Edward Bulwer
Paul Clifford. Zweites Bändchen
Edward Bulwer

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Eilftes Kapitel.

Ich singe keine Wunder und Paläste;
Doch sind, Natur! so arm denn an Ertrag
Für Lob des Dichters deine stillen Feste?
Wohnt in der Wahrheit hellem, frischem Tag
Kein Wesen, weckend unsres Herzens Schlag?
Ein Mädchen hatte Albert, sanft gesinnt,
Auf ihrer holden Stirne kunstlos lag
Der Locken Fülle – mild wie Engel sind
Ging sie zur Seite ihm – sie war sein einzig Kind.

Gertrude von Wyoming.

O Zeit! du hast uns schlimme Streiche gespielt, und wir segnen unsern Stern, der uns zum Romanschreiber machte, und uns jetzt das Recht der Vergeltung üben läßt. Wir überlassen Paul der Anleitung des Augustus Tomlinson und den Festlichkeiten des fröhlichen Anglers, wo er sich in allmäligem aber sicherem Fortschritt die Tugenden und den Ruhm eines vollendeten und ausgemachten Aneigners von andrer Leute Gut erwirbt; wir aber überspringen den Verfluß von Jahren mit derselben unbesorgten Eile, womit sie über unser Haupt hingeflogen, und laden unsren Leser auf einen Schauplatz ein, ganz verschieden von demjenigen, welcher sich wahrscheinlich seinen Blicken dargeboten hätte, wenn wir neuen Telemach, auf seinen Abenteuern begleiten wollten. Auch sollst Du, lieber Leser, den wir zum Schiedsrichter machen zwischen uns und den Leuten, welche nie lesen – den Critikern, Du, der Du im ächten Geist seiner Bildung uns an Orte hingefolgt bist, wo die Neuheit der Gegenstände kaum, so fürchten wir, für ihre Derbheit dich entschädigt hat, ohne Dir das Ansehen einer edeln Abigail zu geben, und, ohne wie ein Lakai über die gemeine Gesellschaft, der Du begegnet, zu schimpfen, Du sollst, lieber und freundlicher Leser, keine Ursache zu der Furcht haben, wir werden deine Geduld durch eine heillose Wiederholung derselben Scenen ermüden. Indem wir einen Augenblick stehen bleiben, um einen Blick auf die abgetheilten Gebiete unsrer Geschichte zu werfen, die wie eine Landkarte vor uns liegt, fühlen wir uns in den Stand gesetzt zu dem Versprechen, Dir in Zukunft eine Gesellschaft darzustellen, die deinen Lebensgewohnheiten verwandter ist, wo die unerrathenen Begebenheiten durch Landschaften mit reizenderer Abwechslung und durch Menschengeschlechter von glänzenderer Civilisation zu der ihnen bestimmten Bucht hinfließen.

An dem Ufer eines der schönsten Flüsse des schönen Englands, ungefähr 80 Meilen von London entfernt, steht noch ein altväterisches Gebäude, das wir Warlock Manor-Haus benennen wollen.

Es war von Backsteinen aufgeführt, unterbrochen von steinernen Gesimsen, und zum großen Theil von Efeu und Jasmin überwachsen. Um dasselbe her liegen die Trümmer des ältern Theils des Gebäudes, und diese sind der Menge und dem Maße nach ansehnlich und nach ihrer noch sichtbaren Beschaffenheit bedeutend genug, um zu bewähren, daß das Haus einst nicht ohne Ansprüche auf Pracht war. Diese Ueberbleibsel alter Größe, deren einige ihrer Jahrszahl zufolge weit vor Heinrich III. fielen, fanden in dem Karakter der Landschaft in der unmittelbaren Nachbarschaft des alten Herren-Hauses, eine entsprechende Umgebung. Eine ungeheure Strecke wüsten Landes, abwechselnd mit Waldungen gekappter alter Bäume und da und dort unregelmäßige geschlängelte Erhöhungen grüner Hügel bezeugten dem geübten Auge unwidersprechlich, daß hier ein zerstörtes Jagdgehäge oder ein Park sey, der ursprünglich einen nicht unbedeutenden Umfang mußte gehabt haben. Zu einer Seite des Hauses flacht sich der Grund gegen den Fluß hin ab und wird von einer Terrasse, welche die Hauptschönheit solcher Anlagen ausmacht, durch jene Art von Gehäge getrennt, der man den sinnreichen und treffenden Namen: Ha! Ha! gegeben hat. Wenige zerstreute Bäume von riesenhaftem Wuchs sind die einzigen Hindernisse, welche die Aussicht auf den Fluß unterbrechen, der uns oft eben an dieser Stelle mit ungewöhnlicher Ruhe und Heiterkeit hinzugleiten schien. Auf der andern Seite des Wassers ist eine Reihe Hügel, durch keine romantische Eigenschaft berühmt außer etwa dadurch, daß sie den Herden, die ihr kurzes und anscheinend ärmliches Gras abweiden, einen Wohlgeschmack zu geben geeignet sind, der den Liebhabern jenes hirtlichen Thieres ganz besonders angenehm ist, das nach seinem Tode, den Namen Mouton annimmt. Auf diesen Hügeln ist keine Spur menschlicher Ansiedlung sichtbar; und zu Zeiten, wenn kein Kahn die süße Einsamkeit des Flusses stört und der Abend gleichsam den Lärmen der Arbeit und des Lebens gestillt hat, kennen wir wenige so ganz friedliche, so ganz in Ruhe getauchte Ansichten, wie diejenige, welche das altmodisch abgezirkelte Haus und seine alterthümlichen Gartenanlagen, der milde Rasenplatz – der schweigsame und (um wahrhaft, obgleich einigermaßen unehrerbietig zu sprechen), etwas träge Fluß, sammt den ausgedehnten Hügeln, (an welche sich bekanntlich aus einfachen aber tiefen Gründen der Gedanke der Ruhe und selbst der Unbeweglichkeit so ganz besonders gerne anknüpft,) und die weißen Herden, diese friedlichsten Geschöpfe Gottes, die in weißen, wolligen Gruppen die Höhen zieren, dem Auge darbieten.

In Warlock-Haus lebte zu der Zeit, von welcher hier die Rede ist, ein Herr mit Namen Brandon. Er war Wittwer und hatte sein fünfzigstes Jahr erreicht, ohne daß ihm der Blick auf die Vergangenheit viel Kummer, oder der Gedanke an die Zukunft viel bange gemacht hätte. Mit Einem Wort, Josef Brandon war einer der sorglosen, ruhigen, gleichgültigen Menschen, bei welchen es ohne die dringendste Noth nie zum Nachdenken über irgend einen Gegenstand kommt. Er war gutmüthig, friedlich und schwach; und wenn er kein unvergleichlicher Bürger war, so war er doch wenigstens als vegetirendes Wesen musterhaft. Er war von einer sehr alten und früher sehr berühmten Familie. Seit den letzten vier oder fünf Menschenaltern jedoch hatten die Eigenthümer von Warlock-Haus allmälig zugleich an ihren Hufen Landes und an ihrem Glanz eingebüßt und hatten ihrem Ankömmling keinen höhern Rang, als den eines kleinen Squiren vom Lande hinterlassen. Einer war ein Jakobite gewesen und hatte ein halb Dutzend Pachthöfe zu Ehren Charley's über dem Wasser vertrunken; Charley über dem Wasser war keine sehr gefährliche Person, aber Charley über dem Weine war verderblicher; – der nächste Brandon war ein Fuchsjäger gewesen, und Fuchsjäger leben so stattlich wie patriotische Politiker; Pausanias erzählt uns, dieselben Leute, die wegen ihrer Liebe zum Wein am bekanntesten waren, seyen auch wegen der Vernachläßigung ihrer Angelegenheiten berüchtigt gewesen. Die Zeiten haben sich, seit Pausanias schrieb, nicht sehr verändert und die Bemerkung gilt so gut von den Engländern als sie von den Figaleern galt. Nach diesem Brandon kam Einer, der, obgleich er den Waidmann nicht verachtete, doch mehr den feinen Gentleman spielte. Er heirathete eine Erbin, die ihm natürlich darin beistand, ihn zu ruiniren; da er bei einem so angenehmen Geschäft keinen Beistand verlangte, warf er sie (vielleicht nicht absichtlich,) in einer neuen Art von Fuhrwerk um das er fahren lernte, und die gute Dame blieb todt auf dem Platze. Sie hinterließ dem feinen Gentleman zwei Söhne, Josef Brandon, den dermaligen Herrn und einen um einige Jahre jüngern Bruder. Der ältere wurde, da er eben das passende Alter hatte, in die Schule geschickt und entging so einigermaßen der Ansteckung des väterlichen Hauses. Aber der jüngere Brandon, der zur Zeit da seine Mutter starb erst das fünfte Jahr erreicht hatte, wurde zu Hause behalten.

