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Zwölftes Buch


Einleitungs-Kapitel.

Im Original folgt der Untertitel »Wherein the Caxton family reappear.« (In dem die Familie Caxton wieder auftritt.)

» Wiederum,« sprach mein Vater – »wiederum siehst du uns um dich versammelt. Wir, die wir den Beginn deiner Erzählung begrüßten und uns in der Mitte derselben zurückzogen, weil wir den Gang der Ereignisse nur hemmen und wichtigere Personen verdrängen konnten – wir sammeln uns jetzt um den Schluß und umkreisen, wie der Chor in einem Drama, den Altar mit dem feierlichen, aber zweifelhaften Gesange, welcher die Zuhörer auf das Schicksal der verschiedenen handelnden Personen vorbereitet, obgleich wir selbst noch nicht wissen, wie der Faden sich entwirren und wo die Scheere ihn durchschneiden wird.«

So standen sie da, die Mitglieder der Familie Caxton, um mich her geschaart – Alle begierig und eifrig im Fragen – Einige mehr als eifrig, eine vorschnelle Kritik zu üben.

»Violante kann nicht freiwillig mit jenem entsetzlichen Grafen durchgegangen sein,« sagte meine Mutter; »aber vielleicht ist sie hintergangen worden, wie Eugenie von Mr. Bellamy in der Novelle Camilla. Camilla, A Picture of Youth (1796) von Frances Burney, einer der populärsten Romane des 18. Jh. im englischsprachigen Raum.«

»Ha!« sagte mein Vater, »in diesem Falle ist es noch Zeit, einen Wink aus Clarissa Harlowe Clarissa, or, The History of a Young Lady (1748), Briefroman des englischen Schriftstellers Samuel Richardson. zu entlehnen und Violante weniger an einem gebrochenem Herzen, als aus Kummer darüber, daß ihre Ehre befleckt worden, sterben zu lassen. Sie ist eines jener Mädchen, welche gewaltsam untergehen müssen! Ostendunt omnia letunt – alle Umstände deuten auf ein frühes Grab!«

»O Himmel!« rief Mrs. Caxton, »ich hoffe nicht – das arme Ding!«

»Pah, Bruder,« sagte der Capitän,« wir haben in der Erzählung der armen Nora genug vom Grabe gehabt. Die ganze Geschichte wächst aus einem Grabe heraus und muß in ein Grab zurückkehren; – wenn du irgend Jemanden um's Leben bringen mußt, Pisistratus, so schlage Levy todt.«

»Oder den Grafen,« sagte meine Mutter mit ungewöhnlicher Grausamkeit.

»Oder Randal Leslie«, sagte Squills, »ich möchte einen post mortem Abguß von seinem Kopfe haben – das würde ein lehrreiches Studium abgeben.«

Jetzt entstand ein allgemeines Durcheinanderreden, indem alle Anwesenden sich verschworen, durch ihre verschiedenartigen und von einander abweichenden Rathschläge, wie die Geschichte zum Schluß zu bringen und wie mit den verschiedenen Personen zu verfahren sei, den unglücklichen Verfasser zu verwirren.

»Still!« rief Pisistratus, indem er sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. »Ich kann das Schicksal, das jeder von den Personen, welche Ihr mit Eurer Theilnahme beehrt, zugetheilt worden ist, so wenig ändern, wie Euer eigenes. Wie Ihr, so müssen auch sie den Weg gehen, welchen die Ereignisse sie führen, und der ihnen durch ihren Charakter und durch die Einwirkung Anderer angewiesen ist. Die Vorsehung regiert die Welt so durch und durch, daß man ihr Walten nicht einmal in einem Buche streichen kann. Der Verfasser kann einen Charakter schaffen; allein von dem Augenblick an, in welchem dieser Charakter handelnd auftritt, entschlüpft er seinen Händen – spielt seine eigene Rolle und erfüllt seine eigene unvermeidliche Bestimmung.«

»Außerdem,« sagte Mr. Squills, »ist aus der phrenologischen Entwicklung der Organe bei den verschiedenen Köpfen, die zu untersuchen Pisistratus uns erlaubt hat, sehr leicht zu erkennen, daß wir nicht Schöpfungen der blosen Phantasie, sondern lebende Personen gesehen haben, deren wahre Geschichte ihre verschiedenen Schädelerhöhungen, die Organe für Liebe, Constructionstrieb, Erwerbstrieb, Idealität, Verwunderung, Vergleichung &c. in Thätigkeit gesetzt hat. Sie müssen handeln und enden übereinstimmend mit dem Einfluß, welchen Ihre Schädel auf sie ausüben. So finden wir bei Randal Leslie, daß die Organe des Constructionstriebs, des Geheimthums, des Vergleiches und der Eventualitäten vorherrschend ausgebildet – dagegen die des Wohlwollens, der Gewissenhaftigkeit und Anhänglichkeit so gut wie gar nicht vorhanden sind. Um nun zu errathen, wie ein solcher Mann enden muß, ist vor allem zu untersuchen, wie im Allgemeinen die Gesellschaft zusammengesetzt ist, in welcher er sich bewegt – kurz, welche andere Gase mit dem ihm innewohnenden Brennstoff in Berührung gebracht werden. Was Leonard, Harley und Audley Egerton betrifft, so würde ich, wenn ich Sie phrenologisch untersuchte, sagen –

»Still!« unterbrach ihn mein Vater, »Pisistratus hat seine Feder in die Tinte getaucht, und es scheint mir für den weisesten Mann, der je gelebt hat, leichter, darüber, was andere Leute gethan haben, Rechenschaft abzulegen, als vorauszusagen, was sie thun würden. Die Phrenologen entdeckten, daß Mr. Thurtell ein sehr schönes Organ der Gewissenhaftigkeit besaß; nichtsdestoweniger gelang es diesem irrenden Menschenkind, das Gehirn aus dem Individualitäts-Organ seines Freundes herauszuschlagen. Hier geht es um den Elstree-Mord, dessen Opfer, der ›Freund‹ William Weare, 1823 in England von John Thurtell in brutaler Weise ermordet wurde; nachdem ein Schuss ihn verfehlt hatte, schlitzte ihm Thurtell den Hals mit einem Messer auf und trieb ihm die Pistole so stark in den Kopf, dass Weares Gehirn über den Boden spritzte. Der Fall erregte höchstes Aufsehen, und nachdem Thurtell 1824 durch Erhängen hingerichtet worden war, gab es in der medizinischen Fachpresse eine phrenologische Diskussion in Bezug auf den Täter. Darum erhebe ich mich, um einen Beschluß zu beantragen, nämlich, daß wir die Versammlung vertagen, bis Pisistratus seine Erzählung vollendet hat; und wir werden dann die Genugthuung haben, zu erfahren, daß sie nach den Regeln der Natur, Wissenschaft und Kunst ganz anders hätte zum Schluß geführt werden müssen. Warum sollten wir uns selbst um dieses Vergnügen bringen?«

»Ich unterstütze den Antrag,« sagte der Capitän; »aber wenn Levy nicht gehängt wird, so werde ich sagen, daß es mit aller poetischen Gerechtigkeit vorbei ist.«

»Sorge doch für die arme Helene,« sagte Blanche in zärtlichem Tone; »nicht, daß ich damit sagen will, du sollst Violante vergessen.«

»St! setze dich, oder ich lasse Beide als alte Jungfern sterben.«

Durch diese Drohung eingeschüchtert, zog Blanche mit einem bittenden Blick ihren Stuhl ruhig in meine Nähe, als wolle sie ihre beiden Schützlinge in eine, durch die eheliche Anziehungskraft mesmerisirte Atmosphäre bringen, während meine Mutter eifrig – an einem neuen Röckchen für das Kindlein nähte! Ohne sich durch diese ungebührlichen weiblichen Einflüsse erweichen zu lassen, schrieb Pisistratus weiter, wie es ihm die unbarmherzigen Nornen dictirten. Seine Feder war von Eisen und sein Herz von Granit. Er war so unempfindlich für die Existenz von Weib und Kind, als hätte er nie eine Haushaltungsrechnung bezahlt, nie bei dem kläglichen Tone eines schreienden Säuglings eiligst das Kinderzimmer verlassen. O gesegnetes Vorrecht der Schriftstellerei!

» O testudinis aureae
      Dulcem quae strepitum, Pieri, temperas!
O mutis quoque piscibus
      Donatura cyeni, si libeat, sonum
Horaz, Oden IV, 3, V. 17-20: O Muse, die du den süßen Ton der goldenen Lyra ins gehörige Maß bringst, die du, wenn es dir belieben sollte, sogar den stummen Fischen den Klang des Schwans verleihen kannst …


Zweites Kapitel.

Es ist notwendig, im Gange unserer Erzählung etwas zurückzugreifen und dem Leser über das Verschwinden Violanten's Rechenschaft zu geben.

Man wird sich erinnern, daß Peschiera, durch die plötzliche Annäherung Lord L'Estrange's verscheucht, nur noch Zeit hatte, mit ein paar Worten bei der jungen Italienerin auf eine Erneuerung der Zusammenkunft und auf eine Entscheidung zu dringen. Als er aber am nächsten Tage wieder heimlich und verstohlen, wie das erste Mal, in den Garten trat, erschien Violante nicht. Nachdem der Graf bis zur Dämmerung die Anlagen überall durchstreift hatte, zog er sich entrüstet und in der Ueberzeugung zurück, daß es ihm mißlungen sei, das Herz oder die Phantasie des beabsichtigten Opfers durch seine Kunstgriffe zu bethören.

Er begann jetzt den möglichsten Erfolg einer jener dreisten und gewalttätigen Maßregeln, welche durch seine unbesonnene Tollkühnheit und seine verzweifelte Lage begünstigt wurden, zu erwägen und mit Levy zu besprechen. Aber Levy behandelte jedweden Plan, Violante mit Gewalt aus Lord Lansmere's Hause zu entführen, mit so gerechtem Spotte – und verhöhnte dermaßen jeden Gedanken an einen nächtlichen Angriff, mittelst Einsteigens durch die Fenster auf Strickleitern, daß der Graf mit Widerstreben diesen romanhaften Schurkenstreich aufgab, der für unsere nüchterne Hauptstadt so unpassend erschien und ohne Zweifel damit geendet haben würde, daß die Polizei ihn verhaftet und sich ihm die Aussicht auf das Correctionshaus House of Correction: Eine Art Umerziehungsanstalt für Straftäter, insbesondere jugendliche; ursprünglich in der elisabethanischen Ära für Arbeitsscheue geschaffen, um sie an Arbeit zu gewöhnen. eröffnet hätte.

Levy fand, daß seine eigene Erfindungsgabe erschöpft sei, und Randal Leslie wurde zur Berathung beigezogen. Es war dem Wucherer gelungen, die Pläne, welche Randal wegen Vermögenserwerbs und Weiterbeförderung geschmiedet hatte, so vollständig von Levy's Hülfe und gutem Willen abhängig zu machen, daß sich der junge Mann, ungeachtet seines lebhaften Wunsches, lieber Andere zu seinen Werkzeugen, als sich zu dem Anderer zu machen, der Ueberzeugung nicht entschlagen konnte, sein überlegener Geist sei ebenso vollständig zum Sclaven von Levy's mehr erfahrener Durchtriebenheit geworden, wie je ein höherer Luftgeist einem gemeinen Zauberer der Erde unterworfen war.

Die Erwerbung der Güter seiner Vorfahren – der in Aussicht genommene Sitz im Parlamente – die Möglichkeit, Frank aus seinem Erbe Hazeldean zu verdrängen – das waren lauter Fäden, an welchen ihn wie eine Puppe den glatten, krallenartigen Finger des lächelnden Taschenspielers hin und her zogen, um ihn je nach Belieben entweder der bewundernden Menge vorzustellen oder in den Stand und Schmutz hinabzuwerfen.

Randal biß sich mit dem verdrießlichen und grimmigen Gefühle eines Mannes auf die Lippen, welcher der Stunde seiner künftigen Emancipation harrt, und stellte sein Gehirn mit mechanischer Ergebung dem Herren seiner jetzigen Sclaverei zu Diensten. Die angeborene Ueberlegenheit des verschlagenen jungen Ränkeschmieds über den Muth Peschiera's und den geübten Verstand des Barons zeigte sich augenblicklich.

»Ihre Schwester,« sagte Randal zu Ersterem, »muß die handelnde Person in dem ersten und schwierigsten Theil Ihres Unternehmens sein. Violante kann nicht mit Gewalt aus Lord Lansmere's Haus entführt, sondern sie muß veranlaßt werden, es mit ihrer eigenen Einwilligung zu verlassen. Dazu ist ein weibliches Wesen notwendig. Weiber können am besten Weiber täuschen.«

»Bewunderungswürdig gesprochen,« sagte der Graf; »aber Beatrice ist widerspenstig geworden, und obwohl ihre Mitgift und ebendeßhalb sogar ihre Ehe mit jenem vortrefflichen jungen Hazeldean von meiner eigenen Verbindung mit meiner schönen Verwandten abhängt, so ist sie doch so gleichgültig hinsichtlich meines Erfolges geworden, daß ich nicht auf ihre Hülfe zu rechnen wage. So sehr sie sich, unter uns gesagt, früher darnach sehnte, eine Heirath zu schließen, so scheint sie doch jetzt vor dem Gedanken daran zurückzuschrecken; und eine andere Macht habe ich nicht über sie.«

»Hat sie nicht in der letzten Zeit Jemand kennen gelernt, den sie dem armen Frank vorzieht?«

»Ich vermuthe etwas dergleichen; aber ich weiß nicht, wer es sein kann, wenn es nicht jener abscheuliche L'Estrange ist.«

»Ah – glauben Sie? Verkehren sie nicht weiter mit ihr, sondern halten sie alles in Bereitschaft, England, wie Sie früher beabsichtigten, zu verlassen, sobald Violante in Ihrer Gewalt ist.«

»Alles ist bereit,« sagte der Graf. »Levy hat eingewilligt, von einem seiner Clienten ein ausgezeichnetes Segelschiff zu kaufen. Ich habe eine Bande entschlossener Vagabunden gemiethet, welche mit der See vertraut sind – Genuesen, Corsikaner, Sardinier, Excarbonari von der besten Sorte – keine albernen Patrioten, sondern liberale Cosmopoliten, die für Gold ihr Eisen Jedem zur Verfügung stellen. Auch habe ich mich eines Priesters versichert, welcher die Trauungsceremonie verrichten und für das Nein jeder schönen Dame taub bleiben wird. Ist Violante einmal auf dem Schiffe, so wird sie nicht anders, denn als Gräfin Peschiera auf meinen Arm gestützt, dasselbe wieder verlassen.«

»Aber Violante,« sagte Randal störrisch und entschlossen, den Ekel, womit des Grafen waghalsiger Cynismus selbst ihn erfüllte, nicht die Oberhand gewinnen zu lassen – »aber Violante kann nicht bei hellem Tageslicht und aus einem so bevölkerten Stadttheile, wie der, in welchem Ihre Schwester wohnt, ohne Weiteres nach einem solchen Schiffe gebracht werden.«

»Ich habe auch hieran gedacht,« versetzte der Graf; »meine Emissäre haben ein Haus dicht am Flußufer für mich ausfindig gemacht, das für unsern Zweck so sicher ist, als die Kerker Venedigs.«

»Ich wünschte alles das nicht zu wissen,« erwiderte Randal rasch; »Sie werden Madame di Negra instruiren, wohin sie Violante zu bringen hat – meine Aufgabe beschränkt sich lediglich auf diejenigen Erfindungen, welche in das Gebiet des Verstandes gehören; was die physische Gewalt anbelangt, so ist das nicht meine Sache. Ich will sofort zu Ihrer Schwester gehen, auf die ich einen nachhaltigeren Einfluß üben zu können glaube, als Sie; vielleicht kann ich Ihnen auch später einen Wink geben, wie Sie sich gegen die Möglichkeit ihrer Gewissensbisse zu schützen vermögen. Da jedoch in demselben Augenblicke, in welchem Violante verschwindet, der Verdacht auf Sie fallen wird, so zeigen Sie sich fortwährend öffentlich und von Ihren Freunden umgeben. Setzen Sie sich in den Stand, über jede Stunde Ihrer Zeit Rechenschaft ablegen zu können –«

»Ein Alibi?« unterbrach ihn der frühere Sachwalter.

»Ganz richtig, Baron. Vollziehen Sie den Ankauf des Schiffes und lassen Sie den Grafen dasselbe so bemannen, wie er beabsichtigt. Ich werde Sie Beide benachrichtigen, sobald Sie in Thätigkeit treten können. Heute werde ich viel zu thun haben; und es soll gethan werden.«

Als Randal das Zimmer verließ, folgte ihm Levy.

»Was Sie zu thun beabsichtigen, wird ohne Zweifel gut gethan werden,« sagte der Wucherer, indem er Randal's Arm nahm; »aber hüten Sie sich, nicht selbst in böse Händel hinein zu gerathen, die für den Ruf Ihres Charakters schädlich wären. Ich setze große Hoffnungen auf Sie für das öffentliche Leben; und im öffentlichen Leben ist Charakter notwendig – das heißt, soweit es sich um die Ehre handelt.«

»Ich sollte meinen Charakter Schaden leiden lassen! Und für einen Grafen Peschiera!« sagte Randal, die Augen weit öffnend. »Ich! Wofür halten Sie mich?«

Der Baron ließ seinen Arm los.

»Dieser junge Mann muß sehr hoch steigen,« sagte er vor sich hin, als er zu dem Grafen zurückkehrte.


Stilles Kapitel.

Längst schon mit seinem durchdringenden Blicke hatte Randal richtig vermuthet, daß Beatricen's Ansichten und Gemüthsstimmung auf eine seltsame Weise urplötzlich durch eine jener Umwälzungen, wie sie nur die Leidenschaft hervorbringen kann, verändert worden; daß Groll oder getäuschte Erwartung mit die Beweggründe gewesen seien, welche sie veranlaßt hatten, die Hand seines unbesonnenen jungen Verwandten anzunehmen; und daß sie, anstatt früher, jede Heirath, die sie aus einer, ihren Stolz fortwährend verletzenden Lage befreien könnte, mit resignirter Gleichgültigkeit zu betrachten, jetzt mit einer, dem scharfen Auge Randal's deutlich sichtbaren Abneigung vor der Erfüllung des Versprechens zurückbebte, welches Frank so theuer erkauft hatte. Die Anerbietungen, die der Graf als Versuchungsmittel anwenden konnte, um sie als Mitschuldige beider Ausführung von Plänen zu gewinnen, die, aus Betrug und Treulosigkeit zusammengesetzt, ihre bessere Natur empörten, hatten aufgehört, von irgend einer Wirkung zu sein. Eine Mitgift war werthlos geworden, weil dieselbe die Heirath, welcher sie ausweichen wollte, nur beschleunigt hätte.

Randal fühlte, daß er sich ihre Beihülfe nur sichern könnte, wenn er auf eine Leidenschaft einwirke, die heftig genug wäre, um ihr Urtheil zu verwirren. Eine solche Leidenschaft erkannte er in der Eifersucht. Er hatte einst gezweifelt, ob Harley der Gegenstand ihrer Liebe sei; war es am Ende doch nicht unwahrscheinlich? Er wußte wenigstens nicht, wen sonst er im Verdacht haben sollte. Wenn dem so wäre, so brauchte er nur zu flüstern:

»Violante ist Ihre Nebenbuhlerin. Wenn Violante entfernt wird, so kann Ihre Schönheit ihre natürliche Wirkung kaum verfehlen; wenn nicht, so sind Sie Italienerin und werden wenigstens gerächt sein.«

In der Vermuthung, Lord L'Estrange sei wirklich Derjenige, durch welchen er Beatricen beherrschen könnte, sah er sich noch bestärkt durch den Umstand, daß sie in der letzten Zeit öfters über die Familie des Lord Lansmere und besonders über die weiblichen Mitglieder derselben Auskunft verlangte. Randal hielt es damals für klug, ein Gespräch über Violante zu vermeiden, und stellte sich unwissend, versprach aber, sich bis zu seinem nächsten Besuche bei der Marchese nach allen einzelnen Umständen zu erkundigen. Die Wärme, mit welcher sie ihm dafür dankte, hatte seinen geschäftigen Geist veranlaßt, sich in Vermuthungen zu ergehen, was wohl der Grund zu ihrer so stark erregten Neugierde sein möge, und denselben der Eifersucht zuzuschreiben. Wenn Harley Violante liebte (wie Randal früher geargwöhnt hatte), so war das Bischen Leidenschaft, welches er sich selbst gestattete, zur Ausführung der Pläne Peschiera's angeworben. Denn, wenn auch Randal's Gefühle für Violante keine wärmeren waren, so haßte er doch L'Estrange von Herzen und würde um dieser Abneigung willen rachsüchtigen Gedanken Raum gegeben haben, soweit überhaupt ein kalter Verstandesmensch, der lediglich weltliches Glück im Auge hat, sich von bloßem Hasse geleiten läßt.

»Im schlimmsten Falle,« dachte Randal, »wenn es Harley auch nicht sein sollte, berühre ich die Saite der Eifersucht, und das Vibriren von derselben wird mich auf die richtige Spur bringen.«

Indem er so mit sich selbst sprach, erreichte er die Wohnung Madame di Negra's.

Nun gründeten sich aber in Wirklichkeit die Fragen der Marquesa über die Familie Lord Lansmere's auf das irre geleitete, ruhelose und verzweiflungsvolle Interesse, mit welchem sie noch an dem Bilde des jungen Dichters hing, den im Verdacht zu haben, Randal keine Veranlassung hatte. Dieses Interesse war noch heftiger geworden durch den unerträglichen Kummer, welchen sie seit ihrer Verlobung mit einem Anderen empfand. Eine wilde Hoffnung, sie könnte der Einlösung ihres Wortes noch überhoben werden – ein unbestimmter, reuiger Gedanke, daß sie zu voreilig gehandelt, als sie Leonard entlassen hatte – daß sie eher um seine Freundschaft werben und ihn ihrer unbekannten Nebenbuhlerin hätte streitig machen sollen – das alles zog von Zeit zu Zeit ihren wunderlichen Geist völlig von der Zukunft ab.

Indessen, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – obwohl sie die Grundsätze, die sie bei ihrem Betragen hätten leiten sollen, aus den Augen verloren hatte und ihr Pflichtgefühl ein sehr mangelhaftes genannt werden mußte, so waren doch ihre Empfindungen gegen den edelmüthigen Hazeldean nicht so hart und stumpf, daß nicht das Gefühl der eigenen Undankbarkeit ihre innern Qualen noch vermehrt hätte; und die einzige mögliche Sühnung schien ihr darin zu liegen, daß es ihr gelinge, eine Entschuldigung zu Rückgängigmachung ihres Versprechens zu finden und ihn vor ihr selbst zu retten. Sie hatte dafür gesorgt, daß Leonard's Schritte überwacht wurden; sie hatte entdeckt, daß er bei Lord Lansmere oft Besuche machte und dort lange verweilte. Sie hatte in der Nachbarschaft erfahren, daß Lady Lansmere weibliche Gäste im Hause habe. Dies war gewiß der Anziehungspunkt – dort befand sich die Nebenbuhlerin!

Randal fand Beatrice in einer Gemüthsstimmung, die seinem Vorhaben günstig war. Als er nun die Unterhaltung zuerst auf Harley lenkte und bemerkte, daß ihr Gesicht die Farbe nicht wechselte, entlockte er ihr nach und nach ihr ganzes Geheimniß.

Jetzt sagte Randal in ernstem Tone:

»Wenn Sie Jemanden, der Lord Lansmere's Haus besucht, mit zärtlichen Gedanken beehren, so haben Sie in der That Grund, wegen Ihrer selbst besorgt zu sein und zu hoffen, daß Ihr Bruder in Beziehung auf den Gegenstand, der ihn nach England führte, Erfolg haben möge – denn ein Mädchen von ausnehmender Schönheit befindet sich als Gast in Lord Lansmere's Hause; und ich will Ihnen nicht länger verschweigen, daß es diejenige ist, welche Graf Peschiera zu seiner Braut zu machen gedenkt.«

Als Randal so sprach, und sah, wie die Stirne seiner Zuhörerin sich verfinsterte und ihre Augen funkelten, da fühlte er, daß er ihrer Beihilfe sicher sei. Violante! Hatte Leonard nicht von Violante mit so vielem Lob gesprochen? Hatte er nicht seine Knabenzeit unter ihren Augen verbracht? Wer sonst als Violante, konnte die Nebenbuhlerin sein? Beatricen's abgerissene Ausrufe enthüllten ihm nach kurzer Ueberlegung den Vortheil, welchen er erlangt hatte. Theils dadurch, daß er ihre Eifersucht zur Rache aufstachelte – theils dadurch, daß er ihrer Liebe mit der Versicherung schmeichelte, Leonard könnte, wenn Violante gänzlich von England entfernt und die Gemahlin des Grafen Peschiera würde, unmöglich gegen ihre Reize unempfindlich bleiben, und er, Randal, wolle es übernehmen, sie auf eine ehrenhafte Weise von ihrer Verbindung mit Frank Hazeldean zu befreien, sowie auch ihren Bruder zu bewegen, daß er die Schuld tilge, die zuerst ihre Hand an jenen Bewerber gefesselt hatte – durch alles dies brachte er die Marchesa dahin, daß sie ihm, ehe er sie verließ, nicht allein versprach, auf jeden seiner Vorschläge einzugehen, sondern auch heftig in ihn drang, seine Pläne zur Reife zu bringen und die Stunde ihrer Ausführung zu beschleunigen.

Randal schritt hierauf einige Minuten nachdenklich und langsam durch die Straßen, indem er erwog, welches die nächsten Maschen in seinem fein ausgearbeiteten Gewebe sein müßten; und hier ersann seine Geschicklichkeit ein glänzendes Meisterstück.

Während der Zeit, welche zwischen Violanten's Verschwinden und ihrer Abreise von England verstreichen würde, war es, um den Verdacht von Peschiera (der sonst festgehalten werden könnte) abzulenken, notwendig, irgend einen Grund für ihre freiwillige Entfernung aus dem Hause Lord Lansmere's anzugeben. Noch notwendiger war es, daß Randal selbst völlig rein von jedem Verdachte, als ob er die Pläne des Grafen hätte begünstigen können, dastünde, selbst wenn Derjenige, der sie in der Wirklichkeit ausführte, entdeckt oder beargwöhnt werden sollte.

Um dies zu bewirken, eilte Randal nach Norwood zu Riccabocca. Anscheinend sehr bewegt und aufgeregt theilte er dem Verbannten mit, er habe Grund, anzunehmen, daß es Peschiera gelungen sei, eine geheime Zusammenkunft mit Violante zu veranstalten, und er fürchte, Graf habe auf sie einen gewissen günstigen Eindruck gemacht. Sodann spielte er die Rolle eines eifersüchtigen Liebhabers, ersuchte Riccabocca auf das Inständigste, Randals directen Antrag bei Violante gut zu heißen und ihre Einwilligung zu seiner sofortigen Verbindung mit ihr zu verlangen.

Der arme Italiener war über diese Nachricht bestürzt, und seine fast abergläubische Furcht vor seinem glänzenden Feinde in Verbindung mit seiner Ansicht von der Empfänglichkeit für äußere Reize, welche dem ganzen weiblichen Geschlechte inne wohne, bewirkte, daß er nicht allein ohne Weiteres an die Gefahren glaubte, die Randal angedeutet hatte, sondern daß er sie sogar überschätzte. Die Idee, seine Tochter mit Randal, gegen welchen er in neuerer Zeit sich etwas kühler benommen hatte, zu verheirathen, hieß er jetzt dankbar willkommen. Aber sein erster, natürlicher Gedanke war, Violante selbst zu holen oder holen zu lassen und sie nach seinem eigenen Hause zu bringen. Diesem widersetzte sich jedoch Randal in listiger Weise.

»Leider weiß ich,« sagte er, »daß Peschiera Ihren Zufluchtsort entdeckt hat, und sie würde hier gewiß weniger sicher sein, als da, wo sie jetzt ist!«

»Aber, diavolo! Sie sagen ja, daß der Mensch ungeachtet aller Versprechungen Lady Lansmere's und aller Vorsichtsmaßregeln Harley's sie da, wo sie jetzt ist, gesprochen hat!«

»Das ist wahr. Peschiera hat sich dessen gegen mich gerühmt. Er hat es natürlich nicht offen, sondern in irgend einer Verkleidung bewerkstelligt. Ich bin indessen hinreichend mit ihm vertraut – (mit einem solch' kecken Prahler kann Jeder vertraut werden) – um ihn für den nächsten Tag vor einer Erneuerung seines Versuches abzuschrecken. Unterdessen werden entweder Sie oder ich eine sicherere Wohnung, als diese hier, ausfindig gemacht haben, welche Sie sogleich beziehen können; und dann wird es die geeignete Zeit sein, Ihre Tochter zurückzunehmen. Und wenn Sie ihr für jetzt in einem, durch mich zu überbringenden Brief schreiben, sie habe mich als ihren künftigen Bräutigam zu empfangen, so wird dies notwendiger Weise mit Einem Male alle ihre Gedanken von dem Grafen ablenken; ich werde im Stande sein, durch die Art und Weise, wie sie mich aufnimmt, zu entdecken, wie weit der Graf die Wirkung, die er auf sie gemacht zu haben behauptet, übertrieben hat. Sie können mir auch einen Brief an Lady Lansmere mitgeben, um es zu verhindern, daß Ihre Tochter hierher komme. Ah, Sir, versuchen Sie nicht, mir Gründe entgegen zu halten. Haben Sie Nachsicht mit den Befürchtungen eines Liebhabers. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen zum Besten rathe. Habe ich nicht selbst das allergrößte Interesse dabei?«

Gleich vielen Menschen, welche weise genug sind, wenn sie Feder und Papier vor sich und die nöthige Zeit haben, ihre Weisheit auszukramen, so wurde auch Riccabocca unruhig, nervös und verwirrt, wenn diese Weisheit zu einer unvorbereiteten Anstrengung verlangt wurde. Er hatte vom Baume des Wissens Stecklinge genug genommen, um damit einen ganzen Wald zu pflanzen; aber der ganze Wald hätte ihm nicht einmal einen bequemen Spazierstock geboten. Der große Folioband des todten Macchiavel lag nutzlos vor ihm. – Der lebende Macchiavel der Alltagswelt stand allmächtig an seiner Seite. Der Weise beugte sich gerade so vor dem Ränkeschmied, wie der Hellseher vor dem Magnetiseur. Und die mageren, schmalen Finger Randal's dictirten in der That beinahe wörtlich das, was Riccabocca an sein Kind und an deren Wirthin schrieb.

Der Philosoph hätte gern seine Gattin zu Rathe gezogen, aber er schämte sich, seine Schwäche zu bekennen. Plötzlich erinnerte er sich Harley's und sagte, als Randal die Briefe, welche Riccabocca hingeworfen hatte, zu sich nahm: – »Hier – wir werden damit Zeit gewinnen; und ich will mit Lord L'Estrange die Sache schriftlich und mündlich besprechen.«

»Mein edler Freund,« antwortete Randal bekümmert, »darf ich Sie inständig bitten, Lord L'Estrange nicht eher zu sehen, bis ich wenigstens meine Angelegenheit Ihrer Tochter vorgetragen habe – ja, bis sie sich nicht länger unter dem Dach seines Vaters befindet?«

»Und warum?«

»Weil ich annehme, daß Sie, wenn Sie mir die Ehre erweisen, mich zu Ihrem Schwiegersohn zu machen, es ehrlich meinen, und weil ich überzeugt bin, daß Ihre Verfügung zu meinen Gunsten Lord L'Estrange's Unwillen erregen würde. Habe ich nicht Recht?«

Riccabocca schwieg.

»Und wenn auch seine Beweisführung auf einen so ehrenhaften und urtheilsfähigen Mann, wie Sie, keinen Eindruck machen würde, so könnte sie doch auf das jugendliche Gemüth Ihres Kindes mehr Einfluß üben. Bedenken Sie, ich beschwöre Sie, daß Ihre Tochter, je mehr sie gegen mich eingenommen wird, desto zugänglicher für die Kunstgriffe Peschiera's werden muß. Ich stehe Sie deßhalb an, nicht eher mit Lord L'Estrange zu reden, als bis Violante meine Hand angenommen hat oder sich wenigstens wieder unter Ihrer Obhut befindet; andern Falls nehmen Sie Ihren Brief zurück – er würde von keinem Nutzen sein.«

»Sie haben vielleicht Recht. Freilich hat er ein gewisses Vorurtheil gegen Sie; oder vielmehr, er denkt zu viel an das, was ich gewesen, und zu wenig an das, was ich jetzt bin.«

»Jedem, der Sie sieht, wird es so gehen. Ich verzeihe ihm.«

Nachdem er die Hand des Verbannten geküßt, welche Letzterer bescheidener Weise dieser Huldigung zu entziehen suchte, steckte Randal die Briefe in seine Tasche und stürzte, als kämpfe er mit seiner inneren Aufregung, zu dem Hause hinaus.

Und jetzt, mein neugieriger Leser, wenn du aufmerksam darauf merken willst, zu welchem Zwecke Randal Leslie diese Briefe benützte – welche rasche und unmittelbare Resultate er durch Kunstgriffe erzielte, die einem Manne von ehrlichem, einfachem Verständnisse so überraschend vorkommen würden, daß er glauben müßte, man könne zu demselben nur auf Umwegen und durch einen großen Aufwand von Erfindungsgabe gelangen – dann fürchte ich beinahe, daß du über deiner Bewunderung seiner Gewandtheit halb und halb deine Entrüstung über seine Schurkerei vergessen möchtest.

Wenn aber der Kopf sehr voll ist, so ist es nicht gut, ein sehr leeres Herz zu haben; der Kopf könnte sonst leicht zu schwer werden.


Viertes Kapitel.

Helene und Violante hatten eine Unterredung zusammen gehabt, und Helene, dem Befehle ihres Vormundes gehorchend, hatte, wenn auch nur kurz die Thatsache ihrer Verlobung mit Harley erwähnt. So bestimmt auch Violante diese Mittheilung erwartet, so klar und deutlich sie dieses Verhältniß geahnt hatte, und so sehr sie vorher überzeugt gewesen war, daß der Traum ihrer Kindheit für immer verflogen sei, so hörte sie doch die positive Wahrheit, die von Helenen's eigenen Lippen kam, mit jener Beängstigung an, die beweist, wie unmöglich es ist, das menschliche Herz auf den endlichen Ausspruch, der seine Zukunft vernichtet, vorzubereiten.

Sie verrieth indessen ihre Bewegung den arglosen Blicken Helenen's nicht; ein Schmerz, welcher tief im Herzen sitzt, verräth sich gewöhnlich nicht selbst. Aber nach einer kleinen Weile schlich sie sich von dannen, und Peschiera und alles, was ihr Gefahr drohen konnte (welcher Schmerz konnte ihr noch größeres Wehe bereiten!), vergessend, ging sie leise aus dem Hause und wandelte den einsamen Weg unter den blätterlosen, winterlichen Bäumen hin. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen – von Zeit zu Zeit murmelte sie immer die gleichen Worte:

»Wenn sie ihn liebte, so könnte ich mich trösten, aber das thut sie nicht! Wie hätte sie sonst so ruhig mit mir sprechen können! Wie hätte sie sonst so betrübt aussehen können! Herzlos! – herzlos.«

Dann überkam sie ein heftiger Groll gegen die arme Helene, welcher beinahe an Verachtung oder Haß streifte – und zwar in einem Grade, daß sie selbst darüber erschrak.

»Bin ich so schlecht geworden?« sagte sie, und Thränen der Beschämung drängten sich in ihre Augen. »Kann eine so kurze Zeit eine solche Veränderung in einem Menschen hervorbringen? Unmöglich!«

Randal läutete an der vorderen Hausthüre, frug nach Violante und trat, als er, dem Hause sich nähernd ihre Gestalt erblickte, dreist und offen hervor. Seine Stimme schreckte sie auf, als sie an einen der entblätterten Bäume gelehnt, in Gedanken verloren noch immer vor sich hin murmelte.

»Ich habe einen Brief an Sie von Ihrem Vater, Signorina,« sagte Randal. »Bevor ich Ihnen aber denselben übergebe, ist eine Erklärung notwendig. Haben Sie deßhalb die Güte, mich anzuhören.«

Violante schüttelte ungeduldig den Kopf und streckte die Hand nach dem Briefe aus. Randal beobachtete ihr Antlitz mit seinem scharfen, kalten, forschenden Auge; aber er hielt noch den Brief zurück und fuhr nach einer Pause fort:

»Ich weiß, daß Sie vermöge Ihrer Geburt zu fürstlichen Ehren bestimmt waren, und die Entschuldigung dafür, daß ich mich jetzt an Sie wende, liegt darin, daß Ihr Geburtsrecht für Sie verloren ist, wenn Sie sich nicht dazu verstehen, eine Verbindung mit dem Manne einzugehen, der Sie um Ihr Erbe gebracht hat – eine Verbindung, welche Ihr Vater als entehrend für Sie und für ihn betrachtet. Signorina, ich hätte mich erkühnen können, Sie zu lieben; aber ich hätte es nie gewagt, dieser Liebe zu erwähnen, wenn mich nicht die Einwilligung Ihres Vaters zu meiner Bewerbung ermuthigt hätte.«

Violante wendete ihr sprechendes Antlitz mit stolzer Verwunderung dem Redenden zu. Randal begegnete dem Blicke, ohne irgend eine Bewegung zu zeigen. Ohne Wärme und in dem Tone eines Mannes, welcher ruhig eine Sache auseinander setzt und von einem tieferen Gefühle hiebei nicht bewegt wird, fuhr er fort:

»Der Mann, von welchem ich sprach, verfolgt Sie. Ich habe Grund, zu glauben, daß derselbe sich Ihnen bereits aufgedrängt hat. Ah! Ich lese in Ihren Zügen, daß es so ist – Sie haben Peschiera gesehen? Dieses Haus ist also weniger sicher, als Ihr Vater geglaubt hat. Kein Haus, außer dem eines Gatten, gewährt Ihnen Sicherheit. Ich biete Ihnen meinen Namen an – es ist der Name eines Gentlemans – mein Vermögen, welches klein ist – die Betheiligung an meinen Hoffnungen auf die Zukunft, welche groß sind. Ich übergebe Ihnen jetzt den Brief Ihres Vaters und erwarte Ihre Antwort.«

Randal verbeugte sich leicht, legte den Brief in Violanten's Hand und zog sich einige Schritte zurück. Es lag nicht in seinem Plane, Violanten's Zuneigung zu gewinnen, sondern eher, sie zum Widerstreben zu reizen oder wenigstens ihr Schrecken einzujagen – wir müssen mit der Enthüllung seiner Gründe hiezu warten. So trat er bei Seite, anscheinend mit einer auf Selbstvertrauen gegründeten Gleichgültigkeit, während das Mädchen folgenden Brief las:

»Mein Kind, – nimm Mr. Leslie freundlich auf. Er hat meine Einwilligung, sich als Bewerber um deine Hand an dich zu wenden. Umstände, von welchen dich jetzt in Kenntniß zu setzen unnütz ist, machen es für meinen eigenen Frieden und für mein Glück wesentlich nothwendig, daß Eure Verbindung unverzüglich erfolge. Mit Einem Worte, ich habe Mr. Leslie meine Zusage gegeben, und ich überlasse es mit Vertrauen der Tochter meines Hauses, dieses von ihrem besorgten und zärtlichen Vater gegebene Besprechen einzulösen.«

Der Brief entfiel Violanten's Hand. Randal näherte sich und; gab ihn ihr wieder. Ihre Augen begegneten sich. Violante wich zurück.

»Ich kann Sie nicht heirathen,« sagte sie in ruhigem Tone.

»Wirklich?« antwortete Randal trocken. »Ist der Grund der, daß Sie mich nicht lieben können?«

»Ja.«

»Ich erwarte nicht, daß Sie es thun würden, und doch bestehe ich auf meiner Bewerbung. Ich habe Ihrem Vater versprochen, daß ich mich durch Ihre erste unüberlegte Weigerung nicht bewegen lassen würde, zurückzutreten.«

»Ich werde mich sofort zu meinem Vater begeben.«

»Verlangt er das in seinem Briefe? Lesen Sie denselben doch noch einmal durch. Entschuldigen Sie mich; aber er hat Ihre Heftigkeit vorausgesehen, und ich habe ein anderes Billet an Lady Lansmere, in welchem er Ihre Herrlichkeit ersucht, nicht zuzugeben, daß Sie zu ihm zurückkehren, ehe er selbst kömmt oder nach Ihnen schickt. Das wird er thun, sobald Sie mit Ihrem Worte das seinige eingelöst haben.«

»Und Sie wagen es, so mit mir zu sprechen und doch vorzugeben, daß Sie mich lieben?«

Randal lächelte ironisch.

»Ich mache nur Anspruch darauf, Ihr Gatte zu werden. Liebe ist ein Gegenstand, über welchen ich vielleicht früher hätte sprechen können, aber eben so gut auch später sprechen kann. Ich gebe Ihnen eine kurze Bedenkzeit. Wenn ich wieder vor Ihnen erscheine, so geschieht es, um den Tag unserer Verbindung festzusetzen.«

»Niemals!«

»Dann werden Sie die erste Tochter Ihres Hauses sein, welche ihrem Vater den Gehorsam verweigert, und dies in einer Zeit, da er durch seine Verbannung, seinen Kummer und seine Sorgen ohnehin schwer darniedergedrückt ist.«

Violante rang die Hände.

»Gibt es denn keine andere Wahl kein Mittel, zu entrinnen?«

»Ich wüßte keines. Hören Sie mich an. Ich hätte Sie lieben können, es ist wahr; aber eine Verbindung mit einem Wesen, welches mir abgeneigt ist, sichert nicht mein Glück, und ebenso wenig ist es für meinen Ehrgeiz förderlich, mir eine Gattin zu wählen, die ärmer ist, als ich selbst. Ich reiche Ihnen daher meine Hand nur, um das Ihrem Vater gegebene Wort zu halten und Sie von einem Schurken zu retten, den Sie noch mehr hassen würden, als mich, und gegen welchen Ihnen keine Mauern und keine Gesetze Schutz zu bieten vermögen. Nur Eine Person hätte Sie vielleicht vor dem Elende bewahren können, welches Sie von einer Verbindung mit mir zu erwarten scheinen, jene Person hätte vielleicht die Pläne des Feindes Ihres Vaters vernichten – vielleicht Bedingungen erwirken können, unter welchen seine Verbannung widerrufen und er wieder in seine Würde eingesetzt worden wäre, jene Person ist –«

»Lord L'Estrange?«

»Lord L'Estrange!« wiederholte Randal scharf und beobachtete ihre bleichen, geöffneten Lippen und ihre wechselnde Gesichtsfarbe; »Lord L'Estrange! Was könnte er thun? Warum nannten Sie ihn?«

Violante wandte sich ab. »Er rettete einst meinen Vater,« sagte sie mit Gefühl.

»Und hat seitdem vermittelt und sich ein wenig Mühe gegeben und, der Himmel weiß was, versprochen – und zu welchem Ende? Pah! Die Person, von welcher ich spreche, würde Ihr Vater nie sehen wollen – er würde ihr nicht glauben, wenn er sie sähe; und doch ist sie hochherzig und edelmüthig – sie könnte mit Ihnen Beiden sympathisiren. Ich spreche von der Schwester des Feindes Ihres Vaters – von der Marchesa di Negra. Ich bin überzeugt, daß sie großen Einfluß auf ihren Bruder besitzt – daß sie genug von seinen Geheimnissen kennt, um ihm soviel Furcht einzujagen, daß er auf alle Pläne in Beziehung auf Sie verzichten würde; allein es ist jetzt nutzlos, von ihr zu reden.«

»Nein, nein,« rief Violante. »Sagen Sie mir, wo sie wohnt – ich will sie sehen.«

»Um Vergebung; ich kann Ihnen nicht gehorchen; und in der That ist ihr eigener Stolz durch Ihres Vaters unglückliche Vorurtheile gegen sie gegenwärtig etwas erregt. Es ist zu spät, auf ihre Hülfe zu rechnen. Sie wenden sich von mir ab – meine Gegenwart ist Ihnen unwillkommen – ich befreie Sie jetzt davon. Später müssen Sie aber, willkommen oder unwillkommen, dieselbe ertragen – und für das ganze Leben!«

Randal verbeugte sich wieder mit förmlicher Höflichkeit, schritt auf das Haus zu und frug nach Lady Lansmere. Die Gräfin war zu Hause. Randal übergab Riccabocca's Billet, welches in wenig Worten die Mittheilung enthielt, daß er befürchte, Peschiera habe seine Zufluchtsstätte entdeckt. Ferner ersuchte er Lady Lansmere, Violante, selbst wenn sie andere Wünsche haben sollte, so lange zurück zu halten, bis sie wieder von ihm höre.

Die Gräfin las, und um ihre Lippen spielte ein verächtliches Lächeln. »Seltsam!« sagte sie halb zu sich selbst.

»Seltsam!« sagte Randal, »daß ein Mann, wie Ihr Correspondent, einen Menschen, wie Graf di Peschiera fürchten kann. Nicht so?«

»Sir,« sagte die Gräfin ein wenig erstaunt – »seltsam, daß in einem Lande, wie das unserige, irgend Jemand einen anderen Menschen fürchten kann!«

»Ich weiß nicht,« sagte Randal mit seinem leichten, sanften Lächeln; »ich fürchte viele Leute, und ich kenne Viele, die mich fürchten müssen; und doch trifft man an jeder Straßenecke einen Polizeidiener!«

»Ja,« sagte Lady Lansmere. »Aber anzunehmen, daß dieser verworfene Ausländer ein Mädchen, wie Violante, gegen ihren Willen entführen könnte – ein Mann, den sie nie gesehen und den sie zu hassen gelernt hat!«

»Seien Sie nichtsdestoweniger auf Ihrer Hut, Mylady, ich bitte Sie; wer den Willen hat, der wird auch Mittel und Wege finden.«

Randal verabschiedete sich und kehrte zu Madame di Negra zurück. Er blieb eine Stunde bei ihr, suchte alsdann wieder den Grafen auf und begab sich zuletzt nach Limmer's Hotel.

»Randal,« sagte der Squire, der bleich und angegriffen aussah, es aber verschmähte zu gestehen, daß er so schwach sei, sich noch immer wegen seines widerspenstigen Sohnes zu grämen und sich nach ihm zu sehnen – »Randal, Sie haben jetzt in London nichts zu thun; wollen Sie zu mir kommen und bei mir bleiben, um sich der Landwirtschaft zu widmen? Ich erinnere mich, daß Sie sehr gesunde Ansichten über die dünne Aussaat kund gaben.«

»Mein theurer Sir, ich werde zu Ihnen kommen, sobald die allgemeine Wahl vorüber ist.«

»Was zum Henker haben Sie mit der allgemeinen Wahl zu thun?«

»Mr. Egerton wünscht, daß ich in das Parlament eintrete, und es sind in der That gegenwärtig zu diesem Zwecke Bemühungen im Gange.«

Der Squire schüttelte den Kopf »Die Politik meines Halbbruders gefällt mir nicht.«

»Ich werde ziemlich unabhängig von derselben sein,« rief Randal in hochmütigem Tone; »diese Unabhängigkeit ist die Bedingung, welche ich stelle.«

»Es freut mich, dies zu hören; und wenn Sie in's Parlament kommen, so hoffe ich, daß sie den Interessen des Grundbesitzes nicht den Rücken kehren werden?«

»Den Interessen des Grundbesitzes den Rücken kehren!« rief Randal mit frommem Entsetzen. »Sir! so unnatürlich bin ich nicht!«

»Das ist die richtige Bezeichnung dafür,« sprach der leichtgläubige Squire; »es ist natürlich! Es ist gerade, wie wenn man seiner eigenen Mutter den Rücken kehren würde. Der Boden ist eine Mutter –«

»Für Diejenigen, welche von ihm leben – gewiß eine Mutter,« sagte Randal in ernstem Tone. »Und obgleich sie meinen Vater in der Wirklichkeit eher verhungern, als von ihr leben läßt, und Rood Hall nicht mit Hazeldean zu vergleichen ist, so – will ich doch –«

»Lassen Sie das jetzt,« unterbrach ihn der Squire; »ich muß mit Ihnen sprechen. Ihre Großmutter war eine Hazeldean.«

»Ihr Bild hängt in dem Besuchzimmer in Rood. Die Leute sagen, ich sei ihr sehr ähnlich!«

»Wirklich?« versetzte der Squire. »Die Hazeldeans sind sonst stämmig und von rosiger Gesichtsfarbe, was Sie freilich nicht sind; aber das ist nicht Ihre Schuld. Wir sind Alle so, wie der Himmel uns geschaffen hat! Kommen wir indessen zur Sache. Ich bin im Begriffe, mein Testament zu ändern –« fügte er mit einem unterdrückten Schlucken hinzu. »Hier ist der rohe Entwurf, den mir die Advokaten ausarbeiten sollen.«

»Bitte – bitte, Sir, sprechen Sie nicht mit mir über einen solchen Gegenstand. Ich kann es nicht ertragen, auch nur an die Möglichkeit zu denken, daß – daß –«

»Ich sterben könnte! Ha, ha! Unsinn! Mein eigener Sohn hat den Tag meines Todes nach der Versicherungstabelle berechnet. Ha, ha, ha! Wahrhaftig, ein sehr fashionabler Sohn – he? Ha, ha!«

»Der arme Frank! Lassen Sie es ihn nicht entgelten, daß er für einen Augenblick die richtigen Gefühle vergaß. Wenn er mit der ausländischen Dame verheiratet und selbst Vater ist, wird er –«

»Er selbst Vater!« platzte der Squire heraus. »Vater von einem Schwarm papistischer Kröten mit gelben Gesichtern! Keine fremden Frösche sollen um mein Grab auf dem Friedhof in Hazeldean herumhüpfen. Nein, nein! Aber Sie brauchen mich nicht mit so vorwurfsvollen Blicken anzusehen – ich werde Frank nicht enterben.«

»Das versteht sich,« sagte Randal, und seine Lippen verzogen sich zu einer bitteren krummen Linie und kämpften gegen das freundliche Lächeln, zu welchem er sich zu zwingen suchte.

