Karl Capek
Der gestohlene Kaktus und andere Geschichten
Karl Capek

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Die Erzählung des alten Zuchthäuslers

»Das ist nichts Besonderes«, sagte Herr Jandera, der Schriftsteller, »Diebe fangen, das ist eine alte Geschichte. Interessant wird die Sache erst, wenn der Dieb sucht, wen er eigentlich bestohlen hat. Das ist mir nämlich geschehen, wissen Sie. Ich habe da unlängst eine Geschichte geschrieben und sie drucken lassen, und als ich sie dann gedruckt las, überkam mich so eine peinliche Ahnung. Menschenskind, sagte ich mir, was Ähnliches hast du schon mal wo gelesen. Zum Donnerwetter, wem habe ich den Stoff nur geklaut? – Drei Tage ging ich herum wie ein drehkrankes Schaf und konnte und konnte nicht daraufkommen, von wem ich den Stoff, wie man so sagt, entlehnt hatte. Endlich traf ich einen Bekannten und sage ihm: ›Mir kommt vor, als ob meine letzte Geschichte da irgendwo gestohlen wäre.‹ – ›Das habe ich gleich auf den ersten Blick erkannt‹, meint der, ›die hast du von Tschechow geklaut.‹ – Da fiel mir wirklich ein Stein vom Herzen, und als ich dann mit einem Kritiker sprach, sagte ich ihm: ›Sie würden nicht glauben, Herr, manchmal begeht man ein Plagiat und hat davon keine Ahnung. Meine letzte Geschichte zum Beispiel ist gestohlen.‹ – ›Ich weiß‹, antwortete der Kritiker, ›die stammt von Maupassant.‹ – So ging ich alle meine guten Freunde durch. Hören Sie, wenn der Mensch mal auf die schiefe Ebene des Verbrechens gerät, dann weiß er nicht, wann er aufhören soll. Stellen Sie sich nur vor, diese eine einzige Geschichte hatte ich noch von Gottfried Keller gestohlen, von Dickens, von d'Annunzio, aus Tausendundeiner Nacht, von Charles Louis Philipp, Hamsun, Storm, Hardy, Andrejew, Bandinelli, Rosegger, Reymont und noch einer ganzen Reihe anderer. Daraus ersieht man, wie ein Mensch immer tiefer und tiefer ins Böse versinkt.«

»Das ist noch gar nichts«, sagte Herr Bobek, der alte Zuchthäusler, und spuckte aus, »das erinnert mich an einen Fall, da hatte man einen Mörder, konnte aber keinen Ermordeten dazu finden. Nicht daß Sie etwa glauben, daß mir das passiert ist, aber ich habe ein halbes Jahr in demselben Zuchthaus gewohnt, in dem vorher der Mörder war. Das war in Palermo«, erklärte Herr Bobek und fügte bescheiden hinzu: »Ich war bloß wegen eines Koffers dort, der mir auf einem Schiff, auf dem ich von Neapel kam, in die Hand geraten war. Den Fall mit dem Mörder hat mir der Oberaufseher dieses Hauses erzählt; ich habe ihm nämlich Gottes Segen und Kreuzmariage beigebracht. Er war nämlich ein sehr frommer Mann, der Aufseher.

Einmal in der Nacht also sahen zwei Polypen – in Italien gehen sie immer zu zweit – wie ein Mensch aus allen Kräften durch die Via Butera rennt, zum stinkigen Hafen hinunter. Also packten sie ihn und, porco dio, er hatte einen blutigen Dolch in der Hand. Selbstverständlich brachten sie ihn zur Wache und jetzt, Kerl, sag, wen du abgestochen hast! Der Bursch fing an zu flennen und sagte: ›Ich habe einen Menschen umgebracht, aber mehr sage ich euch nicht; wenn ich mehr sagte, würden noch andere Leute unglücklich.‹ – Und mehr bekamen sie wirklich nicht aus ihm heraus.

Natürlich fing man gleich an, nach einer Leiche zu suchen. Aber es fand sich keine. Man ordnete also die Untersuchung aller teuren Verblichenen an, die zur Zeit als Verstorbene gemeldet waren. Aber es zeigte sich, alle waren christlich an Malaria und ähnlichen Dingen gestorben. Da machten sie sich von neuem über den Burschen her. Der gab an, Marco Biagio zu heißen, aus Castrogiovanni zu stammen und Tischlergeselle zu sein. Weiter gab er an, einem Christenmenschen an die zwanzig Stiche versetzt und ihn getötet zu haben. Aber wen, das sage er nicht, damit nicht noch andere Leute ins Unglück kämen. Und Schluß! Sonst rief er nur Gottes Strafe über sich herab und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Eine solche Reue, sagte der Aufseher, habe er sein Lebtag nicht gesehen.