Ob er schön, oder gescheut, oder unverschämt war, oder seinem Vater aus den Augen geschnitten, (das größte Verdienst!) wissen wir nicht; aber der Wittwer war so vernarrt in ihn, daß er ihn erst spät und mit großem Widerstreben endlich der Aufsicht einer Schule anvertraute.

Unter Schelmen, Spielern, vornehmen Herren, Gaunern und Gentlemen von der Leibwache, sammt ihren häufigen Gesellschaftern: Wächtern der Gentlemen – d. h. Baillifs, verlebte William Brandon die erste Periode seines Knabenalters. Er war ungefähr dreizehn Jahre alt, als man ihn zur Schule schickte und als ein Knabe von auffallenden Talenten brachte er die versäumte Zeit so gut herein, daß er, als er im neunzehnten Jahr die Universität bezog, hier kaum einen Cursus mitgemacht hatte, als er schon hier zwei der höchsten, für akademische Leistungen ausgesetzten Preise davon trug. Von der Universität ging er auf die große Tour, die damals für unerläßlich zur vollkommnen Bildung eines Gentleman galt; er reiste mit einem jungen Edelmann, dessen Freundschaft er auf der Universität gewonnen, blieb mehr als zwei Jahre im Ausland und ließ sich nach seiner Rückkehr als Rechtsanwalt nieder.

Mittlerweile starb sein Vater und da sein Antheil am Vermögen als eines jüngern Sohnes im buchstäblichen Sinne beinah in Nichts bestand und das Familiengut furchtbar belastet war, (denn seinem Bruder fehlte es nicht an gutem Willen, ihn zu unterstützen,) hatte er, wie man glaubte, einige Jahre mit einer sehr schwierigen und dürftigen Lage zu kämpfen. Er war jedoch während dieses Abschnitts seines Lebens von London abwesend, und wie sein Bruder glaubte, auf das Festland zurückgekehrt; zuletzt scheint es, benutzte er die Erneuerung seiner Freundschaft mit dem jungen Edelmann, der sein Begleiter im Ausland gewesen, erschien wieder in der Hauptstadt und erlangte durch seinen vornehmen Freund eine oder zwei Stellen mit ansehnlichen Einkünften; bald nachher bekam er eine Rechtssache an einem Fall, wo ein Major für seinen Mit-Offizier Mannschaft angeworben hatte, und zwar mehr zur Zufriedenheit der Gattin des Mit-Offiziers als des Offiziers selbst. Hier fand Brandons Geschicklichkeit zum erstenmal seit er seine Kunst ausübte, ein angemessenes Feld; sein Ruf schien auf Einmal gemacht, er machte reißende Fortschritte in seiner Praxis und zu der Zeit wovon wir sprechen, segelte er mit dem vollen Strome des Ruhms und Reichthums, war der Gegenstand des Neids und das Orakel aller jungen Studenten des Rechts und der Anwälte, die vor zehn Jahren selbst dem Hungertod nahe, jetzt auf die Möglichkeit zu spekuliren begannen, ihre Clienten am Hungertuch nagen zu machen. Gleich zu Anfang seiner Laufbahn hatte er durch die Verwendung des obgemeldeten Edelmanns einen Sitz im Hause der Gemeinen erlangt und obgleich seine Beredsamkeit von einer Art war, wie sie mehr für die Gerichtsschranken, als für den Senat paßt: hatte er sich doch auch in letzterer Hinsicht einen bedeutenden Namen gemacht; und von vielen wurde ihm das glänzende Glück des gewandten Mansfield profezeiht – eines großen Mannes, dessen politische Grundsätze und abgeschliffene Artigkeit sich Brandon vorzugsweise in seinem Streben zum Muster soll gewählt haben.

Ein Mann von fleckenloser Unbescholtenheit im öffentlichen Leben – denn da er alles Mögliche was einmal da war, mit unbiegsamer Schärfe vertheidigte, konnte man ihn keines Mangels an Folgerichtigkeit anklagen – war William Brandon auch, wie schon an einem andern Orte von schlimmem Andenken für unsern Helden erwähnt wurde, in seinem Privatleben, als der ehrenhafteste, sittlichste und selbst strengste Mann geschätzt, und der Ruf seiner ernsten Herbigkeit in dieser Hinsicht, verbunden mit dem blendenden Schimmer seiner Beredsamkeit und seiner gewaltigen Kraft bei den Gerichtsverhandlungen hatten in hohem Grade den Groll partheisüchtiger Feindseligkeit entkräftet und die öffentliche Meinung wies ihm wegen seiner Tugenden beinahe eine eben so hohe und beneidenswerthe Stelle an, als wegen seiner Geschicklichkeit.

Während so William eine ruhm- und ehrenvolle Laufbahn einschlug, hatte sein älterer Bruder, der in die Familie eines Geistlichen geheirathet, bald aber seine Gattin verloren hatte, mit seinem einzigen Kind, eine Tochter, Lucie genannt, das Haus seiner Väter in ungestörter Zurückgezogenheit bewohnt. Der unwürdige Charakter und Lebensweise der frühern Herrn von Warlock, wodurch ihr Ansehen in der Grafschaft eben so heruntergebracht, als ihre Habe geschmälert worden war, hatten den umherwohnenden Adel wenig begierig nach vertrauterer Bekanntschaft mit dem jetzigen Besitzer gemacht, und die schwerfällige Gemüthsart und das verschlossene Benehmen Josef Brandons waren nicht geeignet, die Fehler seiner Vorfahren wieder auszugleichen, oder den Namen Brandon in seine frühere Beliebtheit und Achtung wieder einzusetzen. Obwohl stumpfsinnig und ungebildet, war der Squire doch nicht ohne seinen eignen Stolz; er suchte sich nicht aufzudrängen, wo er unwillkommen war, vermied Zusammenkünfte und Bälle in der Grafschaft, schmauchte seine Pfeife mit dem Pfarrer, nicht selten auch mit dem Chirurgen und dem Sachwalter, und ließ seine Tochter Lucie mit Hülfe der Frau des Pfarrers sich selbst erziehen, und, wobei sie von der Natur mehr, als der Kunst begünstigt wurde, zum hübschesten Mädchen heran reifen, dessen die ganze Grafschaft, gerne sagten wir das ganze Land, sich damals rühmen konnte. Nie warf der Spiegel ein lieblicheres Bild zurück, als das von Lucie Brandon in ihrem neunzehnten Jahre. Ihr kastanienbraunes Haar fiel im üppigsten Reichthum über eine immer faltenlose Stirne und eine Wange wo das Blut nie schlief; mit jedem Augenblicke wechselte die Farbe und mit jedem Wechsel schien diese sanfte, reine, jungfräuliche Wange holdseliger als zuvor. Sie hatte die anmuthigste Art zu lachen, die sich ein Liebhaber der Musik nur denken mag; silberhell, nicht laut, und doch so freudig! alle ihre Bewegungen schienen, wie der alte Pfarrer sagte, mit ihrem Lachen Takt zu halten; denn Fröhlichkeit war ein Hauptzug ihres schuldlosen kindlichen Gemüths; und doch war ihre Fröhlichkeit weiblich, nie ausgelassen und glich nie der der jungen Damen, welche in den Highgate-Bildungsanstalten die letzte Vollendung erhalten haben. Alles Fröhliche sprach sie an, und Alles auf Einmal – Gesang, Blumen, Sonnenschein, Schmetterlinge. Unähnlich den gewöhnlichen Heldinnen, schrie sie sehr selten auf und sah nichts Reizendes daran, Grillen zu haben. Aber nie sah sie so schön aus, wie im Schlafe! und wenn der leichte Athem aus den gespaltenen Lippen wehte und die elfenbeinernen Lieder sich über den Augen zuschlossen, die nur im Schlummer schwiegen, und ihre ganze Gestalt im Schlafe die unaussprechliche Anmuth annahm, die nur der Kindheit oder der ersten frischen Jugend eignet, in welche die Kindheit verschmilzt, dann war sie, wie man sich etwa ein schlummerndes Gretchen vorstellen mag, ehe dieses einfachste edelste Dichtergebild von Weiblichkeit den Faust gesehen hatte und ein Traum von Liebe ihren Schlummer störte.