»Nein – ich werde ihm die lebenslänglichen Einkünfte von dem größten Theile des Gutes lassen; wenn er aber eine Ausländerin heirathet, so dürfen ihm ihre Kinder in der Erbschaft nicht nachfolgen – Sie sind in diesem Falle der Nächste nach ihm. Aber – (unterbrechen Sie mich nicht) – aber Frank sieht aus, als würde er länger leben, wie Sie – so könnten Sie mit Recht sagen: ›Schönen Dank für die gute Absicht.‹ Ich gedenke aber, mehr für Sie zu thun, als Ihnen blos eine unfruchtbare Stelle in der Erbfolge einzuräumen. Was sagen Sie zum Heirathen?«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt,« versetzte Randal demüthig.

»Gut, Miß Sticktorights wäre noch zu haben – eine reiche Erbin. Ihre Güter gränzen an Rood. Früher einmal habe ich für meinen gottlosen Jungen an sie gedacht. Auf dem Gute ruht eine Hypothek; der alte Sticktorights würde froh sein, sie vom Halse zu bekommen. Ich will sie aus den Hazeldean'schen Einkünften bezahlen und das Wegerecht mit in den Kauf geben. Sie verstehen mich. Kommen Sie also, so bald Sie können, zu uns herunter und werben Sie selbst um die junge Dame.«

Randal drückte in beredten und erkenntlichen Worten seinen Dank aus und deutete mit Zartheit an, daß, wenn der Squire je beabsichtigen sollte, ihm (immer ohne Nachtheil für Frank) irgend welche pecuniäre Gefälligkeiten zu erweisen, es ihm größere Freude machen würde, einen Theil der alten Rood'schen Güter zurückzuerhalten, als alle Ländereien der Sticktorights, und wenn diese auch von jeder anderen Last, als der der liebenswürdigen Erbin frei wären.

Der Squire hörte Randal mit wohlwollender Aufmerksamkeit zu. Der Landedelmann konnte diesen Wunsch vollständig begreifen und nur natürlich finden. Er versprach, die Sache zu untersuchen, und zu sahen, was mit dem alten Thornhill zu machen sei.

Randal bemerkte hier, daß Mr. Thornhill im Begriffe sei, ein großes Stück der alten Leslie'schen Güter durch Levy veräußern zu lassen, und daß er, Randal, es auf diese Weise voraussichtlich um einen billigeren Preis erwerben könnte, als wenn Mr. Thornhill wüßte, daß sein Nachbar, der Squire, ein Angebot darauf machen wolle. »Es ist besser, weder Levy noch Thornhill etwas davon zu sagen«

»Ganz richtig,« erwiderte der Squire; »kein Gutsbesitzer verkauft gerne an einen andern Gutsbesitzer in derselben Grafschaft, der ebenso viele Ländereien besitzt, wie er selbst; es stört das Gleichgewicht der Macht. Besorgen Sie selbst das Geschäft, und wenn ich Ihnen zu dem Kaufe verhelfen kann – (nachdem der Junge verheirathet ist – vorher kann ich mich auf nichts einlassen) – nun, dann will ich es thun.«

Randal begab sich jetzt noch zu Egerton. Der Staatsmann befand sich in seinem Bibliothekzimmer, brachte die Rechnungen seines Verwalters in Ordnung und gab kurze Befehle in Bezug auf die Einschränkung seines Haushaltes.

»Es wäre möglich, daß ich in's Ausland ginge, wenn ich bei der Wahl unterliege,« sagte Egerton, indem er sich herabließ, seinem Bedienten einen Grund für seine Sparsamkeit anzugeben; »und wenn ich nicht unterliege, so werde ich doch jedenfalls, da ich nicht mehr im Amte bin, sehr zurückgezogen leben.«

»Störe ich, Sir?« frug Randal, indem er eintrat.

»Nein – ich bin eben fertig.«

Der Hausverwalter zog sich sehr überrascht und verdrießlich zurück und dachte darüber nach, sein eigenes Amt aufzugeben – nicht um, wie Egerton, zu sparen, sondern um zu verbrauchen. Der Hausverwalter hatte Privatgeschäfte mit Baron Levy und war in der That der wirkliche X. Y. der Times, für welchen irrthümlich Dick Avenel gehalten worden war. Er trieb mit seinem Gehalt und seinen zufälligen Einnahmen Wechselgeschäfte; und es war ein Theil seines eigenen Geldes, welches, ohne daß er es wußte, die letzten fünf tausend Pfund, die Egerton von Levy geliehen hatte, vollzählig machte.

»Ich habe die Sache mit unserem Comite abgemacht,« sagte Egerton kurz, »und Sie werden mit Lord Lansmere's Einwilligung, wie wir es beschlossen haben, in Gemeinschaft mit mir als Wahlcandidat auftreten. Und sollte mir irgend ein Unglück zustoßen – das heißt, wenn ich aus irgend einem Grunde diesen Sitz aufgeben sollte, so können Sie mein Nachfolger sein – vielleicht in sehr kurzer Zeit. Machen Sie sich bei den Wählern beliebt und nehmen Sie, in den öffentlichen Lokalen für uns Beide das Wort. Ich stütze mich auf meine Würde und überlasse Ihnen die Wahlarbeit. Keinen Dank – Sie wissen, wie sehr ich das Danken hasse. Gute Nacht.«

»Nie bin ich dem Reichthume und der Macht näher gestanden, als jetzt,« sagte Randal, als er sich langsam entkleidete. »Und ich verdanke dies meinem Wissen – der Kenntniß der Menschen – des Lebens – und alles Dessen, was man aus Büchern lernen kann.«

Hierauf ließen seine schmalen, dünnen Finger den Löscher auf das Licht fallen, und der glückliche Ränkeschmied legte sich nieder, um im Dunkeln zu ruhen. Die Fensterläden waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen – nie war ein Schlaf ruhiger – nie ein Gemach dunkler!

An jenem Tage hatte Harley bei seinem Vater zu Mittag gespeist. Er sprach viel mit Helene – beinahe gar nicht mit Violante. Kurz, ehe er sich verabschiedete, bat er Helene, eine seiner Lieblingsarien auf dem Piano zu spielen; während Letztere seinem Wunsche willfahrte, verließ Lady Lansmere, welche zwischen ihm und Violante gesessen hatte, das Zimmer, und Violante wandte sich jetzt rasch gegen Harley.

»Kennen Sie die Marchesa di Negra?« frug sie hastig.

»Ein wenig. Warum fragen Sie?«

»Das ist mein Geheimniß,« antwortete Violante und versuchte, in ihrer alten, offenen, kindlichen und schelmischen Weise zu lächeln. »Aber sagen Sie mir, haben Sie eine bessere Meinung von ihr, als von ihrem Bruder?«

»Gewiß. Ich glaube, daß sie ein gutes Herz besitzt, und daß es ihr nicht an edelmüthigen Eigenschaften fehlt.«

»Können Sie nicht meinen Vater bewegen, sie zu besuchen? Würden Sie ihm nicht rathen, es zu thun?«

»Jeder Ihrer Wünsche ist mir Gesetz,« antwortete Harley galant. »Sie wünschen, daß Ihr Vater sie sehen soll? Ich will es versuchen, ob ich ihn hiezu überreden kann. Zum Dank dafür vertrauen Sie mir jetzt Ihr Geheimniß an. Was wollen Sie damit erreichen?«

»Die Erlaubniß, nach Italien zurückkehren zu dürfen. Ich kümmere mich nicht um Ehren nicht um Rang; und auch mein Vater hat aufgehört, den Verlust solcher Dinge zu beklagen. Aber die Heimath – das Vaterland wieder zu sehen – o, und dort sterben zu dürfen!«

»Sterben! Ihr Kinder habt erst kürzlich den Himmel verlassen und sprecht schon wieder davon, dahin zurückzukehren, ohne zu bedenken, daß Ihr vorher durch die Thore des Kummers, der Gebrechlichkeit und des Alters gehen müßt. Ich glaubte aber, Sie seien mit England zufrieden. Woher dieser Drang, es zu verlassen? Violante, Sie sind unfreundlich gegen uns – gegen Helene, welche Sie bereits so innig liebt!«

Als Harley sprach, stand Helene vom Piano auf, näherte sich Violante und legte ihre Hand schmeichelnd auf die Schulter der Italienerin. Violante überlief ein Frösteln, und sie wich zurück. Harley's und Helenen's Blicke folgten ihr. Harley's Augen waren sehr ernst und gedankenvoll.

»Ist sie nicht verändert – Ihre Freundin?« sagte er und schlug die Augen nieder.

»Ja, sie ist in letzterer Zeit sehr verändert. Ich fürchte, ihren Geist beschäftigt etwas – ich weiß nicht was.«

»Ah!« murmelte Harley, »wohl möglich; allein in dem Alter, in welchem Sie Beide stehen, beschäftigt sich der Geist nicht lange mit Einem und demselben Gegenstande. Merken Sie wohl, ich sage: der Geist – das Herz hält die Eindrücke schon fester.«

Helene seufzte leise, aber tief.

»Und darum,« fuhr Harley, halb zu sich selbst sprechend, fort, »können wir leicht entdecken, wenn etwas den Geist beschäftigt – irgend eine Sorge, eine Furcht, eine Unruhe. Wenn sich aber das Herz über seinem eigenen leidenschaftlichen Schmerz zuschließt, wer kann denselben errathen, wer ihn ergründen? Aber Sie wenigstens, meine reine, aufrichtige Helene – Sie könnten Geist und Herz der Probe des Glasfensters in der Fabel unterwerfen.«

»O nein!« rief Helene unwillkürlich.

»O ja! Lassen Sie mich nicht denken, daß Sie irgend ein Geheimniß haben, welches ich nicht kennen, oder irgend einen Kummer, den ich nicht theilen darf. Denn, in unseren gegenseitigen Beziehungen würde dies ein Betrug sein.«

Als er so sprach, drückte er ihre Hand mit mehr als gewöhnlicher Zärtlichkeit und verließ bald darauf das Haus.

Die ganze Nacht aber fühlte sich Helene wie ein schuldbeladenes Wesen – unglücklicher sogar, als Violante.


Fünftes Kapitel.

In der Frühe des nächsten Morgens, als sich Violante noch in ihrem Zimmer befand, traf ein an sie gerichteter Brief mit der Post ein. Die Adresse war von einer ihr unbekannten Hand. Sie öffnete denselben und las in italienischer Sprache, was in der Uebersetzung folgendermaßen lautete:

»Ich wünsche sehnlich, Sie zu sehen; aber ich kann das Haus, in welchem Sie leben, nicht offen betreten Vielleicht steht es in meiner Macht, Familienzwistigkeiten beizulegen und all das Unrecht, welches Ihr Vater erlitten haben mag, wieder gut zu machen. Vielleicht bin ich im Stande, Ihnen selbst einen wesentlichen Dienst zu leisten. Aber zu allem Diesem ist es nothwendig, daß wir uns irgend wo treffen und ohne Zwang besprechen. Indessen drängt die Zeit – die Sache leidet keinen Aufschub. Wollen Sie eine Stunde nach Mittag in der kleinen Straße, die an dem Privateingange ihres Gartens vorbeiläuft, mit mir zusammentreffen? Ich werde allein sein; und Sie können sich vor einer Zusammenkunft mit einer Angehörigen Ihres Geschlechtes – mit einer Verwandten – nicht fürchten. Ach, ich sehne mich so sehr, Sie zu sehen! Kommen Sie, ich beschwöre Sie.

Beatrice.«

Violante las, und ihr Entschluß war gefaßt. Sie war von Natur furchtlos, und es gab wenige Dinge, vor welchen sie zurückgebebt wäre, wenn Aussicht vorhanden war, dadurch ihrem Vater einen Dienst leisten zu können. Und jetzt schien ihr jede Gefahr leicht in Vergleich mit derjenigen, welche ihr von der durch die Einwilligung ihres Vaters unterstützten Bewerbung Randals drohte. Randal hatte ihr gesagt, daß sie ihm nur mit Madame di Negra's Hülfe entrinnen könne. Harley hatte gesagt, daß Madame di Negra edle Eigenschaften besitze; und wer anders, als Madame di Negra würde als Verwandte an sie schreiben und sich Beatrice unterzeichnen?

Kurz vor der bestimmten Stunde schlich sie unbeachtet durch die Baumgruppen, öffnete die kleine Gartenthüre und befand sich in dem stillen, einsamen Feldweg. Einige Minuten darauf erschien eine weibliche Gestalt mit raschen leichten Schritten und sagte,indem sie ihren Schleier zurückschlug, mit einer Art wilder unterdrückter Energie: »Sie sind es! Man hat mir die Wahrheit gesagt. Schön! – schön. Und wie jung, wie blühend!« Sie dämpfte kummervoll die Stimme und Violante, über den Ton verwundert und bei dem Lob erröthend, schwieg einige Augenblicke, dann sagte sie zögernd:

»Sie sind, wie ich vermuthe, die Marchesa di Negra. Ich hörte genug von Ihnen, um Vertrauen zu Ihnen zu haben.«

»Von mir! Durch wen?« frug Beatrice beinahe heftig.

»Durch Mr. Leslie und – und –«

»Fahren Sie fort – warum stottern Sie?«

»Durch Lord L'Estrange.«

»Durch niemand sonst?«

»So viel ich mich erinnere, nein.«

Beatrice seufzte tief und ließ ihren Schleier fallen. Einige Fußgänger kamen jetzt des Weges, und als sie zwei Damen von so bemerkenswertem Aeußeren dort stehen sahen, wandten sie sich um und blickten sie neugierig an.

»Wir können hier nicht zusammen sprechen,« sagte Beatrice ungeduldig, »und ich habe Ihnen so vieles zu sagen – so vieles von Ihnen zu erfahren. Vertrauen Sie mir noch mehr; ich spreche in Ihrem eigenen Interesse. Mein Wagen wartet dort unten. Fahren sie mit mir nach Hause – ich werde Sie keine Stunde aufhalten und Sie wieder zurückbringen.«

Dieser Vorschlag machte Violante stutzig. Sie zog sich mit einer abwehrenden Geberde zurück. Beatrice legte ihre Hand auf den Arm des Mädchens, entfernte den Schleier wieder von ihrem Gesichte und sah sie mit einem halb spöttischen, halb bewundernden Blicke an.

»Auch ich würde einst vor einem Schritte zurückgebebt sein, welcher über die Formgrenzen hinausgeht, womit die Welt das Weib von der Freiheit trennt. Jetzt – sehen Sie, wie kühn ich bin. Kind, Kind, spassen Sie nicht mit Ihrem Schicksal. Es wird Ihnen vielleicht nie wieder diese Gelegenheit geboten. Ich bin nicht hieher gekommen blos um mit Ihnen zusammenzutreffen; ich muß etwas erfahren von Ihnen – etwas von Ihrem Herzen wissen. Warum erschrecken Sie? Ist Ihr Herz nicht rein?«

Violante gab keine Antwort, aber ihr liebliches und erhabenes Lächeln demüthigte die Fragende, indem es ihr einen Vorwurf zu machen schien.

»Ich kann es vielleicht durchsetzen, daß Ihr Vater nach Italien zurückkehren darf,« sagte Beatrice mit veränderter Stimme. »Kommen Sie!«

Violante näherte sich, aber noch immer zögernd.

»Nicht durch eine Verbindung mit Ihrem Bruder?«

»Fürchten Sie diese so sehr?«

»Fürchten? Nein! Warum sollte ich etwas fürchten, was zu verwerfen in meiner Macht steht. Aber wenn Sie wirklich meinem Vater durch edlere Mittel wieder die Rückkehr nach Italien möglich machen können, so retten Sie mich vor –«

Violante hielt plötzlich inne; die Augen der Marchesa funkelten.

»Sie retten vor – ah! ich errate was sie unausgesprochen lassen. Aber kommen sie, kommen Sie – sehen Sie dort noch mehr fremde Leute. Sie sollen mir alles in meinem eigenen Hause erzählen. Und wenn Sie ein einziges Opfer bringen können, so will ich Ihnen alles Weitere ersparen. Kommen Sie, oder leben Sie für immer wohl!«

Violante legte ihre Hand so offen und vertrauensvoll in die Beatricens, daß der Marchesa das Blut in die Wangen schoß und sie laut an ihre Schuld erinnerte.

»Wir gehören dem gleichen Geschlechte an,« sagte Violante, »wir stammen von demselben edeln Hause ab; wir haben Beide auf dieselbe Weise vor derselben jungfräulichen Mutter Gottes gekniet; warum sollte ich Ihnen nicht Glauben und Vertrauen schenken?«

»Warum nicht?« murmelte Beatrice mit schwacher Stimme und ging weiter, das Haupt auf die Brust gesenkt, und aus ihrem Schritte war aller Stolz verschwunden.

Sie erreichten einen Wagen, der an der Ecke der Straße stand. Beatrice sprach bei Seite ein Wort zu dem Kutscher, der ein Italiener und im Dienste des Grafen war. Der Mann nickte und öffnete den Kutschenschlag. Die Damen stiegen ein. Beatrice ließ die Vorhänge herunter, der Mann stieg wieder auf den Bock und fuhr rasch von dannen.

Beatrice lehnte sich zurück und stöhnte laut. Violante rückte ihr näher. »Fühlen Sie Schmerzen?« sagte sie mit ihrer milden melodischen Stimme, »oder kann ich Ihnen helfen, wie Sie mir helfen wollten?«

»Kind, geben Sie mir Ihre Hand und seien Sie stille, während ich Sie ansehe. War ich je so schön, wie sie? Niemals! Und welche Untiefen – welche Untiefen brausen dahin zwischen ihr und mir!«

Sie sprach wie von einer abwesenden Person und versank wieder in Stillschweigen, fuhr aber fort, Violante unverwandt anzusehen, welche vor diesen Blicken ihre von langen Wimpern beschatteten Augen niederschlug.

Plötzlich fuhr Beatrice auf und rief: »Nein, es soll nicht geschehen!« und legte ihre Hand auf die Haltschnur.

»Was soll nicht geschehen?« frug Violante, über den Ausruf und über die Bewegung erstaunt. Beatrice hielt inne – ihre Brust wogte sichtbar unter ihrem Kleide.

»Warten Sie,« sagte sie langsam. »Wir gehören, wie Sie sagen, Beide demselben edeln Hause an; Sie weisen die Bewerbung meines Bruders zurück – doch haben Sie ihn gesehen, und seine Gestalt gefällt dem Auge – sein feines Benehmen reizt die Phantasie. Er bietet Ihnen Rang, Reichthum und für Ihren Vater Verzeihung und Zurückberufung an. Wenn ich die Einwendungen beseitigen könnte, welche Ihr Vater gegen ihn erhebt – wenn ich beweisen könnte, daß der Graf ihm weniger Unrecht gethan hat, als er glaubt, würden Sie alsdann noch immer den Rang, den Reichthum und die Hand Giulio Franzini's zurückweisen?«

»O ja, und wäre seine Hund die eines Königs!«

»Nun denn, als Weib zum Weibe – Beide sind wir, wie Sie sagen, demselben Stamme entsprossen – nun denn, antworten Sie mir – antworten Sie mir, denn Sie sprechen mit einem Weibe, das geliebt hat – lieben Sie einen Andern? Sprechen Sie.«

»Ich weiß es nicht. Nein nicht Liebe – es war eine Phantasie; es ist eine Unmöglichkeit. Fragen Sie nicht – ich kann nicht antworten« – und ihre abgebrochenen Worte wurden plötzlich durch Thränen erstickt.

Beatricen's Züge wurden hart und mitleidslos. Sie ließ den Schleier wieder fallen und zog ihre Hand von der Schnur zurück; aber der Kutscher hatte die Berührung gefühlt, und hielt an.

»Fort!« sagte Beatrice – »wie die Befehle lauteten.«

Beide schwiegen jetzt lange – Violante erholte sich nur mit großer Mühe von ihrer Aufregung, Beatrice athmete schwer und kreuzte ihre Arme fest über der Brust. Unterdessen hatte der Wagen London erreicht – er fuhr durch den Stadttheil, in welchem das Haus Madame di Negra's stand, hindurch – er rollte rasch über eine Brücke – eilte durch eine breite Straße und dann durch Querstraßen und Gäßchen mit hohen, öden, traurig aussehenden Häusern auf beiden Seiten. So ging es immer weiter vorwärts, bis Violante unruhig zu werden begann.

»Wohnen Sie so weit weg?« sagte sie, zog den Fenstervorhang auf und blickte mit Schrecken hinaus auf die ihr fremde und schmutzig aussehende Vorstadt. »Man wird mich schon vermissen. O, lassen Sie uns zurückkehren, ich beschwöre Sie.«

»Wir sind nächstens am Ziele. Der Kutscher hat diesen Weg eingeschlagen, um die Straßen zu vermeiden, in welchen Jemand uns hätte beisammen sehen können – vielleicht sogar mein eigener Bruder. Hören Sie mich an und erzählen Sie mir von – von dem Geliebten, den Sie mit Recht mit einem Phantasiegebilde vergleichen. ›Unmöglich‹ – ja es ist unmöglich!«

Violante bedeckte ihre Augen mit den Händen, und ließ ihr Haupt tief herabsinken »Warum sind Sie so grausam?« sagte sie. »Das ist nicht das, was Sie mir versprachen! Wie werden Sie meinem Vater dienen – wie ihm die Rückkehr in sein Vaterland ermöglichen? Das war es, was Sie mir mitzutheilen versprachen.«

»Wenn Sie in ein einziges Opfer verwilligen, so werde ich mein Versprechen erfüllen. Wir sind am Ziele.«

Der Wagen hielt vor einem hohen, stillen Hause. Dasselbe war von den andern Häusern durch eine Mauer getrennt, die einen Hof einzuschließen schien; es stand am Ende einer engen Gasse, welche auf der einen Seite an hie Themse grenzte. In jener Gegend war der Fluß mit finsteren, düster aussehenden Schiffen und Fahrzeugen bedeckt, die unter dem winterlichen Himmel bewegungslos dalagen.

Der Kutscher stieg ab und zog die Glocke. Zwei braune italienische Gesichter kamen auf der Schwelle zum Vorschein.

Beatrice stieg leicht aus dem Wagen und reichte Violante die Hand. »So, hier werden wir sicher sein, wenige Minuten werden hinreichen, um Ihr Schicksal zu entscheiden.«

Als sich die Thore hinter Violante, welche, jetzt Verdacht schöpfend und unruhig werdend, furchtsam in der dunkeln, traurigen Halle umherblickte, geschlossen hatte, wandte sich Beatrice um und sagte: »Der Wagen soll warten.«

Der Italiener, dem dieser Befehl galt, verbeugte sich und lächelte; als aber die beiden Damen die Treppen hinauf gestiegen waren, öffnete er wieder die Hausthüre und sagte zu dem Kutscher: »Zurück zum Grafen und sag' ihm, daß alles in Ordnung ist.«

Der Wagen fuhr fort. Der Mann, welcher diesen Befehl gegeben hatte, verriegelte und verschloß die Thüre, nahm dann den ungeheuren Schlüssel mit sich und verschwand in einer der geheimnißvollen Vertiefungen des Erdgeschoßes. Die jetzt leere und einsame Halle bot das finstere Aussehen eines Gefängnisses dar; die starke Thüre war mit Eisen beschlagen – die steinerne Treppe nur durch ein hohes, mit Eisengitter versehenes Fenster, auf welchem jahrelanger Staub lag, erhellt und eifersüchtig abgesperrt – selbst die Wände hatten da und dort spitzig vorspringende Stellen, als sollten sie sogar einen etwaigen gewaltsamen Angriff von Innen abwehren.


Sechstes Kapitel.

Der weise Einsiedler von Norwood hatte, wie wir gesehen haben, ohne vorherige Berathung mit der treuen Jemima seinen eigenen Befürchtungen und Randal's schlauen Einflüsterungen in dem kurzen und entscheidenden Brief an Violante Gehör geschenkt; doch Nachts, wo sich die Kirchhöfe den Todten und die Herzen der Eheleute den Geheimnissen erschließen, welche sie den Tag über verborgen hielten, setzte der weise Mann seine Gattin von dem eingeschlagenen Schritte in Kenntniß. Und Jemima – welche mit ihren Gefühlen die in Italien geltende Sitte, den Vätern über ihre Töchter ohne Rücksicht auf deren Neigung oder Widerwillen ein Verfügungsrecht einzuräumen, nicht billigen konnte, und eine instinktmäßige Abneigung gegen Randal empfand, stellte dem Schüler Macchiavel's vernünftig und in milder Weise vor, er dürfe, wenn der schöne Graf wirklich, wie er befürchte, einen Eindruck auf Violante gemacht habe, und wenn er wünsche, sie möchte ihre Gunst dem von ihm selbst empfohlenen Bewerber zuwenden, nicht ganz den richtigen Weg eingeschlagen haben – ein so plötzlicher Befehl könne das Herz nur erkälten, den Widerspruch nur herausfordern, und dem kühnen Peschiera sogar eine romantische Anziehungskraft, die er vorher nicht besessen habe, verleihen.

Mit Riccabocca's Schlaf war es darnach für jene Nacht vorbei; aber am nächsten andern Tage sandte er Giacomo zu Lady Lansmere mit einem sehr freundlichen Brief an Violante und mit einem Billet an ihre Wirthin, in welchem er diese bat, seine Tochter auf ein Paar Stunden nach Norwood zu bringen, weil er mit Beiden dringend zu sprechen wünsche.

Gerade als Giacomo in Knightsbridge ankam, hatte man Violanten's Abwesenheit entdeckt. Lady Lansmere, deren Stolz immer darauf bedacht war, sich nicht dem Geplauder der Welt auszusetzen, veranlaßte Giacomo, seine Aufregung nicht vor der Dienerschaft zu verrathen, und sagte, Anstands halber, die junge Dame habe sie von ihrer Absicht, einigen Freundinnen Besuche abzustatten, in Kenntniß gesetzt, und sich ohne Zweifel durch die Gartenthüre, welche offen gefunden worden, entfernt; der Weg sei dort stiller, als auf der Landstraße, und ihre Freundinnen seien ihr wahrscheinlich auf dem kleinen Pfade entgegengekommen; sie, Lady Lansmere, verwundere sich nur über Eines, nämlich, daß Violante früher weggegangen sei, als sie erwartet habe. Nachdem sie dies mit einer Fassung, die Glauben erzwang, gesagt hatte, bestellte Lady Lansmere ihren Wagen, nahm Giacomo mit und fuhr zu ihrem Sohne, um sich mit ihm zu berathen.

Harley hatte sich kaum von seiner heftigen Aufregung erholt, als Randal Leslie gemeldet wurde.

»Ah,« sagte Lady Lansmere, »Mr. Leslie kann möglicher Weise etwas von der Sache wissen. Er kam gestern mit einem Billet von ihrem Vater zu ihr. Bitte, lasse ihn eintreten.«

Der österreichische Fürst näherte sich Harley. »Ich werde im Nebenzimmer warten,« flüsterte er. »Sie können vielleicht meiner bedürfen, wenn Sie den Verdacht, Peschiera könnte seine Hand mit im Spiele haben, begründet finden sollten.«

Lady Lansmere gefiel das Zartgefühl des Fürsten, und sie sagte, mit einem Blick auf Leonard:

»Vielleicht könnten auch Sie uns behülflich sein, wenn Sie sich mit dem Fürsten in das Nebenzimmer zurückziehen wollten. Mr. Leslie möchte nicht geneigt sein, über Sachen, wie diese, mit Jemand anderem als mit Harley und mir zu sprechen.«

»Ganz richtig, Mylady, aber nehmen Sie sich vor Mr. Leslie in Acht.«

Als sich die Thüre an dem einen Ende des Zimmers hinter dem Fürsten und Leonard schloß, trat Randal, anscheinend sehr aufgeregt, durch die gegenüberliegende ein:

»Ich komme eben von Ihrem Hause, Lady Lansmere. Ich hörte, Sie seien hier; ich bitte um Verzeihung, daß ich Ihnen gefolgt bin. Ich sprach in Knightsbridge vor, um Violante zu sehen – und erfuhr, daß dieselbe Sie verlassen habe. Ich beschwöre Sie, mir zu sagen, wie und warum. Ich habe ein Recht, zu fragen; denn ihr Vater hat mir ihre Hand versprochen.«

Harley's Falkenauge hatte bei Randal's Eintritte aufgeleuchtet. Er beobachtete fest das Gesicht des jungen Mannes. Bei Randal's letzten Worten verdunkelte sich sein Blick. Aber er überließ es Lady Lansmere, zu antworten und Erklärungen zu geben. Die Gräfin that dies mit wenig Worten.

Randal schlug die Hände zusammen. »Und sie ist nicht zu ihrem Vater gegangen? Sind Sie dessen sicher?«

»Der Diener ihres Vaters ist gerade von Norwood angekommen.«

»O, ich bin hiefür zu tadeln! Es ist meine rasche Bewerbung – ihre Furcht davor ihre Abneigung. Ich sehe alles!« Randal's Stimme klang hohl, als quälten ihn Gewissensbisse und Verzweiflung. »Um sie vor Peschiera zu retten, bestand ihr Vater auf ihrer sofortigen Verbindung mit mir. Seine Befehle kamen zu plötzlich, und meine eigene Bewerbung war ihr zu unwillkommen. Ich kenne ihren hohen Sinn; sie hat sich geflüchtet, um mir zu entrinnen. Aber wohin, wenn nicht nach Norwood? – Welche andere Freunde hat sie – welche Verwandte?«

»Sie bringen neues Licht in dieses Geheimniß,« sagte Lady Lansmere, »vielleicht ist sie doch zu ihrem Vater gegangen, und der Diener auf einem andern Wege hierher gekommen. Ich will sofort nach Norwood fahren.«

»Thun Sie das – thun Sie es; wenn sie aber nicht da sein sollte, dann seien Sie vorsichtig, damit Sie nicht Riccabocca mit der Nachricht von ihrem Verschwinden Schrecken einjagen. Warnen Sie auch Giacomo, es zu thun. Er würde nur auf Peschiera den Verdacht werfen und in der Aufwallung irgend eine Gewalttätigkeit begehen.«

»Sie haben also Peschiera nicht im Verdachte, Mr. Leslie?« frug Harley plötzlich.

»Ha! Wäre es möglich? Doch nein. Ich besuchte ihn heute Morgen mit Hazeldean, welcher im Begriff ist, seine Schwester zu heirathen. Ich war bei ihm, bis ich nach Knightsbridge ging, gerade um die Zeit, als Violante verschwand. Er konnte sich zu jener Zeit nicht dabei betheiligt haben.«

»Sie sahen gestern Violante. Sprachen Sie zu ihr von Madame die Negra?« frug Harley, indem er sich mit Einem Male der Fragen erinnerte, welche Violante in Betreff der Marchesa an ihn gerichtet hatte.

Randal fühlte, daß er unwillkürlich die Farbe wechselte.»Von Madame di Negra? Ich glaube nicht. Es kann aber doch sein. O ja, ich erinnere mich jetzt wieder. Sie frug mich nach der Adresse der Marchesa; ich wollte sie ihr nicht geben.«

»Die Adresse ist leicht zu finden. Kann sie nach dem Hause der Marchesa gegangen sein?«

»Ich will hineilen und nachsehen,« rief Randal und sprang auf.

»Ich werde mit Ihnen gehen und du, meine liebe Mutter, fahre, wie du im Sinne hattest, nach Norwood, und folge dem Rathe Mr. Leslie's. Verschone unseren Freund mit der Nachricht von dem Verluste seiner Tochter – wenn sie überhaupt verloren ist – bis wir sie ihm zurückgegeben haben. Er kann uns in den Zwischenzeit in nichts von Nutzen sein. Lasse Giacomo hier bleiben; es wäre möglich, daß ich ihn brauchte.«

Hierauf ging Harley in das Nebenzimmer und ersuchte den Fürsten und Leonard, seine Rückkehr abzuwarten und zu gestatten, daß Giacomo in demselben Zimmer bleibe.

Sodann kehrte er rasch zu Randal zurück. Welcher Art auch seine Befürchtungen oder Gemüthsbewegungen sein mochten, so fühlte Harley, daß er seine ganze Kaltblütigkeit des Urtheils und seine ganze Geistesgegenwart nöthig habe. Der Vorfall machte gebieterischen Anspruch auf die Entfaltung jener Fähigkeiten, welche seit seiner Jugendzeit geschlummert hatten, aber jetzt mit einer Kraft erwachten, vor der selbst Randal gezittert haben würde, wenn er den Scharfsinn, den Muth und die elektrische Thatkraft, die unter jener ruhigen Selbstbeherrschung verborgen lagen, hätte entdecken können.

Lord L'Estrange und Randal erreichten bald das Haus der Marchesa und erfuhren, daß sie seit dem Morgen in einem Wagen des Grafen Peschiera fortgefahren sei. Randal warf verstohlen einen unruhigen Blick auf Harley's Gesicht. Harley schien es nicht zu bemerken.

»Nun, Mr. Leslie, was rathen Sie zunächst?«

»Ich bin in Wahrheit rathlos! Ah – vielleicht hat sie aus Furcht vor ihrem Vater und da sie weiß, wie despotisch er in seinen Ansichten von den väterlichen Rechten ist, und wie er an seinem, in vorliegendem Falle mir gegebenen Worte festhält, sich entschlossen, auf dem Lande eine Zuflucht zu suchen – vielleicht in dem Kasino oder bei Mrs. Dale, oder bei Mrs. Hazeldean. Ich will mich sofort auf dem Landbureau erkundigen. Indessen können Sie –«

»Kümmern Sie sich nicht um mich, Mr. Leslie. Thun Sie, was Ihnen das Beste dünkt. Wenn aber Ihre Muthmaßungen richtig sind, so müssen Sie bei der hochgeborenen Dame, welche Sie zu gewinnen strebten, ein sehr rauher Bewerber gewesen sein.«

»Das nicht, aber vielleicht ein unwillkommener. Wenn sie meinetwegen entflohen ist – bedarf es dann noch einer ausdrücklichen Erklärung, daß meine Bewerbung sofort zurückgezogen werden wird? Ich bin kein selbstsüchtiger Liebhaber, Lord L'Estrange.«

»Und ich kein rachsüchtiger Mann. Kann ich aber herausbringen, wer die Verschwörung gegen diese Dame, einen Gast unter dem Dache meines Vaters, angezettelt hat, so werde ich diesen Menschen eben so kühl in den Koth treten, wie ich jetzt meinen Fuß auf diesen Handschuh setze. Guten Tag, Mr. Leslie.«

Randal blieb einige Minuten stehen, während sich Harley mit raschen Schritten entfernte; dann verzog er höhnisch seine Lippen und murmelte: »Unverschämter! Er liebt sie. Gut, ich bin bereits gerächt.«


Siebentes Kapitel.

Harley begab sich direkt nach Peschiera's Hotel. Hier sagte man ihm, daß der Graf mit Mr. Frank Hazeldean und einigen andern Herren, welche bei ihm gefrühstückt hatten, ausgegangen sei. Er hatte, für den Fall, daß Jemand ihn sprechen wollte, hinterlassen, er sei zu Tattersall Unternehmen zur Unterbringung und Pflege fremder Pferde, auch dem Verleih und Verkauf von Pferden; häufig synonym für Reitbahn oder Reithalle; Name nach dem britischen Stallmeister, Pferdetrainer, Wettbürobesitzer und schließlich Eigentümer der Londoner Tageszeitung Morning Post, Richard Tattersall (1724–1795). gegangen, um einige dort zum Verkauf ausgestellte Pferde anzusehen. Harley folgte ihm dahin. Der Graf stand im Hofe, an eine Säule gelehnt und von vornehmen Freunden umgeben. Lord L'Estrange blieb einen Augenblick stehen und unterdrückte mit großer Anstrengung seine Wuth.

»Ich könnte alles verlieren, wenn ich zeigen würde, daß ich ihn im Verdachte habe; und doch muß ich eher ihn beleidigen und mich mit ihm schlagen, als ihm freie Hand zu lassen. Ah, ist das nicht der junge Hazeldean? Da kömmt mir ein Gedanke!«

Frank stand abseits von der den Grafen umgebenden Gruppe und sah sehr zerstreut und niedergeschlagen aus. Harley berührte seine Schulter, ohne daß der Graf es bemerkte.

»Mr. Hazeldean, Ihr Onkel Egerton ist mein theuerster Freund. Wollen auch Sie mir ein Freund sein? Ich bedarf Ihrer.«

»Mein Lord –«

»Folgen Sie mir. Graf Peschiera darf uns nicht zusammen sprechen sehen.«

Harley verließ den Hof und trat durch die kleine Pforte dicht daneben in St. James-Park. Mit sehr wenigen Worten setzte er Frank von Violanten's Verschwinden in Kenntniß und theilte ihm die Gründe mit, wegen welcher er den Grafen im Verdacht hatte. Das erste Gefühl Frank's war das entrüsteten Unglaubens, daß der Bruder Beatricen's so schlecht sein könnte; als er sich aber nach und nach die cynische und verworfene Sprache, welche der Graf zu führen pflegte, die warnenden Winke, die Beatrice selbst in Bezug auf Peschiera hatte fallen lassen – und den ganzen Charakter eines glänzenden, vor Nichts zurückschreckenden Wüstlings, den ihm selbst seine Bewunderer zuschrieben, in das Gedächtniß zurückrief, – da mußte sich Frank, wenn auch mit Widerstreben, den Verdacht Harley's gefallen lassen, und er sagte mit einem Ernste, der bei ihm selten war:

»Glauben Sie mir, Lord L'Estrange, wenn ich Ihnen behülflich sein kann, den niederträchtigen Anschlag von Söldlingen gegen diese arme junge Dame zu nichte zu machen, so dürfen Sie mir nur sagen, wie es geschehen soll. Eines ist klar – persönlich war Peschiera bei dieser Entführung nicht betheiligt, denn ich bin den ganzen Tag mit ihm zusammen gewesen; und jetzt fällt mir ein Umstand ein, der mich hoffen läßt, daß Sie ihm Unrecht thun; er hat eine große Gesellschaft eingeladen, nächste Woche mit ihm einen Ausflug nach Boulogne zu machen, um seine Yacht zu probiren, was er kaum thun könnte, wenn –«

»Yacht, in dieser Jahreszeit! Ein Mann, der gewöhnlich in Wien wohnt – eine Yacht!«

»Spendquick verkauft sie im Aufstreich in Anbetracht der Jahreszeit und aus andern Gründen; und der Graf beabsichtigt, den nächsten Sommer in der Gegend der jonischen Inseln mit Kreuzen zuzubringen. Er besitzt einige Güter auf diesen Inseln, welche er noch nie besucht hat.«

»Wie lange ist es her, daß er die Pacht kaufte?«

»Ich weiß in der That nicht, ob sie schon gekauft – das heißt, ob sie bezahlt ist. Levy sollte die Sache heute morgen mit Spendquick in's Reine bringen. Spendquick beklagt sich, daß Levy ihn so dränge.«

»Mein lieber Hazeldean, Sie zeigen mir den Weg durch das Labyrinth. Wo kann ich Lord Spendquick finden?«

»Um diese Zeit wahrscheinlich in seinem Bette. Hier ist seine Karte.«

»Ich danke Ihnen. Und wo liegt das Schiff?«

»Neulich noch lag es vor Blackwall. Ich ging hin, um es zu sehen – ›Der fliegende Holländer‹ – ein schönes Schiff, und es führt Kanonen.«

»Genug. Jetzt geben Sie Achtung. Eine unmittelbare Gefahr droht Violante nicht, so lange Peschiera nicht mit ihr zusammentrifft – so lange wir seinen Bewegungen folgen können. Sie stehen im Begriffe, seine Schwester zu heirathen. Benützen Sie dieses Vorrecht, um sich dicht an seiner Seite zu halten. Dulden Sie um keinen Preis, daß er Sie abschüttelt. Nehmen Sie irgend einen Vorwand, den Ihnen Ihre Erfindungsgabe für den Augenblick eingibt. Ich schlage Ihnen einen vor. Stellen Sie sich, als seien Sie ängstlich und unruhig, zu erfahren, wo Sie Madame die Negra finden können.«

»Madame die Negra?« rief Frank. »Was ist mit ihr? Ist sie nicht in Curzon Street?«

»Nein; sie ist in einem Wagen des Grafen ausgefahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Kutscher jenes Wagens oder irgend ein Diener, der mitgefahren ist, im Laufe des Tages zum Grafen kommen; und der Graf wird, um Sie los zu werden, Sie an jenen Diener weisen, damit Sie sich vergewissern, daß seine Schwester in Sicherheit sei. Stellen Sie sich, als glaubten Sie, was der Mann sagt; schicken Sie ihn aber in Ihre Wohnung unter dem Vorwand, daß Sie dort einen Brief an die Marchesa schreiben wollen. Ist er einmal in Ihrer Wohnung, dann ist er gut aufgehoben; denn ich werde dafür sorgen, daß die Justizbeamten sich seiner versichern. Sobald er dort ist, schicken Sie einen Expressen in mein Hotel.«

»Aber,« sagte Frank etwas verwirrt, »wenn ich mich in meine Wohnung begebe, wie kann ich dann den Grafen beobachten?«

»Es wird dann nicht mehr notwendig sein. Veranlassen Sie ihn nur, mit nach Ihrer Wohnung zu gehen, und verabschieden Sie sich von ihm an der Thüre.«

»Halt, halt – Sie können Madame di Negra nicht im Verdacht haben, daß sie mit einem so schändlichen Plane einverstanden sei. Verzeihen Sie, Lord L'Estrange; ich kann in dieser Sache nicht handeln – ja, ich kann Sie nur als Ihr Feind anhören, wenn Sie der Ehre der Dame, die ich liebe, mit einem einzigen Worte zu nahe treten.«

»Wackerer Gentleman, geben Sie mir Ihre Hand. Ich möchte Madame di Negra nicht minder, als die junge Tochter meines Freundes retten. Denken Sie nur an sie, während Sie thun, um was ich Sie ersucht habe, und alles wird gut werden. Ich verlasse mich auf Sie. Jetzt kehren Sie zu dem Grafen zurück.«

Frank ging, Peschiera wieder aufzusuchen; seine Stirn war gedankenvoll und seine Lippen fest geschlossen. Harley besaß jene Gabe, welche dem Genius des Handelns innewohnt: er flößte Anderen das Licht seines eigenen Geistes und die Kraft seines eigenen Willens ein. Zunächst eilte Harley zu Lord Spendquick, verweilte einige Minuten bei diesem jungen Gentleman und kehrte dann in sein Hotel zurück, wo er Leonard, den Fürsten und Giacomo noch auf ihn wartend fand.

»Kommen Sie Beide mit mir; auch du, Giacomo. Ich muß jetzt auf die Polizei. Dann können wir uns in die verschiedenen Aufgaben theilen.«

»O, mein theurer Lord,« rief Leonard, »Sie müssen gute Nachrichten eingezogen haben. Sie scheinen heiter und voll Hoffnung.«

» Scheinen! Nein, ich bin es! Wenn ich Ein Mal mir Zeit vergönnte, zu verzagen – oder auch nur zu zweifeln – ich würde wahnsinnig werden. Es gilt, einen Feind unschädlich zu machen und einen Engel zu retten! Welcher Geist bekäme du nicht frische Lebenskraft – welcher Verstand hielte da nicht mit den raschen warmen Pulsschlägen des Herzens gleichen Schritt!«


Achtes Kapitel.

Ein trübes Zwielicht herrschte in dem Zimmer, in welches Beatrice Violante geführt hatte. Eine große Veränderung war mit Beatrice vor sich gegangen. Demüthig und weinend kniete sie neben Violante, bedeckte ihr Antlitz und flehte sie um Verzeihung an. Violante ihrerseits bemühte sich, des Entsetzens Meister zu werden, welches sich ihrer bemächtigt hatte und gegen das auch das muthigste weibliche Herz vergebens anzukämpfen gesucht haben würde; dennoch suchte sie Beatrice zu beruhigen und versicherte sie in sanftem Tone ihrer Vergebung.

Beatrice hatte durch wiederholte und heftige Fragen zuletzt Violante zu einer Antwort gezwungen, welche alle ihre Zweifel beseitigte. Beatrice erfuhr, daß ihre Eifersucht grundlos gewesen – daß sie an Violante keine Nebenbuhlerin habe: Von da an schwiegen augenblicklich die Leidenschaften, welche sie veranlaßt hatten, das Werkzeug eines Verbrechens zu werden, und ihr Gewissen schrak vor der Größe ihrer Verrätherei zurück.

Vielleicht würde, wenn das Herz Violanten's vollständig frei gewesen wäre, oder wenn diese zu den gewöhnlichen, unbedeutenden Mädchen gehört hätte, die eine Frau wie Beatrice zu verachten pflegen, die Liebe der Marchesa zu Peschiera und ihre Furcht vor demselben sie zu dem Versuche veranlaßt haben, ob sie ihre junge Verwandte nicht überreden könnte, den Besuch des Grafen wenigstens anzunehmen – zu gestatten, daß er sich in Person entschuldige und selbst seine Sache vertheidige.

Aber in der Art und Weise, mit der Violante anfangs die Fragen der Marchesa zurückwies, lag eine solche Erhabenheit des Geistes – in ihrem Benehmen eine so großmüthige und ausgesuchte Milde, als sie erfuhr, wie jenes wilde Herz erregt und bis zum Wahnsinn getrieben worden war – daß sich Beatrice tief davon ergriffen fühlte; und als Violante ihre eigene jungfräuliche Verschämtheit genügend überwunden hatte, um den Irrthum aufzuklären und zu gestehen, wem ihre Liebe gelte, da geschah dies mit so keuscher, wehmüthiger Aufrichtigkeit, daß Beatrice sich vor ihr beugte, wie ein Seemann aus alter Zeit vor einer schönen Heiligen, die den Sturm beschwichtigt hat.

»Ich habe Sie betrogen!« rief sie schluchzend; »aber ich will Sie jetzt um jeden Preis retten. Wären Sie, wie ich annahm, die Nebenbuhlerin gewesen, die alle meine Hoffnungen auf die Zukunft vernichtete, so würde ich, meinem Versprechen treu, ohne Gewissensbisse die Mitschuldige des Verbrechens geworden sein. Aber jetzt! Sie – o, so gut und edel – Sie können niemals die Gattin Peschiera's werden! Nein, erschrecken Sie nicht; er muß für immer auf seine Pläne verzichten, oder ich werde selbst zu unserem Kaiser gehen und ihm die dunkeln Geheimnisse seines Lebens enthüllen. Kehren Sie rasch mit mir nach dem Hause zurück, aus welchem ich Sie hinweggelockt habe.«

Beatrice legte, während sie sprach, ihre Hand auf die Thürklinke. Plötzlich nahmen ihre Züge den Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit an und ihre Lippen erblaßten; die Thür war von außen geschlossen. Sie rief – Niemand antwortete, der Glockenzug im Zimmer gab keinen Laut von sich; die Fenster waren hoch und vergittert – sie gingen weder nach dem Fluß, noch nach der Straße, sondern nach einem engen, dunkeln und stillen Hofe hinaus, der rings von kahlen Mauern umgeben war; keine lebende Seele war da, die einen Angstschrei hätte hören können, und wenn er auch noch so scharf und durchdringend gewesen wäre.

Beatrice errieth, daß sie selbst zugleich mit ihrer Begleiterin in eine Schlinge gerathen sei; daß Peschiera ihrer Ausdauer im Bösen mißtraute und ihr deßhalb die Macht geraubt hatte, ihre Handlungsweise wieder gut zu machen. Sie befand sich in einem nur von seinen Miethlingen bewohnten Hause. Keine Hoffnung schien mehr übrig, Violante von einem Schicksale zu erretten, welches sie jetzt erbleichen machte.

So kniete nun Beatrice neben ihrem Opfer, indem sie sich selbst unzusammenhängend Vorwürfe machte, Thränen des Wahnsinnes vergoß und ihrer Gefährtin mehr und mehr Befürchtungen mittheilte, als eine Stunde nach der andern verstrich und das Zimmer nach und nach dunkel wurde, bis sie sich endlich nur noch mit Hülfe der Lampe, welche durch die schmutzigen Fenster aus dem Hofe schimmerte, gegenseitig erkennen konnten.

Die Nacht brach ein; sie hörten die Uhr eines entfernten Kirchthurmes die Stunden schlagen. Das matte Feuer war schon längst erloschen und die Luft wurde empfindlich kalt. Niemand störte ihre Einsamkeit, man hörte keine Stimme im Hause. Sie empfanden weder Kälte noch Hunger, sie empfanden nur die Einsamkeit und die Stille und die Furcht vor Etwas, das kommen würde.

Endlich gegen Mitternacht wurde an der Glocke der Hausthüre geläutet, dann hörte man auch den Ton rascher Tritte, heftig zurückgezogener Riegel und leise murmelnder Stimmen. Durch die Ritzen der Thüre zu ihrem Zimmer drangen Lichtstrahlen, und die Thür selbst wurde geöffnet. Zwei Italiener, welche Wachskerzen trugen, traten ein und Peschiera folgte ihnen auf dem Fuße.

