Hermann Eris Busse
Heiner und Barbara
Hermann Eris Busse

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Die ganzen und die halben Männer

In der Nacht hat sich Heiner zum erstenmal betrunken. Die Burschen waren ja noch nicht achtzehn Jahre alt, das Wirtshaus ihnen noch nicht erlaubt; aber da trafen sie, als sie gegen Oberspring hin bummelten, trotz innerer Unrast doch gelangweilt, es schien ein verdorbener Sonntag zu sein, die beiden Vettern Heiners, die Wirtsleute zum »Goldenen Stern« im Hespengrund. Es waren Männer von fünfunddreißig Jahren, die als tüchtige Säger werktags schafften und sonntags als prachtvolle Gastwirte 21 dastanden, weil sie ihre Schankstube mit den herrlichen Klängen ihrer Ziehharmonikas erfüllten, als brauste ein riesiges Tanzorchester durch das ganze Haus. Das sog die Gäste von der Straße weg in die Wirtschaft und brachte die plumpsten Füße zum Tanzen.

Die Brüder Franz und Xaver Runz kamen die Oberspringer Straße herab mit den mächtigen Instrumenten auf dem Rücken in ihren schwarzen Röcken und roten Westen, wie sie als Musikanten auszugehen pflegten. Es war die alte Bauerntracht der Gegend. Sie sangen mit großen, derben Stimmen in den zarten Frühlingsabend vom Lieben, das groß' Freud' bringt, obschon sie keineswegs als glühende Liebhaber auftraten und immer noch keine Anstalten machten zu heiraten, geschweige denn sich einen Schatz anzuschaffen. Sie waren gutmütige, schwere Mannsbilder, die voller Musik steckten und voller Schwänke, die riesenhaft trinken konnten und gewaltig arbeiten, hingegen die zarten Schürzen nicht liebten.

Als Zwillinge waren sie zur Welt gekommen, lebten sich durch die Tage, machten alles miteinander und alles gleich gut und hatten die gleichen Meinungen, die gleichen Stimmen, die gleichen Gemüter.

Der Heiner hörte sie, ehe er sie sah. Holla, dachte er, die kommen gerade recht, es konnte nun endlich etwas gemacht werden, daß man wußte, wozu dieser Sonntag da war.

Die Brüder Runz blieben dann auch bei den Burschen stehen, die so unschlüssig waren und die es sogar hintennach ärgerte, daß sie nicht droben auf dem Turm mit den Stadtfräcken kurzen Prozeß gemacht hatten. Die Runz sagten: »Man sieht's deutlich, euch hat 22 etwas den Peterling verhagelt; kommt mit in den ›Sternen‹, wir wollen etwas schaukeln.« Der Friedel maulte zum Schein ein wenig: »Das kostet Geld, ich hab' keins.«

Der Niklaus mahnte: »Wir dürfen nicht in Wirtschaften.«

Heiner sagte, und dabei sah er nun auf einmal aus wie ein erwachsener Mann: »Ach was, machet keine Ferz, wir sind zu Besuch bei meinen Vettern, basta!«

»Das mein' ich halt auch«, sagten die Zwillinge.

Und so kehrten sie um und wanderten im Schritt, die Musikanten mit den Harmonikas jetzt auf dem Bauch, straßabwärts gegen Tiefenspring zu, dessen erster Zinken Hespengrund hieß.

Die Wirtsstube war blitzsauber, an den Fenstern zarte Schleier, liebevoll mit gestickten Bändern aufgebunden, die Buchenplatten auf den Tischen weiß gescheuert und mit kleinen Sträußen von Winterjasmin geschmückt. Das alles pflegte die Schwester der Zwillinge, Euphrosina, die sie Sina riefen. Die blieb bestimmt ledig, denn sie war so stark wie die Brüder, dazu rothaarig und häßlich. Alle ihre Liebe, sie war eine gütige, dazu grundgescheite Frau, wandte sie an die Brüder, kein Wunder also, daß die sich daheim wohlfühlten und wußten, dieser Friede, diese Ordnung, diese blühende Einigkeit wären sofort gestört, falls eine Frau hier hineinheiratete. Die Euphrosina sah daher auch ungern unverlobte weibliche Gäste im Haus. Paare, die zueinander gehörten und kamen, um im »Goldenen Stern« zu tanzen, konnten kommen, so viele wollten.