Von Luciens geistiger Ausbildung können wir nicht viel sagen; sie konnte, Dank des Pfarrers Frau, leidlich gut lesen und schrieb eine erträgliche Hand, sie machte eingemachte Früchte und bisweilen Räthsel; – es war schwerer die Trefflichkeit jener in Frage zu stellen, als die Aufgaben der letztern zu beantworten. Sie arbeitete zur Verwunderung Aller derer, die sie kannten und wir bitten um Erlaubnis sagen zu dürfen, daß wir das für eine gar schöne Sache bei den Frauen halten. Sie machte sich selbst Hauben, und Röcke für die Armen und dann und wann widmete sie sich dem mehr schöngeistigen Geschäft der Lektüre einer verirrten Novelle, die in das Herrenhaus den Weg gefunden, oder eines Abschnitts der alten Geschichte, wo Alles außer den Namen fehlen mochte. Zu diesen Geschicklichkeiten fügte sie noch eine mäßige Fertigkeit auf dem Spinett und die Kunst alte Lieder mit der reichsten und süßesten Stimme zu singen, die je Augen feucht gemacht, oder ein Herz in unruhige Bewegung gesetzt hat.

Die Eigenschaften ihres Gemüths waren vollständiger entwickelt, als die ihres Geistes. Sie war das gütigste menschliche Wesen; selbst der Hund, der sie nie zuvor gesehen hatte, erkannte diese Wahrheit auf den ersten Blick und säumte nicht, ihre Bekanntschaft zu machen. Ihre Herzensgüte thronte wie Sonnenschein auf ihrem Angesicht und die alte Frau im Wachthäuschen sagte poetisch und wahr von dem Eindruck den es machte: es werde Einem warm, wenn man sie ansehe. Könnten wir die Schilderung eines gewissen fröstelnden Tons entkleiden, so möchten folgende treffliche Verse eines vergessenen Dichters die Reinheit und den Glanz ihrer Miene am besten ausdrücken:

Ihr Antlitz war der Milchstraß' gleich am Himmel,
Ein Meer von holden namenlosen Lichtern.

Umgeben war sie von Lieblingen aller Art, schönen und häßlichen; von Ralf dem Raben bis zu Schönvogel dem Fasanen, und von Rob dem Schäferhund bis zu Beau, dem Windhund mit blauen Bändern um den Hals, liebten sie alle Wesen und sie liebte auch alle. Es schien damals zweifelhaft, ob sie je hinlängliche Gesetztheit und Stärke des Charakters bekommen werde. Ihre Schönheit und ihr Charakter erschienen gleicherweise so wesentlich durch ihr Geschlecht bedingt, so sanft und doch lebhaft, so schwebend und doch zutraulich, daß man kaum in sie jenes moralische Vertrauen setzen konnte, wie in einen minder lieblichen, aber weniger weiblich nachgiebigen Charakter. Der Zeit jedoch und den Umständen, die oft ein Gemüth verändern und stählen, blieb die Entscheidung vorbehalten, ob ihr inneres Wesen nicht noch geheime bisher unentdeckte Eigenschaften besaß. So schön war Lucie im Jahre – –, und in diesem Jahre an einem reizenden Herbstabend führen wir sie zum erstenmal in Person unsern Lesern vor. Sie saß auf einer Gartenbank am Flusse mit ihrem Vater, der nachdenklich die Abendzeitung von einer frühern Woche studirte und die alten Neuigkeiten ernsthaft mit den Eingebungen des Krautes würzte, das so bitter die königliche Entrüstung unsers britischen Salomo erregte. Zum Unglück für uns besaß der Squire Brandon so wenig unterscheidende Eigenthümlichkeiten in seinem geistigen Wesen, – denn Sonderbarkeiten im Aeußern vertragen sich kaum nur mit der Würde, welche die Comödie, sey's in dramatischer oder erzählender Form, anstrebt – daß er seinem Abzeichner wenig darbietet, um ihn kenntlich zu machen, außer einer verworrenen und verschrobenen Redeweise, vermöge welcher er oft Solchen, welchen nicht lange Erfahrung oder genaue Aufmerksamkeit zu Statten kam, gerade das und dazu noch auf eine spaßhafte Art zu sagen schien was er nicht zu behaupten beabsichtigte.

»Ich sage, Lucie,« bemerkte Herr Brandon, doch ohne das Auge von dem Zeitungsblatt zu erheben, »ich sage, das Korn ist gefallen. – Denk daran, Mädchen, denk daran. Diese Zeiten, nach meiner Meinung (ja und nach der Meinung klügerer Köpfe als ich bin, obwohl ich damit nicht sagen will, daß ich in diesen Sachen nicht einige Erfahrung habe, was mehr ist, als von allen unsern Nachbarn sich sagen läßt), sind sehr sonderbar, und selbst gefährlich.«

»In der That, Papa!« antwortete Lucie.

»Und ich sage, Lucie, Kind!« hob der Squire nach einer kleinen Pause wieder an: »Es ist auch (und um so auffallender, wenn man die starkbevölkerten Umgebungen bedenkt – Gott schütze mich, was sind das für Zeiten!) ein gräßlicher Mord begangen worden (der Tabackstopfer! da ist er!) denk, du weißt, Mädchen, gerade bei Epping! ein alter Gentleman!«

»Gott! wie schrecklich! von Wem?«

»Ja, das ist die Frage! der Coroner hat (welch' eine Wohlthat ist es in einem civilisirten Lande zu leben, wo ein Mensch nicht stirbt, ohne zu wissen warum und wozu) den Leichnam besichtigt und erklärt, (es ist sehr sonderbar, aber sie scheinen nicht viel Entdeckungen gemacht zu haben; denn so viel war uns zuvor schon bekannt) daß der Todte (man fand ihn auf der Flur, Lucie) ermordet gefunden worden sey; der oder die Mörder (in dem Schreibpult das man aufbrach, fand man das Geld ganz unberührt) sind unbekannt!«

Hier entstand wieder eine kleine Pause und auf eine andere Seite der Zeitung übergehend, begann Herr Brandon in lebhafterem Tone: »Ha! gut, das ist hübsch! aber er ist ein verhenkert gescheuter Bursche, Lucie! dieser mein Bruder hat (und auf sehr ehrenvolle Weise dazu, die auf die Familie, dessen bin ich gewiß, das glänzendste Licht wirft, obgleich er neuerlich sich wenig um mich bekümmert hat, ein Umstand über den ich, in Betracht daß ich der ältere Bruder bin, etwas ungehalten bin) sich durch eine Rede hervorgethan, die, wie das Blatt sagt, durch die große Gesetz-Kenntniß (beiläufig, ich bin begierig ob mir William das Pferch-Geld herausschlagen konnte! es ist ärgerlich so etwas zu verlieren; aber den Rechtsweg betreten, das heißt, wie mein seliger Vater zu sagen pflegte, nach Grundeln [kein übler kleiner Fisch! wir könnten auch einmal zum Nachtessen haben] mit Guineen angeln,) so wie durch glänzende und hinreißende (ich liebe William, weil er die Familienehre aufrecht erhält; ich bin überzeugt, er thut es mehr als ich, leider! gethan habe) Beredsamkeit.«