Beatrice sprang auf und stürzte ihrem Bruder entgegen. Er legte ihre Hand sanft auf ihre Lippen und gab den Italienern einen Wink, sich zu entfernen. Sie setzten die Lichter auf den Tisch und verschwanden so lautlos wie sie gekommen waren.

Dann näherte sich Peschiera, indem er seine Schwester bei Seite schob, Violanten.

»Meine schöne Verwandte,« sagte er mit der Miene ruhiger, aber entschlossener Zuversichtlichkeit, »es gibt Dinge, welche kein Mann entschuldigen und keine Frau verzeihen kann, wenn nicht die über allen Gesetzen stehende Liebe Dieser Entschuldigungen zuflüstert und für Jenen Vergebung erringt. Mit Einem Worte, ich habe geschworen, daß Sie die Meinige werden müssen, und ich habe keine Gelegenheit gehabt, um Sie zu werben. Fürchten Sie sich nicht; das Schlimmste, was Ihnen geschehen kann, ist, meine Gattin zu werden. Tritt bei Seite, meine Schwester, tritt bei Seite.«

»Giulio, nein! Giulio Franzini, ich stehe zwischen dir und ihr; du mußt mich zu Boden schlagen, ehe du auch nur den Saum ihres Kleides berührst.«

»Was, Schwester! – Du wendest dich gegen mich?«

»Und wenn du dich nicht augenblicklich zurückziehst und sie frei lässest, so werde ich dich vor dem Kaiser entlarven.«

»Zu spät, mon enfant! Du wirst mit uns absegeln. Die Effekten, welche du für eine Seereise brauchst, sind bereits an Bord. Du wirst bei unserer Trauung, die ein frommer Sohn der Kirche vollzieht, als Zeugin zugegen sein. Nachher kannst du dem Kaiser erzählen, was du willst.«

Der Graf schob Beatrice ohne viele Umstände bei Seite und sank auf ein Knie vor Violante, die, zu ihrer vollen Höhe sich aufrichtend, todtenbleich, aber ohne zu zittern, ihn mit unaussprechlicher Verachtung anblickte.

»Sie zürnen mir jetzt,« sagte er, indem er seinen Zügen einen Ausdruck der Demuth und der Bewunderung zu geben suchte, »und ich wundere mich nicht darüber; glauben Sie mir aber, daß ich von der Gewalt, welche ich über Ihr Schicksal erlangt habe, nicht eher einen Vortheil ziehen werde, als bis Ihr Zorn einem freundlicheren Gefühle gewichen ist.«

»Gewalt!« sagte Violante in stolzem Tone. »Sie haben mich in dieses Haus locken lassen – während eines einzigen Tages haben Sie über mich Gewalt erlangt; aber Gewalt über mein Geschick – nein!«

»Sie glauben, daß Ihre Freunde Ihr Verschwinden entdeckt haben und Ihnen auf der Spur seien. Meine schöne Dame, ich habe gegen Ihre Freunde Vorkehrungen getroffen, und ich trotze allen Gesetzen und aller Polizei Englands. Das Schiff, welches Sie von diesen Küsten wegtragen wird, liegt im Flusse hart nebenan. Beatrice, ich warne dich – sei stille – lasse mich los. Auf jenem Schiffe erwartet uns ein Priester, der uns trauen wird, aber nicht bevor Sie die Wahrheit erkannt haben, daß diejenige, welche mit Giulio Peschiera flieht, entweder sein Weib werden oder ihn als die Schmach ihrer Familie und als die Schande ihres Geschlechts verlassen muß.«

»Schurke! Schurke!« rief Beatrice.

» Peste, meine Schwester, ich bitte dich, mildere Worte zu gebrauchen. Auch du willst heirathen. Habe ich vielleicht von dir Geschichten ausgeschwatzt? Signorina, es thut mir leid, Ihnen mit Gewalt drohen zu müssen. Geben Sie mir Ihre Hand; wir müssen fort.«

Violante wich der Berührung dieser Hand, welche sie entweiht haben würde, aus, stürzte durch das Zimmer, öffnete die Thür und schloß dieselbe rasch hinter sich. Beatrice klammerte sich fest an den Grafen an, um ihn an der Verfolgung zu verhindern. Außen aber stand dicht vor der Thüre ein Mann, der zu horchen schien, was innen vorging. Derselbe war von Kopf bis zu Fuß in den weiten Umwurf eines Schiffers gehüllt. Die Strahlen der Lampe, die auf ihn fielen, beleuchteten auch den Lauf einer Pistole, die er in seiner rechten Hand hielt.

»St!« flüsterte der Mann in englischer Sprache, schlang seinen Arm um Violante und fuhr fort: »In diesem Hause sind Sie in der Gewalt jenes Wütherichs – außerhalb desselben in Sicherheit. Ich bin an Ihrer Seite – ich, Violante!‹

Die Stimme machte Violanten's Herz höher schlagen. Sie fuhr zusammen und blickte auf, aber von dem Gesichte des Mannes, welches hinter Hut und Mantel verborgen war, sah man nichts, als eine Masse rabenschwarzer Locken und einen Bart von derselben Farbe.

Jetzt öffnete der Graf die Thür und zog seine Schwester nach sich, welche sich noch immer an ihn klammerte.

»Ha – das ist gut!« rief er dem Manne in italienischer Sprache zu, »trage mir die Dame nach, sanft; wenn sie aber zu schreien versucht – nun, dann wende so viel Gewalt an, wie nöthig ist, um sie zum Schweigen zu bringen, aber nicht mehr. Was dich betrifft, Beatrice, Verrätherin, so möchte ich dich zu Boden schlagen – aber – nein, dies wird genügen.«

Er nahm bei diesen Worten seine Schwester in seine Arme und sprang, ohne sich um ihr Schreien und Sträuben zu kümmern, mit ihr die Treppe hinunter.

Die Halle war mit wilden, bräunlich aussehenden Männern angefüllt. Der Graf wandte sich an einen derselben und flüsterte ihm etwas zu; in einem Augenblick war die Marchesa ergriffen und geknebelt. Der Graf warf einen Blick über seine Schulter zurück; Violante befand sich dicht hinter ihm, von dem Manne unterstützt, welchem er sie übergeben hatte; derselbe deutete auf Beatrice und schien Violante vor Widerstand zu warnen. Violante blieb stumm, scheinbar in ihr Schicksal ergeben.

Peschiera lächelte cynisch und stieg, während einige seiner Miethlinge mit Fackeln vorangingen, ein paar Stufen hinab, welche zu einem abschüssigen Landungsplatz zwischen der Halle und dem unteren Stockwerke führten. Dort stand eine kleine Thür offen und der Fluß strömte dicht daran vorüber.

Am Ufer war ein Boot festgemacht, bei welchem vier wie ausländische Matrosen aussehende Männer standen. Als Peschiera erschien, sprangen drei davon in das Boot und nahmen die Ruder zur Hand. Der Vierte legte sorgfältig eine Planke von dem Boote nach dem Landungsplatze und bot Peschiera unterwürfig seinen Arm an.

Der Graf war der Erste, der das Boot bestieg, und er wählte, eine heitere Opernmelodie vor sich hinsummend, seinen Platz am Steuerruder. Die zwei Damen waren die nächsten, welche nach ihm einstiegen, und Violante fühlte, wie ihre Hand beinahe krampfhaft von dem Manne, der bei der Planke stand, gedrückt wurde. Die Uebrigen folgten, und eine Minute darauf wurde das Boot rasch von den Wellen nach einem Schiffe hingetragen, welches in einiger Entfernung stromabwärts und von allen den gewöhnlicheren Fahrzeugen, die den Strom bedeckten, getrennt lag.

Die Sterne schimmerten kaum mit ihrem blassen Lichte durch die neblige Atmosphäre; am Bord des Bootes hörte man kein Wort und keinen andern Laut, als das regelmäßige Plätschern der Ruderschläge. Der Graf brach seine heitere Melodie ab, hüllte sich in die weiten Falten seines Pelzes und schien in Gedanken versunken.

Selbst bei dem unvollkommenen Lichte der Sterne zeigten Peschiera's Züge den Ausdruck des höchsten Triumphes. Der Erfolg hatte das leichtsinnige und freche Vertrauen auf sich selbst und sein Glück gerechtfertigt – der hervorragendste Zug in dem Charakter des Mannes, der, Bravo und Spieler zu gleicher Zeit, mit dem Rappier in der einen und falschen Würfeln in der anderen Hand die Welt herausforderte. Violante war, sobald sie sich in einem mit seinen eigenen Leuten bemannten Schiffe befand, unwiederbringlich in seiner Gewalt; selbst ihr Vater mußte Dankbarkeit empfinden, wenn er erfuhr, daß die Gefangene Peschiera's ihren Namen und ihren Ruf gerettet habe, indem sie seine Gattin geworden. Selbst der weibliche Stolz Violanten's mußte sie bestimmen, eher Dasjenige, was Peschiera natürlich vor der Welt behaupten würde, nämlich, sie sei freiwillig auf die Fluchtpläne ihres Bräutigams behufs der Trauung eingegangen, zu bestätigen, denn als das arme Opfer eines Verräthers zu erscheinen, dessen Hand sie nur aus Gnade empfangen habe. Er sah sein Glück gesichert, seinen Erfolg beneidet und selbst seinen Charakter durch diese glänzende Verbindung wieder hergestellt. Der Ehrgeiz begann sich in seine Träume von Vergnügen und Pracht zu mischen. Welches Amt bei Hofe oder im Staate würde zu hoch für das Streben eines Mannes sein, der das unbestreitbarste Talent für ein thätiges Leben an den Tag gelegt hatte – das Talent, in allem, was der Wille unternommen, Erfolg zu haben?

So brütete der Graf, die Gegenwart halb vergessend und sich in die goldene Zukunft versenkend, bis er durch ein lautes Hallo von dem Schiffe her und durch den Lärmen am Bord des Bootes, als die Matrosen nach dem Seile, welches man ihnen zuwarf, griffen, aus seinem Sinnen herausgerissen wurde. Er stand jetzt auf und näherte sich Violanten. Aber der Mann, welcher sie noch unter seiner Aufsicht hatte, schritt leicht am Grafen vorbei, indem er seine widerstandslose Gefangene halb führte, halb trug.

»Verzeihung, Excellenz,« sagte der Mann auf Italienisch, »aber das Boot ist überfüllt und schaukelt so stark, daß Ihre Hülfe uns das Gehen nur erschweren möchte.«

Ehe Peschiera antworten konnte, befand sich Violante bereits auf der Schiffstreppe, und der Graf wartete eine kleine Weile, bis er mit einem übermüthigen Lächeln sie wohlbehalten auf dem Verdecke stehen sah. Beatrice folgte und dann Peschiera selbst; als aber die Italiener von seinem Gefolge sich ebenfalls nach der Seite des Bootes hindrängten, kamen ihnen zwei Matrosen zuvor und ließen das Seil los, während die anderen beiden kräftig darauf losruderten und nach dem Ufer zurückfuhren. Die Italiener brachen erstaunt und entrüstet in eine Fluth von Verwünschungen aus.

»Stille!« sagte der Matrose, welcher bei der Planke gestanden hatte: »Wir handeln nach Befehl. Wenn ihr nicht ruhig seid, so werden wir das Boot umwerfen. Wir können schwimmen; der Himmel und Monsignore San Giacomo gnade euch, wenn ihr es nicht könnt.«

Unterdessen ergoß sich, als Peschiera auf das Verdeck sprang, von den emporgehaltenen Fackeln eine Fluth von Licht über ihn. Jenes Licht beleuchtete aber auch mit vollen Strahlen die Züge und die Gestalt eines Mannes von gebietendem Wuchse; sein Arm war um Violante geschlungen und sein dunkles Auge blitzte leuchtender als die Fackeln dem Grafen entgegen. An der einen Seite dieses Mannes stand der östreichische Fürst, an der anderen, einen Matrosenmantel und eine Fülle falscher schwarzer Locken zu seinen Füßen, Lord L'Estrange mit gekreuzten Armen, die Lippen von einem Lächeln gekräuselt, dessen angeborener ironischer Humor durch den Ausdruck ruhiger, unendlicher Verachtung gemildert wurde.

Der Graf versuchte zu sprechen, aber seine Stimme versagte ihm. Alles um ihn her sah unheilvoll und feindselig aus. Er bemerkte viele italienische Gesichter, aber sie blickten ihn mit rachsüchtigem Hasse an; hinter ihnen standen englische Matrosen, die neugierig und mit breitem Grinsen über die Schultern der Fremden schauten.

Da erscholl plötzlich, während der Graf noch immer verblüfft und bestürzt dastand, aus dem Munde sämmtlicher anwesender Italiener ein Schrei unaussprechlicher Entrüstung –

» Il traditore! il traditore!« – (Der Verräther! der Verräther!)

Der Graf war kein Feigling und warf, als dieser Ruf ertönte, sein Haupt mit einer gewissen Würde empor.

In diesem Augenblick erhob Harley seine Hand, wie um Schweigen zu gebieten, und verließ die Gruppe, bei welcher er bisher gestanden hatte; auch der Graf schritt ihm mit festem Schritte entgegen.

»Was ist das für ein Streich?« sagte er heftig in französischer Sprache. »Ich errathe, daß Sie es sind, von dem ich Erklärung und Sühne verlangen kann.«

» Pardon, Monsieur le Comte,« antwortete Harley in derselben Sprache, die sich ebenso zu feinen Sarkasmen, wie zu offener Feindseligkeit zwischen Gentlemen eignet. – »Lassen Sie uns unterscheiden. Daß eine Erklärung von mir kommen muß, gebe ich zu; aber die Sühne habe ich die Ehre Ihnen zu überlassen. Dieses Schiff –«

»Gehört mir!« rief der Graf »Die Männer, welche mich beschimpfen, sind in meinem Solde.«

»Die Männer in Ihrem Dienste, Monsieur le Comte, befinden sich am Ufer und trinken auf ihre glückliche Reise. Allein, ängstlich bemüht, Sie des Vergnügens, unter Ihren eigenen Landsleuten zu sein, nicht zu berauben, habe ich Männer in meinen Dienst genommen, welche bessere Italiener sind, als jene Piraten, deren Stelle sie ausfüllen. Vielleicht sind sie keine so gute Matrosen; aber aus diesem Grunde habe ich mir die Freiheit genommen, der Besatzung dieses Schiffes, welches mich zu viel gekostet hat, um es leichtsinnig Gefahren auszusetzen, einige stämmige englische Seeleute beizugeben, die noch bessere Matrosen sind, als selbst Ihre Piraten. Sie befinden sich in einem großen Irrthume, Monsieur le Comte, wenn Sie glauben, daß der ›Fliegende Holländer‹ Ihnen gehört. Indem ich vielmals um Entschuldigung bitte, daß ich mit Ihrer Absicht, denselben zu kaufen, in Conflikt gerathen bin, erlaube ich mir, Ihnen mitzutheilen, daß Lord Spendquick so freundlich gewesen ist, ihn mir zu überlassen. Nichtsdestoweniger stelle ich ihn für die nächsten Paar Wochen Ihnen mit Bemannung und Allem zur Verfügung.«

Peschiera lächelte verächtlich.

»Ich danke Eurer Lordschaft; da ich aber vermutlich die Begleiterin, welche allein im Stande wäre, mir die Reise anziehend zu machen, nicht mehr bei mir haben werde, so werde ich an das Land zurückkehren, und will Sie nur einfach bitten, mir zu sagen, um welche Stunde Sie den Freund empfangen können, den ich Ihnen zuschicken werde, um den noch unberührten Theil der Frage mit Ihnen zu verhandeln und dafür zu sorgen, daß die Sühne, mag sie nun von mir oder von Ihnen zu geben sein, ebenso befriedigend ausfällt, wie die Erklärung, zu deren Abgabe Sie sich herabgelassen haben.«

»Machen Sie sich hierüber keine Sorgen, Monsieur le Comte – die Sühne hat sich – so weit – bereits vollzogen; so ängstlich war ich bemüht, im Voraus alle die Wünsche zu befriedigen, zu welchen feines Ehrgefühl einen so vollendeten Gentleman, wie Sie, veranlassen könnte. Sie haben eine junge Erbin in Ihre Falle gelockt, das ist wahr; aber Sie sehen, daß es nur dazu führte, sie wieder in die Arme ihres Vaters zurückzubringen.

Sie haben einen erlauchten Verwandten um sein Erbe betrogen; aber Sie kamen freiwillig an Bord dieses Schiffes, um erstens seine Hoheit den Fürsten ******, dessen Rang am östreichischen Hofe Ihnen vollkommen bekannt ist, in den Stand zu setzen, Ihrem Kaiser mitzutheilen, daß er selbst Zeuge gewesen sei, in welcher Weise Sie Seiner Kaiserlichen Majestät Einwilligung in Ihre Heirath mit einem Kinde eines der ersten Unterthanen aus seinem italienischen Reiche ausgelegt haben; und zweitens, um in Form einer Bußfahrt nach der Ostsee die Verbannung anzutreten, zu der Sie ohne Zweifel derselbe Erlaß verurtheilen wird, welcher dem Haupte Ihres Hauses seine Güter und seine Würden wieder erstattet.«

Der Graf fuhr zurück.

»Diese Wiedererstattung,« sagte der östreichische Fürst, der an Harley's Seite getreten war, »verbürge ich schon jetzt. Was Sie betrifft, Giulio Franzini, Sie, der Sie eine Schande für den Adel des Kaiserreichs sind, so werde ich nicht eher meinen kaiserlichen Herrn verlassen, bis seine Hand Ihren Namen aus der Liste gestrichen hat. Ich habe Ihre eigenen Briefe in meinen Händen, um zu beweisen, daß Ihr Verwandter durch Sie selbst zu dem Aufruhr verleitet worden ist, dessen Katilina Sie geworden wären, wenn es nicht Ihrer Natur besser zugesagt hätte, den Verräther zu spielen. Binnen zehn Tagen von heute an werden diese Briefe dem Kaiser und seinem Rathe vorgelegt werden.«

»Sind Sie so weit mit Ihrer Sühne zufrieden, Monsieur le Comte,« sagte Harley; »wo nicht, so habe ich Ihnen für eine Gelegenheit gesorgt, dieselbe noch vollständiger zu machen. Vor Ihnen steht der Verwandte, gegen den Sie sich schwer verfehlt haben. Er weiß jetzt, daß, obwohl Sie zeitweilig sein Glück zerstörten, es Ihnen doch nicht gelungen ist, seinen Herd zu besudeln. Sein Herz kann Ihnen Verzeihung bewilligen und hernach mag seine Hand Ihnen Almosen schenken. Kniee also nieder, Giulio Franzini – kniee nieder, zu Boden geschlagener Bravo – kniee nieder, zu Grunde gerichteter Spieler – kniee nieder, elender Auswurf der Menschheit – zu den Füßen Alphonso's, des Fürsten von Monteleone und Herzogs von Serrano.«

Die obige Unterredung war in französischer Sprache geführt worden, die nur wenige der anwesenden Italiener verstanden, und auch diese nur unvollkommen; bei dem Namen aber, mit welchem Harley seine Anrede an den Grafen schloß, brachen die Italiener einstimmig in den Ruf aus:

»Alfonso der Gute! – Alfonso der Gute! VivaViva – der gute Herzog von Serrano!«

Und sogar den Grafen vergessend, drängten sie sich um die hohe Gestalt Riccabocca's, und Jeder wollte der Erste sein, der seine Hand – ja selbst den Saum seines Kleides küßte. Riccabocca's Augen füllten sich mit Thränen. Der hagere Verbannte schien in einen anderen, in einen königlichen Mann verwandelt zu sein. Sein Wesen nahm eine unaussprechliche Würde an. Er streckte seine Arme aus, als wollte er seine Landsleute segnen. Selbst der rohe Zuruf von geringen Männern, Verbannte, gleich ihm, tröstete ihn für Jahre des Exils und der Armuth.

»Dank, Dank!« brachte er endlich hervor, »Dank! Einst werdet Ihr vielleicht Alle mit mir in das theure Vaterland zurückkehren!«

Der östreichische Fürst neigte sein Haupt und schien der Bitte seine Zustimmung zu geben.

»Giulio Franzini,« sagte der Herzog von Serrano – denn so können wir jetzt den bescheidenen Einsiedler des Casino's nennen – »hätte die Vorsehung diesen Ihren letzten schurkischen Plan gelingen lassen, glauben Sie dann, daß es einen Fleck auf der Erde gäbe, wo der Räuber vor dem rächenden Arme des Vaters sicher gewesen wäre? Aber der Himmel ist gnädiger gewesen, und in dieser Stunde möchte ich seiner Gnade nacheifern.«

Damit näherte sich der Herzog mit einem milderen Ausdruck in den Zügen seinem schuldigen Verwandten.

Von dem Augenblick an, da der östreichische Fürst ihn angeredet, hatte der Graf ein tiefes Schweigen beobachtet und weder Reue noch Scham gezeigt. Sich emporrichtend stand er unverrückt da und blickte wild um sich wie ein gehetztes Raubthier. Als aber der Fürst sich jetzt näherte, winkte er mit der Hand und rief:

»Zurück, Pedant, zurück. Noch hast du nicht triumphirt. Und du, plaudersüchtiger Deutscher, erzähle deine Geschichten unserem Kaiser. Ich werde mich bei seinem Throne einfinden, um dir zu antworten – wenn du mir überhaupt bei einem Zusammentreffen, zu welchem ich dich unterwegs zwingen werde, entwischest.«

So sprechend stürzte er nach der Seite des Schiffes hin. Aber Harley's rasche Beobachtungsgabe hatte ihn die Absicht des Grafen voraussehen lassen, und er gab durch einen Blick das Zeichen, durch welches der Versuch vereitelt wurde. Von seinen eigenen wachsamen und entrüsteten Landsleuten wurde Peschiera in dem Augenblicke, als er in den Fluß springen wollte, ergriffen, zurückgeschleppt und geknebelt.

Und nun änderte sich der Ausdruck seines ganzen Gesichtes. Die verzweifelte Gewalttätigkeit des Gladiators kam zum Ausbruche. Seine große Kraft machte es ihm möglich, sich mehr, als Ein Mal, loszureißen und mehr als Einen Mann, zu Boden zu werfen; zuletzt jedoch mußte er der Ueberzahl weichen. Aber all' seine Würde, alle seine Versuche, sich die Geistesgegenwart zu erhalten, waren dahin: er stieß die gemeinsten Flüche aus, er knirschte mit den Zähnen, der Schaum stand ihm vor dem Munde, und nichts schien von dem glänzenden Lothario Der Verführer in dem Drama »The Fair Penitent« (1703) von Nicholas Rowe. mehr übrig zu sein, als die rohe Wuth eines wilden Naturmenschen.

Noch immer Ton und Miene unerschütterlicher Ironie, welche einen Marquis des alten französischen Regime geziert haben würde, beibehaltend, verbeugte sich Harley tief vor dem wüthenden Grafen.

» Adieu, Monsieur le Comteadieu! Ich freue mich, zu sehen, daß Sie so gut mit Pelzen versehen sind. Sie werden dieselben auf Ihrer Reise brauchen können, denn es ist für diese Jahreszeit eine sehr kalte Partie. Das Schiff, das zu besteigen Sie mir die Ehre erwiesen haben, ist nach Norwegen bestimmt. Die Italiener, welche Sie begleiten, wurden durch Sie selbst in die Verbannung geschickt und waren als Gegendienst so freundlich, zu versprechen, Sie durch ihre Gesellschaft erheitern zu wollen, sobald Sie Ihrer eigenen im Geringsten satt sein sollten. Führt den Grafen in seine Cajüte; aber sanft, recht sanft. Adieu, Monsieur le Comte, et bon voyage.«

Harley drehte sich leicht auf dem Absatze um, während Peschiera ungeachtet seines Widerstandes glücklich in die Cajüte hinunter getragen wurde.

»Der Gauner ist in der eigenen Schlinge gefangen,« sagte L'Estrange zu dem östreichischen Fürsten.

»Mehr als das – er ist ruinirt.«

»Und lächerlich gemacht,« fuhr Harley fort. »Ich möchte sein Gesicht sehen, wenn sie ihn in Norwegen an das Land setzen.«

Hierauf schritt Harley nach der Mitte des Schiffes, wo, hinter den eifrig beschäftigten Matrosen theilweise verborgen, Beatrice stand; an ihrer Seite war Frank Hazeldean, der sie zuerst an Bord des Schiffes empfangen hatte; ein wenig seitwärts von Beiden befand sich Leonard, welcher alles, was um ihn her vorging, aufmerksam beobachtete. Beatrice schien nur wenig auf Frank zu achten; ihre dunkeln Augen waren nach dem matten Sternenhimmel gerichtet, und ihre Lippen bewegten sich, wie zu einem Gebet; ihr junger Liebhaber sprach aber dennoch in großer Aufregung, leise und rasch zu ihr.

»Nein, nein – glauben Sie keinen Augenblick, daß wir Sie in Verdacht haben, Beatrice. Ich will mit meinem Leben für Ihre Ehre einstehen. O – warum wenden Sie sich von mir ab – warum wollen Sie nicht mit mir sprechen?«

»Gleich, gleich,« sagte Beatrice sanft. »Geben Sie mir noch Eine Minute Zeit!«

Sie schritt langsam und schwankend auf Leonard zu – legte ihre zitternde Hand auf seinen Arm und führte ihn bei Seite an den Rand des Schiffes. Frank schrak bei dieser ihrer Bewegung zusammen, that einen Schritt vorwärts, als wenn er ihr folgen wollte, blieb dann aber stehen und blickte ihr mit düsterer und zweifelnder Miene nach. Harley's Lächeln war verschwunden, und auch sein Auge beobachtete die Marchesa.

Es waren nur wenige Worte, welche Beatrice sprach – nur ein oder zwei Sätze, die Leonard antwortete; dann bot ihm Beatrice ihre Hand hin, über welche sich der junge Dichter beugte und sie schweigend küßte. Sie zögerte einen Augenblick, und Harley bemerkte sogar beim matten Schein der Sterne die Glut, welche ihr Antlitz überflog. Die Röthe verschwand, als Beatrice wieder zu Frank zurückkehrte. Lord L'Estrange wollte sich zurückziehen – sie gab ihm ein Zeichen, zu bleiben.

»Mein Lord,« sagte sie in festem Tone, »ich kann Sie nicht der Härte gegen meinen sündhaften und ungleichen Bruder beschuldigen. Sein Verbrechen verdient vielleicht eine strengere Strafe, als diejenige ist, welche Sie mit Ihrem Zorne spielend über ihn verhängt haben. Was aber auch seine Strafe sein mag, Verachtung jetzt, oder später Armuth, so fühle ich doch, daß seine Schwester an seiner Seite bleiben muß, um sie mit ihm zu theilen. Ich bin nicht unschuldig, wenn er schuldig ist; und mag er auch nur ein Wrack sein, so habe ich jetzt nichts Anderes mehr auf diesem dunkeln Meere des Lebens, woran ich mich fest klammern kann. Still, mein Lord, ich werde dieses Schiff nicht verlassen. Alles, um was ich Sie inständig bitte, ist, – Ihren Leuten Befehl zu geben, daß sie meinen Bruder anständig behandeln, da eine Frau an seiner Seite sein wird.«

»Aber, Marchesa, das kann nicht sein; und –«

»Beatrice, Beatrice – und ich! – unsere Verlobung? vergessen Sie mich?« rief Frank voll bangen Vorwurfes.

»Nein, mein junger und all zu edler Liebhaber, ich werde Ihrer stets in meinen Gebeten gedenken. Aber hören Sie mich an. Ich bin betrogen, gedrängt worden – vielleicht auch durch Andere, aber ebenso, und noch weit mehr durch mein eigenes thörichtes und verblendetes Herz – betrogen und gedrängt worden, Ihnen Unrecht zuzufügen und mich selbst zu belügen. Die Scham brennt wie Feuer in meinem Innern, wenn ich daran denke, daß ich Ihnen den gerechten Zorn Ihrer Familie zuzog – Sie an meine eigene ruinirte Existenz ketten wollte – an meinen eigenen befleckten Namen – an mein eigenes –«

»An Ihr eigenes edles, liebendes Herz! das ist alles, was ich verlange!« rief Frank.

»Hören Sie auf, hören Sie auf – dieses Herz ist noch immer mein!«

Thränen strömten aus den Augen der Italienerin.

»Engländer, ich habe Sie nie geliebt, dieses Herz war todt für Sie, und es wird hinfort für alles Andere todt sein. Leben Sie wohl. Sie werden mich früher vergessen, als Sie glauben – früher, als ich Sie vergessen werde – meinen Freund, meinen Bruder! Hätten doch Brüder immer so zarte und gütige Gesinnungen, wie Sie! Jetzt, mein Lord, wollen Sie mir Ihren Arm geben? Ich möchte mich zu dem Grafen begeben.«

»Halt – noch Ein Wort, Madame,« sagte Frank sehr bleich und mit zusammengepreßten Zähnen, aber ruhig und mit einem würdevollen Stolze auf seiner Stirne, wie dies früher bei deren sorglosem und offenem Ausdrucke nie der Fall gewesen war. »Ein Wort. Es mag sein, daß ich Ihrer durch nichts sonst würdig gewesen bin, als durch eine aufrichtige Liebe, die weder Zweifel, noch Verdacht kannte – die an Ihnen fest gehalten hätte, wenn auch die ganze Welt gegen Sie gewesen wäre; eine solche Liebe gibt selbst dem geringsten Manne Werth. Ein einziges, aufrichtiges Wort! Bei allem, was Ihnen nach Ihrem Glauben hoch und heilig ist, sprachen Sie die Wahrheit, als Sie sagten, daß Sie mich niemals liebten?«

Beatrice senkte ihr Haupt; sie fühlte sich beschämt vor diesem männlichen Charakter, den Sie in solcher Weise betrogen, und vielleicht unterschätzt hatte.

»Verzeihung, Verzeihung,« sagte sie zögernd und mit halb von Schluchzen erstickter Stimme.

Bei ihrem Stocken leuchtete Frank's Antlitz von einer plötzlichen Hoffnung auf. Sie erhob ihre Augen und bemerkte die Veränderung in dem Ausdruck seiner Züge; dann blickte sie nach der Stelle hin, wo Leonard traurig und regungslos stand. Ein Zittern überfiel sie, allein in festem Tone fuhr sie fort:

»Ja – verzeihen Sie; denn ich sprach die Wahrheit – ich hatte kein Herz zu vergeben. Gegen einen Anderen wäre es vielleicht wie Wachs gewesen – gegen Sie war es von Granit.« Sie hielt inne und murmelte vor sich hin – »von Granit und – gebrochen!«

Frank erwiderte nicht eine Sylbe. Er stand wie festgewurzelt und blickte Beatricen nicht einmal nach, als sie, auf Lord L'Estrange's Arm sich stützend, an ihm vorüberging. Dann entfernte er sich entschlossen und blickte auf das Boot, welches die Matrosen jetzt an der Seite des Schiffes herabließen.

Beatrico machte Halt, als sie sich der Stelle näherte, wo Violante stand und die eifrigen Fragen ihres Vaters aufgeregt und flüsternd beantwortete. Beatrice lehnte sich schwerer auf den Arm ihres Führers.

»Jetzt ist es Ihr Arm, der zittert, Lord L'Estrange,« sagte sie mit einem traurigen Lächeln, worauf sie, bevor er antworten konnte, von ihm weg trat und ihr Haupt demüthig vor Violante neigte. »Sie haben mir bereits verziehen,« sagte sie in einem Tone, welchen nur das Ohr des Mädchens vernehmen konnte, »und meine letzten Worte sollen sich nicht mit der Vergangenheit befassen. Unter jenen unwandelbaren Sternen sehe ich Ihre Zukunft glänzend vor mir liegen. Halten Sie Ihre Liebe fest, hoffen und vertrauen Sie. Das sind die letzten Worte Derjenigen, welche bald für die Welt todt sein wird. Schönes Mädchen, sie sind prophetisch!«

Violante sank an die Brust ihres Vaters zurück, verbarg dort ihr glühendes Antlitz und überließ ihre Hand Beatricen, welche sie an ihren Busen drückte. Dann ging die Marchesa zu Harley zurück und verschwand mit ihm im Inneren des Schiffes.

Als Harley wieder auf dem Verdecke erschien, sah er erhitzt und verstört aus. Er hielt sich von dem Herzog und Violante entfernt und bestieg als der Letzte das Boot, welches jetzt in das Wasser hinabgelassen worden war.

Nachdem er und seine Begleiter das Land erreicht hatten, sahen sie, wie das Schiff sich in Bewegung setzte und langsam den Fluß hinabglitt.

»Muth, Leonard, Muth!« murmelte Harley. »Sie trauern, und Ihre Trauer ist eine edle. Aber Sie haben die schlimmste und gewöhnlichste Täuschung des civilisirten Lebens vermieden; Sie haben keine Liebe geheuchelt. Es ist besser, daß jene arme Lady eine Zeit lang unter einer herben Wahrheit leidet, als daß sie die ewige Märtyrerin einer schmeichelnden Lüge sei! Ach, mein Leonard! mit der Liebe in des Dichters Traum sind nur die Grazien im Bunde, mit der Liebe des menschlichen Herzens die schrecklichen Parzen!«

»Mein Lord, die Dichter träumen nicht, wenn sie lieben. Sie werden erfahren, wie die Tiefe des Gefühls zu der Lebhaftigkeit der Phantasie in ganz gleichem Verhältniß steht, wenn Sie jenes Bekenntniß eines Genius und seiner Leiden lesen, das ich in Ihren Händen gelassen habe.«

Leonard wandte sich ab. Harley's Blicke folgten ihm mit forschendem Interesse und begegneten plötzlich den milden, dankbaren Augen Violanten's.

»Die Parzen, die Parzen!« murmelte Harley.


Neuntes Kapitel.

Wir sind zu Norwood, in dem Wohnzimmer des Weisen. Violante hat sich schon längst zur Ruhe begeben. Harley, welcher Vater und Tochter nach Hause begleitete, unterhielt sich noch mit dem Ersteren.

»Wirklich, mein lieber Herzog,‹ sagte Harley.

»Stille, stille! Diavolo, nennen Sie mich noch nicht Herzog, hier zu Hause bin ich noch Doctor Riccabocca.«

»Nun denn – mein lieber Doctor, erlauben Sie mir, Sie zu versichern, daß Sie meine Ansprüche auf Ihre Dankbarkeit überschätzen. Ihre alten Freunde Leonard und Frank Hazeldean müssen ihren Theil daran haben, und auch der treue Giacomo darf nicht vergessen werden.«

»Fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.«

»Für's Erste erfuhr ich durch Frank, daß ein Baron Levy, ein gewisser vornehmer Geldverleiher, welcher die Geschäfte der modischen Gentlemen besorgt, im Begriffe sei, für den Grafen eine Yacht von Lord Spendquick zu kaufen. Eine kurze Besprechung mit Spendquick setzte mich in den Stand, den Wucherer zu überbieten und den Handel abzuschließen, durch welchen die Pacht mein Eigenthum wurde; – das Versprechen, Spendquick aus den Klauen des Geldverleihers zu befreien (was ich dadurch zu bewirken hoffe, daß ich ihn mit seinem Vater, der ein freigebiger und vernünftiger Mann ist, aussöhne), machte Spendquick meinem Plane, den Feind zu überlisten, gefügig. Er ließ gegen Levy durchblicken, der Graf könne von dem Schiffe Besitz ergreifen; die endgiltige Berichtigung der Kaufsumme verschob er aber auf den nächsten Tag, indem er ein Geschäft vorgab und auf besseren Verkaufsbedingungen bestand. So wurde ich Herr des Schiffes, welches nach meiner festen Ueberzeugung dazu bestimmt war, den schändlichen Plänen Peschiera's zu dienen. Allein nun galt es, nicht den Verdacht des Grafen zu erregen; ich erlaubte deßhalb der Piratenbesatzung, welche er zusammengerafft hatte, an Bord zu kommen. Ich wußte, daß ich sie los werden könnte, wenn es notwendig wäre. Unterdessen unternahm es Frank, dem Grafen so lange dicht zur Seite zu bleiben, bis er den Diener, welchen Peschiera seiner Schwester beigegeben hatte, zu Gesicht bekommen und in seine Wohnung eingesperrt haben würde. Wenn ich dieses Dieners habhaft werden könnte, dann glaubte ich der sicheren Hoffnung leben zu dürfen, daß es mir gelingen werde, Ihre Tochter zu entdecken und zu befreien, ehe sie Peschiera auch nur durch seine Gegenwart entweihte. Aber Frank war leider kein Schüler Macchiavel's. Vielleicht las der Graf in seinen offenen Zügen seine geheimen Gedanken; vielleicht auch wünschte er nur, einen Begleiter los zu werden, der ihm sehr im Wege stand; jedenfalls überlistete er unsern jungen Freund auf eine so geschickte Weise, daß wir Beide es kaum hätten besser machen können, er sagte ihm, Beatrice sei in Roehampton – sie habe den Wagen des Grafen entlehnt, um sich dorthin zu begeben – erbot sich, Frank nach dem Hause zu bringen, und nahm ihn auch wirklich mit sich. Frank sah sich in einem Gesellschaftszimmer, und nachdem er einige Minuten gewartet hatte, während der Graf unter dem Vorwande, seine Schwester zu holen, hinausging, hüpfte eine gewisse renommirte Operntänzerin herein. Unterdessen hatte der Graf in voller Eile wieder den Weg nach London eingeschlagen, und Frank mußte sehen, wie er gleichfalls zurückkehren konnte. Hierauf suchte er den Grafen überall und bekam ihn nicht mehr zu Gesicht. Es war schon spät, als mir Frank diese Neuigkeiten mittheilte. Ich wurde ernstlich unruhig. Peschiera konnte meinen Gegenplan mit der Yacht erfahren oder das Absegeln so lange verschoben haben, bis er Violante in Schrecken gejagt oder auf andere Weise in Gott weiß was verstrickt hatte – kurz, von einem Manne wie der Graf war alles zu befürchten. Es fehlte mir an jedem Anhaltspunkte für eine Vermuthung, wohin Ihre Tochter gebracht worden sein könnte – an jedem Vorwande, Peschiera zu verhaften – ja, sogar an Mitteln und Wegen, zu erfahren, wo er sei. Auch die Polizei war nicht im Stande, mir Hilfe zu leisten, mit Ausnahme eines einzigen, aber werthvollen Winkes, den sie mir gab. Die Beamten bezeichneten mir nämlich den Ort, wo man einige Ihrer Landsleute, welche die Verrätherei Peschiera's in die Verbannung geschickt hatte, finden könne. Ich gab Giacomo den Auftrag, diese Leute aufzusuchen und für mein Schiff anzuwerben. Es konnte, wenn Peschiera oder seine vertrauten Diener an Bord kämen, nachdem wir die Piratenbesatzung vertrieben oder zum Abziehen gebracht hatten, nöthig werden, daß sie Italiener vorfänden, welche sie dann für ihre eigenen Miethlinge halten konnten. Zu diesen Ausländern fügte ich einige englische Matrosen hinzu, welche früher auf demselben Schiffe gedient hatten, und über deren Verläßlichkeit mich Spendquick beruhigte. Diese Vorsichtsmaßregeln konnten aber nur dann etwas helfen, wenn Peschiera beschließen würde, abzusegeln, und bis dahin gegen seine Gefangene nichts zu unternehmen. Während ich in meiner Angst und Ungewißheit mir die nöthige Geistesgegenwart zu bewahren strebte und mit dem östreichischen Fürsten rasch berieth, ob nicht andere Schritte gethan werden sollten, oder ob unser einziges Auskunftsmittel darin bestehe, daß wir uns auf das Schiff begeben und dort alles Weitere abwarten – trat Leonard plötzlich und ruhig in mein Zimmer. Sie kennen sein Antlitz, in welchem sich Freude oder Trauer weniger durch das Hervortreten von Leidenschaften, als durch den Wechsel des geistigen Ausdrucks verräth. Nur aus seiner klareren Stirne und aus seinem festeren Blicke schloß ich, daß er gute Nachrichten mitbrächte.«

»Ah,« sagte Riccabocca – denn so wollen wir, seinem eigenen Wunsche gemäß, den Weisen noch nennen – »ah, ich weihte den jungen Mann früh in die große Lehre des Helvetius Claude Adrien Helvétius (1715-1771) vertrat erkenntnistheoretisch und ethisch materialistische Positionen; er beeinflusste den Positivismus (Auguste Comte, Cours de philosophie positive, ab 1826) und dessen Menschenbild – der Mensch als Produkt aus Erbe und Umwelt, das auch hier Bulwer – wie schon in »Ernest Maltravers« (IV, 8) – wiederum kritisch hinterfragt, nämlich in Harleys Antwort. ein. Alle unsere Irrthümer entspringen aus unserer Unwissenheit oder aus unseren Leidenschaften. Ohne Unwissenheit und ohne Leidenschaften wären wir heitere, alles durchdringende Intelligenzmenschen.«

»Besenstiele,« sagte Harley, »sind weder von Unwissenheit, noch von Leidenschaften geplagt; was aber ihre Intelligenz betrifft –«

»Pah!« unterbrach ihn Riccabocca – »Fahren Sie fort.«

»Leonard hatte sich einige Stunden vorher von uns getrennt. Ich hatte ihm den Auftrag gegeben, bei Madame di Negra vorzusprechen und, da ihre Leute ihn gut kannten, sich in aller Stille jede mögliche Auskunft zu verschaffen und hauptsächlich (was ich in der Eile vergessen hatte) den Namen und das Nöthigste über die äußere Erscheinung jenes Mannes, welcher sie Morgens ausgefahren hatte, in Erfahrung zu bringen, wobei ich es ihm überließ, von jedem Winke, den er erhaschen, überhaupt von allem, was in die Sache neues Licht bringen konnte, den nach seinem Urtheil besten Gebrauch zu machen. Leonard gelang es nur, den Namen und die Beschreibung des Kutschers zu erfahren; und er erkannte in ihm einen gewissen Beppo, dem Beatrice oft in seiner Gegenwart Befehle ertheilt hatte. Niemand konnte ihm sagen, wo sie zur Zeit zu finden sei, wenn sie sich nicht in dem Hotel des Grafen befinde. Leonard ging in dieses Hotel. Beppo war den ganzen Tag über nicht dort gewesen. Während er überlegte, was zunächst zu thun sei, erblickte er Denjenigen, welchen Sie zu ihrem Schwiegersohne machen wollen, wie er über die andere Seite der Straße schlich. Eine jener lichtvollen Vermuthungen, welche bei Euch Philosophen nie vorkommen, hatte von Anfang an Leonard auf den Gedanken gebracht, daß Randal Leslie bei diesem Schurkenstreiche seine Hand im Spiele habe.«

»Hah! Er!« rief Riccabocca. »Unmöglich! Welches Interesse hätte er hiebei? – welchen Zweck?«

»Ich kann es nicht sagen; auch Leonard wußte keinen Grund dafür; aber wir waren Beide auf dieselbe Vermuthung gekommen. Kurz, Leonard beschloß, Randal Leslie nicht aus den Augen zu lassen und allen seinen Bewegungen nachzuspüren. Er folgte ihm also unbemerkt in einiger Entfernung – erst nach Audley Egerton's Wohnung – dann nach Eaton Square – sodann nach einem Hause in Burton Street, welches, wie Leonard sich überzeugte, Baron Levy gehörte. War das nicht verdächtig, mein lieber Weiser?«

» Diavolo – ja!« sagte Riccabocca gedankenvoll.

»Bei Levy blieb Randal, bis es dunkel wurde. Dann kam er mit katzenähnlichen, verstohlenen Schritten heraus und ging rasch nach der Gegend von Leicester Square. Leonard sah ihn in einen jener kleinen Gasthöfe eintreten, welche für Fremde bestimmt sind. Wilde, ausländische Gesellen schlenderten vor der Thüre und in der Straße auf und ab. Leonard errieth, daß der Graf oder die Vertrauten des Grafen sich dort befinden müßten.«

»Wenn dies bewiesen werden kann,« rief Riccabocca – »wenn Randal mit Peschiera in einer solchen Verbindung stehen konnte, wenn er bei einem solchen Verrath hilfreiche Hand geleistet hat – dann bin ich meines Versprechens entbunden. O, wenn das bewiesen werden könnte!«

»Der Beweis wird später kommen, wenn wir auf der richtigen Spur sind. Lassen Sie mich fortfahren. Während er in der Nähe der Thüre jenes Gasthofs wartete, kam Beppo selbst – eben der Mann, welchen Leonard suchte – heraus und ging, nachdem er mit einigen der herumlungernden Ausländer ein paar Worte gewechselt hatte, rasch Piccadilly zu. Jetzt gab Leonard alle weitere Beobachtung Leslie's auf, um auf Beppo, den er beim ersten Blick erkannte, Jagd zu machen. Als er ihn eingeholt hatte, sagte er in ruhigem Tone zu ihm: ›Ich habe einen Brief an die Marchesa di Negra. Sie sagte mir, ich solle ihr ihn durch Sie zuschicken. Ich habe Sie den ganzen Tag gesucht.‹ Der Mann ging in die Falle, und um so leichter, weil er – wie er später als Entschuldigung für eine Einfältigkeit gestand, die wahrscheinlich auf seinem Gewissen schwerer lastet, als irgend eines der tausend Verbrechen, die er im Laufe seines glorreichen Lebens begangen haben mag – von der Marchesa dazu verwendet worden war, Leonard gegenüber den Spion zu machen, und mit jenem Scharfblick, der den Italienern in Herzensangelegenheiten eigen ist, ihr Geheimniß entdeckt hatte.«

»Welches Geheimniß?« frug der Weise in seiner Unschuld.

»Ihre Liebe zu dem hübschen jungen Dichter. Ich verrathe dieses Geheimniß, um sie einigermaßen dafür zu entschuldigen, daß sie sich zu einem Werkzeuge Peschiera's hergegeben hat. Sie glaubte, Leonard liebe Ihre Tochter, und Eifersucht trieb sie zum Verrath: Violante wird Ihnen dies ohne Zweifel auseinandersetzen. Gut, der Mann ging also in die Falle. ›Geben Sie mir den Brief, Signor,‹ sagte er, ›und rasch.‹

›Er liegt in einem Hotel, dicht nebenan; kommen Sie mit, Sie erhalten eine Guinee für Ihre Bemühung.‹

Auf diese Weise brachte Leonard den sauberen Herrn in das Ankleidezimmer meines Hotels, drehte den Schlüssel um und ließ ihn dort. Als der Fürst und ich von diesem Fange hörten, eilten wir hin und nahmen den Burschen vor. Anfangs war er mürrisch und stumm; als aber der Fürst seinen Rang und Namen offenbarte (Sie kennen den geheimnißvollen Schrecken, welchen die gemeineren Italiener vor einem östreichischen Magnaten empfinden), veränderte sich sein Gesicht, und er verlor den Muth. Theils durch Drohungen, theils durch Versprechungen erfuhren wir bald alles, was wir zu wissen wünschten; und das Anerbieten eines Geschenkes, welches nach meiner Berechnung zehn Mal mehr betrug, als der Schurke je von seinem verschwenderischen Herrn zu erhalten erwarten konnte, bewog ihn endlich, sich mit Leib und Seele unserem Dienste zu weihen.

So hörten wir denn, an welch' gräulichen Ort Ihre edle Tochter auf eine so verrätherische Weise gelockt worden war. Wir hörten weiter, daß der Graf sie noch nicht besucht hatte, weil er sich viel von der Wirkung versprach, die eine längere Einsperrung auf sie ausüben würde: er hoffte, ihren Geist dadurch herabzustimmen und sie zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Peschiera wollte sich um Mitternacht in das Haus begeben und sie von dort auf das Schiff bringen. Beppo hatte Befehl erhalten, mit dem Wagen nach Leicester Square zu fahren, wo Peschiera mit ihm zusammentreffen wollte. Der Graf hatte ich (wie Leonard vermuthete) in dem Gasthof versteckt, in welchem Randal Leslie verschwunden war. Der Fürst, Leonard, Frank (welcher sich damals in meinem Hotel befand) und ich hielten eine kurze Berathung. Sollten wir sofort nach dem Hause gehen, mit Hilfe der Polizei den Eintritt erzwingen und Ihre Tochter befreien? Das war ein sehr gewagtes Auskunftsmittel.

Das Haus, welches zu verschiedenen Zeiten als Versteck für Leute gedient, die von dem Gesetze verfolgt waren, hatte nach der Angabe unseres Berichterstatters eine Menge unterirdischer Gewölbe und geheimer Gänge, ferner mehr als Einen Ausgang nach dem Flusse. Aus diesen Gründen konnten bei unserer ersten Aufforderung, die Thüre zu öffnen, die im Inneren befindlichen Räuber nicht allein selbst entkommen, sondern auch ihre Gefangene mit fortnehmen. Die Thüre war stark, und ehe wir den Eintritt mit Gewalt erzwungen, konnte jede Spur von ihr, die wir suchten, verloren gegangen sein. Außerdem wünschte der Fürst, die verbrecherischen Pläne Peschiera's nach Hause zu berichten und seinem Kaiser, sowie dem großen Minister Metternich., einem Verwandten von ihm, mittheilen zu können, daß er selbst Zeuge des schmählichen Mißbrauches gewesen sei, welchen der Graf von der Erlaubniß des Kaisers, um Ihre Tochter zu werben, gemacht habe. Kurz, während ich nur an Violante dachte, dachte der Fürst auch an die Wiedereinsetzung des Vaters derselben in sein Herzogthum.