Sie wissen ja, diese Polypen glauben einem Menschen kein Wort. Sie sagten sich, der Marco hätte vielleicht gar niemanden erstochen und lügt nur so. Drum schickten sie den Dolch an die Universität und dort erklärte man, das Blut an der Klinge wäre Menschenblut und sie müsse das Herz durchstochen haben. Wie man so was erkennen kann, weiß ich nicht, bitte. Na ja, was aber sollten sie jetzt tun: den Mörder hatten sie, aber nicht den Ermordeten, und das geht doch nicht, einen Menschen wegen eines unbekannten Mordes vor Gericht zu stellen. Wissen Sie, ein Corpus delicti muß halt da sein. Inzwischen betete der Marco nur in einemfort und heulte und flehte, man möge ihn dem Gericht übergeben, damit er seine Todsünde abbüßen könne. ›Du porco‹, sagten sie zu ihm, ›wenn du willst, daß die Gerechtigkeit dich verurteilt, mußt du gestehen, wen du umgebracht hast. So ohne weiteres können wir dich nicht aufknüpfen. Nenne uns wenigstens irgendwelche Zeugen, du Maulesel, du verdammter!‹ – ›Ich bin selbst Zeuge!‹ schrie der Marco, ›und ich schwöre, daß ich einen Menschen umgebracht habe!‹ – So also stand die Sache.

Der Aufseher sagte mir, der Marco wäre ein so hübscher und braver Mensch gewesen; noch nie hätten die so einen braven Mörder dort gehabt. Lesen konnte er nicht; aber die Bibel hatte er immerfort in der Hand, wenn auch oft verkehrt, und er weinte in sie hinein. Da schickten sie ihm so einen guten Pater, damit er ihn seelisch stärke und dabei geschickt ausfrage, wie und was mit dem Mord los sei. Der Pater ging vom Marco fort und fuhr sich über die Augen. Er meinte, wenn der Marco die Sache nicht noch irgendwie verderbe, dann fände er gewiß große Gnade; er sei eine nach Gerechtigkeit dürstende Seele. Aber außer solchen Reden und Tränen bekam auch der Pater nichts aus ihm heraus. ›Sie sollen mich hängen und Schluß!‹ sagte der Marco, ›damit ich für meine schwere Schuld endlich büße; Gerechtigkeit muß sein!‹ – Und das dauerte länger als ein halbes Jahr und noch immer fand man nirgends eine passende Leiche.

Als ihnen die Geschichte dann schon zu dumm wurde, sagte der Polizeipräsident: ›Mordiano, wenn der Marco unter allen Umständen hängen will, so geben wir ihm halt den Mord, der drei Tage nach seinem Hochgehen dort in Arenella passiert ist, wo man das ermordete alte Weib gefunden hat. Es ist doch eine Schande, da haben wir einen Mörder ohne Mord und ohne Leiche, und dort haben wir einen so hübschen und offenkundigen Mord ohne Täter. Gebt das irgendwie zusammen. Wenn der Marco verurteilt sein will, kann es ihm doch gleich sein wofür; und irgendwie werden wir ihn schon belohnen, wenn er sich zu der Alten bekennt.‹ Das also bot man dem Marco an und versprach ihm, daß er dafür ganz bestimmt in kürzester Zeit den Strang bekommen und Ruhe haben werde. Der Marco zauderte eine Weile und erklärte dann: ›Nein, wenn meine Seele schon wegen des Verbrechens des Mordes verdammt ist, so will ich sie doch nicht mit neuen Todsünden belasten, mit Lüge, Betrug und Meineid.‹ – So ein gerechter Mensch war das, meine Herren!

So ging es nun nicht mehr weiter. Im Zuchthaus dachte man jetzt nur noch daran, wie man den verdammten Marco los werden könnte. – ›Wissen Sie was‹, sagten sie zum Schließer, ›richten Sie es irgendwie ein, damit er ausreißen kann. Vors Gericht können wir ihn nicht stellen, das gäbe eine Blamage, und ihn freilassen, wenn er uns einen Mord eingesteht, das geht auch nicht. Sehen Sie zu, daß der dio cano maledetto irgendwie unauffällig verduftet.‹ Denken Sie nur, von dem Tag an schickte man den Marco ohne Begleitung um Pfeffer und Zwirn. Seine Zelle stand Tag und Nacht sperrangelweit offen, und der Marco lief den ganzen Tag alle Kirchen und alle Heiligen ab, aber abends kam er mit heraushängender Zunge angerannt, damit man ihm nicht um acht die Gefängnistore vor der Nase zumache. Einmal sperrte man absichtlich früher zu, aber da schlug er so einen Krach und hämmerte so an das Tor, daß man ihm öffnen mußte, damit er in seine Zelle könne.