Sina war Heiners Göttel (Patin). Er hatte sie ganz 23 gern, nur war ihm jetzt ein wenig angst vor der Begrüßung. Sina nahm nämlich jedesmal seinen schmalen Kopf in ihre großen, rauh geschafften Hände und küßte ihn mehrmals schallend ab. Das hatte sie mit ihm als Kind getan, und es schien so, als würde es dabei bleiben, bis er Großvater würde. Er mußte das eben über sich ergehen lassen. Sina stand gerade auf der Staffel, als die heitere Marschkolonne ankam. Sie sprang, so rasch es ging, in den Hof, griff den Heiner und schnalzte mit Wucht ihre nassen Küsse über sein hochrot angelaufenes Gesicht. So sehr er sich wand, die beiden Hände hielten fest, und Sina lachte zwischen dem Trommelfeuer ihrer Gottenfreude und rief: »Herrje, wenn's dir auch nit gfallt, du 24 spröds Bürschle, standhalten mußt!« Und lärmte mit ihren Küssen weiter.

Die Kameraden lachten und schnalzten im Takte mit, sie kannten das Schauspiel längst. Aber es schnalzten und lachten auch die jungen Ostenburger Herren dazu, die mit Barbara Bachroth und ihren Freundinnen just vor dem »Goldenen Stern« ankamen, hinterm Buschwerk eines Seitenweges hervortretend, und Zeugen des fröhlichen Empfangs wurden.

Barbaras silberhelles Lachen traf den mißhandelten Heiner wie ein Blitz. Zum Glück ließ ihn die Göttel jetzt los, sonst hätte er sie mit den Füßen gegen das Schienbein getreten. So taumelte er entsetzt und wütend vor Scham an den Brunnen und steckte seinen verstrubbelten Kopf tief hinein, prustete und rubbelte mit den Händen das nasse Gesicht ab, nur damit die anderen sehen sollten, daß er so etwas nicht auf sich sitzen lasse.

Die Sina schalt mit lachender Stimme, die Brüder schrien: »Kommt endlich in die Stub, ihr Herrgottsakramenter, hätt' i bald gsagt!«

Die Oberspringer Gesellschaft zog grinsend weiter. Einer rief den die Staffel hinaufwalzenden Burschen zu: »Viel Vergnügen!«

Da hob Heiner am Brunnen rack den Kopf und schrie: »Geht weiter, sonst gibt's ein Unglück! Oder sollen wir euch die Nasen glatt bügeln?«

Die Mädchen zogen kreischend die jungen Herren weiter. Auch Barbara sagte erschrocken: »Geht, wir wollen uns doch mit denen nicht gemein machen.«

»Nein, nein, bloß das nicht!« sagte Heiner, jetzt plötzlich ganz kalt geworden und hochmütig blaß unter 25 seinem vor Nässe dunklen Haar, »bloß nicht gemein machen mit den dreckigen Bauernflegeln, kleines Fräulein Pimpernelle. Hach, sind wir gemein und ihr so – fain!«

Sie waren unwillkürlich beide ein paar Schritte aufeinander zugegangen, ihre Augen glühten ineinander, sie waren weit, voll Furcht und Hilflosigkeit und straften ihren zornig zuckenden Mund Lügen.

»Ich hab' nicht gesagt, daß du gemein bist«, sagte Barbara leise. Heiner sah sie nur stumm an, seine Lippen bebten, er wußte nicht, was er entgegnen sollte.