Auf der anderen Seite tauchte aber die die furchtbare Frage auf, ob Violante auch nur eine Stunde, nur einige Minuten in jenem schrecklichen Hause gelassen werden solle, wo sie der persönlichen Gegenwart Peschiera's ausgesetzt und nur durch ein schwaches und falsches Weib beschützt war, das sie verrathen hatte, und das sie vielleicht verlassen würde? Was konnte sich nicht alles in dem Zeitraume zwischen Peschiera's Besuch in dem Hause und seinem Erscheinen auf dem Schiffe in Begleitung seines Opfers zutragen?

Ein Gedanke fuhr mir durch den Kopf – Beppo sollte den Grafen nach dem Hause führen; wenn ich verkleidet mit Beppo gehen – in das Haus eindringen – selbst anwesend sein könnte! Ich stürzte zu dem Burschen, der jetzt unser Agent war, zurück; ich fand den Plan ausführbarer, als ich Anfangs glaubte. Beppo hatte den Grafen um Erlaubniß gebeten, einen Bruder mitbringen zu dürfen, welcher die See kenne und England zu verlassen wünsche. Ich konnte diesen Bruder vorstellen. Sie wissen, daß ich die italienische Sprache in ihren meisten Dialecten und verschiedensten Patois-Genuesisch, Piemontesisch, Venetianisch – ebensogut spreche, wie Addison's Siehe Anm. 11. Englisch. Ah, vielleicht noch besser. Presto! Die Sache wurde abgemacht.

Von jenem Augenblick an fühlte ich mein Herz so leicht wie eine Feder, und mein Verstand war so scharf wie ein gefiederter Pfeil. Meine Pläne wurden jetzt in Einem Athemzuge entworfen und in Einem Satze erklärt. Die Billigkeit erforderte Ihre Anwesenheit auf dem Schiffe, nicht allein, damit Sie Zeuge der Niederlage Ihres Feindes seien, sondern auch, damit Sie Ihr Kind in Ihren Vaterarmen empfangen. Leonard machte sich nach Norwood auf, um Sie zu holen, war aber vorher gewarnt worden, Sie über den Zweck Ihres Hieherkommens nicht eher aufzuklären, bis Sie sich an Bord des Schiffes befänden.

Frank, von Beppo begleitet (denn bis Mitternacht war es noch Zeit, diese Vorbereitungen zu treffen), begab sich nach der Pacht und nahm unterwegs Giacomo mit sich. Dort theilte unser neuer Verbündeter, der mit den Meisten von der Piratenmannschaft bekannt war, und dem die Anwesenheit Frank's, des Freundes des Grafen und dessen künftigen Schwagers, Autorität verschaffte, den Miethlingen Peschiera's mit, daß sie das Schiff zu verlassen und unter Giacomo's Befehl am Ufer auf weitere Befehle zu warten hätten. Sobald das Verdeck von diesen Räubern (mit Ausnahme von einigen Wenigen, die man zurückließ, einen Verdacht zu vermeiden, und die später in den Kielraum in Sicherheit gebracht wurden) gesäubert war, und Giacomo seine Begleiter in einem Wirthshause einlogirt hatte, wo sie unbeschränkte Quantitäten Grog auf seine Gesundheit tranken, brachte Ihr unschätzbarer Diener die für den Dienst gewordenen Italiener, und Frank nahm die englischen Matrosen unter seine Aufsicht.

Der Fürst, welcher versprochen hatte, zu rechter Zeit an Bord zu kommen, entfernte sich, um Vorbereitungen für seine in der Frühe des anderen Morgens erfolgende Abreise nach Wien zu treffen. Ich eilte in ein Lager von fertigen Maskenanzügen, wo ich mich mit Hilfe eines gewandten Garderobearbeiters von der Bühne in einen regelrechten, vollkommenen Gurgelabschneider verwandelte und dann mit größtem Selbstvertrauen auf meinen Freund Beppo wartete.«

»Wenn nun aber dieser Schurke den Falschen gespielt hätte, dann wären alle diese Vorsichtsmaßregeln umsonst gewesen. Cospetto! Sie handelten nicht weise,« sagte der kluge Philosoph.

»Wahrscheinlich nicht. Sie würden so weise gehandelt haben, daß in diesem Augenblicke Ihre Tochter auf immer für Sie verloren wäre.«

»Warum aber nicht die Polizei in Anspruch nehmen?«

»Erstens, weil ich sie ohne viel Erfolg schon in Anspruch genommen hatte; zweitens, weil ich sie nicht mehr brauchte; drittens, weil, wenn ich sie zu meiner Schluß-Katastrophe beigezogen hätte, vielleicht Ihr und Ihrer Tochter Name vor ein Polizeigericht, jedenfalls aber vor das Tribunal des öffentlichen Klatsches geschleppt worden wäre; und endlich – weil ich mich für eine angemessene Strafe entschieden hatte, die zu billig war, um mit dem Gesetz im Einklang zu sein, und weil mir die Polizei bei dem gewaltsamen Ergreifen eines Menschen und dessen Verschiffen nach Norwegen zu sehr im Wege gestanden haben würde. Allerdings schmeckt mein Plan mehr nach Lope de Vega Bedeutender spanischer Dichter, besonders Dramatiker (1562-1635)., als nach Richter Blackstone William Blackstone (1723-1780), bedeutend durch seine umstrittenen, aber äußerst einflussreichen Commentaries on the Laws of England (ab 1770 bis 1782).. Indessen Sie sehen, daß der Erfolg für alle Unregelmäßigkeiten entschädigt.

Ich fahre fort. Beppo kam rechtzeitig zurück, um mir über alle getroffenen Vorbereitungen zu berichten und fernerhin mitzutheilen, daß ein Bedienter des Grafen gerade, als die neue Bemannung sich an Bord versammelt habe, eben dort erschienen sei, um Befehl zu geben, daß das Boot nach derjenigen Stelle gebracht werde, wo wir es nachher fanden. Man hielt es für klug, den Bedienten zurückzuhalten und in Sicherheit zu bringen. Giacomo nahm die Führung des Bootes auf sich.

Ich nähere mich dem Schlusse des Geheimnisses. In meiner Verkleidung mich sicher fühlend, stieg ich mit Beppo auf den Bock. Der Graf kam zur bestimmten Zeit an und würdigte mich weder einer Frage, noch eines Blickes. ›Dein Bruder?‹ sagte er zu Beppo; ›man erräth es an der Familienähnlichkeit. Keine schöne Race, die Eurige! Fahre zu!‹

Wir kamen vor dem Hause an. Ich stieg ab, um den Wagenschlag zu öffnen. Der Graf warf einen Blick auf mich.

›Beppo sagt, du habest die See kennen gelernt.‹

›Ja, Excellenza. Ich bin ein Genuese.‹

›Ha! Wie geht das zu? Beppo ist ein Lombarde.‹

Bewundern Sie jetzt die Geistesgegenwart, mit der ich mich aus der Affaire zog.

›Excellenza,‹ sagte ich, ›es hat dem Himmel gefallen, daß Beppo in der Lombardei geboren werden sollte und meine verehrten Eltern dann nach Genua übersiedelten, in welcher Stadt sie so freundlich behandelt wurden, daß meine Mutter, schon aus gewöhnlicher Dankbarkeit, verpflichtet war, die Bevölkerung derselben zu vermehren. Das war alles, was sie thun konnte, das arme Weib. Sie sehen, daß sie ihr Möglichstes that.‹

Der Graf lächelte und sagte nichts weiter. Die Thüre öffnete sich –– ich folgte ihm; das Uebrige kann Ihnen Ihre Tochter erzählen.«

»Und Sie haben in jener Höhle von Bösewichtern Ihr Leben auf das Spiel gesetzt! Edler Freund!«

»Mein Leben auf das Spiel gesetzt – nein, nicht das meinige, aber das des Grafen. Es gab einen Augenblick, in welchem meine Hand auf dem Drücker ruhte und die Sünde eines gerechtfertigten Mords mir sehr nahe war. Meine Erzählung ist zu Ende. Der Graf befindet sich jetzt auf dem Flusse und wird bald die salzige See erreicht haben – obwohl das Schiff nicht nach Norwegen segeln wird, wie ich zuerst beabsichtigte. Ich konnte es nicht über mich bringen, seiner Schwester eine so kalte Reise zuzumuthen. Die Mannschaft hat deßhalb Befehl ungefähr sechs Tage lang von der Küste entfernt zu kreuzen und dann den Grafen nebst der Marchesa mit einem Boote an der französischen Küste an das Land zu setzen. Der Fürst bekommt dadurch Zeit, in Wien anzulangen, ehe der Graf ihm folgen kann.«

»Würde er sich dies erkühnen?«

»Seien Sie gerechter gegen ihn! Kühnheit, wahrlich, daran fehlt es ihm nicht. Aber nicht sein Erscheinen in Wien ist es, was ich Angesichts der gegen ihn vorliegenden Beweise fürchtete. Ich besorgte, er möchte unterwegs mit dem Fürsten zusammentreffen und ihn zu einem Duell zwingen, ehe sein Charakter so gebrandmarkt ist, daß der Fürst es ausschlagen könnte; – und der Graf ist natürlich ein gefährlicher Schütze, wie alle Männer dieses Schlags.«

»Er wird zurückkehren, und Sie –«

»Ich! – O, seien Sie ohne Furcht; von mir hat er schon genug bekommen. Und jetzt, mein lieber Freund – jetzt, da Violante unter Ihrem eigenen Dache in Sicherheit ist – jetzt, da meine geehrte Mutter schon lange durch Leonard davon in Kenntniß gesetzt worden sein muß, daß wir ohne Gefahr und, was sie beinahe ebenso hoch anschlagen wird, ohne Scandal einen glücklichen Erfolg errungen haben – jetzt, da Ihr Feind so machtlos ist, wie ein auf dem Wasser der Fäulniß zutreibendes Schilf, und der Fürst mit der Mission, Italien seinen würdigsten Sohn zurückzugeben, seinen Wagen die Straße nach Dover einschlagen läßt – jetzt will ich Sie Ihrem eigenen glücklichen Schlummer überlassen, und mir selbst gestatten Sie, daß ich mich in meinen Mantel einhülle und einige Stunden auf dem Sopha schlafe, bis die graue Morgendämmerung dort unten einem reiferen Tageslicht gewichen ist. Meine Augen sind schwer, und wenn Sie noch drei Minuten länger hier verweilen, so werd ich außer Gehörsweite sein in dem Lande der Träume. Buona notte

»Aber es ist ein Bett für Sie gerichtet.«

Harley schüttelte ablehnend den Kopf und legte sich der Länge nach auf dem Sopha zurecht.

Riccabocca beugte sich über ihn, wickelte seinen Gast in den Mantel, küßte ihn auf die Stirne und schlich sich auf dem Zimmer zu Jemima, welche ausgeblieben war, nervös bewegt und gespannt, von ihm diejenige Aufklärung zu erhalten, welche sie aus liebender Rücksicht nicht von der aufgeregten und erschöpften Violante erlangt hatte.

»Nicht zu Bette!« rief der Weise, als er sie sah. »Hast du kein Mitleid mit meinem künftigen Sohn? und das gerade jetzt, da alle Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, daß wir einen Sohn erschwingen können!«

Riccabocca lachte fröhlich, und seine Gattin lehnte sich an seine Schulter und weinte vor Freude.

Aber kein Schlaf kam in Harley L'Estrange's Augen. Nachdem sein Wirth ihn verlassen hatte, stand er auf und ging mit leisen, raschen Schritten im Zimmer auf und ab. Alles Launenhafte und Leichtfertige war aus seinem Antlitz verschwunden, das, von der Morgendämmerung beleuchtet, todtenblaß aussah. In seinen Zügen prägte sich der ganze Kampf und die ganze Qual der Leidenschaft aus.

»Diese Arme haben sie umschlungen,« murmelte er; »diese Lippen haben ihren Athem eingehaucht. Ich befinde mich unter demselben Dache mit ihr, und sie ist gerettet – gerettet für immer von Gefahr und Mangel – und für immer von mir getrennt. Muth, Muth! O, Ehre und Pflicht – und du, dunkle Erinnerung der Befangenheit – du, die du deine Liebe einem Grabe verpfändetest – stütze – schirme mich! Kann ich so schwach sein?«

Die Sonne war an dem winterlichen Himmel aufgegangen, als sich Harley vom Hause wegschlich. Kein Mensch rührte sich, außer Giacomo, welcher auf der Schwelle der Thüre, die er eben aufgeschlossen hatte, stand und den Haushund fütterte.

»Guten Tag,« sagte der Diener lächelnd. »Der Hund ist nicht von sonderlichem Nutzen gewesen, aber ich denke, der Padrone wird ihm künftig ein Frühstück nicht mißgönnen. Ich will den Hund mit nach Italien nehmen und ihn dort verheirathen; vielleicht läßt sich die Race unserer einheimischen lombardischen Hunde veredeln!

»Ah!« sagte Harley, »Ihr werdet bald unsere kalten Küsten verlassen. Möge Euch Allen nie Sonnenschein fehlen.«

Er blieb stehen und blickte nach den geschlossenen Fenstern hinauf.

»Die Signorina schläft dort,« sagte Giacomo mit leiserer Stimme, »gerade über dem Zimmer, in welchem Sie geschlafen haben.«

»Ich wußte es,« murmelte Harley. »Eine innere Stimme sagte es mir. Oeffne das Thor; ich muß nach Hause. Meine Entschuldigungen Deinem Herrn und Allen.«

Er war taub gegen Giacomo's inständiges Bitten, er möchte wenigstens da bleiben, bis die Signorina aufgestanden sei – die Signorina, welche er gerettet habe. Er getraute sich nicht, weiter zu sprechen, sondern verließ den treuen Diener und ging mit schnellen Schritten London zu.


Zehntes Kapitel.

Harley war noch nicht lange in seinem Hotel angelangt und saß noch vor seinem unberührten Frühstück, als Randal Leslie angemeldet wurde. Randal, welcher die feste Ueberzeugung hatte, Violante befände sich jetzt mit Peschiera auf offener See, sah, als er eintrat, wie die personificirte Besorgniß und Erschöpfung aus. Denn Randal hatte, gleich dem großen Cardinal Richelieu, die Kunst gelernt, sich sein schwächliches und kränkliches Aussehen zu Nutzen zu machen. Wenn der Cardinal irgend einen blutigen Plan ausführen wollte, der ungewöhnliche Lebenskraft und Geistesstärke erforderte, so bemühte er sich, das Aussehen eines harmlosen, an den Pforten des Todes stehenden Dulders zu geben. Und Randal, welchen seine Aufregung in diesem Augenblick von einem Ende der unermeßlichen Metropole bis zum anderen mit einer, einen Preiswettläufer übertreffenden Geschwindigkeit zu tragen vermocht hätte, sank jetzt so abgemattet und erschöpft auf einen Stuhl nieder, daß keine Mutter es ohne Mitleid hätte ansehen können. Er schien seit der vorhergehenden Nacht in das letzte Stadium der Schwindsucht hinein galoppirt zu sein.

»Haben Sie irgend eine Spur entdeckt, mein Lord? Sprechen Sie, sprechen Sie!«

»Sprechen – gewiß. Ich bin zu glücklich, Ihrem Gemüthe Erleichterung verschaffen zu können, mein lieber Mr. Leslie. Was für Thoren sind wir gewesen! Ha! ha!«

»Thoren –wir?« stotterte Leslie.

»Natürlich; die junge Dame ist die ganze Zeit im Hause ihres Vaters gewesen.«

»Wie? – was?«

»Und ist noch dort.«

»Es ist nicht möglich!« sagte Randal in dem hohlen, träumerischen Tone eines Schlafwandlers. »Im Hause ihres Vaters – in Norwood! Sind Sie dessen gewiß?«

»Ich bin es.«

Randal machte einen verzweifelten und erfolgreichen Versuch, sich zusammenzunehmen.

»Der Himmel sei gelobt!« rief er. »Und gerade, als ich anfing, gegen den Grafen – gegen die Marchesa Verdacht zu schöpfen; denn ich weiß, daß keines von Beiden die letzte Nacht zu Hause geschlafen hat; und Levy sagte mir, der Graf habe ihm geschrieben und ihn ersucht, seine Rechnungen zu berichtigen, weil er einige Zeit von England abwesend sein würde.«

»Wirklich! Nun, das berührt uns nicht – wohl aber den Baron Levy, wenn er den Auftrag ausführt und die Rechnungen bezahlt. Was! gehen Sie schon?«

»Fragen Sie noch? Wie kann ich bleiben? Ich muß nach Norwood – muß Violante mit meinen eigenen Augen sehen! Verzeihen Sie mir meine Aufregung – ich – ich –«

Randal griff nach seinem Hut und eilte aus dem Zimmer.

Als er fortging, tönte ihm das leise, verächtliche Lachen Harley's nach.

»Ich habe nicht weniger Zweifel an seiner Schuld, als Leonard. Violante soll wenigstens nicht die Beute dieses dünnlippigen Buben werden. Welche seltsame Anziehungskraft kann er besitzen, daß er die beiden Männer, welche ich am meisten schätze – Audley Egerton und Alphonso di Serrano, so sehr an sich zu fesseln vermag? Beide noch dazu so weise, der Eine in Büchern – der Andere im Leben. Und Beide sind mißtrauisch! Während ich, unvorsichtig im Vertrauenschenken und offenherzig – Ah, das ist der Grund; unsere Naturen stoßen sich gegenseitig ab – Ränke, Verstellung, Falschheit – dafür habe ich keine Gnade, keine Verzeihung. Wehe allen Heuchlern, wenn ich ein Großinquisitor wäre!«

»Mr. Richard Avenel,« meldete der Diener, indem er die Thüre öffnete.

Harley faßte die Seitenlehne des Stuhles, auf welchem er saß, mit festem Griff, während sein Blick starr auf den Gentleman gerichtet war, welcher jetzt in das Zimmer trat. Er erhob sich mit Anstrengung.

»Mr. Avenel!« sagte er stotternd. »Habe ich Ihren Namen recht gehört? Avenel!«

»Richard Avenel, zu Ihren Diensten, mein Lord,« antwortete Dick. »Meine Familie ist Ihnen nicht unbekannt; und ich schäme mich meiner Familie nicht, obgleich meine Eltern kleine Handwerksleute in Lansmere waren. Und ich bin – ein – hm! – ein Weltbürger, der sein Glück gemacht hat!« fügte Dick hinzu, indem er seine gemslederne Handschuhe in seinen Hut fallen ließ und diesen hierauf mit der Miene eines alten Bekannten, der es sich bequem und heimisch zu machen wünscht, auf den Tisch stellte.

Lord L'Estrange verbeugte sich und sagte, als er sich wieder gesetzt hatte – (Dick saß bereits) – »Sie sind sehr willkommen, Sir, und kann ich irgend etwas thun für Jemand, der Ihren Namen trägt –«

»Danke Ihnen, mein Lord, ich brauche von Niemandem etwas. Das ist ein kühnes Wort; aber ich spreche es aus. Nichtsdestoweniger würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, Eure Lordschaft zu besuchen, ohne daß Sie mir zuerst die Ehre erwiesen hätten, mich in meinem Hause Eaton Square, Nro. ***, aufzusuchen. Ich würde mir nicht die Freiheit genommen haben, wenn es nicht ein Geschäft – ein öffentliches Geschäft, darf ich sagen – eine National-Angelegenheit betreffen würde.«

Harley verbeugte sich wieder. Ein schwaches Lächeln spielte einen Augenblick um seine Lippen, aber es verschwand wieder und wich einem wehmüthigen Ausdruck der Zerstreutheit in seinem Gesichte, als er die hübschen Züge des Mannes, der vor ihm stand, genauer betrachtete und vielleicht in denselben, so männlich und keck sie auch waren, doch eine Familienähnlichkeit mit jenem Wesen entdeckte, dessen Schönheit einst sein Ideal weiblicher Lieblichkeit gewesen war; dann plötzlich streckte er die Hand aus und sagte mit mehr als gewöhnlicher Herzlichkeit und Milde:

»Geschäft oder nicht Geschäft, lassen Sie uns als Freunde zusammen sprechen – um eines Namens willen, der meine Gedanken wieder nach Lansmere und in meine Jugend zurückführt. Ich höre Ihnen mit Interesse zu.«

Richard Avenel, über diese unerwartete Freundlichkeit sehr verwundert und, er wußte nicht warum, durch den sanften und melancholischen Ton von Harley's Stimme gerührt, drückte mit Wärme die ihm dargebotene Hand und begann in einem seltenen Anfall von Schüchternheit zu erröthen, zu husten, sich zu räuspern und erst auf den Boden, dann seitwärts zu blicken, bevor er Worte finden konnte, die ihm doch sonst zu Gebote zu stehen pflegten.

»Sie sind sehr gütig, Lord L'Estrange; man kann nicht liebenswürdiger sein. Ich fühle es hier, mein Lord,« sagte er und klopfte an seine Büffelweste – »ich fühle es, auf mein Wort. Aber ich will Sie nicht um Ihre Zeit bringen (Zeit ist Geld), ich komme zur Sache. Es handelt sich um den Wahlbezirk Lansmere. Der Einfluß Ihrer Familie ist in demselben sehr groß. Aber verzeihen Sie mir, wenn ich die Vermuthung ausspreche, Sie seien nicht davon unterrichtet, daß ich auf der anderen Seite auch mir einen ziemlich bedeutenden Einfluß zusammengebraut habe. Nehmen Sie es mir nicht übel – Meinungen sind frei; und die Fluth der öffentlichen Meinung läuft stark mit uns – ich meine mit mir – bei der bevorstehenden Krisis – das heißt bei der nächsten Wahl. Nun habe ich große Achtung vor dem Grafen, Ihrem Vater, und das haben auch Diejenigen, welche mich in die Welt gesetzt haben, – mein Vater John war immer ein regelmäßiger guter Blauer; – und meine Achtung vor Ihnen selbst ist, seit ich dieses Zimmer betreten habe, bedeutend gestiegen – ja sehr bedeutend gestiegen. Deßhalb möchte ich gerne sehen, ob wir nicht unsere beiden Köpfe unter Einen Hut bringen und den Bezirk zwischen uns theilen könnten – in aller Ruhe und unter uns, wie es Männer der Oeffentlichkeit thun sollen, wenn sie sich zusammen finden – Niemand sonst dabei, kein unnöthiger, in diesem alten Lande so gebräuchlicher Schwindel. Nun, mein Lord?«

»Mr. Avenel,« sagte Harley langsam, indem er sich von seiner Zerstreuung erholte, mit welcher er den früheren Sätzen Dick's zugehört hatte, »ich fürchte, ich habe Sie nicht ganz verstanden; allein ich habe bei der nächsten Wahl in dem Bezirke Lansmere kein anderes Interesse, als das, einem Manne zu dienen, dem Sie, mag nun seine politische Farbe sein, welche sie will, das Zeugniß geben werden, daß er –«

»Ein Schwindler ist!«

»Mr. Avenel, wir können unmöglich Ein und dieselbe Person im Auge haben. Ich spreche von einem der ersten Staatsmänner unserer Zeit – von Mr. Audley Egerton – von –«

»Einem bockssteifen, pomphaften –«

»Meinem ältesten und theuersten Freunde.«

Diese Zurückweisung, so mild sie ertheilt wurde, genügte, Dick für den Augenblick zum Schweigen zu bringen; und als er wieder sprach, geschah es in verändertem Tone.

»Ich bitte um Verzeihung, mein Lord, ja, gewiß. Natürlich kann ich von Ihrem Freunde nichts sagen, was gegen die Achtung vor ihm verstoßen würde; – es thut mir leid, daß er Ihr Freund ist. In diesem Falle fürchte ich beinahe, daß nichts zu machen sein wird. Aber Mr. Audley Egerton hat keine Aussichten. Erlauben Sie, daß ich Sie davon überzeuge.«

Dick zog ein kleines Buch in rothem Einbande aus der Tasche.

»Das Wahlbuch, mein Lord. Ich bin kein Aristokrat. Ich mache keinen Anspruch darauf, eine freie und unabhängige Wählerschaft in meiner Tasche zu haben. Behüte Gott! Aber ich bin ein praktischer Geschäftsmann – was ich thue, das thue ich recht. Sehen Sie sich einmal das Buch an. Gut geführt – nicht wahr? Namen, Zusagen, Neigungen, politische Meinungen und Privatinteressen von jedem einzelnen Wähler in Lansmere! Nun, ich zeige Ihnen, wie ein Ehrenmann dem anderen, dieses Buch, und ich denke, Sie werden einsehen, daß wir eine reine Majorität von wenigstens achtzig Stimmen gegen Mr. Egerton haben.«

»Das ist Ihre Anschauungsweise in dieser Sache,« sagte Harley, indem er das Buch nahm und die darin verzeichneten, mit Bemerkungen versehenen Namen überblickte. Seine Züge wurden aber ernst, als er viele Namen darunter entdeckte, welche ihm aus seiner Jugendzeit als die einflußreicher, für Lansmere stimmender Wähler bekannt waren, die er aber jetzt auf der feindlichen Seite eingetragen fand.

»Ich bin überzeugt, es stehen hier Personen, in welchen Sie sich täuschen – alte Freunde meiner Familie – felsenfeste Stützen unserer Partei.«

»Ganz richtig. Allein diese neue Frage hat alles auf den Kopf gestellt. Sie können sich auf keinen Ihrer Freunde verlassen. Es gibt in der That keinen anderen Verlaß, als auf dieses Buch,« sagte Dick, indem er ruhig, aber mit bedeutungsvollem Nachdruck auf den rothen Einband klopfte.

»Was ich Ihnen nun vorzuschlagen wünsche, ist dieses: Sie dürfen nicht zugeben, daß die Lansmere'sche Partei geschlagen wird; es würde dem alten Grafen wehe thun – ihm zu Herzen gehen; ich bin es überzeugt.«

Harley nickte.

»Und die Lansmere'sche Partei braucht nicht geschlagen zu werden, wenn Sie einen andern Mann als Candidaten aufstellen, als jenen Actenwurm. (Ich bitte um Verzeihung!) Sie sehen, daß ich nur Einen Mann in das Parlament bringen will – Sie wollen einen hinein bringen. Warum nicht? Da ist nun ein geriebener junger Mann – ein Verwandter von Mr. Egerton – Randal Leslie. Ich habe nichts gegen ihn einzuwenden, obgleich er zu Ihrer Partei gehört. Ziehen Sie Mr. Egerton zurück, und ich will meinen zweiten Mann zurückziehen, bevor es zur Abstimmung kommt; auf diese Weise werden wir den Bezirk glatt zwischen uns theilen. Das ist der Weg, Geschäfte zu machen – nicht wahr, mein Lord?«

»Randal Leslie! O, Sie wünschen Mr. Leslie hineinzubringen? Aber er tritt mit Egerton auf, nicht gegen ihn.«

»Ah!« sagte Dick, vor sich hinlächelnd, »so höre ich; und wir könnten ihn über Egerton hinwegbringen, ohne Ihnen ein Wort zu sagen. Aber unsere ganze Familie achtet die Ihrige, und so habe ich gewünscht, die Sache auf eine offene und anständige Weise abzumachen. Lassen Sie den Grafen und Ihre Partei sich mit Leslie begnügen.«

»Hat der junge Leslie mit Ihnen gesprochen?«

»Natürlich; aber nicht mit Bezug auf meinen gegenwärtigen Besuch – dieser ist ein Geheimniß – ein privater und vertraulicher Besuch, mein Lord. Und jetzt will ich, um die Sache noch glätter zu machen, Jemand vorschlagen, der nach Eurer Lordschaft Herzen sein wird. Ich weiß, daß Sie sehr gütig gegen meinen Neffen gewesen sind; – es macht Ihnen Ehre, mein Lord; – ein wundervoller junger Mann, obgleich ich es sage. Ich hätte nie gedacht, daß so viel hinter ihm stecke. Die ganze Zeit, welche er bei mir war, hatte er in seinem Schreibtische die Skizze einer Erfindung, welche mich jetzt vom Ruin – vom positiven Ruin – von Baron Levy – von Kingsbench – und einem gewaltigen Gant rettet! Ein solcher junger Mann muß in das Parlament. Ich liebe es, einen Verwandten vorwärts zu bringen; das heißt, wenn er einem Ehre macht; es liegt in der menschlichen Natur, für das eigene Fleisch und Blut zu sorgen; und außerdem wäscht eine Hand die andere, und ein Bein hilft dem andern, und Verwandte kommen am besten durch die Welt, wenn sie an Einem Strange ziehen; das heißt unter der Voraussetzung, daß es die richtige Art von Verwandten sind, daß sie einen vorwärts und nicht rückwärts ziehen. Ich hatte einmal daran gedacht, selbst als Candidat für Lansmere aufzutreten – dachte noch vor Kurzem daran. Das Land braucht Leute, – wie mich – ich weiß das; ich bin aber der Meinung, daß es besser ist, wenn ich nach meinen eigenen Geschäften sehe. Das Land, das alte dumme Ding mag sich ohne mich behelfen oder nicht behelfen. Darüber aber ist kein Zweifel, daß meine Mühle Winterfeld übersetzt hier »mill« unzutreffend wörtlich; es bedeutet aber, wie er bei Kolb hätte sehen können, in diesem Zusammenhang natürlich »Fabrik«. und meine Maschinen ohne mich sich nicht behelfen können. Kurz, da wir ganz allein sind, und wir, wie ich vorhin sagte, den in Gegenwart Dritter unumgänglichen Schwindel nicht brauchen, so sorgen Sie auf andere Weise für Egerton, den ich wie Gift hasse – ich habe ein Recht, das zu thun, denke ich, ohne Eure Lordschaft zu beleidigen – und die zwei jungen Bursche, Leonard Avenel und Randal Leslie, werden Mitglieder des Parlaments für den freien und unabhängigen Bezirk Lansmere!«

»Wünscht aber Leonard in das Parlament zu kommen?«

»Nein, er sagt, er wünsche es nicht; aber das ist Unsinn. Wenn Eure Lordschaft ihm sagen wollten, es sei Ihr Wunsch, daß er eine so herrliche Gelegenheit, im Leben empor zu kommen und aus der Nation etwas Hübsches zu ziehen, nicht vorübergehen lasse, so bin ich überzeugt, er, der Ihnen so viel zu danken hat, wird sich besinnen – besonders, da es zu seinem eigenen Vortheil ist. Und außerdem muß Einer von uns Avenels in das Parlament. Und da ich nicht die Zeit und Kenntnisse und so weiter besitze, und er sie hat, so ist es vernünftig, daß er unser Mann wird. Und wenn er einmal etwas für mich thun kann – nicht daß ich es brauche – indessen würde so ein Baronettitelchen ein Compliment für die britische Industrie sein und sowohl von mir, als von dem großen Publikum geschätzt werden; – ich sage, wenn er etwas Derartiges thun könnte, so würde es die ganze Familie in Ansehen halten; und wenn er es nicht kann, nun, dann will ich es ihm verzeihen.«

»Avenel,« sagte Harley mit jenem einschmeichelnden, liebenswürdigen Zauber in seinem Benehmen, dem nur Wenige widerstehen konnten – »Avenel, wenn ich, als einen großen persönlichen Gefallen gegen mich selbst – gegen mich, Ihren Mitbürger – (ich bin in Lansmere geboren) – wenn ich Sie ersuchte, Ihren Groll gegen Audley Egerton, welcher Art dieser Groll auch sein mag, aufzugeben und sich seiner Erwählung nicht zu widersetzen, wobei sich unsere Partei der Wahl Ihres Neffen gleichfalls nicht widersetzen würde – könnten Sie mir nicht diesen Gefallen thun? Kommen Sie, um des theuren Lansmere's und all' der freundlichen Gefühle willen, welche zwischen Ihrer und meiner Familie obwalten, sagen Sie, ›ja – es soll so sein‹.«

Richard Avenel war beinahe erweicht. Er wandte sein Gesicht ab; plötzlich aber erinnerte er sich wieder der höhnischen Miene Audley Egerton's und der hochmüthigen Verachtung, mit welcher er, damals der wohlweise Mayor von Screwstown, aus dem Studirzimmer des Parlamentsmitglieds ausgewiesen worden war; und das Blut stieg ihm in die Wangen, er stampfte mit dem Fuße auf den Boden und rief zornig:

»Nein, ich habe geschworen, daß Audley Egerton seine Unverschämtheit gegen mich büßen solle, so wahr mein Name Richard Avenel sei; und alle Wasser der Welt werden jenen Schwur nicht auswaschen. Es bleibt deßhalb nichts übrig, als daß Sie entweder Ihren Mann zurückziehen, oder daß ich ihn schlage, Ja, und ich würde es thun – und in einer Weise thun, die ihn am meisten ärgern sollte, und wenn ich die Hälfte meines Vermögens daran setzen müßte. Aber so viel wird es nicht kosten,« sagte Dick, kühler werdend, »nicht einmal annähernd so viel; denn wenn der Strom der öffentlichen Meinung Jemandem günstig fließt, dann ist es wunderbar, wie billig eine Wahl zu stehen kommt. Ihn wird sie indessen genug kosten, und alles vergebens – schlimmer, als vergeblich. Bedenken Sie das, mein Lord.«

»Das will ich, Mr. Avenel. Und ich versichere Sie meinerseits, daß meine Freundschaft so stark ist, wie Ihr Haß; und wenn es mich, nicht mein halbes, sondern mein ganzes Vermögen kosten sollte, Audley Egerton soll, ohne daß er selbst einen Schilling ausgibt, in das Parlament kommen, wenn wir einmal beschlossen haben, daß er sich auf den Kampf einlasse.«

»Sehr wohl, mein Lord – sehr wohl,« sagte Dick steif und zog seine gemsledernen Handschuhe an; »wir wollen sehen, ob die Aristokratie immer auf diese Weise die freie Wahl des Volkes niederreiten kann. Aber das Volk ist aufgewacht, mein Lord. Die Aufklärung hat ihren Marsch begonnen – der Schulmeister ist abgesetzt, und der britische Löwe –«

»Es ist Niemand hier, außer uns, mein lieber Avenel. Ist das nicht ungefähr das, was Sie Schwindel nennen?«

Dick stutzte, riß die Augen auf, erröthete und brach dann in ein Gelächter aus.

»Geben Sie mir noch einmal Ihre Hand, mein Lord. Sie sind ein guter Bursche, das sind Sie. Und Ihretwegen –«

»Werden Sie sich der Wahl Egerton's nicht widersetzen?«

»Mit Händen und Füßen – mit Händen und Füßen!« rief Dick, hielt seine Ohren mit beiden Händen zu und lief stracks aus dem Zimmer hinaus.

Ueber Harley's Züge kam, wie so oft, eine plötzliche Veränderung – und in der That ist dies bei den fröhlichen Kindern der Welt häufiger der Fall, als Leute von beständigerem Naturell und gleichmäßigeren Gewohnheiten vermuthen. Es gibt manchen Menschen, den wir unsern Freund nennen, und dessen Gesicht uns ebenso bekannt erscheint, wie unser eigenes; könnten wir aber einen Blick auf ihn werfen, wenn wir ihn verlassen haben und er, mit sich selbst allein, in seinen Stuhl zurücksinkt, so würden wir seufzen über die Entdeckung, wie häufig das Lächeln einer scheinbar so offenen Lippe nichts, als ein eingeübtes Kunststück ist, das man nur bei der Parade zur Schau trägt.

Welche Gedanken ließ Richard Avenel's Besuch in Harley zurück? Es würde schwer sein, sie zu beschreiben. Ein Audley Egerton hätte an seiner Stelle aus dem erhaltenen Besuche einigen Trost geschöpft und gedacht: »Gott sei Dank! Ich brauche diesen schrecklichen Menschen der Welt nicht als meinen Schwager vorzustellen.«

Aber Harley hatte sich in seiner Träumerei ganz und gar von Richard Avenel's Person entfernt. Wie das unbedeutendste Tagesereigniß uns Nachts im Traume verfolgt, wenn wir es auch rein vergessen haben – so kann der Name oder das Aussehen eines Besuchers genügen, eine Vision hervorzurufen, welche mit Dem, der sie zufällig veranlaßt, so wenig gemein hat, wie das sogenannte wirkliche Leben mit dem weit wirklicheren, das wir in den vollgepfropften Vorrathskammern unseres Gehirns vorfinden.

Denn was ist wirkliches Leben? Wie wenig berühren die Dinge, welche wirklich um uns her vor sich gehen, die Quellen unserer Sorge oder unserer Freude; aber was unser blöder Sinn Romantik nennt – das Gefühl, die Erinnerung, die Hoffnung, oder die Furcht, die man nie unter den Erzeugnissen unserer Händearbeit sieht und nie in dem Jargon unserer Lippen hört – dies ist das Leben, aus welchem wir Alle, wie die Spinne aus ihren Eingeweiden, das Gewebe spinnen, an dem wir entweder in dem Sonnenstrahle hängen, oder aus dem Gesichtskreis hinweggleiten unter das Obdach der Heimath.

»Ich darf« sagte Harten, als er mit einem Seufzer aus dieser Träumerei erwachte, »ich darf weder an die Vergangenheit, noch an die Gegenwart denken. Ich will einer selbstgeschaffenen Zukunft entgegen eilen. ›Am glücklichsten sind diejenigen Ehen,‹ sagte der französische Philosoph, und noch sagt es mancher Weise, ›in welchen der Mann nur eine liebreiche Gefährtin und die Frau nur einen ruhigen Beschützer beansprucht‹. Ich will zu Helene gehen.«

Er stand auf, und als er im Begriff war, seinen Schreibtisch zu schließen, erinnerte er sich der Papiere, die Leonard ihn zu lesen gebeten hatte. Er nahm sie nachlässig aus dem Fach mit der Absicht, sie mit nach dem Hause seines Vaters zu nehmen. Als aber sein Blick auf die Schriftzüge fiel, zitterte plötzlich seine Hand, und er wich, als hätte ihn ein heftiger Schlag getroffen, einige Schritte zurück. Und nachdem er die Schrift aufmerksam betrachtet hatte, ertönte ein leiser Schrei von seinen Lippen. Er setzte sich wieder und begann zu lesen.


Elftes Kapitel.

Von allerlei Besorgnissen über die versteckte Ironie in Lord L'Estrange's Ton erfüllt, begab sich Randal nach Norwood. Er fand Riccabocca außerordentlich kalt und zurückhaltend. In kurzer Zeit brachte er aber den Weisen dahin, daß er ihm den Verdacht, welchen ihm L'Estrange eingeflößt hatte, mittheilte, und diesen vermochte Randal ebenso rasch zu zerstreuen. Er legte sofort über seine Besuche bei Levy und Peschiera Rechenschaft ab. Natürlich hatte er Levy aufgesucht, der ein Bekannter von ihm – nein von Audley Egerton war, von dem er aber wußte, daß ihn der Graf in Geschäftsangelegenheiten benützte. Es war ihm gelungen, aus dem Baron Peschiera's verdächtigen Umzug aus seinem Hotel in die Umgebung von Leicester Square herauszulocken; – dort hatte er den Grafen aufgesucht – sich den Zutritt zu ihm erzwungen – ihn geradezu der Entführung Violanten's beschuldigt; es waren scharfe Worte zwischen ihnen gewechselt worden – es kam sogar zu einer Forderung. Randal zeigte ein Billet eines militärischen Freundes von ihm, welchen er eine Stunde, nachdem er das Hotel verlassen, zu dem Grafen geschickt hatte. Dieses Billet bestätigte, daß Vorbereitungen zu einem Zweikampfe auf den nächsten Morgen um sieben Uhr in der Nähe von Lord's Cricket-Platz getroffen seien. Randal legte dann Riccabocca eine zweite förmliche Urkunde desselben kriegerischen Freundes vor, des Inhalts, Randal und er hätten sich aus den Platz begeben, aber kein Graf sei erschienen.

Man muß gestehen, daß Randal alle zeitgemäßen Vorsichtsmaßregeln ergriffen hatte. Einen solchen Mann kann man nicht wegen Mangel an Erfindungsgeist tadeln, wenn ihm auch bisweilen das Schicksal keinen Erfolg gönnt.

»Dann,« fuhr Randal fort, »eilte ich voll Unruhe zu Baron Levy, welcher mir sagte, der Graf habe ihm geschrieben, daß er einige Zeit von England abwesend sein würde. Von da stürzte ich in Verzweiflung zu Ihrem Freunde, Lord L'Estrange, und erfuhr dort, daß Ihre Tochter in Sicherheit bei Ihnen sei. Und obgleich ich, wie ich soeben bewiesen habe, mein Leben an einen so notorischen Duellanten, wie der Graf ist, gewagt haben würde, um vielleicht Violante vor den ihm zugeschriebenen Anschlägen zu retten, so bin ich doch erfreut, daß sie meines ungeschickten Armes nicht bedurfte. Aber wie und weßhalb kann der Graf England verlassen haben, nachdem er eine Herausforderung angenommen hatte? Ein Mann, der seiner Waffe so sicher ist und ebenso furchtlos in Gefahren, wie stumpf in Gewissenssachen sein soll! Erklären Sie mir das, Sie, der Sie die Menschheit so gut kennen, ich bin es nicht im Stande.«

Der Philosoph konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Entlarvung und Beschämung seines Feindes, die Klugheit, den Scharfsinn und die Bereitwilligkeit seines Freundes zu berichten, und so erfuhr Randal nach und nach das ganze Drama des vorhergehenden Abends. Er sah nun, daß der Verbannte gegründete Hoffnung hatte auf baldige Wiedereinsetzung in Würden und Reichthum, und daß Violante ein glänzender Preis sei – zu glänzend vielleicht für Randal, aber jedenfalls ein Preis, der nicht ohne Kampf aufgegeben werden dürfe.

Der durchtriebene, junge Freiwerber drückte demgemäß krampfhaft die Hand seines Schwiegervaters in spe, wendete das Gesicht ab, als ob er seine Bewegung verbergen wollte, und stammelte:

»Jetzt, da Doktor Riccabocca so bald im Herzog von Serrano verschwinden wird, hat Randal Leslie von Rood, ein geborner Gentleman allerdings, aber in zerrütteten Vermögensverhältnissen, kein Recht mehr auf die Zusage, die ihm gegeben wurde, als ein Vater noch für die Zukunft einer Tochter zu fürchten hatte. Mit der Befürchtung erlosch auch das Versprechen. Möge der Himmel Vater und Tochter segnen!«

Diese Anrede berührte bei dem Verbannten zwei Seiten: das Herz und die Ehre. Randal Leslie kannte seinen Mann. Und obgleich Riccabocca vor Randal's Besuch nicht Philosoph genug war, um nicht sehr erfreut zu sein über die Aussicht, durch den Nachweis der Verrätherei des jungen Mannes von einer Verbindung erlöst zu werden, welche so tief unter dem Range war, dessen Wiederverleihung ihm in nächster Zeit bevorstand, so hielt doch nie ein Spanier zäher an seinem verpfändeten Wort fest, als dieser inconsequente Schüler des tiefblickenden Florentiners Machiavelli.. Da ihm nun Randal's Ehrenhaftigkeit als bewiesen erschien, so wiederholte er in feierlicher Weise sein früheres Anerbieten der Hand Violanten's.

»Aber,« stotterte seufzend der vorsichtige und weit berechnende Randal, »aber es ist Ihr einziges Kind, Ihre einzige Erbin. Wird nicht Ihre Einwilligung in diese Heirath, wenn sie vor Ihrer Rückberufung bekannt wird, Ihrer Sache schaden? Ihre Güter, Ihre Fürstentümer sollen auf das Kind eines bescheidenen Engländers übergehen? Ich wage dies nicht zu glauben. Wäre doch Violante nicht Ihre Erbin!«

»Ein edler Wunsch,« sagte Riccabocca, mild lächelnd, »und einer, den die Schicksalsgöttinnen erfüllen werden. Muth gefaßt! Violante wird nicht meine Erbin sein.«

»Ah!« rief Randal, tief Athem holend, »was höre ich?«

»St! Ich werde bald zum zweiten Male Vater werden, und zwar – nach den unfehlbaren Forschungen der Schriftsteller über die interessanteste Frage – die Genesie – Vater eines Sohnes. Er wird dann der Erbe der Titel von Serrano und Monteleone werden, und Violante –«

»Wird nichts erhalten, hoffe ich!« rief Randal, so gut wie möglich eine überschwengliche Freude zur Schau tragend, bis er die Pfoten wieder aus der Falle herausgezogen haben würde, in die er sie so unvorsichtig gesteckt hatte.

»Nicht doch, ihr gesetzlicher Antheil – von meiner Liebe ganz abgesehen – würde die Mitgift weit übertreffen, welche reiche Töchter von Londoner Kaufleuten den Söhnen britischer Peers mitbringen. Wer immer Violante heirathet, muß sich – vorausgesetzt, ich erhalte meine Güter zurück – auch den Sorgen unterwerfen, welche die Dichter als vom Reichthume unzertrennbar schildern.«

»O!« stöhnte Randal, als sei er bereits von Sorgen gebeugt und sympathisire mit den Dichtern.

»Außerdem braucht die Vermählung nicht eher stattzufinden, als bis mein Sohn geboren ist; und Niemand kann mir vorschreiben, wie ich meine Tochter verheirathen soll. Und nun, erlauben Sie, daß ich Sie Ihrer Verlobten vorstelle.«

Der arme Randal war während der letzten drei Minuten unbarmherzig durch die »Tonleiter der Gefühle«, wie Schiller sagt »… die Tonleiter aller tiefsten menschlichen Empfindungen«, so äußerste sich in Wahrheit nicht Schiller, sondern Wilhelm von Humboldt über Schillers »Lied von der Glocke«., geschleift worden, zuerst abwärts bis zur tiefsten Suite der Verzweiflung, durch die plötzliche Kunde, daß seine Verlobte keine Erbin sein werde; dann auswärts zu den Tremulos angenehmer Zweifel an dem noch ungeborenen Usurpator ihrer Rechte, welchen die genetische Wissenschaft prophezeite, und zuletzt zu der Harmonie aller lieblichen Gedanken bei der Versicherung, daß, komme was da wolle, keines Peers Sohn in dem hochzeitlichen Potosi Stadt in Bolivien, Südamerika; einst die mächtigste Silbermine des Kontinents; seit Ende des 19. Jh. sind die Silbervorkommen so gut wie erschöpft. von Lombardstreet eine so reiche Braut zu finden vermöchte.

Gleichwohl war es dem geplagten Liebhaber noch nicht vergönnt, seine entzückte, aber erschöpfte Seele zur Ruhe kommen zu lassen. Denn bei dem Gedanken, persönlich der ihm bestimmten Braut vorgestellt zu werden, deren wirkliche Gestalt ihm unter dem Goldregen, welchen er vom Himmel auf sie herabfallen sah, ganz aus dem Sinne geschwunden war, erinnerte sich Randal plötzlich der unerhört plumpen Weise, in der er seiner Politik gemäß bei der letzten Begegnung mit Violante seine Werbung vorgebracht hatte, und er überlegte jetzt die Nothwendigkeit eines Falsetto zu den neuen Variationen, die ihn erbarmungslos auf der Gefühlsleiter herumstießen.

Indessen war der Vorschlag des Vaters nicht zu umgehen, und um Riccabocca aus Violanten's Einwendungen vorzubereiten, gestand er diesem, seine Ungeduld, ihre Zustimmung zu erlangen und Peschiera aus dem Felde zu schlagen, habe ihn im Lichte eines zudringlichen und anmaßenden Liebhabers erscheinen lassen.

Der Philosoph, geneigt, jede Art von Werbung, da, wo das Resultat derselben schon im Voraus entschieden ist, für die richtige zu halten, lächelte wohlwollend, streichelte Randal's magere Wangen mit einem: »Pah, pah, pazzie!« und entfernte sich, um Violante herbeizurufen.

»Wenn Wissen Macht ist,« sagte Randal zu sich selbst, »so ist Geschicklichkeit offenbar Glückssache, wie Miß Edgeworth in der Geschichte Murad's des Unglücklichen Murad the Unlucky, Erzählung der anglo-irischen Schriftstellerin Maria Edgeworth (1767-1849). nachweist, die ich in Eton gelesen habe; und eine sehr vernünftige Geschichte ist es. Hienach geht es hier keinen Falls schief. Violanten's Rettung, die mich die zehntausend Pfund des Grafen kostet, wird mir, wie ich glaube, zehn Mal so viel eintragen. Ohne Zweifel wird sie wenigstens hundert tausend Pfund bekommen. Ferner, wenn ihr Vater am Ende doch kein anderes Kind bekommt oder dieses erwartete Kind jung wegstirbt, und wenn er einmal mit seiner Regierung ausgesöhnt und in seinen Grundbesitz wieder eingesetzt ist, so muß ja das Gesetz seinen natürlichen Gang gehen und Violante die reichste Erbin Europa's werden. Was die junge Dame selbst betrifft, so muß ich gestehen, sie jagt mir Furcht ein, und ich weiß, daß ich unter den Pantoffel komme. Gleichviel, es ist dies das Loos aller respectabeln Ehemänner. Es liegt etwas Gemeines und Niederträchtiges darin, nicht unter dem Pantoffel zu sein.«

Bei diesen Worten mochte Randal's Lächeln zu den »eisernen Thränen« Pluto's Im Orpheus-und-Eurydike-Mythos bringt der Sänger Orpheus Pluto dazu, eiserne Thränen zu vergießen. recht gut gepaßt haben, aber so eisern dieses Lächeln war, der ernste, junge Mann war doch beschämt darüber.