»Und worüber hat er denn gesprochen, Papa?«

»O über einen wichtigen Gegenstand; was man eine (es ist erstaunlich, daß man in diesem Lande so darauf aus ist, den Charakter der Leute anzutasten, was mir für meinen Theil nicht um einen Deut unterhaltender wäre, als deine fortwährende Beschäftigung da, wenn Du mit den einfältigen Vögeln spielst) Schmähschrift nennt.«

»Aber kommt mein Oheim nicht hieher uns zu besuchen? Er versprach es uns und es machte Sie, Papa, zwei Tage lang ganz glücklich. Ich hoffe, er wird Sie nicht täuschen, und ich bin gewiß es ist nicht seine Schuld, wenn er einmal Sie zu vernachlässigen scheint. Er redete mit mir, als ich ihn sah, von Ihnen aufs Freundlichste und Zärtlichste. Ich, denke, mein theurer Vater, er liebt Sie sehr!«

»Je nun,« sagte der Squire, offenbar geschmeichelt, aber doch nicht überzeugt. »Mein Bruder Will ist ein gar feiner Bursch und ich habe, mein liebes kleines Mädchen, keinen Anstand, als daß, (wenn Du die Welt so kennen gelernt hast wie ich, wirst Du auch argwöhnisch werden!) er dachte, ein gutes Wort über mich, meiner Tochter gesagt, würde (Du siehst, Lucie, ich bin so scharfsichtig wie meine Nachbarn, obgleich ich mir nicht ihre wichtige Miene gebe; was ich ganz wohl thun könnte, in Betracht, daß mein Groß-Groß-Ur-Elter-Vater Hugo Brandon bei der Entdeckung der Pulververschwörung mitwirkte,) mir wieder zu Ohren kommen.«

»Ja, aber ich bin ganz gewiß, daß mein Oheim nie in dieser Absicht mir von Ihnen sprach.«

»Möglich, mein liebes Kind; aber wann (die Abende werden jetzt viel kürzer als sie waren,) sprachst Du mit deinem Oheim von mir?«

»O, als ich mit Mrs. Warner in London war, sicherlich sind es 6 Jahre her, aber ich erinnere mich dessen genau. Ich erinnere mich namentlich, daß er von Ihnen sehr rühmlich mit Lord Mauleverer sprach, der an einem Abend, als ich dort war, bei ihm speiste und wo mein Oheim so gütig war, mich ins Theater zu führen. Es that mir nachher sehr leid, daß er so gut gewesen, denn er verlor, (Sie erinnern sich wohl, daß ich Ihnen die Geschichte erzählte,) eine sehr kostbare Uhr.«

»Ja, ja, ich erinnere mich Alles dessen wohl, und so (wie lange währt doch die Freundschaft mit gewissen Leuten!) speiste also Lord Mauleverer damals mit William! welch eine schöne Sache ist es für einen Mann, (es ist aber etwas das ich in meinem Leben nicht that, fürwahr! ich bin gerne was man nennt: der Hahn auf dem Miste – laß mich sehen, jetzt besinn' ich mich, Pillum kommt heute Abend zu einem Brettspiel,) mit einem großen Mann schon frühe (aber bei Will war es nicht so gar frühe, der arme Bursche! er hatte zuerst mit vielen Sorgen und Mühseligkeiten zu kämpfen Freundschaft zu schließen. Es ist jetzt viele Jahre, daß Will Ein Herz und eine Seele mit dem (er hat etwas Zieräffiges an sich) Lord Mauleverer ist; was denkst Du von seiner Lordschaft?«

»Von Lord Mauleverer? Wahrhaftig ich betrachtete ihn kaum, aber er schien mir ein hübscher Mann und war sehr artig. Mrs. Warner sagte, er sey als jung ein sehr schlimmer Mensch gewesen, aber jetzt scheint er ziemlich gutmüthig, Papa!«

»Beiläufig,« sagte der Squire, »seine Lordschaft ist so eben (dieß neue Ministerium scheint dem alten sehr unähnlich zu seyn, was mich in einige Verlegenheit bringt; denn ich halte es für meine Schuldigkeit, siehst Du, Lucie, immer für die Regierung seiner Majestät zu stimmen; besonders wenn ich bedenke, daß Hugo Brandon bei Entdeckung der Pulververschwörung mitwirkte, und es ist wenigstens ein Bischen widerwärtig, wenn man das jetzt für gut halten soll, was man vorher immer für abscheulich hielt,) zum Lordstatthalter der Grafschaft ernannt worden.«

»Lord Mauleverer unser Lordstatthalter?«

»Ja, Kind, und da seine Lordschaft ein so großer Freund von meinem Bruder ist, sollte ich meinen, in Betracht besonders, welch eine alte Familie in der Grafschaft wir sind, – nicht daß ich wünschte mich einzudrängen, wo ich nicht für eben so vornehm gelte als die Andern, er werde gegen uns aufmerksamer seyn, als Lord – – es war; aber das, meine liebe Lucie, erinnert mich an Pillum, und so gingst Du vielleicht gerne zu dem Pfarrer, da es ein hübscher Abend ist. John soll Dich dann um 9 Uhr abholen mit (der Mond ist da noch nicht aufgegangen) der Laterne.«

Auf seiner Tochter gefälligen Arm gestützt, erhob sich der gute alte Mann und wandelte heim; und Lucie, so bald sie seinen Armsessel herbeigerollt, das Brettspiel auf den Tisch gestellt, und dem alten Herrn einen leichten Sieg über seinen erwarteten Gegner, den Apotheker, gewünscht hatte, band sie ihre Haube fest und begab sich in das Pfarrhaus.

Als sie in der geistlichen Wohnung ankam und in das Gesellschaftzimmer trat, war sie überrascht, die Frau des Pfarrers, eine gute, einfache, schläfrige, alte Dame, dem Anschein nach in großer Aufregung auf sich losstürzen zu sehen, indem sie rief:

»O meine liebe Miß Brandon! welchen Weg kommen Sie? Ist Ihnen auf der Straße Niemand begegnet! O ich bin so erschreckt, dieser Zufall, dem armen lieben Doktor Slopperton begegnet! Auf der königlichen Landstraße angehalten, das Zehntgeld ihm geraubt, das er eben vom Pachter Slowforth empfangen hatte; wäre nicht dieser theure Engel, der gute junge Mann gewesen: Gott allein weiß, ob ich jetzt nicht schon eine trostlose Wittwe wäre.«

»Während die erschütterte Matrone so sich ausschüttete, entdeckte Luciens durch das Zimmer schweifendes Auge in einem Armsessel die runde und ölichte kleine Person des Doktor Slopperton, mit einem Antlitz, auf welchem alle Lebensfarbe, ausgenommen einen ringförmigen Abschnitt um die Nase, welche gleich der letzten Rose des Sommers in ihrer Blüthe unversehrt geblieben war, zur jämmerlichsten Blässe verblichen war; der kleine Mann versuchte ein Lächeln heraufzubeschwören, während seine Frau sein Mißgeschick erzählte und einige gleichgültige Worte herzustammeln; aber mit all seiner erkünstelten Mannhaftigkeit sah er so verstört aus, daß Lucie wider ihren Willen in ein unzeitiges Gelächter ausgebrochen wäre, hätte nicht ihr Auge auf die Gestalt eines jungen Mannes sich geheftet, der neben dem hochwürdigen Herrn gesessen hatte, der aber bei Luciens Eintritt aufgestanden war, und sie aufmerksam, aber mit sehr ehrfurchtsvoller Miene betrachtete. Tief und unwillkührlich erröthend wandte sie das Auge hastig weg, näherte sich dem guten Doktor und erkundigte sich nach dem gegenwärtigen Zustand seiner Nerven in einem ernsteren Tone, als sie noch vor einer Minute sich zugetraut hätte, in ihrer Gewalt zu haben.