Da riefen ihm Friedel und Niklaus: »Mach doch endlich, komm.«

Und die jungen Herren riefen: »Barbara!« Sie waren jetzt schon oben auf der Straße: »Bärbele, laß doch den Grobschmied!«

Heiner hörte das und hörte es nicht; er ließ sich von Nikolaus in die Gaststube zerren: »Sei doch vernünftig, du bringst das Mädchen nur in dumme Geschichten.«

Die Base Runz tischte weidlich auf, die wußte genau, daß der Ortenauer Wein einen guten Boden braucht; denn er schafft tüchtig im Blut. Und so machten sich die ganzen und die halben Männer fast wortlos über Schinken und gebrägelte Herdöpfel her, als hätten sie den ganzen Tag nichts gegessen, und die lachende Wirtin trug vollkommen leere Schüsseln und sauber gewischte Teller ab. Und jetzt, bum-fideli, konnte allerlei losgehen! Franz und Xaver nahmen ihre Ziehharmonikas auf die massigen Knie und schmissen den Hohenfriedberger Marsch aus den schweren Instrumenten, daß die Wirtsstube im Augenblick voller 26 Menschen war. Es konnte niemand vorbei, ohne daß die Füße sich von selber auf das Wirtshaus zum »Goldenen Stern« hin lenkten.

Von den Höfen in der Runde, sie saßen in stolzer Größe, fast alle grün angestrichen oder wettergebräunt, an den Talhängen, kamen die jungen Paare herunter, auch die alten Bauern, denen der Feiertag in der Stube zu langweilig geworden. Und wer zu Fuß und auf dem Fahrrad zwischen den Orten des Tales unterwegs war, das lang hinaufzog und den Rhein samt Ebene und Hügelreigen mit dem hohen Schwarzwald verband, der unterlag der Versuchung, auf dem halben Weg noch einen Ausschnaufer zu tun; denn die Runz hatten schönen, eigenen Wein und guten Imbiß, alles sauber und lustig dazu.

Es kamen auch die »besseren Leut« in den »Goldenen Stern«, denn die wußten tälerweit in den Badeorten bis nach Baden-Baden hin Bescheid über das einfache, aber fröhliche und wohlfeile Nest. Mit dem Kraftwagen wurde die kleine Weite zum Katzensprung, eine Laune sprang auf, und schon warf man an und schoß hinter der Milchstraße der Scheinwerfer her zum guten Quellgebiet der Leibeslust und Weininbrunst.

Blaue Forellen gibt es, die Wonne der Städter. Der Franz ging nämlich auf die Fischweid. Und Rebhuhn in Reblaub gebettet, das schaffte, wenn's an der Zeit war, der Jäger Xaver herbei. Die Sina wieder hatte ein Spargelbeet angelegt, damit sie die frischesten erntete, wenn die Fremden aus den Bädern kamen mit ihren gelüstigen Zungen, und ihre Erdbeeren waren weit und breit bekannt, die schleckten die 27 Schlanken und die Dicken mit steifem Schlagrahm hinab, ganz gleich, ob der Doktor es streng verboten hatte oder nicht. Überhaupt hatte es bei manchen Kurgästen nicht viel Wert, daß sie den Sauerbrunn schlürften und Gehkuren machten; morgens hielten sie sich daran, auch mittags am Tisch des Hotels lebten sie diät, aber am Nachmittag gingen kleine Gesellschaften auf feinschmeckerische Abenteuer aus, mit bruttelndem Gewissen, aber hingebungsbereitem Herzen an die Weine, die geradezu aus dem goldenen Munde des Paradieses in schweren, goldenen Strahlen aus vielen unterschiedlichen Quellgründen zu fließen scheinen.

Tantalusqualen gleich käme eine strenge Befolgung der Kuren für manchen wackeren Mann, der sich mit dem Sauerbrunnen und all den anderen segensreichen Wassern vom guten Leben kurieren soll, schlüge er nicht einmal über die Stränge und naschte ausgiebig von den herrlichen Dingen, die das Paradies zwischen Rhein und Schwarzwald als Gottesgabe wachsen läßt wie im leibhaftigen Schlaraffenland.

Sie wachsen zwar nicht von selber, die starke, groß gewachsene Bauernschaft düngt mit herbem Schweiß die gebegütige Flur, aber es gedeiht alles, Pflanze, Tier – Wein, Tabak, Obst, Gemüse, Wild im Wald und Fisch in den Flüssen und flinken Quellbächen, Vieh auf guter Weide.