»Was lache ich da über mich selbst und verliere Zeit,« sagte er halblaut zu sich, »während ich ernsthaft daran denken sollte, wie ich meine frühere cavaliermäßige Werbung erkläre? Damals hielt ich sie für ein Meisterstück, aber wer konnte auch einen solchen Verlauf der Dinge voraussehen? Ich muß nachsinnen, ich muß nachsinnen. Verdammt, da kommt sie schon!«

Aber Randal besaß nicht das seine Ohr eines romantischeren Liebhabers, und zu seiner großen Beruhigung kehrte der Verbannte ohne Violante zurück. Riccabocca schien etwas verlegen.

»Mein lieber Leslie,« sagte er, »Sie werden für heute meine Tochter entschuldigen, sie ist von der Aufregung, die sie durchgemacht, noch leidend, und kann Sie nicht sprechen.«

Der Liebhaber gab sich Mühe, nicht gar zu erfreut auszusehen.

»Grausam,« sagte er, »aber nicht um die Welt möchte ich ihr meine Gegenwart aufdrängen. Ich hoffe nur, Herzog, daß sie es nicht zu schwierig finden wird, dem Befehle zu gehorchen, welcher über ihre Hand verfügt und ihr Glück meiner dankbaren Fürsorge anvertraut.«

»Offen gestanden, Randal, sie scheint sich in diesem Augenblicke schwerer darein zu finden, als ich vermuthete. Sie spricht sogar von –«

»Von einer anderen Neigung? O Himmel!«

»Neigung, pazzie! Wen kennt sie denn? Nein, von einem Kloster. Aber überlassen Sie das nur mir. In einer ruhigeren Stunde wird sie einsehen, daß es für ein Kind kein beneidenswertheres und heiligeres Loos geben kann, als die Ehre des Vaters einzulösen. Und jetzt, wenn Sie nach London zurückgehen, darf ich Sie bitten, dem jungen Mr. Hazeldean für seinen Theil an der Befreiung meiner Tochter aus den Händen jenes armen geprellten Schwindlers die Versicherung meiner ewigen Dankbarkeit zu überbringen?«

Es verdient Beachtung, daß Peschiera, sobald er aufgehört hatte, ein Gegenstand der Furcht für den nervösen Vater zu sein, nur noch ein Gegenstand des Mitleids für den Philosophen und ein Gegenstand der Verachtung für den Fürsten war.

»Richtig,« sagte Randal, »Sie erzählten mir, Frank habe in dem von Lord L'Estrange sehr klug in Scene gesetzten Drama eine Rolle gespielt. Mylord muß ein geborener trefflicher Schauspieler sein, Komiker mit etwas melodramatischer Färbung. Armer Frank! Offenbar ist die Frau, welche er anbetet, Beatrice di Negra, für ihn verloren. Sie sagen, sie habe den Grafen begleitet? Ist ihre beabsichtigte Verbindung mit Frank zurückgegangen?«

»Ich wußte nicht, daß diese Verbindung beabsichtigt war; ich hörte nur, sie liebe einen Anderen. Das wäre aber noch kein Grund gewesen, Mr. Hazeldean nicht zu heirathen. Bringen Sie ihm meine besten Wünsche zu seinem Entkommen.«

»Nein, nein, er darf nicht wissen, daß ich, ohne es zu wollen, Ihnen sein Geheimniß entdeckt habe. Sie errathen aber jetzt, wie es kam, daß ich, was Sie vielleicht früher mißtrauisch machte, mit dem Grafen und seinen Manövern so gut bekannt wurde. Ich war der Vertraute meines Verwandten Frank, und Frank war der Verlobte der Marchesa.«

»Es freut mich, daß Sie mir diese Aufklärung gegeben haben; sie genügt vollkommen. Im Grunde ist die Marchesa von Natur keine böse Frau, das heißt nicht schlimmer als die Weiber im Allgemeinen sind. So versichert Harley, und Violante vergibt ihr und entschuldigt sie.«

»Großmüthige Violante! Aber es ist wahr. Ich war stets der Ansicht, die Marchesa besitze schöne, wenn auch nicht gehörig geregelte Eigenschaften, so daß ich sie für fähig hielt, uns bei Vereitelung der verbrecherischen Plane ihres Bruders beizustehen. Erinnere ich mich recht, so habe ich dies auch gegen Violante geäußert.«

Nachdem Randal diese kluge und vorsorgliche Bemerkung hingeworfen hatte, um sich gegen alles zu decken, was etwa Violante über die listige Erwähnung Beatricen's und seine Anforderung, der Marchesa Vertrauen zu schenken, sagen mochte, eilte er hinweg.

»Sie bedürfen der Ruhe und ich verlasse Sie als der glücklichste, dankbarste der Menschen. Ihre freundliche Botschaft an Frank werde ich ausrichten.«


Zwölftes Kapitel.

Neugierig, zu erfahren, was zwischen Beatrice und Frank vorgefallen, und lebhaft betheiligt bei allem, was Frank aus seines Vaters Liebe verdrängen oder aber seine eigenen Aussichten durch eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn gefährden konnte, beeilte sich Randal, die Wohnung seines jungen Verwandten aufzusuchen.

Zwar könnte man denken, der Erfolg seiner Plane auf die Hazeldeaner Schatzkammer müßte ihm nun gleichgültiger geworden sein, nachdem er sich soeben mit Violanten's Hand aller Wahrscheinlichkeit nach ein so großes Vermögen gesichert hatte; allein durch eine derartige Vermuthung würde man diesem weitdenkenden jungen Manne schweres Unrecht zufügen.

Denn erstens war bis jetzt weder Violante gewonnen, noch ihr Vater wieder in den Besitz jener Güter gesetzt, von welchen ihre Mitgift bestritten werden sollte, und zweitens liebte Randal gleich Jago Siehe Anm. 326. die Schlechtigkeit um der Fähigkeiten willen, welche sie in ihm wachrief. Der einzige Genuß, den dieser ebenso enthaltsame, als strebsame junge Mann sich gestattete, war derjenige, welcher in der Rastlosigkeit des Geistes zu finden ist. Die Freuden des Weins verabscheuend, todt für die Liebe, gelangweilt von den gewöhnlichen Vergnügungen der Welt, gleichgültig gegen die Künste, und die Gelehrsamkeit verachtend, ausgenommen als Mittel zur Macht, war Randal Leslie die Verkörperung des Gedankens, welchen die Verdorbenheit des Willens ausbrütet.

In der Dämmerung sehen wir luftige, geisterhafte Insekten, scheinbar nur aus Schwingen und Beinen bestehend, über einem düstern, mephitischen Sumpfe schweben, als könnten sie niemals zur Ruhe kommen. Ebenso, däucht mich, müssen ähnliche lautlose, schnakenartige Luftsegler aus den stygischen Tiefen des Acheron aufsteigen als Gedanken von Geistern, gleich demjenigen Randal Leslie's. Sie sind mit Schwingen versehen – aber nur um desto besser niederstürzen zu können ziehen ihre Nahrung aus jedem unbeschützten Hauttheilchen, und wenn du eben, fast toll gemacht von den Quälgeistern, zuschlägst und triumphirend ausrufst: »Getroffen, beim Jupiter!« wh–irr entflieht das durchsichtige, gespenstische Ding, und der Schlag ist auf deine eigene, doppelt beleidigte Wange niedergefallen.

Die jungen Leute von Randal's Bekanntschaft sagten von ihm, er habe kein Laster! In Wahrheit jedoch war seine ganze Organisation ein einziges episches Laster von so sorgfältiger Zusammensetzung, daß es nicht eine Episode darbot, welche ein Kritiker als nicht zur Sache gehörig bezeichnet haben würde. Großer junger Mann!

»Aber mein lieber Freund,« sagte Randal, sobald er von Frank alles erfahren hatte, was zwischen ihm und Beatrice an Bord des Schiffes vorgegangen war, »ich kann dies nicht glauben! ›Dich nie geliebt?‹ Was sollte alsdann ihre Absicht gewesen sein, nicht nur dich, sondern auch mich zu täuschen? Ich vermuthe, ihre Erklärung entsprang nur aus übertriebener, heroischer Großmuth. Nach ihres Bruders Niederlage und wahrscheinlichem Ruin mochte sie fühlen, daß sie keine Partie für dich sei. Dazu deines Vaters Unwille. Ich durchschaue alles – es sieht ihr ganz gleich – der edlen, unglücklichen Frau!«

Frank schüttelte den Kopf.

»Es gibt Augenblicke,« sagte er mit einer Weisheit, deren Ursprung in dem Instinkte zu suchen ist, welcher durch die Tiefe des ersten großen jugendlichen Schmerzes geweckt wird – »Augenblicke, in welchen ein Weib sich nicht verstellen kann, und es gibt Töne in der Stimme eines Weibes, welche keine falsche Deutung zulassen. Sie liebt mich nicht, hat mich nie geliebt; ich sehe deutlich, daß ihr Herz einem Andern gehört. Gleichviel, es ist alles vorüber. Ich läugne nicht, daß mein Schmerz groß ist; er zehrt an mir wie eine Art nagenden Hungers, und ich fühle mich so zerschlagen, als wäre ich plötzlich zum Greis geworden und alles dessen beraubt, was meinem Leben Werth zu geben vermöchte. Ich will alles dieses, wie gesagt, nicht läugnen.«

»Mein armer, theurer Freund, wenn du nur glauben wolltest –«

»Ich will nichts glauben, als daß ich ein großer Thor gewesen, und ich denke nicht, daß ich jemals wieder ähnliche Thorheiten begehen kann. Aber ich bin ein Mann und werde meinen Schmerz überwinden – ich müßte mich selbst verachten, wenn mir die Kraft dazu fehlte. Und nun laß uns von meinem guten Vater sprechen. Hat er London verlassen?«

»Er ist gestern Abend mit der Post abgereist. Du kannst schreiben und ihm sagen, daß du die Marchesa aufgegeben; so wird alles wieder gut zwischen euch werden.«

»Sie aufgegeben! Pfui, Randal – glaubst du, ich wäre einer solchen Lüge fähig? Sie gab mich auf, und ich kann mir daraus kein Verdienst machen.«

»O ja! ich will den Squire dazu bringen, daß er die Sache in einem für dich günstigen Lichte ansieht. O, wenn es nur die Marchesa wäre! Aber – jenes verwünschte post-obit! Wie konnte auch Levy dich verrathen? Traue niemals wieder einem Wucherer; sie können der Versuchung, einen raschen Gewinn zu machen, nicht widerstehen. Zuerst kaufen sie den Sohn und dann verkaufen sie ihn an den Vater. Und der Squire hat so seltsame Ansichten über Dinge dieser Art.«

»Er hat ganz Recht darin. Hier lies diesen Brief meiner Mutter, den ich heute Morgen erhielt. Ich könnte mich hängen, wenn ich ein Hund wäre; aber ich bin ein Mann, und so muß ich es tragen.«

Randal nahm Mrs. Hazeldean's Brief aus Frank's zitternden Händen. Die arme Mutter hatte aus einigen hastigen Zeilen ihres Gatten Frank's Missethaten, obwohl nur unvollkommen, erfahren und schrieb nun, wie nur gute, nachsichtige, dabei aber verständige und rechtliche Mütter schreiben können. Milder in ihrem Urtheil über eine unkluge Liebe, als der Squire, berührte sie mit vorsichtiger Zartheit Frank's übereilte Verlobung mit einer Ausländerin, rügte aber mit Strenge seinen offenen Trotz gegen seines Vaters Wünsche. Ihr vollster Unwille jedoch war jener unheiligen post-obit-Verschreibung vorbehalten. Hier trug die warme, herzliche Liebe der Gattin den Sieg über die Liebe der Mutter davon. Mit kaltem Blute auf den Tod eben dieses Gatten zu rechnen und sein Herz gerade da so schwer zu verwunden, wo seine eifersüchtige väterliche Zärtlichkeit es am empfindlichsten machte!

»O Frank, Frank!« schrieb Mrs. Hazeldean, »wenn dies nicht wäre – wenn es sich nur um deine unglückliche Neigung zu dieser italienischen Dame handelte, oder um deine Schulden und die Verirrungen einer raschen, unbesonnenen Jugend, so würde ich jetzt bei dir sein – meine Arme um deinen Nacken schlingen und mit Küssen und Schmälen dich an das Vaterherz zurückführen. Aber – aber der Gedanke, daß zwischen dir und diesem Herzen das schmutzige Rechnen auf seinen Tod gelegen – dies ist eine Mauer zwischen uns. Ich kann nicht zu dir kommen; ich möchte nicht in dein Antlitz blicken und der Thränen deines Vaters gedenken, welche auf dasselbe niederfielen, als ich dich, den Neugebornen, auf seine Arme legte und ihn bat, seinen Erben willkommen zu heißen! Wie! du noch ein bloser Knabe, und dein Vater in der Vollkraft des Lebens – und der Erbe kann es nicht erwarten, bis die Natur ihn vaterlos macht! Frank, Frank! wie wenig sieht dir dies gleich. Kann London ein so ehrenhaftes und liebevolles Gemüth schon so gänzlich verdorben haben? Nein, ich vermag dies nicht zu glauben! Es muß irgend ein Mißverständniß obwalten. Kläre es auf, ich beschwöre dich; wo nicht – so würde ich dich zwar als Mutter bemitleiden, als Gattin aber könnte ich dir niemals vergeben.

Harriet Hazeldean.«

Selbst Randal war von dem Briefe ergriffen, denn, wie wir wissen, kannte auch er die Macht der Familienbande. Des armen Squire's Zorn und Derbheit hatten das väterliche Herz einem Auge verborgen, welches, so scharf sein Blick auch sonst war, nicht nach demselben hatte suchen wollen, und Randal, immer nur von dem Verstande angefaßt, verachtete eben diese Schwäche, auf welche er seine habsüchtigen Pläne baute.

Das Schreiben der Mutter jedoch, so gerecht und verständig (wenn man bedenkt, daß sie natürlich die Ansichten ihres Gatten theilte und daher das Anlehen eines Sohnes, welches erst nach des Vaters Tode bezahlt werden sollte, in einem Lichte erblickte, das in den Augen der Welt als eine sehr übertriebene Auffassung eines so alltäglichen Vorkommnisses erscheinen mußte) – dieses Schreiben, sage ich, wenn auch, wie bereits erwähnt, übertrieben in den Augen der fashionabeln Welt, doch so verständig, sobald der Maßstab der natürlichen Liebe daran gelegt wurde, rührte das stumpfe Herz des Ränkeschmiedes, weil der rasche Takt seines Verstandes ihm Beifall zollen mußte.

»Frank,« begann er mit einer Aufrichtigkeit, welche ihn selbst später in Erstaunen setzte, »gehe sogleich hinunter nach Hazeldean – suche deine Mutter auf und erkläre ihr, wie die Sachen zusammenhängen. Die Frau, die du liebtest und zu deiner Gattin machen wolltest, in Gefahr, verhaftet zu werden – die Verwirrung deines Geistes – Levy's Rathschläge – deine Hoffnung, die so gegen den Wucherer eingegangene Schuld aus dem Vermögen zu tilgen, welches in kürzester Zeit mit der Hand der Marchesa in deinen Besitz übergehen würde. Sprich mit deiner Mutter – sie ist eine Frau, und es liegt in dem gemeinschaftlichen Interesse der Frauen, alle Fehler zu vergeben, welche aus der Quelle ihrer Gewalt über uns Männer entspringen – ich meine, aus der Liebe. Gehe!«

»Nein, ich kann nicht gehen; – du hast ja gelesen, sie möchte mein Antlitz nicht sehen. Und ich kann nicht wiederholen, was dir so glatt von der Zunge geht. Ueberdies, da ich so abhängig von meinem Vater bin – und nach dem, was er gesagt hat – fühle ich, als wäre es eine Gemeinheit von mir, wenn ich Entschuldigungen vorbringen wollte. Ich habe es gethan und muß dafür büßen. Aber ich bin ein M–ann – nein – hierin bin ich kein Mann.«

Und Frank brach in Thränen aus.

Bei dem Anblick derselben erholte sich Randal allmälig von seiner seltsamen Verirrung zu einer alltäglichen menschlichen Theilnahme. Die gewohnte Verachtung gegen seinen Verwandten kehrte zurück, und mit derselben kam auch die natürliche Gleichgültigkeit gegen die Leiden des Dinges, das ihm nützen sollte.

Die Verachtung gegen den Wurm ist es, welche den Fischer veranlaßt, ihn an seinen Angelhaken zu befestigen und mit Wohlgefallen die Lebhaftigkeit seiner Krümmungen zu betrachten, durch welche die Barbe angelockt wird. Wenn es dem Wurm gelänge, dem Angler Achtung oder Furcht einzuflößen, so müßte für die Barbe ein anderer Köder gefunden werden. Wenige Fischer würden eine achtungswerthe Seidenraupe anspießen, und noch kleiner möchte die Zahl derjenigen sein, welche eine furchtbare Hornisse mit den Fingern in ihren Dienst zwingen wollten.

»Pah, mein lieber Frank,« sagte Randal, »ich habe dir meinen Rath ertheilt, allein du nimmst ihn nicht an. Gut, was willst du thun?«

»Ich werde mir Urlaub erbitten und fortgehen, irgendwohin,« erwiderte Frank, seine Thränen trocknend. »Ich kann nicht in London bleiben, kann die Menschen nicht sehen. Ich muß allein sein und kämpfen mit allem, was ich hier fühle – in meinem Herzen. Dann werde ich meiner Mutter schreiben, ihr die ungeschminkte Wahrheit sagen, und es ihr überlassen, mich so nachsichtig zu beurtheilen, als sie kann.«

»Du hast ganz Recht. Ja, verlasse die Stadt. Warum nicht in's Ausland gehen? Du bist noch nie gereist. Neue Scenen werden deinen Geist zerstreuen. Gehe nach Paris.«

»Nein, nicht nach Paris – mich verlangt nicht nach Zerstreuung; aber in's Ausland zu gehen, hatte ich bereits beschlossen – in irgend einen dunkeln, unheimlichen Winkel der Welt. Lebe wohl und denke für jetzt nicht weiter an mich.«

»Laß mich jedoch wissen, wohin du gehst; inzwischen will ich den Squire aufsuchen.«

»Sprich so wenig als möglich von mir mit ihm. Ich weiß, deine Absichten waren sehr freundlich – aber o, wie sehr wünschte ich, es wäre niemals ein Dritter zwischen mir und meinem Vater gestanden! Ja, du hast wohl Recht, mir deine Hand zu entreißen. Welch' ein undankbarer Wicht bin ich gegen dich! Wahrhaftig, ich bin der schlechteste Mensch, den es gibt. Wie, du drückst mir dennoch die Hand? Mein lieber Randal, du hast das beste Herz – Gottes Segen über dich!«

Frank wandte sich ab und verschwand in seinem Ankleidezimmer.

»Sie werden sich wieder aussöhnen – Vater und Sohn – früher oder später,« sagte Randal zu sich selbst, als er Frank's Wohnung verließ. »Ich wüßte nicht, wie ich es verhindern könnte, nun die Marchesa fort ist – wenn nicht Frank es statt meiner thut. Aber es ist gut, daß er fortgeht – daraus läßt sich vielleicht etwas machen; inzwischen kann ich noch alles thun, was ich vernünftiger Weise aufzuführen hoffen durfte – selbst wenn Frank Beatrice geheirathet hätte – da er doch nicht enterbt worden wäre. Ich muß den Squire dazu bringen, daß er mir das Geld zu dem Kaufe von Thornhill vorstreckt, damit diese Sache in's Reine kömmt – die Heirath mit Violante kann dazu helfen – Levy muß davon in Kenntniß gesetzt werden – dann der Wahlbezirk – gut, daß ich daran denke. Ich will zu Avenel gehen. Beiläufig – beiläufig – der Squire könnte mir noch immer die Erbfolge nach Frank zusichern – für den Fall, daß Frank kinderlos stürbe. Diese Liebesgeschichte wird ihn lange vom Heirathen abhalten. Seine Hand war glühend – eine hektische Röthe – solche kräftig aussehende Bursche schwinden oft rasch dahin, besonders wenn etwas ihren Geist bedrückt – ihr Geist ist gar so klein! – Ah – der Pfarrer von Hazeldean – mit Avenel! Und dieser junge Mann – wer ist er? ich habe ihn schon früher irgendwo gesehen. Mein bester Mr. Dale, welch' eine angenehme Ueberraschung! Ich glaubte Sie mit unserm Freund, dem Squire, nach Hazeldean zurückgekehrt.«

Mr. Dale. – »Mit dem Squire? Hat er London verlassen? und ohne mir etwas davon zu sagen?«

Randal (den Pfarrer bei Seite nehmend). – »Es drängte ihn, zu Mrs. Hazeldean zurückzueilen, welche sich natürlich wegen ihres Sohnes und dieser thörichten Heirath nicht wenig ängstigte. Ich bin jedoch sehr froh, Ihnen sagen zu können, daß die ganze Heirathsgeschichte vollständig und für immer abgebrochen ist.«

Mr. Dale. – »Wie? was? Mein armer Freund sagte mir, es sei ihm nicht gelungen, auch nur den geringsten Eindruck auf Frank hervorzubringen, und verbot mir, den Gegenstand weiter zu berühren. Ich wollte eben selbst zu Frank gehen, da ich immer einigen Einfluß auf ihn besaß. Doch, Randal, erklären Sie mir dieses eben so unerwartete als glückliche Ereigniß – die Heirath abgebrochen!«

Randal. – »Es ist eine lange Geschichte, und ich wage nicht, von meiner unbedeutenden Betheiligung dabei zu reden. Nein; ich muß das Geheimniß bewahren; Frank würde mir niemals vergeben. Möge es Ihnen genügen, wenn ich Ihnen mein Wort gebe, daß die schöne Italienerin England verlassen und Frank's Anträge entschieden zurückgewiesen hat. Doch halt – wenn ich Ihnen rathen darf – gehen Sie nicht zu ihm. Sie wissen, es war nicht die Heirath allein, was den Squire so sehr beleidigte, sondern mehr noch eine Geldangelegenheit – eine unglückliche post-obit-Verschreibung des Casinogutes. Frank sollte seinen eigenen reuigen Betrachtungen überlassen bleiben – sie werden ihm sehr heilsam sein. Sie kennen sein Temperament – er erträgt keine Vorwürfe – und doch dürfen wir auf der andern Seite nicht zugeben, daß er das Vorgefallene allzu leicht nehme. Ueberlassen wir ihn einige Tage sich selbst; er befindet sich in einer vortrefflichen Gemüthsstimmung.«

Mr. Dale (Randal's Hand mit Wärme drückend). – »Sie sprechen bewunderungswürdig. Ein post-obit! – und wie oft hat er nicht seines Vaters Ansicht über dergleichen Dinge gehört! Nein – ich will ihn nicht sehen – ich würde mich so sehr erzürnen –«

Randal (führt den Pfarrer zurück, wechselt eine Begrüßung mit Avenel, welcher sich inzwischen mit seinem Neffen unterhalten hat, und fährt fort). – »Sie sollten nicht so lange von Ihrer Pfarrei wegbleiben, Mr. Dale. Was wird Ihre Gemeinde ohne Sie anfangen?«

Mr. Dale. – »Die alte Fabel von dem Rad und der Fliege. Ich fürchte, das Rad rollt in gewohnter Weise weiter. Wenn ich aber auch ferne von meiner Gemeinde bin, so befinde ich mich doch in Gesellschaft eines alten Pfarrkindes, welches mir Ehre macht. Sie erinnern sich Leonard Fairfields, Ihres Gegners in der Schlacht bei dem Stocke?«

Mr. Avenel. – »Mein Neffe, wie ich mit Stolz sagen darf.«

Randal verbeugte sich mit ausgezeichneter Zurückhaltung.

Mr. Avenel (die Zurückhaltung seines Neffen für Schüchternheit haltend). – »Ihr solltet Freunde sein, ihr zwei jungen Bursche. Wer weiß, ob Ihr nicht in ein und demselben Joch zu ziehen habt. Ach, dies erinnert mich, Mr. Leslie – ich habe zwei Worte mit Ihnen zu reden. Ihr Diener, Mr. Dale. Werde mich glücklich schätzen, Sie Mrs. Avenel vorzustellen. Meine Karte – Eaton-Square – Nummer ***. Du wirst morgen zu mir kommen, Leonard, und merke dir, ich werde sehr ungehalten sein, wenn du auf deiner Weigerung beharrst. Solch' eine Aussicht!«

Avenel nahm Randal's Arm, während der Pfarrer mit Leonard weiter ging.

»Irgend welche Neuigkeiten von Lansmere?« frug Randal.

»Ja, ich habe nun meinen Plan in Betreff des Wahlkampfes gemacht. Wir müssen zwei gegen zwei streiten – Sie und Egerton gegen mich und meinen Neffen Leonard, wenn ich ihn, wie ich hoffe, zum Auftreten bewegen kann.«

»Wie?« versetzte Randal erschrocken, »so kann ich also auf keine Unterstützung von Ihrer Seite rechnen?«

»Das sage ich nicht; allein ich habe Grund zu glauben, daß sich Lord L'Estrange eifrig zu Egerton's Gunsten bemühen wird. In diesem Fall dürfte es einen sehr scharfen Kampf geben, und ich muß die ganze Wahl auf unserer Seite leiten und alle zersplitterten Stimmen vereinigen, was mir am besten gelingen wird, wenn ich für's Erste selbst auftrete und es einer späteren Erwägung überlasse, ob ich im letzten Augenblick zurücktreten soll; denn es liegt mir jetzt nicht mehr so viel daran, in's Parlament zu kommen, als noch vor kurzer Zeit, ehe ich meinen Neffen aufgefunden hatte. Wunderbarer junger Mann! – welch' ein Kopf – wird mir Ehre machen in dem wurmstichigen alten Hause; und für meinen Theil thue ich wohl am besten daran, wenn ich London verlasse, nach Screwstown gehe und nach meinen Geschäften sehe. Doch nein, wenn Leonard als Bewerber auftritt, so muß ich zuerst dafür sorgen, seine Erwählung durchzusetzen und alsdann diejenige Egerton's zu hintertreiben. So wird zuletzt wahrscheinlich von jeder Seite einer gewählt werden, wie wir schon früher gedacht. Leonard von unserer Partei und – Egerton nicht von der andern. Sie verstehen?«

»Gewiß, mein bester Avenel. Natürlich kann ich, wie bereits bemerkt, Ihrer Partei nicht vorschreiben, wen sie wählen soll – Egerton oder mich. Dem Publikum wird es einleuchten, daß die Opposition lieber einen so ausgezeichneten Gegner wie Mr. Egerton schlagen würde, als einen Neuling in der Politik gleich mir. Ich kann begreiflich nicht auf ein solches Ergebniß hinarbeiten, es könnte mir übel gedeutet werden und meinen Charakter verdächtigen. Allein ich verlasse mich auf Ihr freundschaftliches Versprechen.«

»Versprechen? Nein – ich verspreche nichts. Zuerst muß ich sehen, wie die Katze springt; auch weiß ich noch nicht, wie Sie unsern Freunden gefallen werden und auf welche Weise ich mit Ihnen zurecht komme. Alles, was ich bis jetzt sagen kann, ist, daß Audley Egerton nicht Parlamentsmitglied für Lansmere werden soll. Inzwischen tragen Sie Sorge dafür, daß Sie sich in Ihren Reden keine Blöße geben, die unsere Partei zwingen könnte, gegen Sie zu stimmen; sie muß auf Sie zählen können, wenn Sie ist das Haus kommen.«

»Ich bin zur Zeit noch kein hitziger Parteimann,« erwiderte Randal vorsichtig. »Und wenn Sie die öffentliche Meinung auf Ihrer Seite haben, so ist es Pflicht des Staatsmannes, mit der Zeit fortzuschreiten.«

»Sehr verständig gesprochen; und ich habe eine oder zwei Privatbillen Eigene Gesetzesvorlagen für das Unterhaus. und einige andere kleine Angelegenheiten, die ich vor das Haus bringen möchte und über welche wir uns später berathen können, wenn es zu einem offenen Verständniß zwischen uns kommen sollte. Wir müssen es einzuleiten suchen, daß wir uns nöthigen Falls in Lansmere im Geheimen sprechen können. Dafür will ich sorgen. Ich gehe diese Woche hinunter und habe nicht übel Lust, einen Wink von dem freien, herrlichen Lande Amerika zu borgen und geheime Caucuses Vorwahlen (amerikanisch). zu veranstalten. Nichts besser als dies.‹

» Caucuses

»Kleine Untercomite's, die Tag und Nacht ihren Leuten nachspüren und nicht dulden, daß sie durch Einschüchterung dazu gebracht werden, für die andere Partei zu stimmen.«

»Sie haben einen außerordentlichen Kopf für öffentliche Angelegenheiten, Avenel. Sie sollten wirklich selbst in's Parlament kommen; Ihr Neffe ist noch sehr jung.«

»Nicht jünger als Sie.«

»Ja, aber ich kenne die Welt. Ist das bei ihm auch der Fall?«

»Die Welt kennt ihn, obwohl nicht seinem wahren Namen nach, und überdies hat er mir aus der Noth geholfen.«

»Wie so? Sie setzen mich in Erstaunen.«

Avenel verbreitete sich nun zuerst über das Patent, welches Leonard ihm gesichert hatte, und erklärte alsdann auf Ehrenwort seinen Neffen als jenen anonymen Schriftsteller, in welchem der Pfarrer seinen Freund, Professor Moß, zu erkennen geglaubt hatte.

Randal Leslie empfand ein peinliches Gefühl der Eifersucht. Wie? dieser Dorfknabe – der Genosse John Burleys, des literarischen Vagabunden, den er längst untergegangen und auf Gemeindekosten beerdigt glaubte – dieser Knabe hatte in solcher Weise über Geburt, Erziehung und Verhältnisse triumphirt, daß, wenn Randal und Leonard an irgend einem öffentlichen Orte zusammengetroffen wären und die Welt Leonard's Identität mit dem bereits zum Ruhme gelangten Autor erfahren hätte, jedes Auge sich von Randal ab und Leonard zugewendet haben würde? Das übereinstimmende Urtheil der Menschheit müßte die königliche Würde des Genius anerkennen, sobald es ihm beliebte, aus der Einsamkeit heraus und in die Oeffentlichkeit zu treten. Wie! sollte dieser Bauernsohn das Kind des Ruhmes sein, der unbewußt und ohne jede Anstrengung in dem müden Herzen Beatrice di Negra's eine Liebe entzündet hatte, wie sie für ihn – Randal fühlte es instinktmäßig – keine Kunst und kein Scharfsinn jemals in einem weiblichen Herzen zu erwecken vermochte? Und nun sollte dieser nämliche Jüngling dieselbe Sprosse auf der Leiter zur Macht betreten, auf welcher er selbst, der wohlgeborne Randal Leslie, der talentvolle Schützling des stolzen Audley Egerton, stand? Sollten sie wirklich Nebenbuhler werden auf ein und demselben Kampfplatz des praktischen Geschäftsleben? Randal biß sich auf die bebenden Lippen.

Inzwischen jedoch war der von Randal so beneidete junge Mann die Beute weit tieferer Sorgen, als je in dem engen, versteinerten Herzen des liebeleeren Ränkeschmiedes Raum oder Zugang finden konnten. Als Leonard mit dem Freund und Ermahner seiner Kindheit durch die bevölkerten Straßen schritt und demselben die einfache Geschichte seiner früheren Prüfungen anvertraute – als er ihm von dem kindlichen Engel erzählte, welcher in den dunkelsten Stunden, da er an jedem Gelingen verzweifelte, als ein Bild der Hoffnung an seiner Seite gelächelt hatte – wie unfruchtbar erschien ihm da der Ruhm, wie dunkel die Zukunft! Seine Stimme zitterte, und seine Züge drückten so tiefe Trauer aus, daß sein wohlwollender Zuhörer mit Leichtigkeit den leidenschaftlichen Kummer errieth, der sich an Helenen's Bild heftete und durch seinen Schatten jeden weltlichen Erfolg verbitterte. Sachte und allmälig gelang es dem Pfarrer, den jungen Mann, der sich lange schon nach einem Vertrauten gesehnt hatte, zu einem vollständigen Bekenntniß seines Herzenszustandes zu bringen – wie er durch lange Jahre hindurch der einen reinen, glühenden Erinnerung treu geblieben – wie er Helene, vom Kinde zur Jungfrau herangereift, wieder gesehen, und nun sich gestehen müsse, daß jene Erinnerung Liebe gewesen.

Mr. Dale hörte auf Leonard's Erzählung mit einem milden und gedankenvollen Ausdruck in seinen Zügen; beim Schluß derselben heiterte sich jedoch seine Stirne auf.

»Ich sehe keinen Grund zur Verzagtheit,« begann er. »Sie fürchten, Miß Digby erwidere Ihre Neigung nicht; Sie sprachen von ihrer Zurückhaltung – ihrem abgemessenen, obwohl freundlichen Benehmen! Fassen Sie Muth! alle jungen Damen stehen unter dem Einfluß dessen, was die Phrenologen das Organ des Verheimlichungstriebes nennen, wenn sie in Gesellschaft des Gegenstandes ihrer Wahl sich befinden. Gerade so, wie Sie Miß Digby's Benehmen gegen Sie schildern, war einst dasjenige meiner Carry gegen mich.«

Der Pfarrer erging sich nun in einer sehr sachgemäßen Abschweifung über weibliche Bescheidenheit und schloß mit der Behauptung, daß diese schätzenswerthe Tugend in demselben Verhältniß der Einwirkung des obengenannten Organs sich hingebe, in welchem der begünstigte Bewerber einer bestimmten Erklärung sich nähere. Die Pflicht gebiete einem ritterlichen und ehrenhaften Liebhaber, seine Bewerbung in klarer und deutlicher Form vorzubringen, ehe er erwarten könne, eine junge Dame werde sich und der Würde ihres Geschlechts auch nur durch den leisesten Wink über den Stand ihres Herzens etwas vergeben!

»Alsdann quälen Sie sich,« fuhr der Pfarrer fort, »durch eine Vergleichung Ihrer eigenen Herkunft und Lage mit den veränderten Verhältnissen Miß Digby's – der Mündel Lord L'Estrange's und des Gastes der Lady Lansmere. Sie sagen, wenn Lord L'Estrange eine solche Verbindung begünstige, so würde er einen andern Ton gegen Sie annehmen, Ihr Herz erforschen, Ihre Hoffnungen ermuthigen und dergleichen mehr. Ich sehe die Dinge in einem anderen Lichte und habe meine Gründe dafür. Nach allem, was Sie mir über die Theilnahme dieses Edelmannes an Ihrem Schicksale mitgetheilt haben, getraue ich mir, Ihnen zu versprechen, daß, wenn Miß Digby Ihre Hand anzunehmen geneigt ist, Lord L'Estrange die Wahl seiner Mündel bestätigen wird.«

»Mein bester Mr. Dale,« rief Leonard entzückt, »Sie versprechen mir dies?«

»Ja – nach allem, was ich gesagt habe, und was ich selbst von Lord L'Estrange weiß. Gehen Sie daher unverzüglich nach Knightsbridge – suchen Sie Miß Digby auf – enthüllen Sie ihr die Gefühle Ihres Herzens setzen Sie, wenn Sie wollen, die junge Dame von Ihren Aussichten in Kenntniß – bitten Sie um die Erlaubniß, sich an Lord L'Estrange wenden zu dürfen (da er sich nun einmal zu ihrem Vormund aufgeworfen hat), und wenn Lord L'Estrange zögert, was ich jedoch, wenn Ihr Glück von dieser Verbindung abhängt, nicht von ihm glaube, so theilen Sie es mir mit, und überlassen Sie mir das Weitere.«

Leonard gab der überzeugenden Beredsamkeit des Pfarrers nach. In der That, wenn er sich jene Stellen aus dem Manuscript der unglücklichen Nora in's Gedächtniß zurückrief, welche sich auf Harley's einstige Liebe zu ihr bezogen (denn er fühlte sich überzeugt, daß kein Anderer, als Harley, der jugendliche Bewerber in Nora's Erzählung sein konnte), und wenn er das Interesse, welches Harley an seinem eigenen Geschick genommen, aus seiner Verwandtschaft mit ihr sich erklärte, selbst, wenn Lord L'Estrange dieselbe für noch weniger nahe hielt, als er jetzt entdecken mußte, so konnte der junge Mann, nach seinem eigenen Herzen urtheilend, kaum zweifeln, daß der edle Harley sich freuen werde, den Sohn Derjenigen glücklich zu machen, welche er in seinen Knabenjahren so innig geliebt hatte.

»Und dir, o meine Mutter,« dachte Leonard, während Thränen in seine Augen traten, »dir werde ich vielleicht in deinem Grabe noch die Gefährtin meines Lebens verdanken, wie ich dem geheimnißvollen Hauche deines Genius das erste reinere Streben meiner Seele verdankte.«

Man wird bemerkt haben, daß Leonard dem Pfarrer nichts über seine Entdeckung von Nora's Manuscript mitgetheilt und ebenso jede Anspielung darauf vermieden hatte, daß er selbst über die wahren Verhältnisse seiner Geburt unterrichtet war; denn obwohl der Leser weiß, in wie weit Mr. Dale die Sache erfahren und was er vermuthete, so war doch in dem Manuscript nicht Ein Mal des Pfarrers Erwähnung gethan, und der stolze Sohn schrak natürlich vor jedem Vertrauen zurück, durch welches Nora's guter Name in Frage gestellt werden konnte, bis wenigstens Harley, der, wie aus jenen Papieren augenscheinlich hervorging, seinen Vater genau gekannt haben mußte, die Frage vielleicht entschieden haben würde, welche das Manuscript selbst so schrecklich unbestimmt ließ – ob er nämlich der Sprößling einer gesetzlichen Ehe, oder ob Nora das Opfer eines unheiligen Betrugs gewesen sei.

Während der Pfarrer noch immer sprach und Leonard ihm gedankenvoll zuhörte, schlugen sie fast mechanisch die Richtung nach Knightsbridge ein und blieben an den Thoren von Lord Lansmere's Hause stehen.

»Gehen Sie hinein, mein junger Freund; ich will hier außen Ihre Rückkehr erwarten,« sagte der Pfarrer ermuthigend. »Gehen Sie und lernen Sie mit Dankbarkeit gegen den Himmel die köstlichste Wonne ertragen, die einem Sterblichen zu Theil werden kann, oder aber beugen Sie sich unter den bittersten Schmerz der Jugend in dem demüthigen Glauben, daß auch das Leid nur eine verborgene Gnade ist.«


Dreizehntes Kapitel.

Leonard wurde in das Besuchzimmer gewiesen, in welchem sich zufälliger Weise Helene allein befand. Das milde Antlitz des jungen Mädchens war traurig verändert, seitdem Leonard sie zuletzt gesehen, denn der Schmerz von sanften, in sich gekehrten Naturen, gleich den ihrigen greift mit rascher Verheerung um sich; bei Leonard's unerwartetem Eintreten jedoch strömte das Blut so lebhaft in die blassen Wangen, daß man die hektische Röthe für die blühende Farbe der Gesundheit halten konnte. Sie stand hastig auf und brachte stotternd und in großer Verwirrung die Worte hervor, »sie glaube, Lady Lansmere befinde sich auf ihrem Zimmer – sie wolle sogleich nach ihr sehen.« Ohne die Hand zu beachten, die sich ihr zitternd entgegenstreckte, ging sie auf die Thüre zu, hatte dieselbe jedoch noch nicht erreicht, als Leonard in nicht zu bewältigender Erregung und in dem bittern Tone des Vorwurfs, welcher ihr tief in's Herz schnitt, ausrief:

»O, Miß Digby – o, Helene – ist dies die Art, wie Sie mich grüßen – oder vielmehr, wie Sie mir aus dem Wege zu gehen suchen? Konnte ich dies voraussehen, als wir, Beide verwaist, an teuer traurigen Brücke standen – so freundlos – so verlassen – und doch so treu und fest verbunden? Glückliche Zeit!«

Bei den letzten Worten ergriff er plötzlich ihre Hand, und beugte sein Antlitz darauf nieder.

»Ich darf Sie nicht anhören. Sprechen Sie nicht so, Leonard – Sie brechen mir das Herz. Lassen Sie mich – lassen Sie mich gehen!«

»Bin ich Ihnen verhaßt geworden, oder wollen Sie nur meine Liebe, die Sie entdeckt haben, entmuthigen? Helene, sprechen Sie – antworten Sie mir!«

Er zog sie mit zärtlicher Gewalt an sich und, ihre beiden Hände fest in der seinigen haltend, suchte er in das Antlitz zu blicken, welches sie mit einem Ausdruck der Verzweiflung von ihm abwandte.

»Sie wissen nicht,« sagte sie endlich, nach Fassung ringend – »Sie wissen nicht, was für neue Ansprüche an mich gemacht werden – Sie kennen meine veränderte Lage nicht – die Pflichten, die mich binden – sonst wären Sie der Letzte, so mit mir zu sprechen, wohl aber der Erste, mir Muth einzuflößen – mir zu befehlen –«

»Was zu befehlen?«

»Nur der Stimme der Pflicht hier Gehör zu schenken!« rief Helene, indem sie ihre beiden Hände den seinigen entzog und fest auf ihre Brust drückte.

»Miß Digby,« sagte Leonard nach einer kurzen Pause, in welcher seine bittern Gedanken ihr schweres Unrecht zufügten, während er den Sinn ihrer Worte zu errathen glaubte – »Sie sprechen von neuen Ansprüchen, die an Sie gemacht werden, von Ihrer veränderten Lage – ich verstehe Sie. Eine zarte Erinnerung an die Vergangenheit mag Ihnen geblieben sein, allein die Pflicht gebietet Ihnen nun, meine Anmaßung zurückzuweisen. Es ist gekommen, wie ich gedacht und gefürchtet. Der eitle Ruf, den ich mir erworben, ist nur ein hohler Klang – er verleiht mir keinen Rang, sichert mir kein Vermögen. Ich habe kein Recht, in der Helene von heute die Helene aus früheren Tagen zu suchen. Es sei – vergessen Sie, was ich gesagt, und vergeben Sie mir.«

Dieser Vorwurf verletzte tief und schmerzlich das Herz, dem er galt. In den sanften, thränenvollen Augen leuchtete ein plötzliches Feuer, fast wie ein Blitz zürnenden Unwillens; ihre Lippen zuckten krampfhaft, und es war ihr, als könnten alle Qualen der Welt nicht mit derjenigen verglichen werden, welche ihr Leonard bereitete, indem er ihre Handlungsweise Beweggründen zuschrieb, die ihrer einfachen Natur eben so unwürdig erschienen, als sie bitter für ihn sein mußten.

Wie in Folge höherer Eingebung drängte sich ein Wort auf ihre Lippen – und dieses Wort beruhigte und besänftigte sie.

»Bruder!« sagte sie in rührendem Tone, »Bruder!«

Allein das Wort hatte eine ganz entgegengesetzte Wirkung auf Leonard. So süß es auch klang, und so sanft die Stemme war, welche es aussprach – dennoch setzte es der Neigung eine Grenze und traf ihn wie das Todtengeläute der Hoffnung. Er trat zurück und schüttelte traurig den Kopf.

»Es ist zu spät, dieses Band anzunehmen – zu spät selbst für die Freundschaft. Fortan – für lange Jahre der Zukunft – bis dieses Herz aufgehört hat, bei Ihrem Namen lauter zu schlagen – in Ihrer Gegenwart zu zittern – werden wir Beide – fremd sein für einander.«

»Fremd? Wohl – ja, es ist gut – es muß so sein; wir dürfen uns nicht mehr sehen. O, Leonard Fairfield, wer war es, der in jenen Tagen, welche Sie mir in's Gedächtniß zurückrufen – wer war es, der Sie in Armuth und Niedrigkeit fand und, ohne Sie durch Almosen herabzuwürdigen, Ihnen die für Sie passende Laufbahn erschloß und in dem Labyrinth, in dem Sie sich verloren haben würden, den breiten Pfad zum Wissen, zur Unabhängigkeit und zum Ruhme zeigte? Antworten Sie – antworten Sie mir! War es nicht derselbe, der auch Ihre verwaiste Schwester erzog und beschützte? Wenn ich auch vergessen könnte, was ich ihm verdanke, müßte ich nicht dessen gedenken, was er für Sie gethan? Kann ich von Ihrer Auszeichnung hören, ohne daran erinnert zu werden? Kann ich daran denken, wie stolz Diejenige sein muß, welche eines Tages auf Ihren Arm sich stützen und den Namen tragen wird, den Sie bereits über alle die Titel einer Stunde erhoben haben – kann ich daran denken, ohne mich dabei unseres gemeinsamen Freundes, Wohltäters und Beschützers zu erinnern? Würden Sie mir vergeben, wenn ich es könnte?«

»Aber,« stotterte Leonard, während sich bange Furcht in die Vermutungen mischte, welche diese Worte hervorriefen – »aber, würde denn Lord L'Estrange unsere Verbindung nicht zugeben? – oder wovon sprechen Sie? Sie verwirren mir die Sinne.«

Für einige Augenblicke fühlte sich Helene unfähig, zu antworten, und als es ihr endlich gelang, Worte zu finden, schienen dieselben mühsam ihrer tiefsten Seele zu entquellen.

»Er kam zu mir – unser edler Freund. Ich hatte niemals auch nur entfernt daran gedacht. Er sagte mir nicht, daß er mich liebe, wohl aber, daß er sich unglücklich fühle, und daß er in mir, und nur in mir, eine Trösterin und Beruhigerin finden könne – er, er! Und ich war eben erst in England angekommen – befand mich unter dem Dache seiner Mutter – hatte Sie damals noch nicht wiedergesehen; und – und was konnte ich antworten? O, helfen Sie mir geben Sie mir Kraft, Sie, zu dem ich aufblicke, und den ich verehre. Ja, ja – Sie haben Recht. Wir dürfen uns nicht wiedersehen. Ich bin die Verlobte eines Andern – seine Verlobte! O, geben Sie mir Kraft und Muth!«

Aller angeborene Adel in des Dichters Seele erwachte plötzlich bei diesen Worten.

»O Helene – Schwester – Miß Digby, vergeben Sie mir. Sie bedürfen keiner Stärkung voll mir; ich borge sie von Ihnen. Ich verstehe Sie – ich ehre Ihre Handlungsweise. Verbannen Sie jeden Gedanken an mich. Vergelten Sie unserem gemeinsamen Wohlthäter. Werden Sie ihm, was er von Ihnen verlangt – seine Trösterin, seine Beruhigerin; werden Sie ihm mehr – sein Stolz und seine Freude. Das Glück wird Ihnen lächeln, wie es allen Denen lächelt, welche Andere glücklich machen und sich selbst vergessen. Gott stärke Sie in dem vorübergehenden Kampfe; Gott segne Sie in den langen Jahren der Zukunft. Schwester – ich nehme den heiligen Namen nun an und will später mein Recht daran geltend machen, wenn auch ich gelernt haben werde, mehr an Andere, als an mich selbst zu denken.«

Helene hatte ihr Antlitz mit den Händen bedeckt, leise schluchzend, ihren Schmerz jedoch mit sanfter, weiblicher Schüchternheit in ihr Herz zurückdrängend. Plötzlich bemächtigte sich ein seltsames Gefühl vollständiger Einsamkeit ihres ganzen Wesens, und dieses Gefühl sagte ihr, daß Leonard sie verlassen habe.


Vierzehntes Kapitel.

In einem andern Gemache desselben Hauses saß, einsam wie Helene, ein ernster, finsterer, brütender Mann, in dem selbst Diejenigen, welche ihn von Kindheit an am besten gekannt hatten, kaum eine Spur von dem menschenfreundlichen, wohlwollenden und vertrauensvollen, wenn gleich wunderlichen und launischen Harley Lord L'Estrange erkannt haben würden.

Er hatte jenes Memoirenbruchstück durchgelesen, in welchem aus all' den Klüften seiner unfruchtbaren und trüben Vergangenheit zwei boshafte Wahrheiten ihm entgegentraten, die ihn buchstäblich mit höhnenden, teuflischen Augen anzustarren schienen. Das Weib, dessen Erinnerung alles Sonnenlicht aus seinem Leben genommen, hatte einen Andern geliebt, und der Freund, dem er seine ganze liebevolle, treue Seele erschlossen, war sein verrätherischer Nebenbuhler gewesen. Gleich als stünde er unter einem Zauber, der ihn athemlos erhielt, hatte er vom ersten bis zum letzten Worte gelesen, und, als er das Manuscript schloß, geschah es ohne einen Seufzer oder irgend einen Laut des Schmerzes; seine blassen Lippen jedoch öffneten sich zu jenem eigenthümlichen Lächeln, das ein sicheres Zeichen eines von wilden Leidenschaften zerrissenen Herzens ist, wie der zackige Strahl des Blitzes das Gewitter verkündigt, welches sich in den Wolken zusammengezogen hat.

Harley steckte die Papiere in seine Brust, drückte die festgeballte Hand darauf, verließ das Zimmer und ging langsam dem Hause seines Vaters zu. Mit jedem Schritt, den er zurücklegte, schien seine Natur im Kampf ihrer Elemente sich zu verändern und in granitenen Formen zu erstarren. Liebe, Wohlwollen und Vertrauen schwanden dahin, während Haß, Rachedurst, Menschenfeindlichkeit, Argwohn und Verachtung gegen alles, auf dem das Auge der Liebe blicken oder die Stimme der Ehre sprechen konnte, aus der Nacht seiner Gedanken emporstieg und in der Wüste seines Innern sich festsetzte, grimmig und drohend, gleich den Harpyen des alten Liedes –

»– Uncaeque manus et pallida semper
Ora.
« Die Hände gewappnet mit Klauen, und Lippen, die bleich in Ewigkeit.« (Nach Virgil, Aeneis, Buch III, 217f.)