»Ach mein gutes junges Fräulein!« sagte der Doktor, indem er ihr die Hand drückte: »Ich, ja ich darf sagen, die Kirche, denn bin ich nicht ihr Diener? schwebte in großer Gefahr; aber dieser treffliche Herr verhütete den Frevel am Heiligen, wenigstens großentheils. Ich verlor nur einiges von meinen Einkünften – meinen rechtmäßigen Einkünften – wofür ich mich mit dem Gedanken tröste, daß der ruchlose und verworfene Bösewicht später dafür büßen wird.«

»Darüber kann nicht der mindeste Zweifel statt finden,« sagte der junge Mann; »hätte er nur den Postwagen geplündert, oder wäre er in das Haus eines Gentleman eingebrochen, so könnte das Verbrechen noch gesühnt werden; aber einen Geistlichen, einen Rektor noch dazu, ausplündern! O der tempelräuberische Hund!«

»Eure Wärme ehrt Euch, Sir,« sagte der Doktor, der sich jetzt zu erholen anfing, »und ich bin sehr stolz darauf, die Bekanntschaft eines Gentleman von so religiösen Gesinnungen gemacht zu haben.«

»Ach!« rief der Fremde, »meine Schwäche, Sir, wenn ich so sagen darf ist eine Art von enthusiastischem Eifer für die protestantische Kirchen-Einrichtung. Ja, Sir, ich gehe nie durch das Schiff einer Kirche, ohne eine unbeschreibliche Rührung zu empfinden, eine Art von Sympathie gleich mit – mit – Ihr versteht mich, Sir, ich fürchte mich unrecht auszudrücken.«

»Durchaus nicht, durchaus nicht!« rief der Doktor. »Solche Gesinnungen sind selten bei solcher Jugend.«

»Sir, ich lernte sie schon frühe bei meinem Freund und Lehrer, Herr Mac Grawler, und ich hoffe bis zu meinem Todestag dabei zu beharren.«

Hier trat des Doktors Diener ein und brachte den Thee-Apparat und Mrs. Slopperton, die jetzt die Oberaufsicht über denselben übernahm, erkundigte sich mit mehr Fassung, als ihr Benehmen bisher gezeigt hatte, welchem Geschöpfe denn der Spitzbube gleichgesehen habe? »Ich will Dir's erzählen, meine Liebe, ich will es Ihnen erzählen Miß Lucie, den ganzen Hergang. Ich ging von Herr Slowforth, mit dem Geld von ihm in der Tasche, nach Hause, und dachte daran, Dir, meine Liebe, das Topas-Kreuz zu kaufen, das Du dir wünschest.«

»Lieber, guter Mann!« rief Mrs. Slopperton, »welch ein böser Feind muß es gewesen seyn, der ein so treffliches Wesen plünderte!«

»Und,« fuhr der Doktor fort, »es fiel mir auch ein, daß der Madera auf die Neige geht – den Madera mit dem rothen Siegel mein ich, und ich dachte es würde kein Fehler seyn, einen Theil des Gelds zum Ankauf von frischen sechs Dutzenden zu verwenden; und den Rest, meine Liebe, ungefähr ein Pfund und achtzehn Schillinge könnte ich, so dacht' ich, vertheilen – denn wer den Armen giebt, leiht dem Herrn, – unter die dreißig armen Familien der Gemeinde, das heißt, wenn sie sich gut hielten, und die Aepfel im Hintergarten nicht frevelhaft gestohlen würden.«

»Vortrefflicher, menschenfreundlicher Mann!« unterbrach ihn Mrs. Slopperton.

»Während ich so nachdachte, hub ich meine Augen auf und sah zwei Männer vor mir – der eine von erstaunlicher Größe mit einem großen Haarreichthum um die Schultern; der andere war kleiner und trug den Hut ins Gesicht gedrückt; es war ein sehr großer Hut. Meine Aufmerksamkeit wurde durch das Haar des großen Mannes gefesselt und während ich über dessen Fülle lächelte, hörte ich ihn zu seinem Begleiter sagen: »Nun Augustus, da Ihr so ein moralischer Hund seyd – er ist in Eurem Strich, nicht in meinem, und so überlasse ich ihn Euch!« Ich ließ mir nicht träumen, daß diese Worte mich angehen könnten. Sobald sie ausgesprochen waren, sprang der große Spitzbube über einen Zaun und verschwand; der andere Kerl ging auf mich zu, fragte mich sehr sanft um den Weg zur Kirche, und als ich ihm auseinander setzte, er müsse sich zuerst rechts und dann links schlagen und so fort, denn der beste Weg hat, wie Ihr wißt, außerordentlich viele Krümmungen, faßte mich der heuchlerische Schurke beim Kragen und rief: Euer Geld oder euer Leben! Ich versichere Euch, in meinem Leben zitterte ich nicht so, und das, meine liebe Miß Lucie, nicht sowohl um meinetwillen, als wegen der dreißig armen Familien in der Gemeinde, deren Noth ich zu erleichtern im Sinn gehabt hatte. Ich lieferte, da ich fand, daß Bitten und Einwendungen umsonst waren, mein Geld aus, und dann sagte der Hund, indem er einen mächtigen Knittel über meinem Haupte schwang; – Welch eine abscheuliche Sprache! – »ich denke, Doktor! ich will einem Daseyn ein Ende machen, das Euch selbst nachtheilig und Andern nutzlos ist.«

In diesem Augenblick sprang der junge Herr neben mir über denselben Zaun, über welchen der Schelm verschwunden war, und schrie: Halt Schurke! Beim Anblick meines Erlösers stutzte die Memme und eilte in ein nahes Gehölz. Der gute, junge Gentleman verfolgte ihn einige Minuten; aber dann kehrte er, um mich zu unterstützen, um, und führte mich nach Hause. Und wie wir in der Schule zu sagen pflegten:

Te rediisse incolumem gaudeo;

was verdollmetscht so viel heißt – (Sir, verzeihen Sie ein Wortspiel, ich bin versichert, ein so warmer Freund der Kirche versteht Latein,) daß ich sehr froh bin, mit heiler Haut zu meinem Thee zurück zu kehren. He, He! Und nun, Miß Lucie, müssen Sie dem jungen Herrn danken, das er Ihrem geistlichen Lehrer das Leben gerettet, eine That, deren sicherlich am großen Gerichtstag gedacht werden wird!

Als Lucie gegen den Fremden gewendet, ihm irgend eine Artigkeit sagte, bemerkte sie ein flüchtiges und gleichsam verdecktes Lächeln in seinem Angesicht, welches unverzüglich, wie durch Sympathie, ein solches auch bei ihr hervorrief. Der Held des Abenteuers jedoch erwiederte ihr Compliment in sehr ernstem Tone und unter einer tiefen Verbeugung:

»Sprechen Sie nicht davon, Fräulein. Ich wäre des Namen eines Britten und eines Mannes nicht werth, wenn ich über die Straße gehen könnte, ohne einem Mitgeschöpf in seiner Noth beizuspringen oder seine Bürde zu erleichtern. Und,« fuhr der Fremde nach einer augenblicklichen Pause fort, unter dem Sprechen erröthend, und schloß mit der schwülstigen, damals üblichen Galanterie: »mich dünkt, es wäre eine hinreichende Belohnung, hätte ich die Kirche selbst, statt eines der kostbarsten Glieder gerettet, den Dank von einer Dame zu empfangen, die ich mit Recht für eines der himmlischen Wesen ansehen könnte, deren Obhut, wie ein frommer Glaube uns lehrt, die Kirche ausdrücklich übergeben ist.«

Mochte auch dieses übertriebene Compliment, zumal in seiner Verbindung mit Doktor Sloppertons Rettung, in der That lächerlich seyn in dem Munde eines Mannes, den Lucie für den schönsten hielt, der ihr je vor Augen gekommen, dünkte es sie nichts weniger als abgeschmackt, und noch lange nachher bebte ihr Herz vor Freude, wenn sie sich erinnerte, daß die Wange des Redenden unter seinem Sprechen geglüht und seine Stimme gezittert habe.