Warum quillt das Edelwasser nur immer in den Gärten der Versuchung?

Es gibt ja sehr ernsthafte Kranke, die sehen die Fülle der Natur nicht, die in die kleinen, bescheidenen Gaststuben hineinwächst und dort ihre dionysischen Feste feiert. Sie heben das Glas zum Mund mit dem 28 köstlichen Sauerbrunnen, sie atmen den Duft der Wälder, der Matten, sie lernen den Geruch frisch geschnittenen Holzes kennen – es ist ein eigenartig gewürzter Milchgeruch –, sie führen ihr Leben nach dem Plan des Arztes, zählen die Bäder, wiegen sich und messen sich, beobachten das Wetter und schreiben Karten an die Familie und an das Geschäft oder in das Amt. Der Arzt weiß bei ihnen, woran er ist, er braucht die Nase nicht an ihren Mund zu heben, sie machen die Kur von acht Tagen nicht in zwei Stunden zunichte.

Der Doktor Bachroth war der begehrteste Arzt weitum. Kurgast und Bauer vertrauten auf ihn, zu jeder Stunde konnten sie ihn rufen, er fand den fernsten Bauernhof nicht zu weit weg mitten in der Nacht, wenn eine Mutter in Nöten lag oder einen alten Mann ein Schlägle erwischte, er jagte den Teufel selber durch das wüsteste Wetter zuschanden, wenn es galt, dem Tod ein Opfer abzuringen. Drum durfte der Doktor Bachroth viele Fehler haben, niemand rechnete sie ihm zur Verachtung an. Einer der Fehler war, daß er am »Goldenen Stern« nie vorbeikam, ohne einzukehren, wenn er nicht gerade nötig an ein Krankenbett mußte, am »Goldenen Stern« nicht und an anderen Schenken nicht, er kam auch nicht leicht an einem jungen Frauenzimmer vorbei, ohne wenigstens mit den Augen Wohlgefallen zu verraten.

So füllte sich an dem denkwürdigen Abend, da sich der Heiner zum erstenmal einen Rausch leistete, die Wirtsstube samt dem Nebenzimmer, wo die weißen handgewebten Leinendecken auf den Tischen lagen, mit Bauern, Kurgästen und Leuten, die eine Autospritzfahrt gemacht hatten, und der Doktor Bachroth war 29 auch auf dem Weg von Tiefenspring nach Oberspring hier hängengeblieben. Draußen spannte Sina Runz höchstselbst die vollblütige Stute aus dem Arztwägelchen, das schon den Vater des Doktors zu den Kranken geführt hatte, und der Doktor kniff die Runzin zum Dank dafür in den steinhart gemuskelten Arm. Sie waren gute Freunde, Sina Runz und Roman Bachroth. Die Sina verstand zu schweigen, wenn der Doktor einmal werktags nicht allein in den »Sternen« kam, wo es im Winter stille Zeit gab und die Brüder im Wald mit den Äxten und Sägen tobten. Der Doktor hatte nun einmal große Fehler und daheim eine zweite Frau, die nur ein Hämpfele voll Nichts war – eine »Gnädige«, die mit hohen Absätzen ins Gebirge ging.

Als Bachroth in die Wirtsstube trat, jodelte der Heiner gerade mit seiner prachtvollen Burschenstimme aus voller Brust. Der Wein wirkte schon, der junge Danner vergaß, was ihm dieser Mittag beschert hatte, das heißt, ganz innen nagte etwas heillos wie ein Tier in geheimem Gang; aber wenn er recht lustig sang und viel schwätzte, spürte er es fast gar nicht. Er sah den Bachroth wohl zur Tür hereinkommen, der Schnalzer mißriet ihm, doch schon überwand er den Schrecken durch hochmütigen Zorn. Wenn's dem auch nicht paßte, er würde weiterjodeln. Soll der Bachroth auch der Tochter erzählen: Hör mal, Bärb, dieser Heiner Danner, dem Säger seiner, das ist ein Brüller, ein leichtsinniger Bursch, sauft der Kerl sich schon Räusche an, und mir ist doch, als hab' ich ihn gestern erst der Pia zur Welt bringen helfen, als sie noch Falk hieß. Ja, diesen Makel würde er der 30 Barbara bei Gelegenheit beibringen; denn der Bachroth hatte es längst begriffen, daß zwischen ihnen etwas hin und her ging. Und dem Sägbauernsohn war die Arzttochter natürlich nicht feil.

