‹, sagte sie, ›du, und schickst du der Vera das Geld?‹

›Aber ja‹, brummte Kalous gereizt. ›Dumme Gans, das Täschchen muß sie verlieren! Stehle ich denn mein Geld? Die würde ein paar hinter die Ohren . . .‹

›Ich spare mir jeden Heller ab‹, fügte Frau Kalous mit Bitterkeit hinzu, ›und sie, das gnädige Fräulein, sie kann nicht aufpassen! Ein wahres Kreuz ist das mit den Kindern –‹

›Und du steh nicht hier herum wie ein Ochse, fauler Bengel, geh' lernen!‹ schrie Herr Kalous seinen Sohn Toni an, dann schlenderte er geruhsam zur Post.

Nie noch war er so wütend wie damals.

Und was diesen Herrn Horvat betrifft, so hielt ihn Kalous seit damals für einen taktlosen, zynischen, sogar beinahe unanständigen Menschen. Ganz als ob der Mann ihn beleidigt hätte.«


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