Das Gespräch lenkte sich jetzt von Räubern im Besondern ab und blieb bei Räubereien überhaupt stehen. Es war erbaulich, die tugendhafte Entrüstung zu sehen, womit der Fremde von den zügellosen Freibeutern redete, von welchen das Land, in den Zeiten der Makheath's, beunruhigt wurde.

»Ein Pack schändlicher Spitzbuben!« sagte er zornglühend, »welche ihre Unthaten durch das Beispiel ehrlicher Leute zu rechtfertigen suchen, und die behaupten: sie thuen nicht mehr als Anwälte und Aerzte, Soldaten, Geistliche und Minister. Erbärmliche Täuschung, oder vielmehr: schamlose Heuchelei«

»Das kommt Alles von der Erziehung der Armen,« sagte der Doktor. »Sobald sie sich heraus nehmen, die Handlungsweise von Leuten die mehr sind als sie, zu beurtheilen, ist es mit aller Ordnung aus. Sie sehen nichts Heiliges mehr an den Gesetzen, obgleich wir die Hunde rasch weg aufknüpfen; und selbst die Peers des Landes, geistliche und weltliche, hören auf, ihnen ehrwürdig zu erscheinen.«

»Da von Peers die Rede ist,« sagte Mrs. Slopperton, »ich höre Lord Mauleverer soll heute Nacht diese Straße kommen auf dem Weg nach Mauleverer-Park. Kennen Sie seine Lordschaft, Miß Lucie? Er ist mit ihrem Oheim sehr vertraut.« »Ich habe ihn nur Einmal gesehen,« antwortete Lucie.

»Sind Sie dessen gewiß, daß seine Lordschaft auf dieser Straße kommt?« fragte der Fremde nachläßig, »ich hörte diesen Morgen etwas davon, wußte aber nicht, daß es ausgemachte Sache sey.«

»O ganz gewiß!« versetzte Mrs. Slopperton. »Der Kammerdiener seiner Lordschaft bestellte Postpferde für seine Lordschaft in Wyburn, ungefähr drei Meilen jenseits vom Dorfe, auf 10 Uhr Nachts. Seine Lordschaft ist gar ungeduldig bei Verzögerungen.«

»Bitte,« sagte der Doktor, der dieser Wendung des Gesprächs wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und jetzt mit gastlichen Sorgen beschäftigt war: »Bitte, Sir, wenn es nicht unbescheiden ist, sind Sie auf Besuch oder ansäßig in der Nachbarschaft, oder wollen Sie bei uns ein Bett annehmen?«

»Sie sind ausnehmend gütig, mein lieber Herr, aber ich fürchte, ich muß ihnen bald guten Abend wünschen. Ich habe nach einem kleinen Gut zu sehen, das ich einige Meilen von hier besitze und das mich auch in diesen Theil der Welt geführt hat.«

»Gut! – in welcher Richtung, Sir, wenn ich fragen darf?« sagte der Doktor, »ich kenne das Land auf Meilen weit.«

»So kennen Sie es, in der That? Wo mein Gut sey, fragen Sie! »Nun, es ist ziemlich schwer zu beschreiben und ist überhaupt nur eine Kleinigkeit; es ist nur ein Stück Gemein-Land neben der Landstraße, und ich kam her um einen Besuch zu wagen, es einzuzäunen und trocken zu legen!«

»Ein guter Plan, wenn man Capital hat und nicht eine rasche Ernte verlangt.«

»Ja! aber man hat doch gern gute Zinsen, wenn man so viel aufs Spiel seht und eine rasche Ernte ist immer wünschenswerth, obgleich es freilich oft mit Gefahr verbunden ist.«

»Ich hoffe, Sir,« sagte der Doktor, »da sie uns so bald verlassen müssen, Ihr Gut wird Sie oft in unsre Nachbarschaft bringen.«

»Sie überwältigen mich mit so viel unerwarteter Güte,« antwortete der Fremde. »Aufrichtig gesprochen: nichts kann mir größeres Vergnügen machen, als mit denjenigen wieder zusammenzukommen, die mir einmal eine Verpflichtung auferlegt haben!«

»Vielmehr, welchen Sie Verpflichtungen auferlegt haben,« rief Mrs. Slopperton und setzte, Lucien laut ins Ohr flüsternd, hinzu: »Wie bescheiden! Aber so ist es immer beim wahren Muth!«

»Ich versichere Sie, Madame,« erwiederte der wohlwollende Fremde, »daß ich nie zweimal an die kleinen Gefälligkeiten denke, die ich meinen Mitgeschöpfen erweise; meine Hoffnung ist nur, Sie werden eben so leicht vergessen, wie ich.«

Bezaubert von einer so unerkünstelten, natürlichen Gutmüthigkeit stimmten jetzt der Doktor und Mrs. Slopperton eine Art von Duett zum Preise ihres Gastes an; nachdem er ihre Lobsprüche und Complimente einige Minuten lang mit ablehnenden und schüchternen Geberden ertragen hatte, schien endlich dem Fremden in seiner Bescheidenheit dieses Uebermaß von Dankbarkeit peinlich zu werden; er wies also auf die Uhr, welche bald 9 Uhr anzeigte und faßte:

»Ich denke, mein geehrter Wirth und meine bewunderte Wirthin, ich muß Sie jetzt verlassen. Ich habe weit zu gehen.«

»Aber fürchten Sie sich nicht vor den Landstraßen-Rittern?« rief Mrs. Slopperton ihn unterbrechend.

»Den Landstraßen-Rittern?« sagte der Fremde lächelnd. »Nein! die fürchte ich nicht, und zudem hab' ich Wenig was des Raubens werth wäre.«

»Bewirthschaften Sie Ihr Gut selbst?« sagte der Doktor, der seinen Landsitz verpachtete und abgeneigt, sich von einem so angenehmen Gast zu trennen, ihn beim Knopf festhielt.

»Selbst bewirthschaften? nein nicht eigentlich. Es ist da ein Bailiff, dessen Ansichten nicht mit den meinigen zusammenstimmen, und der mir dann und wann viel Unlust macht.«

»Warum geben Sie ihm dann nicht sogleich den Abschied?«

»Ach, ich wollte es ließe sich thun! aber es ist ein notwendiges Uebel. Wir Landeigenthümer, mein lieber Herr, müssen immer von etwas der Art heimgesucht werden. Ich für meinen Theil habe gefunden, diese verdammten Bailiffs rafften gern all die kleinen Besitzthümer auf, die man sich zu sammeln gesucht hat. Aber,« und hier nahm sein Betragen auf Einmal eine große Sanftheit an, »dürfte ich wohl meine Dienste und meine Begleitung der jungen Dame anbieten? Wollte Sie mir erlauben, sie nach Haus zu begleiten und diesen Tag dadurch meinem Gedächtniß als einen der wonnevollsten, die ich erlebt, einprägen?«

»Dank Ihnen, lieber Herr« sagte Mrs. Slopperton, indem sie für Lucie antwortete, »es ist sehr vorsorgend von Ihnen und wahrhaftig, meine Liebe, ich könnte nicht daran denken, Sie nach einem solchen Abenteuer, wie es dem guten alten Doktor begegnet, mit dem alten John allein heimgehen zu lassen.«