Es fragte sich aber doch noch, ob für den Sägbauernsohn, auf den der alte Danner so stolz war – er war doch sein Vater trotz allem und der Heiner sein Ebenbild –, ob für den schönen Burschen nicht eine Bachrothsche zu gering schien, die nicht viel mehr mitbrachte als die Aussteuer. Da konnte ein Danner doch tiefer hineinlangen und eher bei einer Fabrikantentochter anfragen. Das hatte der Severin Danner schon dem Heiner angedeutet. Ein bißchen hoch griff der Vater ja schon. Auch wenn man an die Mariann dachte, Heiners herzhafte Schwester, um die der Niklaus sich schon seit seiner Einsegnung die Absätze krumm lief und die farbige Studentleskappe besonders schief setzte. Sie waren noch jung, Kinder noch, und trotzdem voller Zukunftsungeduld.

Der Doktor Bachroth lachte, als er Heiner jodeln hörte, er machte seine Sache nicht schlecht, der Junge. Dürfte jetzt besser in die Breite gehen, dachte der Arzt, viel zu schmal und rasch gewachsen ist er. Er wußte, daß es Danner gab, die eine rasche Lungenentzündung mitten aus dem Leben, aus heiterem Himmel gerissen. Siech waren sie nie, aber ans Sterben kamen sie doch überraschend schnell. Der Großvater Danner, Florian Danner, lebte zwar noch mit seinen achtzig Jahren. Also dachte der Doktor das Gegenteil von dem, was des fürwitzigen Burschen Sinne ihm unterschoben. 31

Es war Sonntag, es ging hinaus ins Jahr, draußen wehte schon Frühlingswind über Windröschen im Hespengrund, und das Wasser in den Gräben duftete nach den köstlichen Salzen der Erde. Die Nacht bog sich mit samtener Güte über das vom Winter gepeinigte Land; lange nicht mehr so gut und aus klaren Sternen lächelnd war sie zur Erde gewesen, immer verborgen in der Fremde hinter Nebeldunst und grauen Wolken. Der Doktor liebte den Frühling, diese Sonntage, wo alle Menschen vor die Türen strebten, die Kinder über die Wiesen liefen und an den Stiegen spielten, aufgehend wie süße Knospen, wo die Jungfern und Burschen glitzrige Augen hatten und so unruhige Farben im Gesicht. Dies alles machte ihn froh und mild.

Er rief zwar nicht zu dem Jungen hinüber: »Das hast du fein gemacht, Heiner.« Aber er hob sein Glas mit Waldulmer Rotem und trank ihm zu.

Heiner langte sein volles Glas und stürzte es hinunter.

»Oha«, vermahnte sich der Doktor, »das hätt' ich wissen sollen, ich alter Esel.«

Die Brüder Runz spielten einen Walzer. Drei junge Bauernpaare fegten ihn in weiten Sprüngen hin, wie er nur noch selten getanzt wurde. Dem großen, breiten Doktor machte das zu schaffen. Herrgott, das könnte ihn auch noch einmal närrisch machen, die gewichtigen viereinhalb Jahrzehnte zum Schweben zu bringen!

»Was ist, Sina, wagen wir's?«

»Warum nicht, Doktor, wenn's unsere Würde nicht verschlägt?« 32

Sina wischte die Hände an der Schürze ab und trat an wie ein Grenadier.