So hatte der finstere Mann die Schwelle seines väterlichen Hauses überschritten und schweigend die noch immer für ihn bereit gehaltenen Gemächer betreten. Er mochte etwa eine Stunde vor Leonard angelangt sein und stand mit über der Brust gekreuzten Armen und starr auf den Boden gehefteten Augen am Kamine, als seine Mutter eintrat, um ihn mit Gruß und Umarmung willkommen zu heißen. Er unterbrach ihre eifrigen Fragen nach Violante – er wich vor der Berührung ihrer Hand zurück.

»Halt, Mutter,« sagte er in so kaltem, ernstem Tone, daß sie erschrak, »ich kann deine Fragen nicht beachten – ich bin erfüllt von der Frage, welche ich dir vorzulegen habe. Du widersetztest dich meiner knabenhaften Liebe zu Leonora Avenel. Ich tadle dich nicht deßhalb – jede Mutter deines Ranges würde dasselbe gethan haben, Allein, hättest du nicht jeden freien Verkehr mit ihr vereitelt, so würde ich meine Zurückweisung aus ihrem eigenen Munde vernommen – würde vielleicht meinen Schmerz überwunden haben und wäre jetzt ein glücklicher Mann. Jahre sind seitdem dahingeschwunden – hingerollt über ihren ruhigen Schlummer und mein ruheloses, waches Leben. Wußtest du während dieser ganzen Zeit, daß Audley Egerton der Geliebte Leonora Avenel's war?«

»Harley, Harley!« sprich nicht in diesem grausamen Tone mit mir – sieh mich nicht mit so harten Augen an!«

»So wußtest du es denn – du, meine Mutter!« fuhr Harley fort, ohne ihren Vorwurf zu beachten. »Und warum sagtest du niemals zu mir: ›Sohn, du vergeudest die Blüthe und die Kraft deines Lebens in kummervoller Treue gegen eine Lüge! Du verschwendest dein Vertrauen und deine Freundschaft an einen verrätherischen Heuchler?‹«

»Wie konnte ich so zu dir sprechen – wie konnte ich den Muth dazu finden – da ich sah, wie theuer dir noch immer die Erinnerung an jenes unglückliche Mädchen war – wie du noch immer glaubtest, sie habe deine Neigung erwidert? Hätte ich dir gesagt, was ich, jedoch erst nach ihrem Tode, von ihren Beziehungen zu Audley Egerton erfuhr –«

»Nun? Du stockst – fahre fort – hättest du dies gethan –«

»Würdest du nicht das Verlangen nach Rache gehegt haben? Wäre nicht vielleicht ein Kampf zwischen Euch entstanden – Gefahr – Blutvergießen? Harley, Harley! ist ein solches Schweigen von Seiten einer Mutter nicht verzeihlich? und weßhalb dich des einzigen Freundes berauben, den du zu schätzen schienst – der allein einigen Einfluß auf dich besaß – dessen Hoffnungen und Gebete sich mit den meinigen vereinten, daß du eines Tages eine lebende Gefährtin finden möchtest, welche würdig wäre, das verlorene Ideal zu ersetzen, daß deine Gaben und Kräfte aus ihrem Schlummer erwachen und du, wie deine Jugend es versprach, die Zierde deines Vaterlandes werden würdest. Denn du thust Audley Unrecht – in der That du thust ihm Unrecht!«

»Unrecht! Ah, das will ich nicht. Fahre fort.«

»Ich kann weder entschuldigen, daß er dein Nebenbuhler ward, noch daß er diese Thatsache verheimlichte. Aber glaube mir, seine aufrichtige Reue, seine ängstliche Besorgniß für deine Wohlfahrt, seine Furcht, deine Freundschaft zu verlieren –«

»Halt – es war ohne Zweifel Audley Egerton, welcher dich veranlaßte, seine ›Beziehungen‹ – wie du dich ausdrückst – zu derjenigen geheim zu halten, deren Namen ich jetzt so ruhig nennen kann – Leonora Avenel?«

»So war es allerdings – und aus Gründen, welche –« »Genug – ich will nicht weiter hören.«

»Aber du wirst das Vergangene nicht zu streng beurteilen – du stehst auf dem Punkte, neue Bande zu knüpfen – du kannst nicht so wild und gottlos sein, ausführen zu wollen, was deine Stirne zu drohen scheint. Du kannst nicht auf Rache sinnen – nicht dein eigenes und Audley's Leben aufs Spiel setzen?«

»Still – still! Welches wären hier die Gründe für ein Duell? Einzelkämpfe sind außer der Zeit – civilisirte Menschen tödten sich nicht gegenseitig mit Schwert und Pistole. Rache! Sieht es aus, wie Rache, wenn mein Hierherkommen unter anderem den Zweck hat, meinen Vater um die Erlaubniß zu bitten, Audley Egerton's Wahl selbst betreiben zu dürfen? Seine politische Stellung gilt ihm mehr, als alles Andere in der Welt, und hier steht seine politische Existenz auf dem Spiele. Du weißt, daß ich mein ganzes Leben in dem Rufe eines schwachen, sorglosen, etwas übergroßmütigen Menschen stand. Solche Leute sind nicht rachsüchtig. Halt! Du legst deine Hand auf meinen Arm – ich kenne den Zauber dieser leisen Berührung, Mutter; allein seine Macht über mich ist dahin. Gräfin von Lansmere, höre mich. Jene wahnsinnige Leidenschaft ausgenommen, um deren willen ich mich jetzt verachte, war ich dir, wie ich hoffe, von Kindheit an ein gehorsamer, pflichttreuer Sohn. Jetzt aber ist unser gegenseitiger Standpunkt ein etwas anderer. Ich habe das Recht, zu fordern – ich will nicht sagen, zu befehlen – das Recht, welches erlittene Beleidigung und Kränkung allen Menschen verleiht. Mutter, der beleidigte Mann hat Vorrechte, welche denjenigen eines Königs gleichkommen. Ich verlange nun von dir, daß du keine Frage mehr an mich stellst, den Namen Leonora Avenel's mit keinem Hauche mehr berührst, wenn ich nicht selbst die Anregung dazu gebe, und Audley Egerton durch keinen Wink, durch keine Sylbe verräthst, daß ich seinen – wie soll ich sagen? – seinen ›verzeihlichen Betrug‹ entdeckt habe. Versprich mir dies bei deiner Liebe als Mutter und bei deiner Ehre als Edelfrau – oder ich erkläre feierlich, daß du niemals im Leben mein Antlitz wiedersehen wirst.«

So stolz und gebieterisch die Gräfin auch war, beugte sich doch ihr Geist vor der Stirne und Stimme ihres Sohnes.

»Ist dies mein Sohn – mein sanfter Harley?« sagte sie mit unsicherer Stimme. »O, schlinge deine Arme um meinen Hals – laß mich fühlen, daß ich mein Kind nicht verloren habe!«

Harley's Blick wurde milder; ohne jedoch der pathetischen Bitte zu gehorchen, streckte er seine Hand aus und sagte mit abgewandtem Antlitz, aber in weicherem Tone:

»Habe ich dein Versprechen?«

»Du sollst es haben – du sollst es; aber unter der Bedingung, daß zwischen dir und Audley keine Worte fallen, welche nothwendig zu dem Kampfe führen müssen, der –«

»Kampf!« unterbrach sie Harley. »Ich wiederhole es, der Gedanke an einen Zweikampf zwischen mir und dem Freunde meiner Schuljahre – in einer Sache, die wir keinem Zeugen erklären könnten – wäre eine possenhafte Satyre auf alles, was ernst und heilig ist in der Wirklichkeit des Lebens und des Gefühls. Ich nehme dein Versprechen an und besiegle es hiermit –«

Er preßte seine Lippen auf die Stirne seiner Mutter und ließ sich willenlos von ihr umarmen.

»Still,« sagte er, sich ihren Armen entziehend, »ich höre meines Vaters Stimme.«

Lord Lansmere riß die Thüre weit auf – gleichsam in dem Bewußtsein, daß eine Thüre, durch welche ein Graf von Lansmere eintrat, nicht weit genug geöffnet werden könne. Sie hätte in der That nicht majestätischer auffliegen können, wenn ein Huissier Gerichts-, Saaldiener. oder ein Beamter des königlichen Haushalts an jeder Seite gestanden wäre. Die Gräfin glitt leichten Schrittes an ihrem Gemahl vorbei und verschwand.

»Ich war mit meinem Baumeister in Prüfung der Entwürfe zu dem neuen Krankenhause beschäftigt, welches ich der Grafschaft zum Geschenke machen will, und hörte eben erst von deiner Anwesenheit, Harley. Was ist denn aus unserm schönen italienischen Gast geworden? Kömmt sie nicht zu uns zurück? Deine Mutter weist mich an dich in Betreff weiterer Erklärungen in dieser Sache.«

»Ich werde sie Ihnen später geben, mein bester Vater; in diesem Augenblick aber habe ich nur Sinn für die öffentlichen Angelegenheiten.«

»Oeffentliche Angelegenheiten! – sie sind in der That beunruhigend, und ich freue mich, daß du ihnen das gebührende Interesse schenkst. Eine ernste Krisis, Harley! Und, gütiger Himmel! ich habe gehört, daß ein gemeiner Mensch, der in Lansmere geboren und in Amerika sich ein Vermögen erworben, bei der Wahl Opposition machen wolle. Wie man mir sagt, ist er ein Avenel – ein geborener Blauer – ist es möglich?«

»Eben diese Angelegenheit ist es, welche mich hierher führt. Als Peer können Sie sich selbstverständlich nicht einmischen; allein ich wollte Ihnen den Vorschlag machen, wenn Sie nichts dagegen haben, selbst nach Lansmere zu gehen und die Ueberwachung der Wahl zu übernehmen. Es wäre vielleicht besser, wenn Sie fern blieben; wir würden dadurch mehr Freiheit zum Handeln gewinnen.«

»Mein theurer Harley, gib mir deine Hand! Alles, was du willst. Du weißt, wie sehr ich gewünscht habe, dich an die Oeffentlichkeit treten und diejenige Rolle im Leben spielen zu sehen, welche dir vermöge deiner Geburt zukömmt.«

»Ah, Sie meinen, ich habe bisher mein Dasein traurig vergeudet?«

»Wenn ich offen gegen dich sein soll – ja, Harley,« sagte der Graf mit einem Stolz, der edel in seiner Art und nicht ohne Würde in seinem Ausdruck war. »Je mehr das Vaterland uns gibt, desto mehr sind wir ihm schuldig. Von dem Augenblick an, da du als der Erbe von Land und Ehren das Licht der Welt erblicktest, wurde dir ein Gut anvertraut, welches du zum Besten Anderer verwalten solltest, und die Nichterfüllung dieser Pflicht ist eine Herabwürdigung für einen Edelmann unseres Standes.«

Harley hörte mit finsterer Stirne auf seine Worte, erwiderte jedoch nichts.

»Allerdings,« begann der Graf wieder, »wäre es mir lieber, wenn du dich für dich selbst, statt für deinen Freund Egerton, bewerben würdest, so sehr ich auch anerkenne, daß er Andern ein Beispiel gibt, welchem nachzufolgen niemals zu spät ist. Ja, wer hätte gedacht, wenn man Euch Beide als Jünglinge gesehen, obwohl Audley einige Jahre älter war – wer hätte gedacht, daß er Derjenige sein würde, welchem Auszeichnung und hohe Ehren beschieden, während du zum üppigen Müßiggänger wurdest, jeder Anstrengung abgeneigt und gleichgültig gegen allen Ruhm? Du, der so viel vor ihm voraus hatte – nicht nur ein größeres Vermögen, sondern auch, wie Jedermann sagte, überlegene Talente – du, der damals so ehrgeizig war, nach Ruhm und Auszeichnung dürstete, mit Plutarch's Lebensbeschreibungen Plutarch (ca. 45-125), antiker griechischer Schriftsteller; sein bekanntestes Werk, die Parallelbiographien, stellt jeweils die Lebensbeschreibung eines Griechen und eines Römers vergleichend einander gegenüber. unter dem Kopfkissen einschlief und, mein wilder Sohn, nur zu viel Thatenlust besaß. Aber du bist noch ein junger Mann – es ist nicht zu spät, die vergeudeten Jahre hereinzubringen.«

»Die Jahre sind nichts, blose Daten in einem Kalender; allein die Gefühle, was kann mir diese zurückgeben? – die Hoffnung, die Begeisterung, die – gleichviel! Gefühle helfen dem Manne nicht, sich in der Welt emporzuschwingen. Egerton's Gefühle sind nicht allzu lebhaft. Was ich hätte werden können – überlassen Sie dies meinem eigenen Nachdenken! Sprechen wir jetzt von dem Beispiel, das Sie mir vorgesetzt – von Audley Egerton.«

»Wir müssen seine Wahl durchsetzen,« sagte der Graf mit gedämpfter Stimme. »Es ist von größerer Wichtigkeit für ihn, als ich geglaubt. Doch du kennst seine Geheimnisse. Weßhalb theiltest du mir nicht offen den Stand seiner Angelegenheiten mit?«

»Den Stand seiner Angelegenheiten? Wollen Sie damit sagen, daß ihm dieselben ernstliche Verlegenheiten bereiten könnten? Dies interessirt mich sehr. Ich bitte, sprechen Sie; was wissen Sie?«

»Er hat seinen Haushalt größtenteils aufgelöst. An sich ist dies bei seinem Austritt aus dem Amte natürlich genug; allein es gibt dennoch den Leuten zu reden, und überdies verlautet, seine Güter seien nicht nur für mehr als ihren Werth verpfändet, sondern er habe seinen Unterhalt blos noch in Diskontirung seiner Wechsel gefunden. Kurz, er scheint zu vertraut mit einem Manne gewesen zu sein, den wir Alle vom Sehen kennen – einem Manne, der mit den schönsten Pferden in London fährt und, wie man mir sagt (doch das kann ich nicht glauben), vollständig in die Gesellschaft der jungen Gecken aufgenommen ist, welche er in's Verderben lockt. Wie ist doch der Name dieses Menschen? Levy, wenn ich nicht irre – ja, Levy.«

»Ich habe Levy bei ihm gesehen,« sagte Harley, während eine boshafte Freude in seinem Falkenauge aufleuchtete. »Levy – Levy – es ist gut.«

»Ich höre nur das Geklatsche der Clubs,« begann der Graf wieder. »Allein es heißt, Levy mache kein Geheimniß von seiner Gewalt über unsern sehr ausgezeichneten Freund, und rechne es sich sogar gegen unsere Partei und überhaupt gegen Jedermann – denn Egerton besitzt persönliche Freunde unter allen Parteien – zu einem Verdienste an, daß er verschiedene Wechsel in seinem Pulte verschlossen halte, bis Egerton wieder sicher im Parlament sitze. Wenn jedoch unser Freund wider Erwarten bei der Wahl durchfallen sollte, und Levy Beschlag auf seine Habseligkeiten legen und seinen Ruin veröffentlichen würde – so könnte dadurch Audley's politische Laufbahn ernstlich gefährdet, ja vielleicht gänzlich zerstört werden.«

»Ohne Zweifel,« entgegnete Harley. »Ein Charles Fox konnte ein Spieler und ein William Pitt Zu Pitt: Siehe Anm. 375. – Charles James Fox (1749-1806), britischer Staatsmann und Redner; im Unterhaus Pitts Gegenspieler auf der Seite der liberalen Whigs. ein Bettler sein, allein Audley Egerton erreicht nicht ihre Riesengröße; er steht nur so hoch, so lange er auf einem Haufen respektablen Goldes steht. Audley Egerton, arm und bedürftig, aus dem Parlamente verdrängt, von Gläubigern verfolgt, im Schuldthurm vielleicht –«

»Nein, nein – unsere Partei würde dies nie zugeben; wir würden eine Subscription eröffnen –«

»Oder, schlimmer als alles, Audley Egerton von der Partei erhalten, deren Führer er zu sein strebte! Sie sagen mit Recht, seine politischen Aussichten wären vernichtet. Ein Mann, dessen Ruf in seiner äußern Ehrbarkeit lag! Das Volk würde sagen, Audley Egerton sei eine – feierliche Lüge gewesen; meinen Sie nicht, mein Vater?«

»Wie kannst du mit solcher Kälte von deinem Freunde sprechen? Du brauchst mir nichts zu sagen, um mein Interesse für seine Erwählung rege zu machen. – wenn dies etwa deine Absicht sein sollte. Ist er einmal im Parlament, so muß er auch bald sein Amt wieder erhalten – und alsdann lernen, mit seinem Gehalte auszukommen. Du mußt ihn veranlassen, mir das Verzeichniß seiner Verbindlichkeiten zu geben; ich habe einen Kopf für Geschäftssachen, wie du weißt, und ich will seine Angelegenheiten für ihn in Ordnung bringen. Ja, ich setze fünf gegen eins, obwohl ich sonst die Wetten hasse, daß er in drei Jahren Premierminister sein wird. Es ist wahr, er gehört nicht zu den glänzenden Talenten; allein bei der gegenwärtigen Krisis bedürfen wir eines zuverlässigen, klugen und vermittelnden Mannes; und Audley hat so viel Takt, so viel parlamentarische Erfahrung, so viel Weltkenntniß und ist,« schloß der Graf, mit Nachdruck alle seine löblichen Eigenschaften zusammenfassend, »so durchaus ein Gentleman.«

»Durchaus ein Gentleman, wie Sie sagen – die Seele der Ehre! Aber, mein lieber Vater, es ist die Stunde, da sie auszureiten pflegen; lassen Sie sich durch mich nicht abhalten. Es bleibt also dabei, Sie kommen nicht selbst nach Lansmere. Sie stellen das Haus zu meiner Verfügung und gestatten mir, natürlich zuerst Egerton, und wen ich sonst noch von Gästen für gut finde, einzuladen; kurz, Sie überlassen alles mir?«

»Gewiß; und wenn du deinen Freund nicht durchzusetzen vermagst, wer sollte es dann können? Es ist ein widerspenstiger, undankbarer Bezirk; er war immer die Plage meines Lebens, trotzdem daß ich so viel dort ausgegeben und seinen Handel und Gewerbe so gehoben habe.«

Und der Graf verließ mit einem unmuthigen Seufzer das Zimmer.

Harley setzte sich langsam und bedächtig an seinen Schreibtisch, stützte den Kopf auf die Hand und ließ unter den zusammengezogenen finstern Brauen den zerstörten Blick in's Weite hinausschweifen.

Harley L'Estrange war, wie wir gesehen haben, ein Mann von ungewöhnlich starken und tiefen Neigungen und Eindrücken, und dabei von einem außerordentlich kühnen, biedern und aufrichtigen Wesen; selbst die scheinbare Launenhaftigkeit und Leichtfertigkeit, durch welche die Welt zu einer irrigen Beurtheilung seiner Anlagen und Kräfte verleitet wurde, konnte großenteils auf Rechnung jenes offenen Temperamentes gesetzt werden, welches in seiner übergroßen Verachtung alles dessen, was an Heuchelei zu streifen schien, mit Formen und Ceremonien sein Spiel trieb und bald in übertreibender, bald in tiefernster Weise »das feierliche Scheinwesen der Welt« zum Gegenstand seines Witzes machte.

Der Stoß, der ihn jetzt betroffen, erschütterte die Grundvesten seiner Seele und zerstreute all' die lustigeren Gebilde, welche Phantasie und Laune aus ihrer Oberfläche geschaffen, um dem Wirken dunklerer und schrecklicherer Leidenschaften Raum zu geben. Wenn ein Mann von so liebevollem Herzen und einer so gewaltigen Natur, wie Harley, plötzlich und unerwartet Betrug entdeckt, wo er am meisten vertrauet hatte, so begnügt er sich nicht (gleich den ruhigeren Schülern jener herben Lehrmeisterin – Erfahrung,) dem einen Beleidiger seine Achtung und Liebe zu entziehen – nein, Treu' und Glauben scheint ihm aus der ganzen Welt verschwunden zu sein, die gekränkte Seele blickt auf die Vergangenheit zurück und verdammt alle ihre milderen und edleren Kräfte als Thorheiten, welche zu ihrem eigenen Wehe geführt, während ihr die Zukunft als eine Reise erscheint, auf der sie lächelnden Verräthern mit gleicher Verstellung begegnen, oder mit überlegener Gewalt sie zertreten muß.

Die Sünde eines Verraths an solchen Menschen ist unberechenbar – sie beraubt die Welt aller Wohlthaten, welche dieselben sonst auf ihrem Wege freigebig ausgestreut haben würden – sie ist verantwortlich für alles Uebel, das aus der Verderbniß solcher Naturen entspringt, welche gerade durch ihre üppige Entwicklung, wenn die Luft einmal verunreinigt ist, nur Krankheit verbreitet; – wie die Malaria nicht über kahlem, unfruchtbaren Boden lagert, oder über öden Strecken, die von jeher nichts als Wildniß gewesen, sondern über Gegenden, welche die südliche Sonne vordem zu entzückenden Gärten gereift, oder wo einst stolze Städte gestanden, deren prunkende Paläste nun in Staub gefallen sind.

Es war nicht genug, daß der Freund seiner Jugend, der Vertraute seiner Liebe dieses Vertrauen verrathen hatte und sein glücklicherer Nebenbuhler geworden war – nicht genug, daß, während er die Spuren des Weibes, das sein junges Herz bis zum Wahnsinn vergötterte, mit dem ganzen Schmerz der Sehnsucht und Reue verfolgte, in dem Glauben, daß sie sich seiner Bewerbung nur deßhalb entziehe, weil sie ihm an Edelsinn nicht nachstehen und lieber ihre eigene Liebe zum Opfer bringen, als der seinigen das Opfer alles dessen zumuthen wolle, was die Jugend so gering, die Welt dagegen so hoch anschlägt – es war nicht genug, daß während dieser ganzen Zeit das Herz eines Andern ihre Zuflucht gewesen – das ihm zugefügte Unrecht hatte damit sein Ende noch nicht erreicht. Sein ganzes Leben war an ein Blendwerk verschwendet, jede Kraft, jedes Streben aufgehalten, der gesunde Ehrgeiz, der allen großen Seelen eigen ist, in seinem ersten, vielversprechenden Anfang erstickt worden – sein Herz verzehrt von einem Kummer, für welchen es keinen Grund hatte – sein Gewissen belastet von dem schrecklichen Gedanken, durch seine wilde Verfolgung das zu zarte Opfer in das Grab gehetzt zu haben, über welchem er trauerte.

Wie viele Jahre, die so heiter für ihn selbst und so nützlich für die Welt hätten dahinfließen können, waren in zwecklosen, unfruchtbaren, schwermüthigen Träumen vergeudet worden! Und diese ganze Zeit über – in wessen Herz hatte er seine Klagen ausgeschüttet? – in das Herz Desjenigen, welcher wußte, daß seine Reue ein leeres Gespenst und sein treues Leid nichts als höhnende Selbsttäuschung war. Jeder Gedanke, der den natürlichen Stolz des Mannes verletzen – jede Erinnerung, die ein Herz, das zu tief geliebt hatte, um nicht dem Hasse zugänglich zu sein, zur Rache spornen konnte – trug dazu bei, die rasenden Furien zu stacheln, welche in jeden Tempel eindringen, der einmal durch die Gegenwart böser Leidenschaften entweiht ist.

Die Rache kleidete sich in diesem düstern Zwielicht der Seele in das Gewand der Gerechtigkeit. So verändert seine Gefühle gegen Leonora Avenel auch waren, so erbitterte die Erzählung ihrer Leiden und des ihr zugefügten Unrechts seinen Groll gegen seinen Nebenbuhler nur noch mehr. Die Bruchstücke ihres Tagebuches ließen in seiner Seele natürlicher Weise die Ueberzeugung zurück, daß sie das Opfer eines schnöden Betrugs – daß sie durch eine Scheinheirath hintergangen worden. Sein Abgott war nicht nur vom Altare weggestohlen – er war beschmutzt, mit schonungsloser Hand zerbrochen, in den Staub gezogen, verstümmelt und entehrt worden – eine Erinnerung an das Wesen, welches anzubeten sein Entzücken gewesen, war nun mit Verachtung gemischt.

Der lebende Hurley und die todte Nora – Beide riefen laut ihrem gemeinsamen Verderber zu: »Gib zurück, was du uns genommen oder bezahle die Strafe!«

Dies waren die Gebauten, welche Harley L'Estrange bewegten, als er während der Unterredung zwischen Helene und Leonard einsam in seinem Zimmer saß; und wie ein roher, unregelmäßiger Stahlklumpen, wenn er rasch im Kreise gedreht wird, die Gestalt des Ringes annimmt, den er beschreibt, so erfüllte sein eiserner Vorsatz, fortgerissen von stiller schonungslosen Leidenschaft, den Raum, in den er blickte, mit optischen Blendwerken – wo Plan auf Plan die Kreise zog, welche einen Feind umstrickten.


Fünfzehntes Kapitel.

Ein Diener trat ein und meldete einen Namen, den Harley, in düstere Träume versunken, überhörte, und als der Gemeldete unmittelbar darauf selbst in der Thüre erschien, heftete er seine Augen mit jenem kalten, stolzen Erstaunen auf denselben, mit welchem Jemand, der eben sehr beschäftigt ist, einen unwillkommenen Besuch empfängt und gleichsam dessen Zudringlichkeit zurechtweist.

»Es ist sehr lange her, seitdem Euer Gnaden mich zuletzt gesehen haben,« sagte der Fremde mit sanfter Würde, »und ich kann mich daher nicht darüber wundern, daß Sie meine Person nicht mehr kennen und meinen Namen vergessen haben.«

»Sir,« erwiderte Harley mit einer ungeduldigen Barschheit, die wenig im Einklang mit der freundlichen Höflichkeit stand, durch welche er sich sonst auszeichnete – »Sir, Ihre Person ist mir fremd, und Ihren Namen habe ich nicht gehört; jedenfalls aber mangelt mir eben jetzt die Zeit, Ihnen Aufmerksamkeit schenken zu können. Entschuldigen Sie meine Offenheit.«

»Und verzeihen Sie, wenn ich Sie dennoch einen Augenblick aufhalte. Mein Name ist Dale. Ich war früher Pfarrer in Lansmere, und was ich jetzt mit Euer Gnaden sprechen will, geschieht im Namen und in der Erinnerung an ein Wesen, das Ihnen sonst theuer war – im Namen Leonora Avenel's.«

Harley (nach einer kurzen Pause). – »Sir, ich kann mir nicht denken, was Ihr Anliegen sein mag. Allein setzen Sie sich. Ich erinnere mich Ihrer jetzt, obwohl die Jahre uns Beide verändert haben; auch hörte ich inzwischen viel Gutes von Ihnen durch Leonard Fairfield. Dennoch muß ich Sie bitten, sich kurz zu fassen.«

Mr. Dale. – »Darf ich zum Voraus annehmen, daß Sie die Herkunft des jungen Mannes errathen haben, welchen Sie Fairfield nennen? Als ich ihn Ihre Güte und Ihr Wohlwollen mit so großer Dankbarkeit pressen hörte und mit wehmüthiger Freude bemerkte, wie hoch er Sie verehrt, schwoll mir das Herz in meinem Innern. Ich erkannte die geheimnißvolle Macht der Natur.«

Harley. – »Macht der Natur? Sie sprechen in Räthseln.«

Mr. Dale (unwillig). – »O mein Lord, wie können Sie Ihr besseres Ich so verleugnen? Gewiß, Sie haben in Leonard Fairfield längst den Sohn Nora Avenel's erkannt!«

Harley strich sich mit der Hand über die Stirne. »Ah,« dachte er, »so lebte sie denn, um einem Sohne das Dasein zu geben – einem Sohne Egerton's. Und Leonard ist dieser Sohn. Ich hätte es an der Aehnlichkeit errathen sollen – an dem thörichten Drange meines Herzens, welches mich zu ihm hinzog. Deßhalb also vertraute er mir dieses schreckliche Tagebuch an. Er sucht seinen Vater – er soll ihn finden.«

Mr. Dale (die Ursache von Harley's Schweigen mißdeutend). – »Ich ehre Ihre Zerknirschung, mein Lord. O, lassen Sie Herz und Gewissen zu Ihrem weltlichen Stolze sprechen!«

Harley. – »Meine Zerknirschung – Herz – Gewissen! Mr. Dale, Sie beleidigen mich.«

Mr. Dale (strenge). »Nicht doch; ich erfülle meinen Beruf, welcher mir gebietet, den Sünder zurechtzuweisen. Leonora Avenel spricht durch mich und befiehlt dem schuldigen Vater, das unschuldige Kind anzuerkennen!«

Harley erhob sich halb von seinem Stuhle, und seine Augen sprühten buchstäblich Feuer; er bezwang jedoch seinen Zorn, um ihn in höhnischen Spott zu verwandeln.

»Ha!« sagte er mit einem sarkastischen Lächeln, »Sie glauben also, daß ich der schnöde Verführer Leonora Avenel's gewesen – daß ich der gefühllose Vater des Kindes bin, das ohne Namen in die Welt gekommen! Sehr gut, mein Herr! Diese Voraussetzungen als richtig angenommen, was ist es, das Sie in Betreff dieses jungen Mannes von mir verlangen?«

»Sein Glück ist es, um was ich Sie bitte,« erwiderte Mr. Dale in flehendem Tone. Und dem Drange des Mitleids folgend, das Leonard ihm eingeflößt, und in der festen Ueberzeugung, Lord L'Estrange empfinde die Liebe eines Vaters für den Knaben, den er auf dem Strudel London's gerettet, um ihm zu einer sichern und ehrenvollen Unabhängigkeit zu verhelfen, erzählte er mit einfacher Beredsamkeit von Leonard's Gefühlen für Helene – von seiner stillen Treue gegen ihr Bild, wiewohl es nur dasjenige eines Kindes gewesen – von seiner Liebe, als er sie, zur Jungfrau herangeblüht, wieder sah – von den bescheidenen Befürchtungen, welche der Pfarrer selbst bekämpft hatte – von dem Rathe endlich, den er ihm aufgedrungen, Helenen seine Neigung zu gestehen und für seine Sache das Wort zu ergreifen.

»Aengstlich besorgt, welches der Erfolg sein werde,« fuhr der Pfarrer fort, »erwartete ich außerhalb des Portals Leonard's Rückkehr von Miß Digby. Und o, mein Lord, hätten Sie sein Antlitz gesehen! – solche Aufregung und solche Verzweiflung! Ich konnte nicht von ihm erfahren, was vorgefallen war. Er riß sich von mir los und eilte fort. Aus einigen abgebrochenen Worten jedoch glaubte ich den – vielleicht irrtümlichen – Schluß ziehen zu müssen, daß das Hinderniß seines Glückes nicht in Helene's Herz, mein Lord, sondern in Ihnen selbst zu suchen sei. Deßhalb faßte ich, als er mir aus dem Gesichte entschwunden war, allen meinen Muth zusammen und begab mich sogleich zu Ihnen. Wenn er Ihr Sohn ist, und Helene Digby Ihre Mündel –sie selbst eine Waise, von Ihrer Güte abhängig – warum sollten sie getrennt werden? Gleichen Alters – durch frühe Schicksale verbunden – übereinstimmend, wie es scheint, in einfachen Sitten und gebildetem Geschmack – was könnte ihrer Vereinigung hindernd in den Weg treten, es müßte denn der Mangel an Vermögen sein? – und Jedermann kennt Ihren Reichthum – Niemand hat jemals Ihre Großmuth in Zweifel gezogen. Mein Lord, mein Lord, Ihr Blick macht mir das Blut in den Adern erstarren. Wenn ich Sie beleidigt habe, so lassen Sie nicht ihn – nicht Leonard für mein Vergehen büßen!«

»Und so,« sagte Harley, noch immer seinen Zorn bemeisternd, »so hat dieser Knabe, den ich, wie Sie sagen, jener erbarmungslosen Welt entriß, die manch' edleren Genius in ihren Schlund hinabgezogen – so hat er zum Dank für alles mich auch der letzten Zuneigung, die mir im Leben blieb, so arm und lau sie auch war, zu berauben gesucht. Er wagt es, seine Augen zu meiner verlobten Braut zu erheben! Er! Und ohne Zweifel auch ihr lebenswarmes Herz von mir zu stehlen, um mir nichts zu lassen, als ihre eisige Hand!«

»O mein Lord, Ihre verlobte Braut! Daran dachte ich nicht im Traume. Ich bitte Sie inständig um Vergebung. Der Gedanke ist so schrecklich – so unnatürlich – der Sohn des Vaters Nebenbuhler! O, in was für eine Sünde bin ich gefallen, denn meine Sünde war es – ich drängte und veranlaßt ihn dazu. Er war so unwissend, wie ich selbst. Vergeben Sie ihm, vergeben Sie ihm!«

»Mr. Dale,« sagte Harley aufstehend und seine Hand dem Pfarrer hinstreckend, der sich jedoch nicht würdig erachtete, sie zu ergreifen – »Mr. Dale, Sie sind ein guter Mann – wenn es in der That in dieser Welt von Lügnern noch einen Mann gibt, der nicht unser Urteilsvermögen betrügt, wenn wir an seine Ehrlichkeit glauben. Gestatten Sie mir nur die einzige Frage, weßhalb Sie mich für den Vater von Leonard Fairfield halten?«

»War ich nicht Zeuge Ihrer jugendlichen Bewunderung für die arme Nora? Erinnern Sie sich, daß ich ein häufiger Gast in Lansmere Park gewesen und es war so natürlich, daß Sie mit all' Ihren glänzenden Gaben Nora's hohe Phantasie und ihr liebevolles Herz bezauberten.«

»Sie meinen, dies war natürlich – fahren Sie fort.«

»Ihre Mutter, wie es ihr zustand, trennte Sie. Es blieb mir jedoch nicht verborgen, daß Sie noch immer eine Leidenschaft nährten, deren rechtmäßige Befriedigung Ihr Rang Ihnen verbot. Das arme Mädchen! Sie verließ das Dach ihrer Beschützerin, Lady Jane, und man hörte nichts mehr von ihr, bis sie das Haus ihres Vaters wieder betrat, um einem Kinde das Leben zu geben und zu sterben. Und an demselben Tage, dessen Frühroth ihre Leiche beschien, eilten Sie hinweg von dem Orte. Ah, ohne Zweifel vernahmen Sie die anklagende Stimme des Gewissens – denn seitdem sind Sie nie wieder dahin zurückgekehrt.«

Harley's Brust wogte – er winkte mit der Hand, und der Pfarrer fuhr fort –

»Wen konnte mein Verdacht treffen, als Sie? Ich zog Erkundigungen ein, und sie bestätigten meinen Argwohn.«

»Vielleicht befragten Sie meinen Freund, Mr. Egerton? Er war bei mir, als – als ich – wie Sie sagen – von dem Orte hinwegeilte.«

»Das that ich, mein Lord.«

»Und er?«

»Zog Ihre Schuld in Abrede; doch ein Mann von so zartem Ehrgefühl und einem so edlen Herzen ist nicht bewandert in der Heuchelei; sein Leugnen täuschte mich nicht.«

»Ehrlicher Mann!« sagte Harley, und seine Hand griff nach der Brust, wo noch immer, wie geisterhaftes Seufzen, die Dokumente der Todten rauschten. »Er wußte auch, daß sie einen Sohn hinterlassen?«

»Er wußte es, mein Lord; ich theilte es ihm natürlich mit.«

»Der Sohn, den ich halb verhungert in den Straßen von London fand! Mr. Dale, Sie sehen, wie sehr mich Ihre Worte ergreifen, Ich kann nicht leugnen, daß Derjenige, welcher vielleicht mit ungewöhnlicher Tücke die junge Mutter hinterging – denn Nora Avenel gehörte nicht zu denen, die sich leicht zu einer Verirrung verleiten lassen –«

»Nein, gewiß nicht!«

»Und der alsdann nicht weiter um den Sprößling ihrer Qualen und seines eigenen Verbrechens sich bekümmerte – ich kann nicht leugnen, daß dieser Mann eine Strafe verdient – daß er sein Unrecht auf irgend eine Weise zu sühnen verpflichtet ist. Habe ich nicht Recht? Antworten Sie mir mit der schlichten Sprache, welche Ihrem heiligen Berufe ziemt.«

»Ich kann nicht anders, als Ihnen zustimmen, mein Lord,« erwiderte der Pfarrer, welcher Mitleid mit Lord L'Estrange's scheinbaren Gewissensvorwürfen empfand. »Allein wenn er bereut –«

»Genug,« unterbrach ihn Harley. »Ich lade Sie nun ein, mich in Lansmere zu besuchen; geben Sie mir Ihre Adresse, und ich werde Ihnen alsdann den Tag bezeichnen, an welchem ich Sie um Ihre Anwesenheit bitte. Leonard Fairfield soll einen Vater finden – ich war auf dem Punkte, zu sagen, der seiner würdig ist. Im Uebrigen – halt, setzen Sie sich noch einmal. – Im Uebrigen« – und wieder spielte das unheimliche Lächeln um Harley's Auge und Lippe – »vermag ich nach nicht zu sagen, ob ich die Dame, welche meine Hand angenommen hat, einem jüngeren und schöneren Bewerber abtreten kann oder darf. Ich habe bis jetzt noch keinen Grund, zu glauben, daß sie ihn vorzieht. Doch was halten Sie inzwischen von diesem Vorschlag? Mr. Avenel wünscht, daß sein Neffe sich um den Wahlbezirk von Lansmere bewerbe, und hat mich sehr gebeten, den jungen Mann dazu zu veranlassen. Allerdings könnte dadurch Mr. Audley Egerton's Erwählung gefährdet werden. Doch, was thut dies? Mr. Audley Egerton ist ein großer Mann und kann anderswo gewählt werden; diese Rücksicht soll nicht im Wege stehen. Lassen wir Leonard seinem Onkel gehorchen. Trägt er bei der Wahl den Sieg davon, nun, dann wird er in den Augen der Welt eine passendere Partie für Miß Digby sein – das heißt, wenn sie mir ihn vorzieht; und thut sie das nicht, so ist das öffentliche Leben ein Heilmittel für allen häuslichen Kummer. Ich spreche hiermit einen Grundsatz Mr. Audley Egerton's aus, und er ist ja, wie Sie wissen, nicht nur ein vollendeter Ehrenmann, sondern besitzt auch die größte weltliche Weisheit. Gefällt Ihnen mein Vorschlag?«

»Er scheint mir ebenso rücksichtsvoll, als edelmüthig zu sein.«

»So bitte ich Sie, Leonard die Zeilen zu überbringen, die ich jetzt schreiben will.«

Lord L'Estrange an Leonard Fairfield.

»Ich habe das Tagebuch gelesen, welches Sie mir anvertrauten, und werde alle Andeutungen verfolgen, die es mir gibt. Inzwischen bitte ich Sie, weder Fragen zu stellen, noch überhaupt einen Gegenstand zu berühren, an welchen sich, wie Sie leicht ermessen können, schmerzliche Erinnerungen für mich knüpfen. Ueberdies bin ich im gegenwärtigen Augenblick gezwungen, meine Gedanken ausschließlich den öffentlichen Angelegenheiten zuzuwenden, bei welchen Sie selbst jedoch möglicher Weise nicht unbedeutend betheiligt sind. Ich habe meine Gründe, weßhalb ich Sie bringend ersuche, auf den Wunsch Ihres Onkels einzugehen und sich bei der bevorstehenden Wahl um den Bezirk von Lansmere zu bewerben Wenn die Ihnen angeborene zarte Dankbarkeit dasjenige, was ich etwa für Sie gethan haben mag, so überschätzt, daß Sie mir einige Verbindlichkeiten schuldig zu sein glauben, so werden dieselben reichlich erfüllt sein an dem Tage, an welchem ich Sie als Parlamentsmitglied für Lansmere ausrufen höre. Im Vertrauen auf jenen edelmüthigen Grundsatz der Selbstaufopferung, welchen Sie zur Richtschnur Ihres Lebens gemacht haben, rechne ich darauf, daß Sie Ihrer Vorliebe für das Privatleben entsagen und den Kampfplatz jenes edlen Ehrgeizes betreten werden, welcher den Namen meines Freundes Audley Egerton mit so hoher Würde bekleidet hat. Allerdings wird er Ihr Gegner sein; doch ist er zu großmüthig, um nicht meinen Eifer für das Interesse eines Jünglings zu verzeihen, dessen Laufbahn, wie ich eitel genug bin, zu glauben, theilweise mein Werk ist. Da überdies Mr. Randal Leslie im Verein mit Egerton auftritt und nach Mr. Avenel's Ansicht zwei Kandidaten derselben Partei sich nicht wohl werden durchsetzen lassen, so kann das Ergebniß noch immer zu der vollkommenen Befriedigung aller derjenigen Gefühle ausfallen, welche ich für Sie selbst sowohl, als für Audley Egerton hege, dessen Ansprüchen an meine Achtung Sie, wie ich Grund habe, anzunehmen, nacheifern werden.

Der Ihrige

L'Estrange.«

»Hier, Mr. Dale,« sagte Harley, indem er seinen Brief siegelte und dem Pfarrer übergab. »Hier – dieses Billet werden Sie ihm einhändigen. Doch nein – indem ich es noch einmal überlege, scheint es mir besser, wenn er von Ihrem Besuch bei mir, über welchen er bis jetzt in Unwissenheit ist, nichts erfährt. Denn sollte Miß Digby auf ihren bereits eingegangenen Verbindlichkeiten beharren, so wäre es gewiß eine freundliche Rücksicht auf Leonard, ihm die schmerzliche Nachricht zu ersparen, daß Sie mir Mittheilung von der Nebenbuhlerschaft gemacht haben, welche er selbst geheim gehalten hatte. Betrachten Sie daher alles zwischen uns Vorgefallene als im strengsten Vertrauen geschehen.«

»Ich will Ihnen gehorchen, mein Lord,« erwiderte der Pfarrer demüthig und halb erschrocken, als er fand, daß er, der gekommen war, Autorität auszuüben, sich nun Befehlen unterwarf. Er wußte nicht, welches Urtheil er sich über den Mann erlauben sollte, den er als einen Verbrecher angesehen hatte, und der nun die ihm zur Last gelegte Schuld nicht einmal in Abrede zog, gleichwohl aber dem anklagenden Priester etwas von jener Achtung einflößte, welche Mr. Dale bis daher nur der Tugend zu zollen gewöhnt ward. Hätte er doch einen Blicken das stürmische, umnachtete Herz werfen können, welches er zum zweiten Mal nicht verstand!

»Es ist gut – sehr gut,« murmelte Harley, nachdem sich die Thüre hinter dem Pfarrer geschlossen hatte. »Die Natter und die Natterbrut! So war es denn dieses Mannes Sohn, den ich aus dem ›Pfuhl der Verzweiflung‹ herauszog, und ohne es zu wissen ahmt der Sohn die Dankbarkeit und Ehrenhaftigkeit des Vaters nach – ha – ha!«

Plötzlich erstarb das bittere Lachen, und ein Strahl beinahe himmlischer Freude brach aus den kämpfenden Elementen des Sturmes und der Finsterniß. Wenn Helene Leonard's Neigung erwiderte, so war Harley L'Estrange frei! Und im Wiederschein jenes Strahles sah er Violanten's Antlitz als dasjenige eines Engels auf ihn herniederblicken. Schnell jedoch verschwanden Himmelslicht und Engelsantlitz wieder, verschlungen von dem schwarzen Abgrund seiner zerrissenen und gefolterten Seele.

»Thor!« sprach in seinem Schmerze der unglückliche Mann laut zu sich selbst – »Thor! was dann? Wäre ich frei, würde ich abermals mein Schicksal der Falschheit anvertrauen? wenn es mir in der Blüthe und in dem Glanz meiner Jugend nicht gelang, das Herz eines Dorfmädchens zu gewinnen – wenn ich, in abermaliger Selbsttäuschung, vergebens den Keim weiblicher Neigung in dem Herzen der Waise, die ich der Armuth entriß, zu pflegen und groß zu ziehen trachtete – wie kann ich Liebe erwarten von der glänzenden Fürstentochter, welche alle glattzüngigen Lotharios dieser flimmernden Welt mit ihren Huldigungen umringen werden, sobald sie in ihren Sphären erscheint! Wenn Verrath und Treulosigkeit mein Schicksal ist – welch' eine Hölle in dem Gedanken, daß ein Weib ihr Haupt an meinen Busen legen könnte – und – o Entsetzen! Entsetzen! – Nein! – Ich würde ihre Hand nicht annehmen, und sollte sie mir auch angeboten werden – würde nicht an ihre Liebe glauben, selbst wenn sie mir dieselbe mit tausend Schwüren betheuerte. Du meine ernste Seele, endlich weise geworden – liebe nie mehr und glaube nie wieder an Wahrheit!«


Sechzehntes Kapitel.

Als Harley sein Zimmer verließ, erblickte er Helenen's bleiches, liebliches Antlitz in einer Thüre desselben Ganges. Sie trat schüchtern auf ihn zu.

»Darf ich mit Ihnen sprechen?« sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Ich habe gewartet, bis ich Ihre Tritte hörte.«

Harley sah sie fest an. Dann folgte er ihr, ohne ein Wort zu reden, in das Zimmer, aus welchem sie gekommen war, und schloß die Thüre.

»Auch ich,« sagte er, »wollte Sie um eine Unterredung bitten – aber später. Sie wünschen mich zu sprechen, Helene – ich bin bereit. – Ah, Kind, was soll das heißen? Wozu dies?« – denn Helene kniete zu seinen Füßen. Siehe hierzu das Bild »Harley and Helen« (Frontispiz der Ausgabe bei J. B. Lippincott & Co., Philadelphia, 1875, Vol. II).

arley und Helene

Harley und Helene

»Lassen Sie mich knieen,« versetzte sie, die Hand abwehrend, welche sie aufzurichten suchte. »Lassen Sie mich knieen, bis ich alles erklärt und vielleicht Ihre Verzeihung erlangt habe. Sie sagten neulich Abends etwas – und es hat mir seitdem schwer auf dem Herzen und Gewissen gelegen. Sie sagten, ›ich dürfe kein Geheimniß vor Ihnen haben, denn dies wäre bei unsern gegenseitigen Beziehungen Betrug.‹ Ich habe ein Geheimniß gehabt; aber, o glauben Sie mir, es währte lange, bis ich mir selbst darüber klar wurde. Sie beehrten mich mit einer Werbung, die so hoch über meiner Geburt und meinen Verdiensten steht. Sie sagten, daß ich Sie trösten und beruhigen könnte. Was sollte ich auf diese Worte erwidern? – ich, die ich Ihnen so viel mehr als kindlichen Dank und Gehorsam schuldig bin? Und ich glaubte, daß meine Neigungen frei seien – daß sie der Pflicht gehorchen würden. Aber – aber – aber –« fuhr Helene mit immer leiserer Stimme und noch tiefer gesenktem Haupte fort – »ich täuschte mich selbst. Ich sah ihn wieder, der in der Welt mir alles gewesen zu einer Zeit, da diese Welt nur Schrecken für mich hatte – und da – und da – zitterte ich. Meine Erinnerungen, meine Gedanken flößten mir Schrecken ein. Doch ich kämpfte fest und entschlossen, um die Vergangenheit aus meinem Gedächtniß zu verbannen. Sie glauben mir – o nicht wahr, Sie glauben mir? und ich hoffte zu überwinden. Aber seitdem Sie jene Worte gesprochen, war es mir, als dürfte ich Ihnen auch selbst den Kampf nicht verschweigen. Dies ist das erste Mal seit jenem Abende, daß wir zusammentreffen. Und nun – nun – ich habe ihn wieder gesehen, und – und – obgleich Diejenige, welche Sie Ihre Braut zu sein gewürdigt haben, auch nicht mit einer Sylbe die Hoffnungen eines Andern ermuthigen konnte – obgleich er mir dort – dort, wo Sie jetzt stehen – Lebewohl sagte, und wir Abschied nahmen, als ob es für immer wäre; – dennoch – dennoch – – O Lord L'Estrange! was sollte ich Ihnen als Vergeltung für Rang und Reichthum und Ihre noch viel edleren Naturanlagen geben? – etwas mehr, als Dankbarkeit, Achtung, Verehrung – zum wenigsten ein ungetheiltes Herz, erfüllt von Ihrem Bild allein und dies ist es, was ich nicht geben kann. Verzeihen Sie mir – nicht, was ich jetzt gesagt habe, sondern daß ich es nicht früher gethan. Verzeihen Sie mir, o mein Wohlthäter, verzeihen Sie mir!«

»Stehen Sie auf, Helene,« sagte Harley, dessen Stirne etwas von ihrem düstern Ausdruck verlor, obwohl er noch nicht gesonnen schien, einer mildern und heiligeren Empfindung Raum zu geben. »Stehen Sie auf!« und er zog sie in die Höhe und trat mit ihr an das Licht. »Lassen Sie mich in Ihr Antlitz blicken. Hier scheint kein Trug zu weilen. Diese Thränen sind gewiß aufrichtig. Wenn ich nicht geliebt werden kann, so ist es mein Geschick und nicht Ihr Verbrechen. Hören Sie mich jetzt an. Wenn Sie mir nichts Anderes gewähren können, wollen Sie mir wenigstens den Gehorsam leisten, den die Mündel ihrem Vormund, das Kind dem Vater schuldig ist?«

»Ja, o ja!« murmelte Helene.