Lucie fing eine Entschuldigung an, welche die gute Frau nicht hören wollte. Aber da der Diener, welchen Herr Brandon mit der Laterne schicken sollte um seine Tochter nach Haus zu begleiten, noch nicht eingetroffen war, und Mis. Slopperton, trotz ihres günstigen Vorurtheils für den Retter ihres Gemahls, doch nicht einen Augenblick daran dachte, daß er ohne eine weitere Begleitung ihrer jungen Freundin zu dieser unheimlichen Stunde über Feld Gesellschaft leisten könne: sah sich der Fremde genöthigt, für jetzt sich wieder zu setzen; ein offenes Klavier in der Ecke des Zimmers gab ihm Veranlassung zu einer Bemerkung über die Musik; dieß führte eine Lobrede auf Luciens Stimme von Seiten der Mrs. Slopperton herbei und das Ende derselben war nothwendigerweise eine Bitte an Miß Brandon den Fremden mit einem Gesang zu erfreuen. Nie hatte Lucie, die kein schüchternes Mädchen war, – sie war zu unschuldig um verschämt zu seyn, – bisher sich beklemmt gefühlt, wenn sie vor einem Fremden singen sollte; aber jetzt zauderte und bebte sie und durchlief eine ganze Reihe kleiner natürlicher Affektationen, ehe sie das Gesuch erfüllte. Sie wählte ein Lied das einigermaßen in der Weise der alten englischen Schule gedichtet war, die damals wieder in Aufnahme zu kommen begann. Das Lied, obgleich es eine Art witzigen Einfall enthielt, war doch vielleicht nicht ganz ohne Zartheit; es war ein Lieblinglied von Lucie, sie wußte selbst kaum, warum? und lautete also:

Lucien's Lied.

Was schlaft ihr Blumen mein.
Wenn Abendlüfte wehen?
Wenn die Sterne schlürfen die Seufzer ein
Von Winden, lockend den Feen?

Das Locken ist voll Weh;
Es gleicht der Taube Stöhnen,
Und der Flöte, wenn sie den stillen See
Vom Kahn überschüttet mit Tönen.

Was schlaft ihr Blumen mein,
Wenn ihr uns wart so nöthig?
Es ist der Himmel, voll Sehnsuchtspein,
Euch wach zu küssen, erbötig.

Der Thau, der Duft, das Licht
Und alles Sanfte schmückt euch;
Doch Alles befriedigt die Seele nicht.
Weil der Schlummer, o Blumen! drückt euch.

Wacht ihr noch nicht, o weh!
Hin eilt die Zeit aus Flügeln,
Halt eitler Träumer! in Blumen ich seh
Dein eignes Schicksal sich spiegeln.

So oft der Sterne Lauf
Dir Göttertage schenket:
Du rufest schlummernde Blumen auf
Ihr Schweigen das Herz dir kränket.

Als Lucie endigte, war das Lob des Fremden weniger laut, als das des Doktors und seiner Gattin; aber wie viel süßer war es! und zum erstenmal in ihrem Leben machte Lucie die Entdeckung daß das Auge so gut, als der Mund, im Loben beredt seyn kann. Wir unseres Orts haben oft bedacht, diese Entdeckung mache im Leben Epoche.

Jetzt sprach Mrs. Slopperton ihre volle Ueberzeugung aus, daß der Fremde selbst auch singen könne. »Er habe etwas in seinem Wesen,« sagte sie, »das ihr keinen Zweifel übrig lasse.«

»In Wahrheit, liebe Frau,« sagte er mit seinem gewöhnlichen unaussprechlichen, halb freimüthigen, halb versteckten Lächeln, »meine Stimme ist nur so, so, und mein Gedächtnis so untreu, daß ich selbst in den leichtesten Stücken leicht stecken bleibe. Meine besten Töne habe ich in der Fistel und was meine Ausführung betrifft – aber davon wollen wir nicht sprechen.«

»Nein, nein, Sie sind zu bescheiden!« sagte Herr Slopperton, »ich bin gewiß, Sie könnten uns den Gefallen thun, wenn Sie nur wollten.«

»Ihr Befehl,« sagte der Fremde sich dem Klavier nähernd, »ist allvermögend, und da Sie, mein Fräulein (zu Lucie sich wendend) ein Lied nach der alten Schule gesungen haben, so darf ich wohl auf Verzeihung rechnen, wenn ich das Gleiche thue. Meine Wahl ist freilich aus einem ungesetzlichen Liederbuch genommen und gilt für eine Ballade von Robin Hood oder doch von einem seiner lustigen Leute; eine ganz andere Art von Freibeutern als die Schufte, welche Sie angriffen, Sir!«

Nach dieser Einleitung sang der Fremde nach einer wilden aber muntern Melodie mit erträglicher Stimme folgenden poetischen Erguß:

Die Liebe zu unserem Genre oder das Räuberleben.

Des Räubers Leben trägt auf dein Fluß
Der Welt die fröhlichste Welle;
Bald stürmt es ans Licht in des Kampfes Genuß,
Bald birgt sich's spottend der Helle.

Vor der Pforte des Liebchens da macht er Halt;
Wie ruhig sein Renner da stehet!
(Doch ruhig dem Wind gleich, der mit Gewalt
Die drohende Wolke schon blähet.)

Gebogen den Hals, das Gebiß beschäumt
Mit dem Auge des Hirsches, des scheuen.
Mit dem Feuergeist, der von Kämpfen träumt.
Und den ehernen Muskeln des Leuen.

In des Lebens Röthen, wenn Alles ihn flieht,
Bleibt getreu dieser einzige Knecht noch.
Fürwahr, wer geächtet die Welt durchzieht,
Hat zum trefflichsten Rosse ein Recht doch.

»Nun fort, Herzliebster, ich hör' ihren Tritt!« –
»So nimm den Kuß noch, mein Schätzchen,
Wenn ich wieder komme, bring ich dir mit
Für dein Haar von Golde ein Netzchen.«

»Hurrah! zum Raube, jetzt hurrah mein Roß,
Ueber Busch und Gestrüpp mich getragen!
Meine Pfade beschaut der Mond, mein Genoß.
Wie mein eignes Liebchen mit Zagen.«

Mit klingendem Beutel der Pfaffe trabt.
Eintreibend den Segen der Fluren,
Der Höfling in goldener Kutsche sich labt.
Bezahlet von Sinekuren.

In seinem Sinn sich der Rechtsmann erbaut
Am Verbrechen, das kürzlich geschehen!
Und die Dame mit ihren Karten vertraut,
Ueberzählt den Gewinnst an Guineen.

»He Dame, und Mann, der Sünden baar!
Meine Wünsche müßt Ihr erhören:
Plündern ehrliche Leut' ihre Nächsten – fürwahr
So muß es den Räuber empören.«

Der Dame Wang' überströmt Incarnat,
Schön drehte der Rechtsmann die Sätze:
Der Pfaffe fluchte, der Höfling bat,
Und der Räuber trug fort seine Schätze.

»Hurrah, zum Feste jetzt, hurrah mein Roß.
Ueber Busch und Gestrüpp mich getragen!
Es ist tugendhaft, was gesteuert der Troß,
Zu verschwenden bei lust'gen Gelagen.«

Nichts gleichet dem Leben des Räubers – allstund
Keck, lustig und frei wie die Götter,
Und das Ende – das Jauchzen des Volkes im Mund
Und ein Sprung vom Baum ohne Blätter!

Als dieses sehr moralische Lied zu Ende war, erklärte Mrs. Slopperton, es sey vortrefflich, obwohl sie gestand, die Grundsätze scheinen ihr etwas locker. Vielleicht lasse sich der Herr bewegen, sie mit einem Lied von feinerem und modernerem Ton zu erfreuen, kurz – mit etwas Rührendem. Mit einem Blick auf Lucie erklärte der Fremde: er kenne nur Ein Lied von der Art wie Mrs. Slopperton sie bezeichnet, und es sey so kurz, daß er durch Erfüllung ihres Verlangens ihre Geduld zu ermüden nicht befürchten müsse.