Franz und Xaver grinsten. Die Buben johlten Juhuhuhu, im Nebenzimmer standen die besseren Leute auf und schauten zur Tür herein. Die Bauerntänzer drückten sich an die Wand, um dem stattlichen Paar Raum zu lassen. Es blieb nicht ungelobt, daß sie göttlich tanzten, die Sina vorab, das wußte der Doktor natürlich, denn das an Schönheit unbegabte Frauenzimmer hatte Musik im Blut und galt schon immer als die beste Tänzerin weit und breit.

Als der Niklaus zum Aufbruch mahnte, hatte er im Nebenzimmer den Landjäger Meckerle in Zivil entdeckt und wußte, daß schon anderntags alle maßgebenden Persönlichkeiten in Kenntnis gesetzt waren von den »Orgien«, die der Doktor und einige Tiefenspringer Rotzlöffel im »Sternen« gefeiert hätten. Heiner ging nur unwillig mit, die anderen hatten sich französisch empfohlen, der Niklaus wäre auch gern längst daheim gewesen; denn die Nacht war nun viel zu kurz, da er um sechs Uhr schon rüsten mußte für die Schulfahrt; aber er konnte den Freund doch nicht im Stich lassen.

Heiner rief dem Doktor noch keck ein Gutnacht zu, das der jedoch nicht hörte, weil er mit einer Gesellschaft Oberspringer Bürger im Gespräch war. Dann hastete er hinaus, ohne den Vettern und der Göttel Dank und Lebwohl zu sagen. Er war doch noch so gut beisammen, um dem zweiten Kußangriff ein Schnippchen zu schlagen. Draußen aber in der sanften Nachtluft, unter der großen Ampel des Frühlingsmondes, wurde ihm ganz anders. Er riß den standhaften 33 Nikolaus mit Riesenschwüngen auf der Straße im Zickzack hinab, es ging mit ihm drunter und drüber, und der Freund hatte genug zu schwitzen, bis er den singenden, lachenden und selig schwankenden Freund im Hof der Säge hatte, woselbst sich Heiner nicht mehr weiterbringen ließ. Plötzlich erfaßte ihn der eigensinnige Wille, allein ins Haus zu gehen. »Das wäre noch schöner«, sagte er zu Niklaus, »geh heim und schau, daß dein Alter nichts merkt.« Niklaus fiel das jetzt erst ein, richtig, das könnte einen bösen Krach geben. Den mußte er dann halt in Kauf nehmen.

Heiner war, die Mariann berichtete es dem Niklaus unterm Siegel tiefster Verschwiegenheit, des Glaubens gewesen, schon in der Stube zu sein, als er erst im Hausgang stand, und hatte sich splitterfasernackt ausgezogen und auf den Gang schlafen gelegt wie im Paradies. Der Vater sei wie immer der frühste gewesen, hab' das Früchtchen liegen sehen und alles gewußt, und er habe ganz kurzen Prozeß gemacht, dem Nackedei wie in Mammekindlestagen gehörig die Rückseite verpatscht. Es seien jedoch die beiden Mägde dazugekommen, und das habe den Heiner am tiefsten beschämt. Ganz nüchtern und ohne einen Ton von sich zu geben, sei dann der Heiner in seine Kammer gerannt.

An Schlaf sei aber nicht mehr zu denken gewesen. Die Mutter sei zu ihm mit einem starken schwarzen Kaffee hineingegangen, ohne ihm einen Vorwurf zu machen, ja sie habe sogar, wie es Mariann schien, ein wenig auf den Stockzähnen gelacht.

Als der Heiner später auf der Säge stand und Bretter wegschaffte, gingen der Säger und seine Frau 34 zufällig am Waschplatz aneinander vorbei, und da sah auch der Heiner, wie die Eltern sich verstohlen anlächelten. Das traf ihn schlimmer als Schläge, die lachten über ihn, die machten sich lustig über ihn. Trotzdem getraute er sich nicht, dem Mittagstisch fernzubleiben, sondern gab sich Mühe, so auszusehen, wie wenn nichts vorgefallen wäre. Im Gegenteil, er ging mit weiten Schritten durch die Stube, laut mit den Absätzen bockelnd; die sollten ja nicht denken, daß er es nötig habe, sich zu verkriechen.

