Karl Capek
Der gestohlene Kaktus und andere Geschichten
Karl Capek

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Die Ohrenbeichte

»Unterdrückte Vorstellungen«, meinte Pater Voves, der Pfarrer von Sankt Matthäus, »unterdrückte Vorstellungen zu kurieren, das gehört zu den ältesten Errungenschaften der Menschheit; nur nennt unsere heilige Kirche diese Medizin: sacramentum sanctae confessionis. Wenn dich was in der Seele drückt, wenn du dich einer Sache schämst, dann geh zur heiligen Beichte, Kujon, und lade den Unrat ab, den du in der Seele trägst! Nur sagen wir dazu nicht ›Heilung von Nervendefekten‹, sondern wir nennen es Reue, Buße, Vergebung der Sünden.

Da fällt mir eine Geschichte ein, die sich schon vor ein paar Jahren abgespielt hat. Es war ein grausam heißer Sommertag, und ich ging in mein Kirchlein – wissen Sie, ich denke immer, diese Evangelischen konnten nur im Norden groß werden, dort, wo dem Menschen nicht einmal im Sommer heiß ist. Bei uns, in unseren katholischen Kirchen, ist den ganzen Tag irgend etwas los – Messe, Beten, Vesper oder wenigstens die Bilder und die Figuren. Wann man es wünscht, hat man einen Grund auf einen Sprung hineinzugehen, sich abzukühlen, seinen Gedanken nachzuhängen – am wichtigsten ist das natürlich, wenn draußen die Luft wie in einem Backofen ist. Darum gibt es Ketzer nur in den kalten und unwirtlichen Gegenden und Katholiken in den wärmeren Ländern; das macht der Schatten und die Kühle in den Gotteshäusern. Damals also war ein so schrecklich heißer Tag, und als ich in die Kirche trat, schlug einem die kühle Luft gleich so schön und versöhnlich entgegen; der Kirchendiener näherte sich mir und teilte mir mit, daß ein Mensch schon über eine Stunde hier warte – ein Mensch, der zu beichten wünsche.

Mein Gott, so was kommt oft genug vor. Ich ging also in die Sakristei, nahm die Stola und setzte mich in den Beichtstuhl. Der Kirchendiener brachte den Büßer hin. Es war ein nicht mehr junger, gutgekleideter Mensch, ein Geschäftsreisender, nahm ich an, oder ein Realitätenagent, blaß im Gesicht und aufgedunsen. Er kniete vor dem Beichtstuhl nieder und schwieg. ›Na, los!‹ half ich ihm. ›Sprechen Sie mir nach: ich armer, sündiger Mensch beichte und bekenne vor Gott, dem Allmächtigen . . .‹

›Nein!‹ stieß der Mensch hervor, ›ich will es anders sagen. Lassen Sie mich! Ich sage es anders!‹ – Plötzlich begann sein Kinn zu zittern und Schweiß trat auf seine Stirn. Ich hatte mit einem Male das Gefühl, furchtbarer Häßlichkeit gegenüberzusitzen. Nur einmal hatte ich bis dahin eine ähnliche Erschütterung erlebt, einmal, als ich bei der Exhumierung eines Toten zugegen sein mußte, eines Toten, der schon . . . der sich schon in Verwesung befand. Ersparen Sie mir, Ihnen das zu schildern.

›Um des Herrgotts willen, was ist mit Ihnen?‹ schrie ich ihn erschrocken an.

›Gleich . . . sofort . . .‹ stotterte der Mensch, seufzte tief auf, schneuzte sich laut und sagte: ›Es ist schon wieder vorüber. Ich beginne also jetzt, hochwürdiger Herr. Es sind jetzt zwanzig Jahre her, da . . .‹

Ich werde Ihnen nicht erzählen, meine Herren, was ich von ihm gehört habe. Erstens weil es ja Beichtgeheimnis ist, und zweitens . . . eine so furchtbare, bestialische, widerwärtige Untat wie diese läßt sich kaum schildern, und in allen Einzelheiten stieß dieser Mensch die Geschichte aus sich hervor – nichts, nichts verschwieg er! Ich dachte schon, ich hielte es nicht länger im Beichtstuhl aus, wollte mir die Ohren zuhalten, ich weiß nicht, was ich sonst noch tat; ich stopfte mir die Stola in den Mund, um nicht vor Entsetzen laut aufzuschreien.