In diesem Augenblick schimmerte der Fluß, den man von den Zimmerfenstern aus bequem erschauen konnte, in dem Sternenlicht auf; und das Auge auf das Wasser gerichtet, als ob dieser Anblick ihm die Verse, die er sang, eingegeben hätte, sang er die folgenden Strofen in einem sehr gedampften und wohllautenden Tone und mit weit reinerem Geschmack als vielleicht nach dem vorigen, wüsteren Lied zu erwarten war.

Der Wunsch.

Wenn unten sanft der Abend träumt,
Hält oben Wacht sein Sterngebild,
Mit seinem Glanz die Flut sich säumt,
Wie Freundschaft, die zur Lieb' erschwillt.

O wäre deine Brust ein See,
Den jungfräulich die Luft umzieht,
Und ich der Stern, der aus der Höh
Sein Bild in diesem Spiegel sieht!

Kaum war der Gesang zu Ende, als die Ankunft des Dieners der Miß Brandon gemeldet ward; ihr auserkorner Begleiter fuhr auf, war ihr mit Artigkeit beim Anziehen des Mantels und Hutes behülflich, und pries sich ohne Zweifel glücklich, einigermaßen den lästigen Complimenten seiner Wirthsleute zu entgehen.

»Aber,« sagte der Doktor, als er seinem Retter die Hand schüttelte, »unter welchem Namen soll ich des Herrn gedenken und (indem er seine ehrwürdigen Augen erhob) für ihn beten, dem ich so sehr verpflichtet bin?«

»Sie sind sehr gütig, sagte der Fremde, mein Name ist Clifford. Fräulein, (zu Lucie gewendet,) darf ich Ihnen die Treppe hinunter die Hand reichen?«

Lucie nahm die Höflichkeit an und der Fremde war halb die Treppe hinunter, als der Doktor seinen kurzen Hals dehnend, ihm nachrief: »Guten Abend, Sir, ich hoffe wir sehen uns wieder?« »Seyen Sie ohne Furcht,« sagte Herr Clifford fröhlich lachend, »ich bin ein so rüstiger Reisender, daß dieß durchaus nichts Unmögliches ist. Geben Sie Acht, Fräulein, noch eine Stufe!«

Die Nacht war ruhig und ziemlich hell, obgleich der Mond noch nicht herauf war, als Lucie und ihr Begleiter die Felder durchschnitten, indem der Diener in kleinem Abstand mit der Laterne ihnen vorging.

Nach einer ziemlich kleinen Pause sagte Clifford mit einigem Bedenken: »Ist Miß Brandon eine Verwandte des berühmten Rechtsgelehrten gleichen Namens?«

»Er ist mein Oheim,« sagte Lucie, »kennen Sie ihn?«

»Nur Ihr Oheim,« sagte Clifford mit Lebhaftigkeit und umging Luciens Frage. »Ich fürchtete, hem – hem – das heißt, ich dachte, er könnte ein näherer Verwandter seyn.« Hier entstand wieder eine kürzere Pause, worauf Clifford mit gedämpfter Stimme wiederanfing: »Wird mich wohl Miß Brandon für unbescheiden halten, wenn ich sage, daß ein Angesicht, wie das ihrige, einmal gesehen, sich nie wieder vergißt; und daß ich glaube vor einigen Jahren Sie in London im Schauspielhaus gesehen zu haben? Nur einen flüchtigen Blick von Ferne konnte ich damals gewinnen, und doch,« setzte er bedeutungsvoll hinzu, »war es genug.«

»Ich war nur Einmal im Theater, während meines Aufenthalts in London vor einigen Jahren,« sagte Lucie ein wenig verlegen, und ein unangenehmer Zufall, der meinem Oheim in dessen Gesellschaft ich war, begegnete, hat mir in der That die Erinnerung davon fest eingeprägt.«

»Ha – und was war es denn?«

»Nun, beim Herausgehen aus dem Schauspielhaus wurde ihm seine Uhr von einem gewandten Taschendieb gestohlen.«

»Wurde der Schelm gefaßt?« fragte der Fremde.

»Ja, und am folgenden Tag nach Bridewell geschickt. Mein Oheim sagte, er sey sehr jung und doch ganz verstockt gewesen. Ich besinne mich noch, daß ich närrisch genug war, als ich von dem Spruch hörte, meinem Oheim dringend anzuliegen, er möchte sich für ihn verwenden; aber umsonst.«

»Wirklich, verwendeten Sie sich für ihn? sagte der Fremde in so ernstem Tone, daß Lucie zum zwanzigstenmal in dieser Nacht die Farbe wechselte, ohne daß doch irgend ein Grund zum Erröthen vorhanden war. Clifford fuhr in munterem Tone fort: »Nun, es ist auffallend, wie Spitzbuben unter sich zusammenhängen. Es würde mich nicht sehr überraschen, wenn die Person, die Ihren Oheim beraubte, zu derselben Bande gehörte, wie der Bösewicht, der Ihren würdigen Freund, den Doktor, so in Schrecken setzte. Aber ist dieser schöne alte Ort Ihre Heimath?«

»Dieß ist meine Heimath, antwortete Lucie, »aber es ist ein sonderbarer altväterischer Ort und wenige Leute, denen er nicht durch Erinnerungen theuer ist, würden ihn für schön halten.«

»Verzeihen Sie,« sagte Luciens Begleiter stille stehend und betrachtete mit Blicken worin sich großes Interesse aussprach, das sonderbare Gebäude aus Elisabeth's Zeiten, das jetzt ganz nahe vor ihm stand; sein dunkles Gemäuer, seine Giebel, seine efeubewachsenen Mauern, die vom Sternenlicht des Himmels angestrahlt wurden, und dann den Fluß, der schweigend unten hinströmte und einen artigen Contrast bildete. Die Läden an den großen Kreuzstockfenstern in dem Saal, worin der Esquire gewöhnlich saß, waren noch nicht geschlossen und das stete, warme Licht des Gemachs leuchtete und warf einen Schimmer selbst auf die sanften Wasser des Flusses; im nemlichen Augenblick ließ sich auch das freundschaftliche Bellen des Haushundes, als Willkomm, vernehmen und darauf folgte das Zeichen der großen Glocke, welche die Stunde der letzten Mahlzeit der altväterischen und gastlichen Familie ankündigte.

»Es ist doch ein süßes Gefühl darum!« sagte der Fremde unwillkührlich und mit einem halben Seufzer, »ich wünschte ich hätte eine Heimath.«

»Und haben Sie denn keine Heimath?« fragte Lucie naiv.

»So gut ein Junggesell eine haben kann, vielleicht,« antwortete Clifford, der ohne Anstrengung jetzt wieder seine Munterkeit und die Gewalt über sich selbst gewann. »Aber Sie wissen, wir pilgernde Leute dürfen uns nicht des gleichen Glücks rühmen, wie die Lieblinge des Himmels; wir senden unsere Herzen aus nach einer Heimath, und verlieren das eine, ohne das andre zu gewinnen. Aber ich halte Sie in der Kälte hin, und wir sind jetzt an Ihrer Thüre.«

»Sie kommen doch mit herein, natürlich!« sagte Miß Brandon, »und theilen unser Abendbrod.«

Der Fremde bedachte sich einen Augenblick und sagte dann in raschem Tone:

»Nein, vielen – vielen Dank! es ist schon spät. Will Miß Brandon meinen Dank entgegen nehmen für ihre Herablassung, die Begleitung eines ihr Unbekannten gestattet zu haben?« Mit diesen Worten beugte sich Clifford tief herab auf die Hand seiner schönen Schutzbefohlenen; Lucie wünschte ihm gute Nacht und eilte mit leichtem Schritte an ihres Vaters Seite.

Clifford blieb inzwischen noch eine Minute stehen, und nachdem die Thüre vor ihm geschlossen worden, wandte er sich plötzlich weg; er murmelte etwas bei sich selbst und eilte mit raschen Schritten zur Ausführung des Plans, den er im Auge hatte.


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