Eines Abends aber sagte der Aufseher zu Marco: ›Du porca madonna, heute schläfst du zum letztenmal hier. Wenn du nicht gestehen willst, wen du umgebracht hast, dann werfen wir dich hinaus, du bandito, du!‹ In jener Nacht erhängte sich der Marco an seinem Zellenfenster.

Hören Sie, der Pater sagte zwar, daß jemand, der aus Gewissensbissen Selbstmord begeht, trotz der schweren Sünde erlöst werden könne, weil er im Zustand tätiger Reue gestorben sei. Aber wahrscheinlich wußte der Pater das nicht so sicher oder die Frage ist noch immer strittig: kurz und gut, glauben Sie mir, der Marco spukte in der Zelle. Das war nämlich so: wenn sie einen in seine Zelle einsperrten, dann erwachte das Gewissen in ihm und er fing an, seine Taten zu bereuen, tat Buße und bekehrte sich vollständig. Natürlich geschah das nicht bei jedem in der gleichen Zeit: bei einer Übertretung dauerte es eine Nacht; bei einem Vergehen zwei oder drei Tage und bei einem Verbrechen dauerte es manchmal auch drei Wochen, ehe sich der Sträfling bekehrt hatte. Am längsten hielten es Kassenknacker aus, Defraudanten und überhaupt solche, die große Gelder machen. Ich sage Ihnen, viel Geld verhärtet oder verstopft eben das Gewissen ganz besonders. Am wirksamsten war der Spuk immer am Jahrestag von Marcos Tod. Da machten die dort in Palermo aus der Zelle so eine Art Besserungsanstalt, wissen Sie – man sperrte die Sträflinge dort ein, damit sie ihre Taten bereuen und sich bessern. Na, Sie wissen ja, manche haben bei der Polizei Protektion, und andere Lumpen wieder, die werden von den Polypen gebraucht. Versteht sich, daß sie nicht jeden dort einsperrten und den einen oder andern für ihre eigenen Zwecke unbekehrt ließen. Ich glaube, manchmal nahmen sie von den großen Gaunern Schmiergelder und steckten sie dafür nicht in die wunderwirkende Zelle. Selbst bei Wundern gibt's halt keine Ehrlichkeit mehr.

So, meine Herren, erzählte mir die Geschichte damals in Palermo der Aufseher, und die Kollegen, die dort waren, bestätigten sie mir. Da war gerade ein englischer Matrose wegen Gewalttätigkeit und Rauferei dort. Dieser Briggs ging schnurstracks aus der Zelle als Missionar nach Formosa, und wie ich später gehört habe, hat er dort den Märtyrertod gefunden. Das war sonderbar, kein Aufseher wollte in die Marcozelle auch nur einen Finger hineinstecken, solche Angst hatten sie, daß die Gnade auch über sie kommen könnte und daß sie ihre Taten bereuen würden.

Dem Oberaufseher habe ich also, wie ich Ihnen schon erzählte, ein paar fromme Spiele beigebracht. War der wild, wenn er verlor! Aber als er einmal eine besonders schlechte Karte bekam, wurde er wütend und sperrte mich in die Zelle Marcos ein. ›Per bacco‹, brüllte er, ›dich will ich lehren!‹ Na, ich legte mich nieder und schlief ein. Am Morgen rief mich der Aufseher und fragte: ›Was ist, hast du dich bekehrt?‹ – ›Nicht daß ich wüßte, signore commandante‹, sagte ich; ›ich habe wie ein Holzklotz geschlafen.‹ – ›Also, marsch zurück!‹ schrie er mich an. – Aber was soll ich Ihnen lang erzählen: drei Wochen war ich in der Zelle und immerzu nichts: Es kam keine Reue über mich. Und da fing der Aufseher an, den Kopf zu schütteln und schließlich sagte er: ›Ihr Tschechen müßt schrecklich gottlose Menschen und Ketzer sein, daß so was keine Wirkung auf euch hat!‹ Und dann beschimpfte er mich jämmerlich.

Und sehen Sie, seit der Zeit hat die Zelle Marcos ganz aufgehört, zu wirken: Man konnte hineinstecken, wen man wollte, er bekehrte sich nicht im geringsten. Ebensowenig besserte er sich, er bereute nicht, na, rein gar nichts. Kurz, die Sache hatte aufgehört zu funktionieren. Du lieber Himmel, gab das einen Krawall deshalb! Man jagte mich zur Direktion, weil ich ihnen die Zelle kaputtgemacht hätte, und was noch alles! Ich habe nur mit den Achseln gezuckt; konnte ich denn was dafür, na, nicht? So brummten sie mir wenigstens drei Tage Dunkelarrest auf, dafür, daß ich die Zelle angeblich beschädigt hätte.«


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