›So, jetzt ist es heraus‹, sagte der Mensch schließlich zufrieden und schneuzte sich erleichtert. ›Schönen Dank, hochwürdiger Herr.‹

›Halt!‹ rief ich, ›und was ist mit der Buße?‹

›Buße? Was fällt Ihnen ein?‹ Der Mensch zwinkerte mir durch das Fensterchen beinahe vertraulich zu. ›Ich bin nicht gläubig, Herr Pfarrer, mir war's nur darum zu tun, mich zu erleichtern. Wissen Sie, wenn ich längere Zeit nicht über die Sache gesprochen habe, dann sehe ich alles vor mir . . . ich kann nicht schlafen . . . kein Aug' schließe ich da . . . und wenn es so über mich kommt, dann muß es eben heraus . . . ich muß es jemandem erzählen. Und Sie, Sie sind doch dazu da, das ist doch Ihr Handwerk – und anzeigen dürfen Sie mich nicht, das verbietet das Beichtgeheimnis. Vergebung der Sünden? Davon halte ich nichts. Wenn einer den Glauben nicht hat, hilft ihm das wenig. Danke bestens, hochwürdiger Herr! Ergebener Diener!‹ – Und ehe ich mich nur umsehen konnte, hatte er mit munteren Schritten die Kirche verlassen.

Es mochte ein Jahr vergangen sein, da erschien er wieder. Er hielt mich vor der Kirche an, bleich und demütig. ›Hochwürdiger Herr‹, stammelte er, ›ich möchte Ihnen beichten.‹

›Mensch‹, sagte ich, ›nicht ohne Buße. Wenn Sie nicht gewillt sind, Buße zu tun, dann haben wir nichts miteinander zu schaffen.‹

›Jesus Maria!‹ stöhnte der Mann verzweifelt, ›das sagt mir jetzt schon jeder Pater! Keiner will mir mehr die Beichte abnehmen, und ich brauche sie so schrecklich notwendig . . . Hochwürden, was liegt Ihnen daran . . . wenn ich noch einmal . . .‹

Seine Lippen begannen zu zittern, ganz wie damals. ›Nein!‹ herrschte ich ihn an, ›Sie tun Buße oder Sie erzählen mir alles in Gegenwart einer weltlichen Person!‹

›Ja‹, jammerte der Mensch, ›die mich dann anzeigt! Hol' Sie der Teufel!‹ Und er rannte davon. Ich sehe ihn vor mir: noch sein Rücken, wie er so lief, war ein Abbild seiner Verzweiflung.

Seit damals habe ich ihn nicht wieder vor Augen bekommen.«

 

»Die Geschichte, Hochwürden«, sagte jetzt der Advokat Doktor Baum, »ist noch nicht zu Ende. Einmal – auch das ist schon Jahre her – kam zu mir in die Kanzlei ein Mensch mit blassem und aufgedunsenem Gesicht. Ich muß gestehen – er hat mir nicht gefallen. Und als ich ihn gebeten hatte, Platz zu nehmen und ihn fragte: ›Was führt Sie zu mir, lieber Freund?‹ fing er an: ›Wie ist das, Herr Doktor, wenn ein Mensch sich Ihnen anvertraut, wenn Ihnen ein Klient erzählt, daß er sich etwas hat zuschulden kommen lassen . . .‹

›Dann darf ich es selbstverständlich nicht gegen ihn verwenden‹, fiel ich ihm ins Wort, ›Herr, da käme eine hübsche Disziplinarstrafe heraus – das wäre noch das Geringste . . .‹

›Das ist gut so!‹ Der Bursche atmete sichtlich auf. ›Herr Doktor, ich muß Ihnen etwas sagen. Vor vierzehn Jahren . . .‹ – und dann, Hochwürden, habe ich vermutlich dasselbe gehört, was er Ihnen damals erzählte.«

»Sagen Sie es nicht!« unterbrach ihn Pater Voves.