»So nehme ich, während ich Sie Ihres mir gegebenen Wortes entbinde, das Recht in Anspruch, der Werbung des – Desjenigen, welchen Sie mir vorziehen, meine Zustimmung, wenn ich es für gut finde, zu versagen. Ich spreche Sie von aller Täuschung frei, behalte mir aber vor, mein eigenes Urtheil über ihn zu fällen. Bis ich nun selbst jene Werbung gebilligt habe, verlange ich von Ihnen, daß Sie in keiner Weise die Ablehnung zurücknehmen, die Sie, wenn ich recht verstehe, auf dieselbe ertheilt haben.«

»Ich verspreche es.«

»Und wenn ich zu Ihnen sage: ›Helene, dieser Mann ist Ihrer nicht würdig –‹«

»Nein, nein! Sagen Sie das nicht – ich könnte Ihnen nicht glauben.«

Harley runzelte die Stirne, fuhr jedoch ruhig fort – »Nun denn, wenn ich sage: ›Fragen Sie mich nicht, weßhalb, aber ich verbiete Ihnen, die Gattin Leonard Fairfield's zu werden – was würde Ihre Antwort sein?«

»Ah, mein Lord, wenn Sie ihn nur trösten können, mögen Sie mit mir thun, was Sie wollen; aber befehlen Sie mir nicht, ihm das Herz zu brechen.«

»O thörichtes Kind,« rief Harley mit verächtlichem Lachen, »es gibt keine Herzen in dem Geschlecht, aus welchem dieser Mann entsprang. Doch ich nehme Ihr Versprechen trotz der leichtgläubigen Bedingung an, die Sie daran knüpfen. Helene, ich bemitleide Sie. Ich war nicht weniger schwach, wie Sie, bärtiger Mann, der ich bin. Vielleicht erleben wir den Tag, da wir Beide über die Thorheiten lachen, über welche Sie jetzt weinen. Einen andern Trost kann ich Ihnen nicht geben – denn ich weiß keinen.«

Er näherte sich der Thüre, blieb jedoch auf der Schwelle stehen.

»Ich werde Sie in den nächsten Tagen nicht wieder sehen, Helene. Vielleicht bitte ich meine Mutter, zu mir nach Lansmere zu kommen, und in diesem Fall würde ich Sie ersuchen, die Gräfin zu begleiten. Vorderhand lassen Sie Jedermann auf dem Glauben, daß unsere gegenseitige Stellung unverändert sei. Die Zeit wird bald kommen, da ich vielleicht –«

Helene blickte fragend durch ihre Thränen auf, und Harley fuhr mit ernster, strenger Kälte fort –

»Da ich Sie vielleicht von allen Pflichten gegen mich lossprechen, oder aber an Ihr Versprechen erinnern werde – trotz der Bedingung, denn das Herz Ihres Freiers wird nicht brechen. Leben Sie wohl!«


Siebenzehntes Kapitel.

Als Harley London betrat, stieß er plötzlich auf Randal Leslie, welcher raschen Schrittes von Eaton Square kam, nachdem er Mr. Avenel nicht nur auf seinem Spaziergang, sondern auch nach Hause begleitet und den halben Tag in seiner Gesellschaft zugebracht hatte. Er befand sich jetzt auf dem Wege nach dem Hause der Gemeinen, woselbst eine Erklärung über den Tag, an welchem das Parlament aufgelöst werden sollte, erwartet wurde.

»Lord L'Estrange,« sagte Randal, »ich muß Sie einen Augenblick aufhalten. Ich war in Norwood und habe unsern edlen Freund gesehen. Er hat mir natürlich alles mitgetheilt, was sich zugetragen. Wie kann ich Ihnen meine Dankbarkeit ausdrücken? Mit welch' seltenem Talent – mit welch' außerordentlichem Muth – haben Sie das Glück – vielleicht sogar die Ehre – meiner verlobten Braut gerettet!«

»Ihrer Braut! So hält denn der Herzog an dem Versprechen fest, welches Sie so glücklich waren, von Riccabocca zu erhalten?«

»Er bestätigt seine Zusage so feierlich denn je. Diese Großmuth mag Sie allerdings in Erstaunen setzen.«

»Nein; er ist ein Philosoph – nichts, was er thut, kann mich überraschen. Als ich ihn zuletzt sah, schienen jedoch nach seiner Ansicht Umstände vorzuliegen, welche zu erklären Ihnen schwer werden dürfte.«

»Schwer? Nichts leichter! Erlauben Sie mir, Ihnen dieselben Aufklärungen zu geben, welche Denjenigen befriedigten, den die Philosophie ebenso zugänglich für die Wahrheit gemacht, als er ein scharfes Auge für den Betrug hat.«

»Ein ander Mal, mein bester Mr. Leslie. Wenn der Vater Ihrer Braut zufrieden ist, welches Recht hätte alsdann ich, zu zweifeln? Beiläufig, Sie bewerben sich um den Bezirk von Lansmere – wollen Sie mir nicht die Gunst erweisen, während der Wahl im Park Ihre Wohnung zu nehmen? Sie werden natürlich Mr. Egerton begleiten.«

»Sie sind allzu gütig,« erwiderte Randal sehr überrascht.

»Sie nehmen meine Einladung an? Das ist recht. Wir werden dann hinlänglich Gelegenheit zu jenen Erklärungen finden, welche Sie so freundlich sind, mir anzubieten, und, um Ihren Aufenthalt noch angenehmer zu machen, kann ich vielleicht unsere Freunde in Norwood bewegen, zu derselben Zeit auch nach Lansmere Park zu kommen. Guten Tag!«

Harley entfernte sich, und Randal blieb regungslos vor Erstaunen, aber von Argwohn gequält, stehen. Was konnte solche Höflichkeit von Lord L'Estrange's Seite bedeuten? Sicherlich nichts Gutes.

»Ich stehe im Begriff, die Wage der Gerechtigkeit in meine Hand zu nehmen,« sagte Harley zu sich selbst, »und ich will das leichte Gewicht dieses Schurken in die Schale werfen. Violante kann niemals die Meinige werden, allein ich habe sie nicht aus der Gewalt eines Peschiera errettet, um sie einem Randal Leslie zu überlassen. Ha, ha! Audley Egerton ist nicht ganz ohne menschliches Gefühl – er liebt diesen Jüngling, den er aus der Welt sich ausgelesen hat, in welcher er Nora's Kind dem Hungertode preisgab. Von dieser Seite kann ich sein Herz erreichen und ihm beweisen, daß er, wie ich selbst, ein Thor war, wo er achtete und vertraute! Gut.«

Unter solchen Selbstgesprächen erreichte Lord L'Estrange die Ecke von Bruton Street, wo er abermals plötzlich und unvermuthet angeredet wurde.

»Mein theurer Lord L'Estrange, erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu drücken, denn der Himmel weiß, wann ich Sie wieder sehen werde, und durch Ihre Vermittlung war es mir vergönnt, an einer guten Handlung Theil zu nehmen.«

»Frank Hazeldean, ich freue mich in der That, Sie zu sehen. Doch, weßhalb sprechen Sie einen so melancholischen Zweifel in Betreff des Zeitpunktes unseres nächsten Wiedersehens aus?«

»Ich habe soeben meinen Urlaub erhalten. Ich bin nicht wohl – in Wahrheit etwas kreuzlahm – Und so will ich auf einige Wochen fortgehen.«

Widern seinen Willen fühlte der finstere, brütende Mann sein Interesse und seine Theilnahme durch die Niedergeschlagenheit angeregt, welche sich in Frank's Stimme und Antlitz so deutlich aussprach. »Auch ein von der Liebe Bethörter,« dachte er, gleichsam als Entschuldigung vor sich selbst; »natürlich ein Bethörter, denn er ist ehrlich und ohne Falsch – bis jetzt.«

Er preßte freundlich den Arm, den er unwillkürlich in den seinigen gelegt hatte. »Ich begreife Ihren jetzigen Schmerz, mein junger Freund,« sagte er; »allein Sie werden sich später Glück zu dem wünschen, was Ihnen heute als ein großes Leid erscheint.«

»Mein theurer Lord –«

»Ich bin zwar viel älter als Sie, doch nicht alt genug für solche steife Förmlichkeit. Bitte, nennen Sie mich L'Estrange.«

»Ich danke Ihnen – und in der That möchte ich mit Ihnen als mit einem Freunde sprechen. Es liegt mir ein Gedanke auf der Seele, der mir keine Ruhe läßt. Er ist wohl thöricht genug, aber ich bin gewiß, Sie werden mich nicht auslachen. Sie hörten, was Madame di Negra in der vergangenen Nacht zu mir sagte. Man hat ein Spiel mit mir getrieben und mich irre geführt, allein ich kann nicht so schnell vergessen, wie theuer mir jene Frau gewesen. Ich will Sie nicht mit dieser Thorheit langweilen, aber, so viel ich von dem Vorgefallenen verstehe, wird ihr Bruder wahrscheinlich sein ganzes Vermögen verlieren, und wenn auch nicht, so ist er jedenfalls ein elender Schurke. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß sie so abhängig von ihm sein soll – daß sie möglicher Weise Mangel leiden könnte. Es muß im Grunde doch etwas Gutes in ihr sein – weil sie mir ohne Liebe ihre Hand nicht reichen wollte. Eine berechnende Frau in solchen Verhältnissen würde nicht so gehandelt haben.«

»Sie urtheilen ganz richtig. Aber quälen Sie sich nicht mit diesen edelmüthigen Besorgnissen. Madame di Negra wird keinen Mangel leiden – sie wird nicht von ihrem elenden Bruder abhängen. Die erste Handlung des Herzogs von Serrano nach Wiedergewinnung seiner Besitzungen wird sein, daß er in geeigneter Weise für seine Verwandte sorgt. Dafür stehe ich Ihnen.«

»Sie nehmen mir eine Last von der Seele. Ich wollte Sie um Ihre Fürsprache bei Riccabocca – das heißt, bei dem Herzog – bitten (ich kann mich so schwer daran gewöhnen, daß er ein Herzog sein soll!). In meiner Macht steht es leider nicht, etwas für Madame di Negra zu thun. Ich könnte allerdings mein Offizierspatent verkaufen, allein ich habe eine Schuld, die ich vor Allem gerne abbezahlen möchte, und der Erlös des Patents würde nicht einmal dazu reichen; auch fürchte ich, mein Vater könnte noch zorniger über mich werden, wenn ich es verkaufen wollte. Nun, leben Sie wohl! Ich werde jetzt glücklich fortgehen – das heißt, vergleichungsweise. Man muß sein Schicksal tragen, wie – ein Mann!«

»Ich möchte Sie jedoch gerne noch einmal sehen, ehe Sie abreisen, und werde Sie daher aufsuchen. Inzwischen können Sie mir vielleicht die Hausnummer eines Baron Levy angeben? Er wohnt in dieser Straße, so viel ich weiß.«

»Levy! O, haben Sie mit diesem Menschen nichts zu schaffen – ich rathe Ihnen, ich bitte Sie inständig darum! Er ist der einschmeichelndste, gefährlichste Schurke. Und, um des Himmels willen! nehmen Sie meine Warnung an, und lassen Sie sich durch nichts verleiten zu – einem post-obit

»Seien Sie ganz ruhig! ich bin eher daran gewöhnt, Geld auszuleihen, als welches von Andern zu borgen, und was das post-obit betrifft, so habe ich ein thörichtes Vorurtheil gegen derartige Geschäfte.«

»Nennen Sie es nicht thöricht, L'Estrange, ich ehre Sie darum! Wie sehr wünschte ich, daß ich Sie früher gekannt hätte – Sie sind so ganz anders, wie die Herrn in der Gesellschaft. Selbst Randal Leslie, der in den meisten Dingen so fehlerlos ist und nie selbst in eine Klemme geräth, nannte meine Bedenklichkeiten thöricht, doch –«

»Halt – Randal Leslie? Wie, er rieth Ihnen, auf ein post-obit Geld aufzunehmen? und ohne Zweifel behielt er einen hübschen Theil davon für sich?«

»O nein; nicht einen Schilling.«

»Erzählen Sie mir den ganzen Hergang, Frank. Da, wie ich sehe, Levy bei der Sache betheiligt ist, so kann vielleicht Ihre Mittheilung für mich selbst von Nutzen sein und mich vorsichtig machen in meinen Verhandlungen mit diesem vielgesuchten Gentleman.«

Frank, der sich, ohne selbst zu wissen, wie es kam, vollkommen heimisch in Harley's Gesellschaft fühlte und bei aller Achtung vor Randal Leslie's Talenten doch eine unbestimmte Ahnung davon hatte, Lord L'Estrange könnte jedenfalls ebenso klug, wie Jener, und um seiner Jahre und Erfahrung willen wahrscheinlich ein noch sichrerer und verständigerer Rathgeber sein, war keineswegs abgeneigt, die verlangte Aufklärung zu geben.

Er erzählte Harley von seinen Schulden – von seinen ersten Geschäften mit Levy – von dem unglücklichen post-obit, zu welchem er sich durch Madame di Negra's Noth und Verlegenheit hatte hinreißen lassen – von dem Zorn seines Vaters – dem Brief seiner Mutter – seinen eigenen, von Scham und Stolz gemischten Gefühlen, welche ihn fürchten ließen, daß seine Reue als Eigennutz erscheinen konnte – und endlich von seinem Wunsche, durch den Verkauf seines Offizierspatentes einen Theil der post-obit-Schuld abzutragen; – kurz, er theilte Harley alles mit, was ihm so schwer auf dem Herzen lag. Randal Leslie's Name kehrte natürlicher Weise in seiner Erzählung oftmals wieder, und Lord L'Estrange's schlaue Querfragen ließen ihn bald weit mehr von der Beteiligung des jungen Diplomaten an dieser traurigen Geschichte erkennen, als der arglose Erzähler selbst wußte.

»So suchte Sie denn Mr. Leslie von Madame di Negra's Liebe zu überzeugen,« sagte Harley, »während Sie selbst an derselben zweifelten?«

»Ja, er ließ sich noch mehr täuschen, als ich.«

»Einfacher, schlichter Mr. Leslie! Und dieser wohlmeinende Freund – er ist mit Ihnen verwandt – sagten Sie nicht so?«

»Seine Großmutter war eine Hazeldean.«

»Hm! Dieser wohlmeinende Verwandte brachte Sie auf den Glauben, Sie könnten jene Schuld mit der Morgengabe der Marchesa einlösen, und es würde ihm alsdann gelingen, die Einwilligung Ihrer Eltern zu Ihrer Heirath mit jener Dame für Sie auszuwirken?«

»Ich hätte es besser wissen sollen; meines Vaters Vorurtheile gegen Ausländer und Papisten sind so stark.«

»Und jetzt ist Mr. Leslie mit Ihnen einverstanden, daß Sie nichts Besseres thun können, als in's Ausland zu gehen und seiner Vermittlung zwischen Ihnen und Ihrem Vater zu vertrauen? Er hat augenscheinlich einen großen Einfluß auf Mr. Hazeldean gewonnen.«

»Mein Vater vergleicht ihn natürlich mit mir – er so verständig, so vielversprechend, so geordnet in seiner Lebensweise, und ich ein so leichtsinniger Mensch!«

»Und die Hauptmasse von Ihres Vaters Besitzthum ist kein Fideicommiß – Mr. Hazeldean könnte Sie enterben?«

»Ich verdiene es – ich hoffe, er wird es thun.«

»Sie haben weder Brüder, noch Schwestern – vielleicht keinen nähern Verwandten, als Ihren vortrefflichen Freund, Mr. Randal Leslie?«

»Nein; das ist auch der Grund, weßhalb er so gut gegen mich ist, sonst wäre ich wohl der Letzte, der für ihn paßte. Sie haben keinen Begriff, wie unterrichtet und wie verständig er ist,« setzte Frank in einem Tone hinzu, der zwischen Bewunderung und Scheu die Mitte hielt.

»Mein lieber Hazeldean, wollen Sie meinen Rath annehmen?«

»Gewiß. Sie sind allzu gütig.«

»So lassen Sie Ihre ganze Familie, Mr. Leslie mit inbegriffen, auf dem Glauben, daß Sie Ihre Reise angetreten; bleiben Sie aber ruhig in England, und zwar in der Entfernung einer Tagereise von Lansmere Park. Ich bin genöthigt, zu der bevorstehenden Wahl dahin zu gehen, und werde Sie vielleicht ersuchen, sich gleichfalls dort einzufinden. Ich glaube, ich sehe einen Weg, Ihnen zu dienen, und in diesem Fall werden Sie bald von mir hören. Und nun, Baron Levy's Hausnummer.«

»Dort, wo das Cabriolet vor der Thüre steht. Wie nur ein solcher Mensch ein solches Pferd haben kann! Es ist unerhört!«

»Ganz und gar nicht; Pferde sind muthige, edle und arglose Thiere – sie wissen es nie, daß es ein Spitzbube ist, der ihre Zügel hält! Ich habe also Ihr Versprechen, und Sie wollen mir Ihre Adresse senden?«

»Ja. Sonderbar, daß ich mehr Vertrauen zu Ihnen fühle, als sogar zu Randal! Nehmen Sie sich vor Levy in Acht.«

Lord L'Estrange und Frank schüttelten sich die Hände, und mit einem ängstlichen Seufzer sah Frank Lord L'Estrange in dem Portale des glatten Verderbers verschwinden.


Achtzehntes Kapitel.

Lord L'Estrange folgte dem elegant gekleideten Bedienten in Baron Levy's üppig ausgestattetes Studirzimmer.

Der Baron blickte höchlichst erstaunt auf seinen unerwarteten Gast, erhob sich jedoch und bot mit einer Verbeugung dem Lord einen Stuhl an.

»Das ist in der That eine große Ehre,« sagte er.

»Sie haben hier einen reizenden Aufenthaltsort,« erwiderte Lord L'Estrange, sich umsehend. »Außerordentlich schöne Bronce-Figuren – vortrefflicher Geschmack. Ihre Empfangszimmer oben sind ohne Zweifel ein Muster für alle Decorateure!«

»Würden sich Euer Gnaden herablassen, sie zu sehen?« versetzte Levy geschmeichelt, wiewohl noch immer etwas verwundert.

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Lichter!« rief Levy dem Bedienten zu, welcher auf sein Klingeln erschien. »Lichter in die Besuchzimmer. Es fängt an, dunkel zu werden.«

Lord L'Estrange folgte dem Wucherer die Treppe hinauf und bewunderte alles – die Gemälde, die Draperien, das Sevres-Porzellan, bis auf die Form der flaumweichen Fauteuils Lehnstuhl, Lehnsessel oder Armsessel. und die Zeichnung des türkischen Teppichs. In einem der schwellenden Sopha's sich zurücklehnend, sagte er lächelnd:

»Sie sind ein weiser Mann. Was ist es für ein Vortheil, reich zu sein, wenn man seinen Reichthum nicht genießt?«

»Ganz mein Grundsatz, Lord L'Estrange.«

»Und ebenso ist es etwas Schönes um den Geschmack für gute Gesellschaft. So üppig diese Zimmer auch ausgestattet sind, so würden Sie doch wenig stolz darauf sein, mein bester Baron, wenn nur Gäste von gemeinem Aeußern und plebejischen Manieren sich darin bewegten. Nur in der Welt, in der wir leben, finden wir Leute, welche, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu dem Porzellan von Sevres und zu diesem Sopha's passen, die in der That von Versailles stammen könnten.«

»Ich gestehe,« sagte Levy, »daß ich eine Vorliebe für den beau monde habe, obgleich Manche dies an einem parvenu wie ich, eine Schwäche nennen mögen. Es ist mir in Wahrheit eine Freude, Männer, wie Euer Gnaden, bei mir zu empfangen.«

»Aber warum nennen Sie sich einen parvenu? Obwohl Sie sich begnügen, dem Namen Levy Ehre zu machen, so wissen wir doch Alle in der Gesellschaft, daß Sie der Sohn eines englischen Peers von alter Herkunft sind. Ein Kind der Liebe allerdings, allein die Grazien sind Denen hold, bei deren Geburt Venus den Vorsitz führte. Verzeihen Sie mein altmodisches mythologisches Gleichniß – es paßt so gut – zu diesen Gemächern – à la Louis Quinze

»Da Sie meine Geburt berühren,« erwiderte Levy, während eine leichte Röthe – nicht der Scham, sondern des Stolzes – sein Gesicht überflog, »so leugne ich nicht, daß sie einigen Einfluß auf meinen Geschmack und meine Lebensweise geübt hat. Ja –«

»Ja, gestehen Sie, daß Sie trotz Ihres Reichthums ein unglücklicher Mann sein würden, wenn Ihnen die jungen Stutzer, die sich zu Ihren Banketten drängen, auf der Straße den Rücken kehrten – wenn Ihr stolzes Pferd vor Ihrem Clubhause anhielte, und Ihnen der Portier die Thüre vor der Nase zuschlüge – wenn Sie, hübscher Bursche, der Sie sind, im Parterre der Oper herumschlenderten, und jeder verschwenderische Wüstling von › Fop's Alley,‹ Ursprünglich der Gang zwischen Parkett und Parterre in der Oper (um 1800). welcher jetzt nur auf einen Strich Ihrer Feder wartet, um ein billet-doux Liebesbrief. mit dem Zauber zu versehen, der irgend eine in Wolken von Tülle dahinschwebenden Nymphe des Ballets für einen Monat an ihn fesseln soll, vor der Berührung ihres herablassenden Zeigfingers mit größerem Schreck zurückbebte, als vor der Haft bringenden Hand eines Basilisks in dem Nebel von Pall Mall – wenn Sie, auf die Gesellschaft von City-Handlungsdienern und schmarotzenden Speichelleckern angewiesen –«

»O, halten Sie ein, mein theurer Lord,« rief Levy mit einem erkünstelten Lachen. »Sie malen ein entsetzliches Bild, so unmöglich es auch ist. Schließen Sie mich aus von May Fair und St. James, und ich gehe in mein Kassenzimmer, um mich aufzuhängen.«

»Und doch, mein bester Baron, mag alles dieses geschehen, sobald ich Lust habe, es zu versuchen; – ja, es wird geschehen, wenn Sie nicht, ehe ich dieses Haus verlasse, den Bedingungen zustimmen, welche ich hierher gekommen bin, Ihnen vorzulegen.«

»Mein Lord!« rief Levy aufspringend, während er mit vor Leidenschaft zitternden Fingern seine Weste abwärts zog – »befänden Sie sich nicht unter meinem eigenen Dache, so würde ich –«

»Sparen Sie alle Phrasen. Setzen Sie sich, mein Herr – setzen Sie sich. Ich will meine Drohung kurz fassen – noch kürzer meine Bedingungen. Sie werden kaum weitschweifiger in Ihrer Antwort sein. An Ihr Vermögen kann ich nicht Hand anlegen – aber den Genuß desselben kann ich Ihnen vergällen. Weisen Sie meine Bedingungen zurück – machen Sie mich zu Ihrem Feinde – und es gilt Krieg auf Leben und Tod! Ich werde alle die jungen Thoren befragen, welche Sie zu Grunde gerichtet haben. Ich werde mich mit der Art jener Geschäfte vertraut machen, mit deren Hilfe Sie zu dem Reichthum gelangten, den Sie als Mittel gebrauchen, um die Gesellschaft und um die Theilnahme an den Lastern von Menschen zu buhlen, welche – zu diesen Zimmern Louis Quinze passen. Nicht ein einziger Ihrer Schurkenstreiche soll mir entgehen, bis herab zu Ihrem letzten denkwürdigen Versuch, einem ruchlosen Italiener zu der verbrecherischen Entführung einer Erbin zu verhelfen. Alle diese Einzelheiten werde ich in den Clubs, bei denen Sie zugelassen sind – in jedem Club in London, in welchen Sie sich noch einzuschleichen hoffen, verkündigen. Ich werde sie irgend einer Autorität in der Presse – wie z. B. Mr. Henry Norreys – mittheilen; – sie sollen, unter Gewährschaft meines eigenen Namens, in verschiedenen bedeutenden Blättern in einer Weise veröffentlicht werden, daß Sie entweder die Enthüllungen, die Sie vernichten, stillschweigend hinnehmen, oder Dinge vor einen Gerichtshof bringen müssen, welche Anschuldigungen in Beweise verwandeln werden. Sie sind jetzt nur geduldet in der Gesellschaft – Sie werden ausgeschlossen, sobald ein Mann, wie ich, hervortritt, Ihnen die Maske abzunehmen. Umsonst versuchen Sie ein höhnisches Lächeln über meine Drohung – Ihre weißen Lippen verrathen Ihre Angst. Ich habe selten im Leben aus meinem Rang und meiner Stellung irgend einen Vortheil gezogen – jetzt aber bin ich dankbar, daß sie mir die Macht geben, meinen Worten Achtung und meiner Blosstellung den Sieg zu verleihen. Nun, Baron Levy, wollen Sie in Ihr Kassenzimmer gehen und sich aufhängen, oder wollen Sie Ihre Zustimmung zu meinen sehr mäßigen Bedingungen geben? Sie schweigen. Ich will Ihnen das Herz erleichtern und jene Bedingungen nennen. Bis die allgemeine Wahl, welche eben jetzt bevorsteht, vorüber ist, werden Sie mir in allem, was ich von Ihnen verlange, buchstäblich Folge leisten – ohne Zögern, ohne Einwendung. Und der erste Beweis von Gehorsam, den ich fordere, ist eine offene Darlegung von Mr. Audley Egerton's pekuniären Verhältnissen.«

»Hat Sie mein Client, Mr. Egerton, ermächtigt, diese Darlegung von mir zu verlangen?«

»Im Gegentheil; Sie werden alles, was zwischen uns vorgeht, vor Ihrem Clienten geheim halten.«

»Sie möchten ihn vom Untergang erretten? Ihren treuen Freund, Mr. Egerton!« sagte der Baron mit finsterem Hohne.

»Abermals auf falscher Spur, Baron Levy. Wenn ich ihn vom Untergang retten wollte, so wären Sie schwerlich Derjenige, dessen Beistand ich mir erbitten würde.«

»Ah, ich erröthe. Sie haben erfahren, wie er –«

»Errathen Sie nichts, sondern gehorchen Sie in allen Dingen. Lassen Sie uns in Ihr Arbeitszimmer hinabgehen.«

Levy sprach kein Wort, bis er seinen Gast in seine Raubhöhle zurückgeführt hatte, wo ringsum die spoliaria Spoliarium: ursprünglich Raum des Amphitheaters, der als Umkleideraum der Gladiatoren diente u. in dem schwer verletzte Gladiatoren getötet wurden; übertragen: Mördergrube. – Es scheint in diesem Zusammenhang jedoch seitens des Autors eine Verwechslung mit spolium (Beute, Raub, dem Feind Abgenommenes) vorzuliegen. in Rosenholz glänzten. Dann sagte er:

»Wenn Sie nur auf Rache an Audley Egerton sinnen, Lord L'Estrange, so hätte es jener Drohungen nicht bedurft. Auch ich – hasse den Mann.«

Harley faßte ihn fest in's Auge, und der Edelmann fühlte einen Schmerz darüber, daß er sich auch nur zu einem einzigen Gefühl erniedrigt hatte, welches der Wucherer mit ihm theilen konnte. Gleichwohl schien die Unterredung mit einer befriedigenden Uebereinkunft und freundschaftlichem Einverständniß zu schließen. Denn als der Baron Lord L'Estrange mit großer Förmlichkeit durch die Halle geleitete, sagte sein edler Gast mit betonter Leutseligkeit:

»Auf Wiedersehen also in Lansmere, wo Sie mir helfen werden, Mr. Egerton's Wahl zu leiten. Es ist dies ein Opfer Ihrer Zeit, welches Sie der Freundschaft bringen. Nicht einen Schritt weiter, ich bitte, Baron. Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Abend zu wünschen.«

Als sich die Hausthüre vor Lord L'Estrange öffnete, fand er sich abermals Randal Leslie gegenüber, der die Hand bereits zu dem Klopfer erhoben hatte.

»Ha, Mr. Leslie! – Sie auch ein Klient von Baron Levy; ein sehr nützlicher, zu jeder Aushülfe bereiter Mann.«

Randal stand starr vor Erstaunen und stotterte:

»Ich komme in großer Eile aus dem Hause der Gemeinen in Mr. Egerton's Angelegenheit. Hören Sie nicht die Zeitungsverkäufer ihr ›Wichtige Neuigkeit – Auflösung des Parlaments!‹ ausrufen?«

»Wir sind vorbereitet. Levy selbst hat versprochen, uns den Beistand seiner Talente zu leihen. Freundlicher, gefälliger – gescheidter Mann!«

Randal eilte in Levy's Arbeitszimmer, in welches sich der Wucherer wieder zurückgezogen hatte und sich eben die Stirne mit seinem parfümirten Taschentuch abwischte. Er sah erhitzt und verstört aus und beachtete Randal sehr wenig.

»Was soll das?« rief Randal. »Ich komme, um Ihnen das vollständige Fehlschlagen von Peschiera's Plan mitzutheilen – der lächerliche Geck! – und ich treffe an Ihrer Thüre Denjenigen, den ich am wenigsten hier zu finden erwartet hätte – ihn, der alles vereitelte, Lord L'Estrange! Was führte ihn hierher? Ah, vielleicht sein Interesse an Egerton's Erwählung?«

»Ja,« erwiderte Levy mürrisch. »Ich weiß alles von Peschiera's Niederlage und habe jetzt keine Zeit, mit Ihnen zu sprechen; ich muß Vorbereitungen zu meiner Abreise nach Lansmere treffen.«

»Aber vergessen Sie meinen Ankauf von Thornhill nicht. Ich werde das Geld demnächst aus einer sichereren Quelle erhalten, als Peschiera war.«

»Von dem Squire?«

»Oder von einem reichen Schwiegervater.«

Inzwischen hatte Lord L'Estrange Bond Street betreten, von dem lauten Geschrei der von Standard, Sun und Globe aufgebotenen Stentorstimmen betäubt, welche ihr »Wichtige Neuigkeit! Auflösung des Parlaments! – wichtige Neuigkeit!« durch die Straße riefen. Die Gaslampen waren angezündet – ein brauner Nebel lagerte sich über der Stadt und vermischte sich mit den fallenden Schatten der Nacht. Undeutlich erschienen die Gestalten der Menschen in dem Dunst, während die Lichter in den Läden einen trüben, rothen Schein verbreiteten. Die sonst gegen Politik so gleichgültigen Pflastertreter sprachen eifrig und ängstlich von König und Regierung, von Ober- und Unterhaus, von »Gefahr für die Verfassung«, von »Triumph der liberalen Ansichten« – je nach ihren verschiedenen Richtungen.

Harley L'Estrange hörte mit Verachtung zu und wandelte einsam und ungesellig seines Weges. Mit seinen wilderen Leidenschaften waren auch alle ihm angeborenen Kräfte erwacht, durch welche jene doppelt gefährlich wurden. Das Bewußtsein seiner großen Fähigkeiten erfüllte ihn mit Stolz und Frohlocken – jedoch nur in so weit, als dieselben dem Zwecke dienen konnten, der sie in's Leben gerufen hatte.

»Ich habe mich selbst zum Schicksal aufgeworfen,« sprach er zu sich; »mögen die Götter neutral bleiben, während ich die Maschen webe. Und hat alsdann das Schicksal seine Sendung erfüllt, so laßt mich in den Schatten zurücktreten mit dem stillen, einsamen Schritt, dem Niemand folgen mag.

›O, eine Hütte mir in weiter Oede!‹ Der Beginn des Gedichts »Slavery« von William Cowper (1731–1800).

Wie müde bin ich dieser Menschenwelt!«

Und wieder erscholl der Ruf »Wichtige Neuigkeit – Nationalkrisis – Auflösung des Parlaments – Wichtige Neuigkeit!« durch die sich stoßende Menge. Drei Männer, Arm in Arm, streiften an Harley vorüber und wurden an der Straßenkreuzung durch eine Reihe von Wagen aufgehalten. Der Mittlere war Audley Egerton, der Andere ein Exminister, wie er selbst, und der Dritte einer jener großen Grundbesitzer, welche nicht nur stolz darauf sind, kein Amt annehmen zu müssen, sondern auch stolz auf ihre Macht, Ministerien zu schaffen und zu stürzen.

»Sie allein sind der Mann, der Uns leiten muß, Egerton,« sagte der Gutsbesitzer. »Setzen Sie nur Ihre Wahl durch, und sobald dieses Volksfieber ausgetobt hat, so werden Sie etwas mehr sein als der Führer der Opposition – Sie werden der erste Mann in England sein.«

»Kein Zweifel darüber,« stimmte der exministerliche Kollege ein – ein würdiger Gentleman und guter Geschäftsmann, aber unhörbar auf der Journalistengallerie. »Und Sie sind Ihrer Erwählung ganz sicher, eh? Davon hängt alles ab. In einer solchen Zeit dürfen Sie nicht fehlen, nicht einmal für einen Monat oder zwei. Ich höre, Sie werden einen Kampf zu bestehen haben – mit einem Bürger aus dem Bezirk, glaube ich. Aber der Einfluß von Lansmere muß allgewaltig sein, und ich vermuthe, L'Estrange wird selbst auftreten und für Sie werben. Sie sind nicht der Mann, der laue Freunde haben kann!«

»Seien Sie unbesorgt in Betreff meiner Erwählung. Ich bin derselben so sicher, wie der Freundschaft L'Estrange's.«

Harley hörte mit grimmigem Lächeln diese Worte, griff in die Brust und legte seine Hand auf Nora's Tagebuch.

»Was sollten wir im Parlament anfangen ohne Sie!« sagte der große Grundbesitzer beinahe kläglich.

»Vielmehr, was sollte ich thun ohne Parlament? Das öffentliche Leben ist das einzige, das für mich existirt. Das Parlament ist für mich alles in allem. Doch wir können jetzt über die Straße.«

Harley's Auge erglänzte kalt, als es der hohen Gestalt des Staatsmannes folgte, welche alle andern Vorübergehenden weit überragte.

»Ja,« murmelte er – »ja, rechne so sicher auf meine Freundschaft, als ich auf die Deinige rechnete! Und Lansmere möge unser Feld bei Philippi Bei der Schlacht bei Philippi im Rahmen des Philippinischen Krieges siegten nördlich der Stadt in Makedonien 42 v.u.Z. die römischen triumviri Marcus Antonius, Marcus Aemilius Lepidus und Octavian (der spätere Augustus) über Marcus Iunius Brutus und Cassius, die Anführer der Mörder Gaius Iulius Caesars. sein! Dort, wo du den ersten Schritt thatest in das einzige Leben, welches du als Dasein anerkennst, soll die Leiter unter deinem Fuße morsch zusammenbrechen. Dort, wo das Opfer deiner verräterischen Liebe dem Tod in die Arme sank, soll ein Verrath gleich dem deinigen deinem kalten Ehrgeiz ein Grab graben. Ich borge die Pfeile aus dem Köcher deiner Hinterlist; lautlos sollen sie dich fressen, und wenn ihre Spitzen dir in's Herz dringen, so sollst auch du sagen: ›Dies kömmt von der Hand eines Freundes.‹ Ja, in Lansmere, in Lansmere soll der Ausgang dem Werke die Krone aufsetzen. Gehe und entwerfe die Linien zu einer langen Perspektive auf der Leinwand, wo mein Auge bereits den verschwindenden Punkt des Gemäldes erblickt.«

Durch den dichten Nebel und in dem blassen Scheine des Gaslichtes verfolgte nun Harley L'Estrange lautlos seinen Weg und verschwand bald unter den verschiedenen bunten, rasch auf einander folgenden Gruppen mit ihren endlosen Schattirungen der Gedanken, Sorgen und Leidenschaften, während neben dem leisen Gemurmel oder den schweigenden Herzen laut der Hufschlag der Rosse, das Rasseln der Räder und das ohrenzerreißende Geschrei ertönte, welches aufgehört hatte, Interesse zu erregen – »Wichtige Neuigkeit, wichtige Neuigkeit – Auflösung des Parlaments – Wichtige Neuigkeit!«


Neunzehntes Kapitel.

Der Schauplatz ist Lansmere Park – ein umfangreiches Gebäude, zur Zeit der Regierung Karl's II. Karl II. regierte von 1660 bis 1685 (Restauration der Monarchie in England). begonnen und unter Königin Anna 1707 bis 1714 Königin von Großbritannien. vergrößert und umgebaut. Glorreicher Abschnitt in der Geschichte unserer nationalen Sitten, da selbst der Höfling sich scheute, langweilig zu sein, und Sir Fopling The Man of Mode, or, Sir Fopling Flutter (1676) von George Etherege war eine Komödie der Restaurationsära. sich auf die Zehenspitzen erhob, um das Ohr eines Witzlings zu erreichen – da Namen, wie Devonshire und Dorset, Halifax und Carteret, Oxford und Bolingbroke, brüderlich sich einten mit andern, wie Hobbes und Dryden, Prior und Bentley, Arbuthnot, Gay, Pope und Swift, Die ersten sechs sind weltliche, die übrigen geistige Größen des 17./18. Jh. in England: Thomas Hobbes, Philosoph, Hauptwerk »Leviathan« (1651); John Dryden (1631-1700), Dichter, Literaturkritiker und Dramatiker; Matthew Prior (1664-1721), Dichter; Richard Bentley (1662-1742), Altphilologe; John Arbuthnot (1667-1735), schottischer Arzt, Mathematiker und Schriftsteller; zu Gay siehe Anm. 476; Alexander Pope (1688-1744), englischer Dichter, Übersetzer und Schriftsteller; Jonathan Swift (1667-1745), anglo-irischer Schriftsteller und Satiriker, bekannt bis heute durch »Gullivers Reisen«. und, wohin wir uns auch wenden, um das Ideal eines großen Lords oder, seinen Gentleman zu erkennen, die Unsterblichen der Literatur ihm zur Seite stehen.

Die Wände der Zimmer in Lansmere waren mit den Portraits Derjenigen bedeckt, welche uns ein Bild der Periode geben, die Europa das Zeitalter Ludwigs Der »Sonnenkönig«, Ludwig XIV., regierte Frankreich als absoluter Monarch von 1643 bis 1715. nennt. Ein L'Estrange, der unter der Regierung von vier englischen Fürsten gelebt und unter allen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, hatte diese Bilder edler Zeitgenossen gesammelt. Wenn man durch die Reihe von Gemächern schritt, welche eines um das andere jenes pomphafte Gepränge zeigten, das von Carl II. aus den französischen Palästen eingeführt und beibehalten wurde, bis Versailles und Trianon Der Park von Versailles umfasste außer dem Hauptschloss auch die Lustschlösser Grand Trianon und Petit Trianon. selbst altmodisch geworden waren, so hatte man das Gefühl, als befinde man sich in vortrefflicher Gesellschaft. Welche Salons unserer Tage mit ihren Fräcken und weißen Westen besitzen jenen Zauber der Vornehmheit, der aus der Leinwand eines Kneller und Jervis, eines Vivien und Rigaud Godfrey Kneller (1646-1723), deutscher Porträtmaler und Hofkünstler. – Charles Jarvis (nicht ›Jervis‹; 1675-1739), irischer Maler– Joseph Vivien (1657-1734), französischer Porträtist. – Hyacinthe Rigaud (1659-1743), der bedeutendste Porträtmaler des französischen Ancien Régime. zu uns spricht? Und ungeachtet der Spitzen und Stickereien, des Trödels einer unnatürlichen Tracht, blicken Diejenigen, welche jener Zeit Reiz und Interesse verliehen, als Männer aus ihren Rahmen herab – wüst und wild, oder gütig und sanftmüthig – nie aber geziert und weibisch. Können wir dasselbe von den Bildern von Lawrence Thomas Lawrence (1769-1830), englischer Maler. sagen? Betrachte jenen schönen Marlborough John Churchill, 1. Duke of Marlborough, wurde um 1705 von Godfrey Kneller porträtiert. – welche zarte Vollendung der Züge, und doch wie leicht in seiner Kühnheit, wie ruhig in dem Bewußtsein der Macht! So schön und so heiter mag er in den Pulverdampf bei Ramilies und Blenheim 1704 fand in der Umgebung von Blindheim die Zweite Schlacht von Höchstädt (englisch Battle of Blenheim) statt, die entscheidende Bedeutung für den Spanischen Erbfolgekrieg hatte. – Die Schlacht bei Ramillies ist eine weitere bedeutende Schlacht diesem Krieg. In beiden wurde ein Sieg über französische Streitmächte durch u.a. englische Truppen unter der Führung von Marlborough errungen. geblickt haben, als er Addison zu dem Bilde eines Kriegsengels begeisterte. Ah, hier Sir Charles Sedley Charles Sedley (1639-1701), Dichter der englischen Restaurationszeit., der Lovelace Robert Lovelace, eine fiktional Figur, ist ein aristokratischer Libertin in dem Briefroman »Clarissa« (1747–48) von Samuel Richardson; siehe auch Anm. 597. der witzigen Geister! Siehst du die starken Backenknochen und die ausdrucksvolle Stirne – und erkennst du nicht den Hofmann, der es verschmähte, von dem Könige, mit dem er als seinesgleichen lebte, eine einzige Gunst zu erbitten, und der seine männliche Rechte ausstreckte, um den Monarchen vom Throne zu schleudern, der seine Tochter zu – einer Gräfin gemacht hatte?‹) Sedley hielt so eigensinnig fest an seiner Unabhängigkeit, daß er selbst zu einer Zeit, da er sich in der größten Verlegenheit befand, jede pekuniäre Hülfe, die ihm Carl II. anbot, zurückwies. Der bittere Sarkasmus ist bekannt, mit welchem er seine Teilnahme an der Absetzung Jacobs II. rechtfertigte, der seine Tochter verführt und ihr den Titel einer Gräfin von Dorchester verliehen hatte. »Da der König meine Tochter zur Gräfin gemacht hat, so kann ich meine Dankbarkeit nicht besser beweisen, als indem ich meinen Beistand leihe, Seine Majestät Tochter zur – Königin zu machen!« [ Anm.d.Verf.]

Vielleicht waren diese Bilder, welche Harley L'Estrange von seiner Kindheit an umgaben und, indem sie von den Wänden auf ihn herniederschauten, von ihrer Zeit erzählten – vielleicht waren sie selbst und ihr Zeitalter nicht ohne Einfluß auf Harley's Charakter geblieben. Die Launenhaftigkeit und der kühne Muth – die Begeisterung für die Wissenschaft und die Verehrung alles Genialen – das Gemisch von Leichtfertigkeit und Kraft – die vornehme Indolenz oder die schwunghafte Thatenlust, sobald der Anstoß zum Handeln gegeben war – alle diese Eigenschaften mochten ihre Vorbilder unter jenen Männern einer früheren Zeit gefunden haben. Das tiefere Gefühl und die ernsteren Gemüthsanlagen, welche sich bei Harley L'Estrange den Attributen eines entschwundenen Jahrhunderts beimischten – diese waren in der That sein ausschließliches Eigenthum. Unser Jahrhundert, so wenig verstanden, während seine Atmosphäre uns umgibt – so reich an geheimnißvollen und tiefen Empfindungen, welche unsere Vorfahren niemals kannten – werden diese Empfindungen von unsern Nachkommen verstanden werden?

In diesem stattlichen Hause waren nun als Harley's Gäste viele der wichtigeren Personen versammelt, mit denen sich der Leser in dem langsamen Verlauf unserer Geschichte vertraut gemacht hat. Die beiden Candidaten der blauen Partei, Audley Egerton und Randal Leslie; – Levy, der erste unter den Baronen, welchen die moderne Gesellschaft Raubritterschaftsrechte zuerkennt, wie sie kein Baron früherer Zeiten sich hätte anmaßen dürfen, ohne daß sich Bürger und Bauern, Fröhner und Löhner, Leibeigene und Schalksknechte vereinigt hätten, um ihn lebendig in seinem Schlosse zu verbrennen; – der Herzog von Serrano, noch immer mit Zärtlichkeit seinen Doctorstitel und Lieblingsnamen Riccabocca festhaltend; – Jemima, zwar noch nicht mit dem Anstand einer Herzogin, aber als im Puppenzustand dieser Entwicklung mit schweren Stoffkleidern angethan; – und endlich Violante, auch sie fehlte nicht, obwohl sie sehr gegen ihren Willen gekommen war und sich so viel als möglich in die Einsamkeit ihres Zimmers zurückzog.

Die Gräfin von Lansmere war ihrem Eheherrn untreu geworden, um die Gäste ihres Sohnes zu empfangen; der Graf selbst, immer darauf bedacht, in irgend einem Theile seiner Ländereien sich nützlich zu machen, und ernstlich bemüht, sein Interesse von dem undankbaren Wahlbezirk abzulenken, hatte sich nach Cornwall begeben, um daselbst Erkundigungen über die gesellschaftlichen Zustände gewisser Troglodyten einzuziehen, welche in einem Bergwerk arbeiteten, das der Graf kürzlich nach einem Rechtsstreit, der schon unter seinem Großvater begonnen, den Gerichten zu entreißen das Unglück gehabt hatte. Ein Blaubuch, welches während der letzten Session auf Befehl des Parlaments herausgegeben worden war, hatte ausdrücklich der in solcher Weise an den Grafen gekommenen Troglodyten als Zweifüßler erwähnt, welche wenig oder nichts von der Sonne wüßten und niemals ihre Füße gewaschen hätten seit dem Tage, da sie in die Welt gekommen – in ihre unterirdische Welt, diesem Stück von dem »bodenlosen Abgrund«!

Mit der Gräfin war natürlich auch Helene Digby eingetroffen und Lady Lansmere, welche bisher so höflich kalt gegen die Auserwählte ihres Sohnes gewesen, hatte sich seit ihrer Unterredung mit Harley in Knightsbridge mit beinahe zärtlicher Innigkeit an Helene angeschlossen. Die Furcht hatte die strenge Gräfin zahm gemacht; sie fühlte, daß ihr eigener Einfluß auf Harley vorüber war; sie vertraute dem Einfluß Helenens – im Falle – ja, in welchem Falle? Eben, weil sie sich die Gefahr nicht klar machen konnte, zitterte ihr kühner Geist. Der Aberglaube, gleich dem Argwohn, ist wie »die Fledermaus unter den Vögeln, welche nur in der Dämmerung fliegt« Mit den viel zitierten Worten »Suspicion amongst thoughts are like bats amongst birds, they never fly by twilight« beginnt der Essay »Of Suspicion« von Francis Bacon. Bulwer übersieht geflissentlich das »never«.. Harley hatte den Gedanken an Herausforderung und Zweikampf zwischen ihm und Audley lächerlich gemacht, dennoch aber fürchtete Lady Lansmere die anfallende Heftigkeit des Ersteren und den stolzen Geist und die strenge Selbstachtung, um deren willen der Letztere bekannt war. Unwillkürlich zog sie die Bande des Vertrauens immer fester, welche sie mit Helene verknüpften. Sollte ihre Befürchtung als gerechtfertigt erscheinen, welche Vermittlerin konnte alsdann geeigneter sein, die wilderen Leidenschaften zu beschwichtigen, als sie, deren Bild mit seinen sanftesten und heiligsten Gefühlen sich verband?

Seit ihrer Ankunft in Lansmere fühlte sich jedoch die Gräfin einigermaßen erleichtert. Harley hatte sie, wenn auch vielleicht etwas weniger herzlich als früher, doch mit unbefangener Freundlichkeit und ruhiger Selbstbeherrschung empfangen. Sein Benehmen gegen Audley Egerton beruhigte sie noch mehr; es zeigte weder ein Uebermaß von Vertraulichkeit und Freundschaft, wodurch augenblicklich ihre Furcht vor irgend einer finstern Absicht geweckt worden wäre, noch verrieth es auf der andern Seite einen unter Sarkasmen übel verhehlten Groll. Es war durchaus so, wie man's unter den obwaltenden Verhältnissen von einem Manne erwarten konnte, welcher eine Kränkung von einem ihm nahestehenden Freund erlitten, dieselbe jedoch aus Großmuth oder Klugheit zu übersehen beschloß, obgleich den Eingeweihten nicht entging, daß die frühere Zuneigung kälter geworben und eine gewisse Entfremdung eingetreten war.

Die unermüdliche Beschäftigung mit allen Einzelheiten der Wahl gab Harley einen guten Vorwand, sich von Audley fern zu halten, dessen sehr übles und erschöpftes Aussehen das Unwohlsein bestätigte, welches er als Grund angab, weßhalb er sich den Anstrengungen einer persönlichen Bewerbung entziehen müsse; so brachte er die meiste Zeit in den ihm angewiesenen Gemächern zu und überließ die Vorbereitungen für den Kampf seinen thätigeren Freunden. Erst auch seiner Ankunft in Lansmere erfuhr Audley den Namen seines Hauptgegners. Richard Avenel! – Nora's Bruder also trat aus dem Dunkel hervor, um sich ihm in einem Kampfe gegenüber zu stellen, von dessen Ausgang sein ganzes Schicksal abhing. Angesichts dieses Rächers fühlte Egerton Muth und Kraft entschwinden. Gern wäre er vom Wahlplatz abgetreten. Er sprach mit Harley darüber.

»Wie kannst du all' die schmerzlichen Erinnerungen ertragen, die allein schon der Name meines Gegners heraufbeschwören muß?«

»Hast du mich nicht gebeten,« entgegnete Harley, »diese Erinnerungen zu bekämpfen, sie als krankhafte Träume zu betrachten? Ich bin gerüstet, ihnen Trotz zu bieten. Solltest du empfindsamer sein als ich?«

Egerton wagte nicht mehr zu sagen. Er vermied jede weitere Berührung dieses Gegenstandes. Der Kampf tobte um ihn her – er schloß sich von demselben aus und blieb allein mit seinem Herzen. Kampf genug auch hier! Einmal, in später Nacht, stahl er sich hinaus auf Nora's Grab. Dort stand er lange in tiefem Schweigen unter dem frostigen Sternenhimmel. Seine ganze Vergangenheit schien an ihm vorüberzuziehen, und als er sein einsames Zimmer wieder erreicht hatte und den Blick auf die Zukunft zu richten suchte, war es noch immer jene Befangenheit und jenes Grab, welche seiner Seele vorschwebten und jedes andere Bild verdrängten.