Während des Essens klingelte der Fernsprecher. Der Vater nahm den Hörer ab: »Hier Dannersäge. Danner selber. Grüß Gott, Herr Doktor! Alles im Blei. Halb so schlimm. So, so, die alten Flegel werden auch alle Tag bräver, machen heute Blauen wie immer. Wenn's noch mal vorkommt, red ich mit den Brüdern deutsch. Die Sina ist ein verrucktes Luder, die hätte ja abmahnen können, aber na ja, ein Unglück ist's nicht, und ausschlagen tut das beste Roß einmal. Wir waren auch nicht bräver. Wiedersehen, Herr Doktor!«

Die vierzehn Esser am Tisch aßen weiter, als hätten sie nichts gehört. Heiners Ohren waren aber leuchtend rot.

Der Vater ist eigentlich ein feiner Kerl, dachte er bei sich, während ihm die Suppe gar nicht den Hals hinabwollte. Er kam sich vor den Geschwistern und Dienstleuten in Schutz genommen vor, der Vater nahm den Fall nicht tragisch, das beste Roß schlägt einmal aus, das beste, hatte er zum Doktor gesagt.

Über den ersten Rausch Heiners wurde im Sägbauernhof kein Wort mehr verloren. 35

Der Vater sagte nachts in der Schlafstube zur Frau: »Der wird recht, der Heiner, nur darf man ihm jetzt nicht allzuviel freien Lauf lassen, er ist ein saftiger Kerli. Aber sorg auch, daß er was Rechtes in die Knochen kriegt, steck ihm mal zwischenhinein was zu. Er kommt mir schmal vor, das ist mir heut zum erstenmal aufgefallen.«

Pia Danner war froh über Mann und Bub; dennoch bewegte leise Sorge ihr Herz, es könne nicht immer so bleiben, daß der Mann den Heiner und der Sohn den Vater so verstände. Doch sie war so froh, daß sie es sich endlich getraute, dem Mann zu sagen, es sei wieder eines unterwegs, ja nach so vielen Jahren, einem halben Dutzend, ein neues Kind, das fünfte. Zwei vorher waren tot geboren worden. Sie hätte dieses gern wieder lebend. Ja, wie Gott will.

Der Severin Danner schwieg eine Weile, fuhr dann mit der schweren Hand so zart wie möglich über das Gesicht der Frau, spürte Tränen und brummte: »Ja, wir alten Leute sollten uns schämen, Pia, wollen hoffen, es geht gut, und du hast wieder jemand zu verwöhnen, jetzt, wo dir der Heiner so über den Kopf wächst, ein Mann schon, und die Mariann die Zöpf' schon aufsteckt wie ein Altes. Übrigens die Mariann, gehört die nicht einmal fort? Die Füße unter anderer Leute Tisch zu stecken, hat noch niemand geschadet.«

»Du bist doch immer ein kluger Bursche«, lachte die Pia leise, »kannst Gedanken lesen. Ich hätte die Mariann schon lang gern für eine Zeit los. Sie soll ja wissen, wie es mit mir ist, aber so alle Tag vor ihr herlaufen möcht ich nicht. Das ist für uns beide 36 nicht gut. Sie soll nach Straßburg zur Christine, da ist sie gut aufgehoben und lernt etwas.«

Also wurde in der Schlafstube der Eltern beschlossen, in der stillen, besinnlichen Ratsstube jeder guten Ehe, daß die Mariann zur Schwester ihrer Mutter, der stattlichen Christina Onemus, geschickt wurde, deren Mann einen Goldschmied- und Uhrenladen von gutem Ruf in Straßburg besaß. Bürgerliche Wohlhäbigkeit herrschte dort, deren sich zwei Töchter in Marianns Alter erfreuten, dralle Mädchen voller Übermut und Albernheit. Es ergab sich jedoch, daß die stattliche Christina Onemus auch Anlaß gehabt hätte, ihre Mädel fortzuschicken; denn da war gleichfalls ein Nachkömmling unterwegs.

 


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