»Fällt mir gar nicht ein«, brummte Doktor Baum. »Wissen Sie, die Sache war viel zu arg, und der Kerl stieß es hervor, als ob er sonst daran ersticken müßte: schwitzend, grau im Gesicht, mit geschlossenen Augen . . . es sah so aus, als ob er sich seelisch übergeben müßte. Als er fertig war, atmete er auf und wischte sich mit dem Taschentuch über die Lippen.

›Aber um Himmels willen‹, sagte ich, ›was soll ich nur damit anfangen? Wenn Sie einen aufrichtigen Rat von mir wollen . . .‹

›Nein!‹ rief das merkwürdige Geschöpf. ›Ich will keinen Rat! Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, was ich damals getan habe. Aber denken Sie immer daran, daß Sie es nicht gegen mich verwenden dürfen!‹ Dann stand er auf und sagte ganz ruhig: ›Was bin ich schuldig, Herr Doktor?‹

›Fünfzig Kronen‹, sagte ich vernichtet. Er zog einen Fünfziger aus der Brieftasche. ›Meine Hochachtung, Herr Doktor!‹ sagte er und ging.

Ich wüßte gern, wie viele Prager Advokaten er so abgegrast hat. Bei mir ist er kein zweites Mal erschienen.«

 

»Die Geschichte ist noch immer nicht zu Ende«, ließ sich Doktor Vitasek vernehmen. »Vor einigen Jahren, ich war damals noch Sekundararzt im Spital, brachte man einen Menschen hin, eben mit so einem blassen, aufgedunsenen Gesicht; die Beine angeschwollen wie ein Wasserschaff, mit Krämpfen, Atembeschwerden – kurz, es war die schönste Nierenentzündung, die man sich denken kann. Selbstverständlich gab es da keine Hilfe mehr. Einmal rief mich die Pflegerin: der Nephritiker auf Nummer sieben sei im Begriffe, wieder Krämpfe zu bekommen. Ich ging also zu ihm hin und sah den Ärmsten nach Luft schnappen, pitschnaß vor Schweiß, die Augen vor Grauen weit aufgerissen – diese Angstzustände bei Nephritis sind etwas Entsetzliches.

›Ich gebe Ihnen eine Injektion, Freund‹, sagte ich, ›dann geht das vorüber.‹

Der Patient schüttelte den Kopf. ›Doktor‹, brachte er mit Mühe hervor, ›ich . . . ich muß Ihnen etwas sagen . . . aber – das Frauenzimmer soll fortgehen!‹

Ich hätte es für richtiger gehalten, EmO einzuspritzen; aber ich sah in seine Augen und schickte die Pflegerin hinaus. ›Also, heraus damit!‹ sagte ich, ›aber nachher wird geschlafen!‹

›Doktor‹, stöhnte der Mensch, ›ich kann nicht weiter . . . ich sehe immerfort diese . . . ich kann nicht schlafen . . . ich muß es Ihnen sagen . . .‹

Und dann erzählte er – inmitten von Krämpfen und Atemnot. Entsetzlich war das. Nie habe ich Ähnliches gehört.«

»Hm.« Es war Doktor Baum, der Advokat, der sich räusperte.

»Fürchten Sie sich nicht«, fuhr Doktor Vitasek fort, »ich erzähle es nicht, die Sache fällt unter das ärztliche Berufsgeheimnis. Ja, und dann lag er da wie ein nasser Fetzen, vollkommen erschöpft. Wissen Sie, Hochwürden«, wandte er sich an den Pfarrer Voves, »Absolution konnte ich ihm keine geben«, und zu Doktor Baum: »und klugen Rat auch keinen, aber zwei Dosen Morphium, meine Herren, und dann, als er zu sich kam, noch einmal, und dann wieder – bis er eben nicht mehr erwachte. Ich habe dem Mann ordentlich geholfen, das sollen Sie wissen, meine Herren.«

»Amen«, sagte Pater Voves und versank für kurze Zeit in Nachdenken. »Das war brav von Ihnen«, fügte er dann noch weich hinzu, »jetzt quält er sich wenigstens nicht mehr.«


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