Nicht nur in dem leidenden Gesundheitszustand Audley Egerton's, sondern auch in dem Gefühl seiner Würde fand man einen hinreichenden Entschuldigungsgrund dafür, daß er jede thätige Betheiligung an der für ihn so wichtigen Wahl ablehnte. Einem so bedeutenden Staatsmanne, dessen Ansichten und öffentliche Verdienste so bekannt und unantastbar waren, mochte die Mühe wohl erspart bleiben, welcher sich unbekanntere Bewerber nicht entziehen durften. Und überdies war nach dem allgemeinen Gerücht und nach dem Urtheil des blauen Comites Mr. Egerton's Erwählung als gesichert zu betrachten.

Obgleich nun aber Audley selbst auf diese Weise sehr nachsichtig behandelt wurde, so sorgten Harley und das blaue Comite dafür, daß die doppelte Arbeitslast auf Randal's Schultern zu liegen kam. Der unruhige Geist des jungen Mannes fand Stoff genug für seine rastlose Thätigkeit. Von Morgens bis Abends mußte Randal Leslie auf den Beinen sein.

In allen drei Königreichen mag es keinen zweiten Bezirk geben, der in jeder Hinsicht so ermüdend für einen Candidaten wäre, wie derjenige von Lansmere. Sobald der blaue Bewerber die Hauptstraße verläßt, in welche er nach einem uralten Herkommen zuerst eingeführt wird, um ihn für die Anstrengungen zu ermuthigen, die seiner warten – (liebenswürdige, vielversprechende, constitutionelle Hauptstraße, in welcher wenigstens zwei Drittheile der Wähler, wohlhabende, von der Gutsherrschaft beschäftigte Gewerbsleute, unwiderruflich für »Mylord's Candidaten« stimmen und gastfreundlich Wein und Kuchen in ihren Hinterstübchen bereit halten!) – sobald er diesen festen Platz seiner Partei verläßt, erstreckt sich ein Labyrinth von Gassen und Hohlwegen bis an den äußersten Horizont; ebener Boden ist nirgends zu finden, bergauf und bergab geht es bald über rauhes, holperiges Pflaster, das redlich für Blasen an den Füßen sorgt und mit dem ersten Tritt das prophetische Stechen aller verborgenen Hühneraugen wachruft, bald durch tiefe, kothige Wagengeleise, in welche man bis an die Knöchel einsinkt, während der in die Poren sickernde Schlamm den Weg für Katarrh, Rheumatismus, Husten, Hals und Luftröhrenentzündung und Schwindsucht bahnt. Schwarze Abzugsgräben und cherontische Lachen vor den Schwellen der Wohnungen füllen diese mit einer so wenig anziehenden Ausdünstung, daß, während die eine Hand die schmutzige Pfote des Wählers ergreift, die andere instinktmäßig die beleidigte Nase gegen Typhus und Cholera zu schützen sucht. In jenen Tagen hatte die Menschheit noch nichts von sanitätischen Reformen gehört, und wäre es auch der Fall gewesen, so möchte doch – nach dem langsamen Fortschritt dieser Reformen zu schließen – der Zustand von Graben und Lachen ziemlich derselbe geblieben sein.

Nach dem Pfarrschoß Stimmende waren, nebst einer Zugabe von privilegirten Freien, die unabhängigen Wähler von Lansmere. Das allgemeine Stimmrecht könnte kaum in wirksamerer Weise die Privilegien derjenigen verschlingen, welche sich einen Strohhalm darum kümmern, was aus Großbritannien wird! Trotz Randal Leslie's tiefer Diplomatik, trotz all' seiner Kunst, gebildete Leute zu überreden, zu täuschen und – wie Dick Avenel sich ausdrückte – zu »beschwindeln«, prallte seine Beredsamkeit ab an der vollständigen Unempfänglichkeit für jede Vorstellung, mochte sie auf den Staat oder die Kirche, auf die Reform oder die Freiheit sich beziehen. Einen Wähler nach dem Pfarrschoß mit solch' unbedeutenden Dingen zu fangen – eben so gut hätte es Randal versuchen können, ein Nashorn mit der Erbsenladung einer Knallbüchse niederzuschießen! Der junge Mann, der so fest am dem Satze hielt: »Wissen ist Macht«, fühlte eine tiefe Entrüstung. Hier ward er von der Unwissenheit überwunden. Traf er jedoch auf einen Mann von nur einigen Kenntnissen, so konnte er sicher sein, ihm eine Stimme abzulisten.

Gleichwohl ward Randal Leslie nicht müde, mit der anerkennenswerthesten Ausdauer von Haus zu Haus zu wandern und fort und fort zu reden. Das blaue Comite gab ihm das Zeugniß eines vortrefflichen Werbers und faßte eine mit Mitleid vermischte Zuneigung für ihn, denn, obgleich es Egerton's Erwählung für gesichert hielt, betrachtete es die seinige als außer aller Frage stehend. Er war nur hier, um zu verhindern, daß zersplitterte Stimmen der Gegenpartei zufielen – um im Dienste seines Gönners, des Exministers, Pfoten zu schütteln und Gerüche einzuathmen, welche selbst zu schütteln und selbst einzuathmen der Exminister ein viel zu großer Mann war.

In Wirklichkeit aber wußte keines der Mitglieder des blauen Comites, wie die Wahlaussichten standen. Harley ließ sich an jedem Wahltag die Ergebnisse genau berichten und hielt das Wahlbuch vor allen Augen verborgen, mit Ausnahme seiner eigenen und vielleicht Baron Levy's, als Audley Egerton's vertrauten, wenn auch nicht gerade berufsmäßigen Rathgeber; – Baron Levy, der Millionär, hatte sich schon lange von allen eigentlichen Geschäften zurückgezogen. Randal jedoch, der schlaue, verschlossene und aufmerksame Randal bemerkte bald, daß er viel stärker war, als das blaue Comite glaubte. Und zu seinem grenzenlosen Erstaunen verdankte er diese Stärke Lord L'Estrange's Bemühungen zu seinen Gunsten. Denn obgleich Harley nach dem ersten Tag, an welchem er sich mit Ostentation Offensichtlichkeit. in der Hauptstraße zeigte, nicht öffentlich mit Randal die Werbung betrieb, so pflegte er doch, wenn er die Berichte entgegen genommen und die Namen derjenigen Wähler gesehen hatte, welche eine Stimme Audley gaben, die andere aber Randal verweigerten, zu dem jungen Gentleman, so todtmüde er auch war, zu sagen:

»Nach Tische, ehe Sie Ihre Runde in den Wirtshäusern machen, schlüpfen Sie mit mir hinaus: wir müssen diesen Abend einige Stimmen für Sie gewinnen.«

Und in der That verfehlten einige freundliche Worte des Erben der Herrengüter von Lansmere selten ihre Wirkung auf die Wähler, denen Randal, selbst wenn er ihnen bewiesen hätte, wie das Wohl Englands davon abhänge, daß sie ihm ihre Stimme gäben, nicht weiter entlockt haben würde, als ein –

»Man wird sehen, wie wir stimmen, wann der Tag kommt!«

Auch war dies nicht alles, was Harley für den jüngern Candidaten that. Wenn sein Zweifel übrig blieb, daß nur eine Stimme für die Blauen gewonnen werden konnte, und die andern den Gelben versprochen war, so sagte er: »Dann stimmt für Mr. Leslie;« – – ein Ersuchen, dem um so bereitwilliger entsprochen wurde, als die Stimmen der Blauen Audley Egerton vollständig gesichert schienen, und höchstens hinsichtlich der Gelben Besorgnisse obwalten konnten.

So gewann Randal, der sich sein eigenes kleines Wahlbuch hielt, mehr und mehr die Ueberzeugung, daß er, selbst ohne die heimliche Hilfe, welche er von Avenel erwartete, bessere Aussichten habe, als Egerton, und er vermochte sich Harley's anfallende Bemühungen zu seinen Gunsten nur durch die Annahme zu erklären, daß der junge Lord, unerfahren in Wahlangelegenheiten und getäuscht von dem blauen Comite, Egerton's Erwählung für zweifellos hielt und um der Ehre des Familieneinflusses willen beide Sitze den Candidaten der blauen Partei zu sichern versuchte.

Die öffentlichen Sorgen raubten Randal auf solche Weise jede Gelegenheit, seiner Bewerbung um Violante Nachdruck zu geben, und wenn er je einen freien Augenblick fand, sich an die Seite der widerstrebenden jungen Dame zu schleichen, so hatte ganz gewiß Harley in eben diesem Augenblick eine dringliche Weisung für ihn, einen wankelmüthigen Wähler aufzusuchen oder in irgend einem Wirthshaus eine Rede zu halten.

Leslie war viel zu schlau, um nicht in diesen dienstbeflissenen Aufträgen einen seiner Bewerbung feindlichen Grund zu entdecken, wie sehr sich derselbe auch unter der Maske des Eifers für Randal's Erwählung verbarg. Allein Lord L'Estrange's Benehmen gegen Violante glich so wenig demjenigen eines eifersüchtigen Liebhabers, und er war von ihrem Verhältniß zu Randal so wohl unterrichtet, daß dieser dem früher gefaßten Argwohn, Harley könnte sein Nebenbuhler sein, entsagte. Dagegen fand er sich bald zu dem Glauben veranlaßt, daß Lord L'Estrange aus einem anderen, uneigennützigeren und für Randal weniger erschreckenden Grund ihm die Gelegenheiten abschneide, der Erbin von seiner Liebe zu sprechen.

»Mr. Leslie,« sagte Lord L'Estrange eines Tages, »der Herzog hat mir mit Bedauern das Widerstreben seiner Tochter anvertraut, dem Ihnen von dem Vater gewordenen Versprechen Kraft zu geben, und da er das warme Interesse kennt, welches ich an ihrem Wohlergehen nehme – um seinetwillen, wie um ihrer selbst willen – und überdies glaubt, ich habe mir durch einige der jungen Dame und dem von ihr so zärtlich geliebten Vater geleistete Dienste einen gewissen Einfluß über ihr unerfahrenes Urtheil erworben, so hat er mich sogar gebeten, ein gutes Wort für Sie bei ihr einzulegen.«

»Ah, wenn Sie dies thun wollten,« versetzte Randal erstaunt.

»Sie müssen mich erst in den Stand dazu setzen. Sie waren so gütig, mir schon früher dieselbe Aufklärung geben zu wollen, durch welche Sie den Herzog in so hohem Grade befriedigten, daß er Ihnen die Zusage von seiner Tochter Hand erneuerte oder bestätigte. Sollten mich jene Aufklärungen ebenso befriedigen, wie ihn, so ist der Herzog nach meiner Ansicht verpflichtet, sein Versprechen zu erfüllen, und ich bin überzeugt, daß sich seine Tochter in diesem Falle Ihrer Bewerbung nicht länger entziehen wird. Bis ich jedoch Ihre Angaben vernommen habe, verbietet mir meine Freundschaft für den Vater und mein Interesse für die Tochter, einer Sache Vorschub zu leisten, welche übrigens vorderhand durch eine Verzögerung nicht Noth leidet.«

»Ich möchte Sie bitten, meine Rechtfertigung sogleich anzuhören«

»Nein, Mr. Leslie, meine Gedanken sind jetzt einzig und allein mit der Wahl beschäftigt. Verlassen Sie sich aber darauf, daß Sie sogleich nach Beendigung derselben hinlängliche Gelegenheit haben werden, alle jene Zweifel zu zerstreuen, welche Ihre vertraute Freundschaft mit dem Grafen von Peschiera und Madame di Negra wach gerufen haben mag. Da ich eben von der Wahl gesprochen – hier ist eine Liste von Wählern, welche Sie sogleich in Fish Lane aufsuchen müssen. Verlieren Sie nicht einen Augenblick.«

Inzwischen hatten Richard Avenel und Leonard in dem für die Candidaten der Gelben bestimmten Gasthaus Wohnung genommen, und die Werbung wurde hier mit dem vollen Nachdruck betrieben, welcher von Operationen zu erwarten stand, die von Richard Avenel geleitet und durch die Ansicht der Menge unterstützt wurden.

Die beiden Parteien begegneten sich von Zeit zu Zeit auf den Straßen und Gassen in vollem kriegerischen Pomp – mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel (denn Musikbanden und Festbanner waren in jenen guten alten Tagen wesentliche Beweise patriotischer Gesinnung und unerläßliche Posten auf der Rechnung des Wahlcandidaten). Bei diesen Gelegenheiten wurden sehr steife Verbeugungen zwischen den beiderseitigen Führern gewechselt. Randal jedoch, welcher es immer so einzurichten wußte, daß er dicht an Avenel vorüber kam, hatte jedesmal die Befriedigung, einen ihm wohlbekannten schlauen Zug in dem Gesicht dieses Gentlemans und ein Blinzeln der Augen zu bemerken, als wollte er sagen: »Alles in Richtigkeit, trotz dieser verteufelten Schwindelei.«

Nun aber, da beide Parteien offen in's Feld gerückt waren, gesellte sich zu den geheimen Künsten des Werdens die öffentliche Kunst des Redens. Aus hölzernen Kästen herab, welche an den Fenstern ihrer betreffenden Gasthäuser aufgehängt wurden, und die große Aehnlichkeit mit Käfigen wilder Thiere hatten, mußten die Candidaten sprechen, nachdem die Wahlumtriebe des Tages geschlossen waren. Ferner mußten sie bei Comitezusammenkünften und bei Wählerversammlungen Reden halten – mußten in den verschiedenen Wirthshäusern die nächtliche Runde machen und durch Tabakswolken und Bierdampf hindurch an den Verstand eines erleuchteten Volkes appelliren.

In Folge seiner vorgeschützten Unpäßlichkeit war Audley Egerton sowohl die Aufregung des Sprechens, als auch die Anstrengung des persönlichen Werbens erspart geblieben. Der erfahrene Debattenmann hatte die Schaustellung seines Talentes auf eine kurze, aber klare und meisterhafte Darlegung seiner eigenen Ansichten über die Hauptfragen des Tages und den Stand der Parteien beschränkt, und dieser Vortrag, den er am Tage nach seiner Ankunft in Lansmere vor einer Versammlung seines Generalcomite's in dem Saale des blauen Hotels gehalten, war sofort gedruckt und den Wählern mitgetheilt worden.

Randal wußte sich zwar mit mehr Sicherheit und Geläufigkeit auszudrücken, als dies gewöhnlich bei den ersten Versuchen öffentlicher Redner der Fall ist, machte aber dennoch mit seinen Ansprachen an eine ungelehrte Volksmenge nur geringen Eindruck; denn derartige Volkshaufen sind ganz Herz, und wir wissen, daß Randal Leslie's Herz so klein war, wie nur irgend eines nein konnte. Wenn er es versuchte, von seinem eigenen intellectuellen Standpunkt aus zu sprechen, so war er so künstlich fein und hoch, daß Niemand ihn verstand, und verfiel er in den unglücklichen Irrthum – der unerfahrenen Rednern nicht selten begegnet – sich auf die intellektuelle Stufe seiner Zuhörerschaft stellen zu wollen, so lachte man über die ausgesuchte Einfältigkeit.

Für eine Volksmenge kann kein Mensch zu gut sprechen – wie für die Bühne kein Mensch zu gut schreiben kann; in beiden Fällen aber sollte man alle rhetorischen Schnörkel vermeiden und sich hüten, die dürren Knochen des Raisonnements in lange Perioden zu schachteln. Ein Volksredner muß sich an die Gefühle oder an den Humor seiner Zuhörer wenden; eine edle Gesinnung muß aus seinem Auge leuchten, eine lebhafte Phantasie oder ein witziger Geist muß das Spiel seiner Lippen beleben.

Randal's Stimme, obwohl geschmeidig und überzeugend in der Privatunterhaltung, war dünn und dürftig, wenn sie sich anstrengte, das Ohr einer zahlreichen Versammlung zu erreichen. Die Falschheit seiner Natur schien hervor zu treten, wenn er die Töne steigerte, die aus Täuschung eingeübt waren. Männer, wie Randal Leslie, mögen scharf in der Debatte und bewunderungswürdig in der Verteidigung gewisser Thesen sein – niemals aber können sie große Redner, so wenig wie Dichter, werden. Eine gebildete Zuhörerschaft ist für sie ein notwendiges Erforderniß, und je kleiner der Kreis (das heißt, je mehr der Verstand die Regungen des Herzens unterdrückt), desto besser können sie sprechen.

Dick Avenel war meist sehr kurz und sehr derb in seinen Ansprachen. Er hatte zwei oder drei Lieblingsthema's, welche immer zündeten. Er war ein Bürger des Bezirks – er hatte sich seinen Weg im Leben selbst gebahnt – er wollte seinen Geburtsort von den Anmaßungen der Aristokratie befreien – er hatte nicht seine Privatinteressen, sondern das Gemeinwohl im Auge – &c. &c. Gegen Randal sagte er wenig – »Schade, daß ein so gescheidter junger Mann seine Zukunft im Aktenstaub suche und an zwei Ellen abgenutzten rothen Zwirn binde. Er würde besser thun, nach dem starken Seil zu greifen, welches das Volk aus Mitleid mit seiner Jugend ihm noch zuwerfen dürfte, um ihn vom Versinken zu retten,« und dergleichen mehr. In Bezug auf Audley Egerton jedoch – »diesen Gentleman, der sich nicht zeigen mochte, der sich fürchtete, vor den Wählern aufzustehen, der nur in einer Winkelversammlung seine Stimme finden konnte, gewöhnt, wie er es sein ganzes feiles Leben lang gewesen, an ein lichtscheues, schändliches Treiben« – da gingen ihm seine Philippiken mit der Beredsamkeit eines Demosthenes von den Lippen.

Leonard dagegen erlaubte sich niemals, Harley's Freund, Mr. Egerton, anzugreifen; aber schonungslos zog er gegen den jungen Mann zu Felde, der seinen Ruhm von John Burley gestohlen hatte, und den, wie er wußte, Lord L'Estrange eben so herzlich verachtete, wie er selbst. Und Randal, obwohl Wuth und Entrüstung in ihm kochten, wagte es nicht, diese Angriffe zu erwidern, aus Furcht, Leonard's Onkel zu beleidigen. Leonard war ohne Frage der volksthümlichste Sprecher unter den drei Bewerbern. Obwohl sein Temperament nicht dasjenige eines Redners, sondern das eines Schriftstellers war – obwohl er die theatralische Zurschaustellung des eigenen Ich's verabscheute, die den sogenannten »Vortrag« oft wirksamer macht, als die besten Gedanken– obwohl er endlich zu keiner Zeit besonderes Interesse für Parteipolitik empfunden, und sein Herz eben jetzt, einsam und traurig, wenig Sinn hatte für die Blauen und Gelben von Lansmere – so kam dennoch, wenn er sich einmal zu dieser Art von Thätigkeit gezwungen sah, die in seiner Unterhaltung so natürlich hervortretende Beredsamkeit zu voller Geltung. Er hatte warmes Blut in seinen Adern, und seine Abneigung gegen Randal schärfte seinen Witz und verlieh seiner leidenschaftlichen Beweisführung einen herben Stachel.

In der That konnte Leonard für die Aufforderung Lord L'Estrange's, an dem Wahlkampfe Theil zu nehmen, nirgends eine Erklärung finden, als in dessen Wunsche, Denjenigen aus dem Feld zu schlagen, den sie Beide als einen Betrüger ansahen. Und diese Annahme wurde durch einige unachtsame Aeußerungen bestätigt, welche Avenel entfielen und Leonard vermuthen ließen, daß, wenn er selbst nicht aufgetreten wäre, sein Onkel all' seinen Einfluß aufgeboten haben würde, um die Wahl auf Randal, statt auf Egerton zu leiten. Dick's Widerwillen gegen diesen Staatsmann durch Vernunftgründe zu besiegen, fand Leonard unmöglich; ebensowenig aber waren auf der andern Seite alle Schelt- und Schmeichelworte seines Onkels ihn zu bewegen im Stande, seine Angriffe statt auf Randal, auf den Mann zu richten, den Harley, wie er selbst oft gesagt, gleich einem Bruder liebte.

Inzwischen hielt Dick das Wahlbuch der Gelben so fest in seiner Hand, als Harley dasjenige der Blauen, und gab sich trotz vielfachen Schmollens und verschiedener Ausbrüche seines Mißvergnügens genau dieselbe Mühe für Leonard, wie Harley sie für Randal aufbot.

Es blieb indeß noch immer eine geschlossene Körperschaft von ungefähr hundert und fünfzig Wählern, nicht Freisassen, auf welche die Bemühungen beider Parteien scheinbar nicht den geringsten Einfluß ausgeübt hatten. Würden sie für die Gelben – würden sie für die Blauen stimmen? Niemand konnte es wissen; jedenfalls aber erklärten sie, daß sie einstimmig wählen würden. Dick ließ seine geheimen » Caucuses«, wie er sie nannte, stets an dieser Phalanx anbeißen. Hundert und fünfzig Stimmberechtigte! – sie hatten die Wahl in ihren Händen! Und wie diese Hände so herzlich geschüttelt – so zärtlich gedrückt – so liebkosend fest gehalten wurden! Allein die Stimmen klebten noch immer so fest an ihnen, als wären sie ein Theil der Haut oder des Schmutzes daran, was ziemlich auf das Gleiche herauskömmt.


Zwanzigstes Kapitel.

Wenn Audley des Abends zu den übrigen Gästen sich begab – während Harley vielleicht mit Levy und den Comitemitgliedern eingeschlossen war, und Randal die Runde in den Wirthshäusern machte – so war es hauptsächlich Violante, mit welcher er sich unterhielt. Trotz seiner trüben Stimmung war ihm weniger vielleicht ihre außerordentliche Schönheit, als vielmehr ein gewisser Ausdruck in ihren Zügen sogleich aufgefallen, welcher ihn bei aller Verschiedenheit der Linien und der Gesichtsfarbe an Nora erinnerte; und als er durch seine Lobsprüche auf Harley ihre Aufmerksamkeit fesselte und ihre Zuneigung gewann, entdeckte er vielleicht, daß die Aehnlichkeit, welche so großen Eindruck auf ihn gemacht, aus einer gewissen Uebereinstimmung der Charaktere der Lebenden und der Todten entsprang – hier wie dort dieselbe bezaubernde Vereinigung eines hohen Gedankenflugs mit kindlicher Unschuld – dieselbe Begeisterung – dieselbe reiche Fülle von Phantasie und Gefühl. Wenn zwei Seelen in dieser Weise sich gleichen, so spiegelt sich diese Aehnlichkeit auch in den Blicken, aus denen die Seele leuchtet.

Andererseits verkehrte Harley in seinen seltenen Mußestunden am ungezwungensten mit Helene Digby. Eines Tages, als Audley Egerton traurig an dem Fenster des ihm angewiesenen Wohnzimmers stand, sah er die Beiden, welche er noch immer für Verlobte hielt, zusammen durch den Park gehen.

»Gäbe der Himmel, daß sie ihn für alles entschädige!« murmelte Audley. »Aber ach, daß es doch Violante gewesen wäre! Dann hätte ich die Ueberzeugung gehabt, daß die Zukunft die Vergangenheit austilgen werde – und den Muth gefunden, ihm alles zu sagen. Als ich gestern Abend davon sprach, was Harley für England sein könnte, glaubte ich in dem Blick ihrer Augen und in dem Lächeln ihres Mundes Nora wieder zu erkennen, wenn diese mit Entzücken den Hoffnungen meines eigenen jungen Ehrgeizes lauschte.«

Mit einem Seufzer wandte er sich ab und setzte sich entschlossen nieder, um die zahlreichen Briefe zu lesen und zu beantworten, welche den Tisch des vielbeschäftigten Staatsmannes bedeckten. Denn da Audley's Wiedereintritt in das Parlament bei seiner politischen Partei als gesichert galt, so wurden ihm alle Hoffnungen und Befürchtungen jener großen und einflußreichen Fraction mitgetheilt, welche zu ihm als zu ihrem künftigen Oberhaupt emporblickte und bei dieser allgemeinen Wahl (die, wie keine frühere, bestimmt war, eine beispiellos große Zahl ausgezeichneter Männer aus dem Parlamente auszuschließen und durch neue Politiker zu ersetzen) ihre einzige Hoffnung auf Wiedererlangung der verlorenen Macht aus Audley's sanguinischem Vertrauen auf einen Umschlag der öffentlichen Meinung schöpfte, welche dieser bisher immer so richtig erkannt hatte, denn es war nur zu klar geworden, daß eine rechtzeitige Annahme seiner Ratschläge das Dasein und die Popularität des letzten Kabinets gerettet haben würde, dessen ausgezeichnetste Mitglieder sich jetzt kaum auf der Wahltribüne zeigen durften.

Inzwischen führte Lord L'Estrange seine junge Begleiterin nach einem grünen Hügel in der Mitte des Parks, auf welchem sich ein runder Tempel erhob, der eine weite Aussicht auf die umliegende Landschaft darbot. Schweigend verfolgten sie ihren Weg, bis sie die Spitze der sanften Anhöhe erreicht hatten. Hier blieben sie stehen, und Harley begann –

»Helene, Sie wissen, daß Leonard in der Stadt ist, obwohl ich ihn nicht im Park empfangen kann, da er meinen Gästen Egerton und Leslie feindlich gegenüber steht.«

Helene. – »Dies kömmt mir aber so seltsam vor. Wie konnte nur Leonard etwas thun, was einer Feindseligkeit gegen Sie gleich sieht?«

Harley. – »Würde ihn eine feindselige Absicht seinerseits gegen mich in Ihren Augen herabsetzen? Wenn er weiß, daß ich sein Nebenbuhler bin, muß er nicht Haß gegen mich empfinden?‹

Helene. – »O, Lord L'Estrange, wie können Sie so sprechen? – sich selbst so Unrecht thun? Haß – Haß gegen Sie! und von Leonard Fairfield!«

Harley. – »Sie weichen meiner Frage aus. Würde sein Haß oder seine Feindseligkeit gegen mich Ihre Gefühle für ihn ändern?«

Helene (die Augen niederschlagend). – »Ich vermöchte nicht, daran zu glauben.«

Harley. – »Weßhalb?«

Helene. – »Weil es seiner so unwürdig wäre.«

Harley. – »Armes Kind! Sie leben in der Selbsttäuschung Ihrer Jahre. Sie bedecken die Wolke mit den Farben des Regenbogens und wollen nicht glauben, daß ihre Herrlichkeit nur von der Sonne Ihrer eigenen Phantasie geborgt ist. Doch hier wenigstens haben Sie sich nicht getäuscht. Leonard gehorcht nur meinen Wünschen und, wie ich glaube, gegen seinen Willen. Er besitzt nichts von der edelsten Eigenschaft des Mannes – dem Ehrgeiz.«

Helene. – »Keinen Ehrgeiz!«

Harley. – »Eitelkeit ist es, was den Dichter zu angestrengter Arbeit antreibt – wenn das eigensinnige Jagen nach den Hirngespinnsten seiner Phantasie Arbeit genannt werden kann. Der Ehrgeiz ist eine männlichere Leidenschaft.«

Helene schüttelte den Kopf, erwiederte jedoch nichts.

Harley. – »Wenn ich ein Wort laut werden lasse, das Ihrem verblendeten Herzen als eine Entheiligung scheint, so schütteln Sie den Kopf und glauben mir nicht. Doch hören Sie jetzt einen Augenblick auf meinen Rath – es ist vielleicht der letzte, den ich Ihnen je aufdrängen werde. Erheben Sie Ihre Augen, und schauen Sie um sich. So weit Ihre Blicke reichen, und weit über die Linie des Horizonts hinaus erstrecken sich die Ländereien meines Erbes. Dort sehen Sie die Heimath, in welcher durch viele Geschlechter hindurch meine Vorfahren mit Ehren lebten und betrauert starben. Dies alles wäre im Lauf der Natur eines Tages Ihr Eigenthum geworden, wenn Sie meinen Antrag nicht zurückgewiesen hätten. Ich bot Ihnen allerdings nicht, was man gemeiniglich Liebe nennt, dafür aber eine aufrichtige Achtung und eine zwar ruhige, eben darum aber um so bleibendere Zuneigung. Die Welt erzog Sie nicht zu dem niedrigen Götzendienst des Ranges und Reichthums; aber auch ein romantischer Sinn kann die Macht, Andern zu dienen, nicht geringschätzen, und diese Macht wird durch Rang und Reichthum verliehen. In meinem Fall beraubten Gleichgültigkeit und zuletzt Verachtung den Reichthum dieser edleren Attribute; diejenige aber, welche mein Vermögen mit mir theilen wird, mag es besser anwenden und meine Unterlassungssünden gut machen. Auf der andern Seite angenommen, daß kein Hinderniß Sie abhält, Leonard Fairfield den Vorzug zu geben – was wird Ihnen durch diese Wahl geboten? Seine Verwandten, mit denen Sie verkehren würden, sind ungebildet und von niederem Stande. Die einzige Quelle seines Einkommens ist eine unsichere Belästigung, und die kläglichste aller Sorgen, die Sorge um das tägliche Brod, müßte sich bald in die Romantik mischen und die Liebe aller Poesie entkleiden. Sie denken, seine Neigung würde Ihnen Ersatz für jedes Opfer bieten. Thorheit! – die Liebe des Dichters gilt einem Dunst – einem Mondstrahl – einem Bewohner der Lüfte – einem Phantom, das er sein Ideal nennt. Für einen Augenblick wähnt er, dieses Ideal in Chloe oder Phyllis, in Helene oder einem Milchmädchen gefunden zu haben. Pah! wenn Sie das erste Mal mit der Bäckerrechnung vor den Dichter treten, wohin flieht das Ideal? Ich kannte ein Wesen – herrlicher und reicher von der Natur begabt, als Leonard – es war ein Weib. Sie sah einen Mann, hart und kalt, wie jener Stein zu Ihren Füßen, ein falscher, hohler, schmutziger Weltmensch; sie machte ihn zu ihrem Abgott und erblickte in ihm alles, was die Geschichte nicht an einem Cäsar anerkennen, die Mythologie kaum einem Apollo zugestehen würde. Für ihn war sie das Spielzeug einer Stunde – sie starb, und ehe das Jahr zu Ende war, hatte er eine reiche Erbin geheirathet. Ich kannte ein anderes Beispiel – ich spreche von mir selbst. Ich liebte, ehe ich so alt war, wie Sie. Hätte mich damals ein Engel gewarnt, so wäre ich eben so ungläubig gewesen, als Sie es jetzt sind. Gleichviel, was das Ende war. Ohne diesen Traum eines trunkenen Irrsinns jedoch würde ich wie Andere meines Geschlechts und meiner Sphäre gelebt und gehandelt – würde nach Vernunft geheirathet haben – und wäre jetzt ein nützlicher, glücklicher Mann. So besinnen Sie sich denn. Wollen Sie mich noch immer verwerfen um Leonard Fairfield's Willen? Zum letzten Male bleibt Ihnen die Wahl zwischen mir und all' dem Wesenhaften des wachen Lebens und Leonard Fairfield und dem Schatten eines flüchtigen Traumes. Sprechen Sie! Sie zögern. Wohl, nehmen Sie sich Zeit zur Entscheidung.«

Helene. – »Ah, Lord L'Estrange, wenn Sie wissen, was Liebe ist, wie können Sie glauben, daß ich so niedrig und undankbar zu sein vermöchte, von Ihnen zu nehmen, was Sie das Wesenhafte des wachen Lebens nennen, während mein Herz weit weg wäre – treu einem Traume, wie Sie sich ausdrücken?«

Harley. – »Aber können Sie den Traum nicht zerstreuen?«

Helene (mit hochgerötheten Wangen). – »Es war Unrecht, es einen Traum zu nennen. Es ist die Wirklichkeit des Lebens für mich. Alle andern Dinge sind mir wie Träume.«‹

Harley (ihre Hand ergreifend und achtungsvoll küssend). – »Helene, Sie haben ein edles Herz, und ich habe Sie vergebens versucht. Ich bedaure Ihre Wahl, obwohl ich ihr nicht mehr entgegentreten will. Ich bedaure sie, obwohl ich niemals Zeuge Ihrer Enttäuschung sein werde. Als die Gattin jenes Mannes werde ich Sie nie mehr sehen – nicht mehr kennen.«

Helene. – »O nein! – sagen Sie das nicht. Warum? – weßhalb?«

Harley (die Stirne runzelnd). – »Er ist das Kind des Betrugs und der Schande. Sein Vater ist mein Feind, und mein Haß erstreckt sich auf den Sohn. Auch er, der Sohn, stiehlt mir – doch Klagen sind eitel. Wenn die nächsten paar Tage vorüber sind, gedenken Sie meiner als eines Mannes, der sich aller Rechte über Ihre Handlungen entäußert hat und Ihrem künftigen Geschick fremd ist. Pah! – trocknen Sie Ihre Thränen. So lange Sie Leonard lieben oder mich achten, mögen Sie sich freuen, daß unsere Pfade sich nicht kreuzen.«

Er ging ungeduldig weiter; allein Helene, geängstigt und erstaunt, folgte ihm rasch, legte schüchtern ihren Arm in den seinigen und suchte ihn zu beruhigen. Sie fühlte, daß er Leonard Unrecht that – daß er nicht wußte, wie dieser alle Hoffnung ausgegeben, nachdem er erfahren, wessen Verlobte sie war. Um Leonard's willen überwand sie ihre Schüchternheit und versuchte, die Sache aufzuklären. Bei ihren ersten zögernden Worten jedoch verließ Hurley, der nur mit Mühe die leidenschaftliche Aufregung seines Inneren niederzukämpfen vermochte, plötzlich ihre Seite und verschwand in dem Dunkel der dichten, weithin sich ausdehnenden Waldgruppen.

Während diese Unterredung zwischen Lord L'Estrange und seiner Mündel stattfand, wandelten der soi-disant Riccabocca und Violante langsam durch den Park. Der Philosoph war, so weit der äußere Mensch in Frage kam, durch seine glänzenden Aussichten nicht verändert – er trug noch immer den rothen Regenschirm und die gewohnte Pfeife. Mechanisch schlug er den Weg nach dem sonnigsten Theile des Gartens ein, hin und wieder zärtlich auf das zu Boden gestufte, traurige Antlitz seiner Tochter blickend; er sprach nichts, allein nach jedem solchen Blicke stieg, gleichsam im Einklang mit dem volleren Schlage seines Herzens, eine stärkere Wolke aus seiner Pfeife auf.

An einer Stelle angelangt, die gegen Süden frei lag und, vor dem scharfen Ostwind durch dichte Immergrün und gegen Norden durch hohe Mauern geschützt, die mildesten Strahlen der Novembersonne zu sammeln schien, hielt Riccabocca inne und setzte sich. Auf dem Rasen blühten noch immer Blumen, und darüber flatterten die Schwingen jener späteren und glänzenderen Schmetterlinge, die, unsichtbar in den heitern Tagen des englischen Sommers, erst mit dem herbstlichen Himmel zum Vorschein kommen und die frostigen Fußstapfen des nahenden Winters umspielen – Sinnbilder jener Gedanken, welche das beschauliche Alter heimsuchen und erfreuen, während der Strom noch frei und ungehemmt von der Fessel des Eises dahin gleitet und die Blätter noch an den Zweigen zittern; Gedanken, welche die Erinnerungen des dahingeschwundenen Sommers mit Ahnungen anderer Sonnen, die dem Winter folgen werden, verbinden, und eben dann die lichtesten, glänzendsten Farben ausströmen, wenn der Himmel, durch welchen sie glühen, dunkler wird, und die Blumen, über denen sie schweben, an der Oberfläche der Erde erbleichen – noch immer Samen ausstreuend, der sich tief unter dem Boden dem Auge entzieht.

»Tochter,« sagte Riccabocca, Violante zärtlich an seine Seite ziehend – »Tochter! Siehe, wie diejenigen, welche gegen Mittag sich wenden, immer die sonnige Seite der Landschaft finden können. Wie viel hängt Wärme oder Kälte in allen Jahreszeiten des Lebens von dem Standpunkte ab, den wir wählen! Setze dich, und laß uns vernünftig reden.«

Violante gehorchte, ihres Vaters Hand in den beiden ihrigen haltend. Vernunft! – ein hartes Wort für das Ohr des Gefühls.

»Du entziehst dich,« nahm Riccabocca wieder auf, »jeder Höflichkeitsbezeugung, ja sogar der Gegenwart des Bewerbers, den als deinen Verlobten zu betrachten, meine Ehre mich verpachtet.«

Violante zog ihre Hände zurück und preßte sie schaudernd auf ihre Augen.

»Aber,« fuhr Riccabocca beinahe ärgerlich fort, »dies ist nicht der Vernunft Gehör gegeben. Ich könnte Einwendungen gegen Mr. Leslie erheben, weil weder sein Rang, noch sein Vermögen ihn zu einem angemessenen Bewerber um die Hand einer Tochter meines Hauses machen; mir als Vater würde Niemand eine solche Einwendung verübeln, sondern sie im Gegentheil ganz vernünftig finden – diejenigen allerdings ausgenommen,« setzte der arme Philosoph mit einem gewaltsamen Versuch, heiter zu scheinen, hinzu, indem er ein Sprüchwort zu Hülfe nahm – »Diejenigen ausgenommen, welche weise genug sind, des warnenden Sprüchleins zu gedenken: › Casa il figlio quando vuoi, e la figlia quanda puoi‹ – (Verheirathe den Sohn, wann du willst, und die Tochter, wann du kannst). Allen Ernstes – wenn ich jene Gründe übersehe, welche gegen Mr. Leslie sprechen, so ist es für ein junges Mädchen nicht natürlich, so großes Gewicht auf dieselben zu legen. Was bei dir Vernunft ist, ist etwas ganz Anderes, als was bei mir Vernunft ist, Mr. Leslie ist jung, nicht häßlich, benimmt sich wie ein Gentleman, liebt dich leidenschaftlich und hat dies dadurch bewiesen, daß er sein Leben gegen diesen Schurken Peschiera auf das Spiel setzte – das heißt, er würde es gethan haben, wäre Peschiera nicht aus dem Wege geschafft worden. Wenn du daher der Vernunft Gehör schenken willst, so bitte ich dich, mir zu sagen, was die Vernunft gegen Mr. Leslie vorbringen kann?«

»Vater, ich verabscheue ihn.«

» Cospetto!« beharrte Riccabocca ärgerlich, »du hast keinen Grund ihn zu verabscheuen. Hättest du einen solchen, Kind, so wäre ich sicherlich der Letzte, ihn zu bestreiten. Wie kannst du dir überhaupt klar über deine Wünsche in einer solchen Sache sein? Es wäre etwas Anderes, wenn du sonst Jemand gesehen hättest, den du vorziehen könntest. Allein du bist ja nicht einmal mit irgend einem andern jungen Mann bekannt – Leonard Fairfield etwa ausgenommen, der, wie ich zugeben will, hübscher ist, als Mr. Leslie, und mehr Geist und Phantasie besitzt, doch wirst du nicht vergessen, daß er als Knabe in meinem Garten arbeitete. Ah! Frank Hazeldean allerdings – ein hübscher Junge – allein seine Neigung ist schon anderswo vergeben. Kurz,« fuhr der Philosoph in trockenem Tone fort, »ich weiß Niemand, den du aus irgend welcher Laune Mr. Leslie vorziehen könntest; und wenn ein Mädchen, das keinen Andern in ihrem Kopfe hat, einen verständigen, gut gekleideten jungen Mann von angenehmem Aeußern zu verabscheuen behauptet, so ist dies – ein Unsinn. › Chi lascia il poco per haver l'assai nè l'uno, nè l'altro avera mai‹ – was sich etwa so umschreiben läßt: das Mädchen, welches einen Sterblichen zurückweist in der Hoffnung, einen Engel davonzutragen, wird den einen verlieren und den andern nie finden. So, nachdem ich dir nun gezeigt habe, daß die dunklere Seite der Frage der Vernunft widerspricht, so laß uns die hellere in's Auge fassen. Erstlich –«

»O Vater, Vater!« rief Violante leidenschaftlich, »du, bei dem ich einst Trost und Hülfe suchte in jedem kindischen Schmerz, sprich nicht mit so schneidender Leichtfertigkeit zu mir! Siehe, ich lege mein Haupt an deine Brust – ich umfasse dich mit meinen Armen – und nun, kannst du mich in mein Elend schicken?«

»Kind, Kind, sei nicht so eigensinnig. Suche wenigstens ein Vorurtheil zu bekämpfen, das du nicht verteidigen kannst. Meine Violante, mein Liebling, dies ist keine Kleinigkeit. Hier muß ich aufhören, der zärtliche, thörichte Vater zu sein, mit dem du anfangen kannst, was du willst. Hier bin ich Alphonso, Herzog von Serrano, um dessen verpfändetes Wort und um dessen Ehre als Edelmann es sich handelt. Als ein hülfloser Flüchtling – ohne jegliche Hoffnung auf eine günstigere Wendung meines Schicksals – zitterte ich gleich einem Feigling vor der Tücke meines gewissenlosen Verwandten, und jede Aussicht ergreifend, dich seinen Schlingen zu entreißen, war ich es selbst, der Randal Leslie deine Hand anbot, versprach und mit meinem Wort verpfändete. Und nun, da ich Rang und Vermögen aller Wahrscheinlichkeit nach wieder erlangen werde, mein Feind zu Boden liegt, und meine Befürchtungen zu Ende sind – geziemt es mir jetzt, zurückzunehmen, was ich vorher selbst so angelegentlich suchte und wünschte? Nicht der Edelmann, sondern der parvenu ist es, der nur reich zu werden braucht, um diejenigen zu vergessen, welche er in der Armuth seine Freunde nannte »Quando 'l villano è divenuto ricco / Non ha (i. e., riconosce) parent' nè amico.« – Italienisches Sprichwort. [ Anm.d.Verf.]. Soll ich zu der armseligen Entschuldigung greifen, die niemals aus dem Munde eines italienischen Fürsten gehört wurde, ›daß ich den Gehorsam meines Kindes nicht erzwingen können‹ – und der ärgerlichen Antwort mich aussetzen, ›Herzog von Serrano, einst hattest du Gewalt über diesen Gehorsam, als du, ein armer, in Angst und Schrecken lebender Flüchtling, mir eine Braut ohne Mitgift anbotest?‹ Kind – Violante – Tochter eines Geschlechtes, auf dessen Ehre die Verläumdung niemals einen Schatten warf, ich fordere dich auf, das verpfändete Wort deines Vaters einzulösen.«

»Vater, muß es so sein? Sind mir nicht einmal die Pforten des Klosters geöffnet? Nein, blicke nicht so kalt auf mich. Wenn du nur in meinem Herzen lesen könntest! Und ach, ich bin so fest überzeugt, daß dir die Reue nachher kommen wird – daß dieser Mann nicht das ist, wofür du ihn hältst. Ich kann den Verdacht nicht unterdrücken, daß er in dieser ganzen Sache eine geheimnißvolle, verräterische Rolle gespielt hat.«

»Ha!« unterbrach sie Riccabocca, »mit dieser Ansicht hat dich vielleicht Harley angesteckt?«

»Nein – nein. Aber ist nicht Harley – ist nicht Lord L'Estrange ein Mann, auf dessen Meinung zu achten, du alle Ursache hast? Und wenn er Mr. Leslie mißtraut –«

»Laß ihn Beweise auffinden, die sein Mißtrauen rechtfertigen und mich meines Wortes entbinden, so werde ich mich nicht weniger freuen, als du. Ich habe ihm dies gesagt und ihn aufgefordert, seinen Argwohn zu begründen – allein er weicht mir aus. Er kann nichts gegen ihn beweisen,« setzte Riccabocca in niedergeschlagenem Tone hinzu; »Randal hat bereits alles vollständig aufgeklärt, was Harley verdächtig erschien. Violante, mein Name und meine Ehre sind in deine Hände gegeben. Wirf sie weg, wenn du willst – ich kann dich nicht zwingen und kann mich nicht zum Flehen herablassen. Noblesse oblige – mit deiner Geburt nahmst du auch die Pflichten derselben auf dich. Lasse sie entscheiden zwischen deinem thörichten Eigensinn und deines Vaters feierlicher Ermahnung.«

Mit einer angenommenen Strenge, welche er weit entfernt war, zu fühlen, machte sich Riccabocca von den Armen seiner Tochter los und verließ seinen Platz.

Violante blieb einen Augenblick stehen, schauderte, blickte um sich, als wolle sie Freude, Friede und Hoffnung auf Erden ein letztes Lebewohl sagen, und trat dann festen Schrittes und mit den Worten auf ihren Vater zu –

»Ich habe dir den Gehorsam nicht verweigert, Vater, ich habe dich nur gebeten. Was du sagst, ist mir Gesetz, jetzt, wie es immer gewesen, und was auch kommen mag, niemals sollst du einen Laut der Klage oder des Murrens von mir hören. Armer Vater, du wirst schmerzlicher leiden, als ich. Küsse mich!«

Ungefähr eine Stunde später, als der kurze Tag bereits seinem Ende sich nahte, und Harley von seiner einsamen Wanderung zurückkehrte, begegnete er auf der Terrasse vor dem Hause Lady Lansmere und Audley Egerton, Arm in Arm.

Harley hatte seinen Hut tief in die Stirne gedrückt und hielt die Augen fest auf den Boden geheftet, so daß er die Beiden nicht sah, bis ihn Audley's Stimme aus seiner Träumerei aufschreckte.

»Mein theurer Harley,« sagte der Exminister mit einem matten Lächeln, »du mußt nicht an uns vorübergehen, nun dir die Sorgen der Wahl eine augenblickliche Muße gönnen. Sehe ich doch wenig genug von dir, obwohl wir unter demselben Dache wohnen!«

Lord L'Estrange warf seiner Mutter einen raschen Blick zu – einen Blick, der zu sagen schien: »Du stützest dich auf Audley's Arm – hast du dein Versprechen gehalten?« Allein das Auge, welches dem seinigen begegnete, beruhigte ihn.

»Es ist wahr,« versetzte Harley; »doch du, der du selbst am besten weißt, daß man kein Herz mehr für die Bande des Privatlebens hat, wenn man einmal in die öffentlichen Angelegenheiten verstrickt ist, du wirst mich gewiß entschuldigen. Und es liegt so sehr viel an dieser Wahl!«

»Und Sie, Mr. Egerton,« sagte Lady Lansmere, »der Sie am meisten bei der Wahl betheiligt sind, scheinen allein das Vorrecht zu besitzen, gleichgültig hinsichtlich des Erfolgs zu bleiben.«

»Doch – du bist nicht gleichgültig?« frug Lord L'Estrange rasch.

»Nein. Wie könnte ich, da meine ganze künftige Laufbahn davon abhängt?«

Harley zog Egerton bei Seite. »Zu einem Wähler solltest du doch gehen und ihm danken. Man kann ihm nicht begreiflich machen, daß er um irgend eines Verwandten, selbst um seines eigenen Sohnes willen, gegen die Blauen – gegen dich stimmen sollte; – ich meine natürlich Nora's Vater, John Avenel. Seine und seines Schwiegersohns Stimme gaben den Ausschlag zu deinen Gunsten bei der ersten Wahl.«

Egerton. – »Zu John Avenel gehen! Warst du bei ihm?«

Harley (ruhig). – »Ja. Der arme alte Mann – sein Geist ist nie wieder ganz klar geworden seit Nora's Tod. Aber dein Name, als derjenige des Wahlcandidaten aus jener Zeit – des siegreichen Candidaten, dessen Triumph die Freudenglocken verkündigten und dabei ihren Klang mit Nora's Trauergeläute vermischten – dein Name ruft ihm die Erinnerung an sie zurück, und er spricht in einem Athem von ihr und von dir. Komm, laß uns zusammen nach seinem Hause gehen: es liegt ganz nahe am Eingang des Parks.«

Die Tropfen standen auf Audley's Stirne. Er heftete seine schönen dunkeln Augen mit schmerzlichem Staunen auf Harley's ruhiges Antlitz.

»Harley, so hast du endlich die Vergangenheit vergessen!«

»Nein; aber die Gegenwart ist gebieterischer. Alle meine Anstrengungen und Bemühungen dürfen jetzt nur dahin gehen, deine Freundschaft zu vergelten. Du trittst gegen ihren Bruder auf – und ihr Vater stimmt dennoch für dich. Und ihre Mutter sagt zu dem Sohn ›Laß den alten Mann gewähren! Das Gewissen ist alles, was noch in ihm lebt, und er glaubt, er würde gegen die Ehre sündigen, wenn er gegen die Blauen stimmte.‹ ›Ein Wählervorurtheil‹, mag vielleicht ein Skeptiker sagen. Aber dich muß dieser Zug der menschlichen Natur rühren – zumal an ihrem Vater – dich, Audley Egerton, der du die Seele der Ehre bist. Was hast du?«

Egerton. – »Nichts – ein Herzkrampf – mein altes Uebel. Gut, ich will den armen Mann besuchen, aber später, nicht jetzt – nicht mit dir. Nein, nein, ich will nicht – ich kann nicht. Harley, als du eben zu uns tratest, sprach ich mit deiner Mutter.«

Harley. »Ja, und wovon?«

Egerton. »Von dir. Ich sah dich von meinem Fenster aus mit deiner Verlobten in den Park gehen. Später bemerkte ich, daß sie allein zurückkehrte, und so viel ich unterscheiden konnte, trugen ihre sanften Züge einen traurigen Ausdruck. Harley, täuschest du uns?«

Harley. – »Täuschen ich! Wie so?«

Egerton. – »Bist du wirklich überzeugt, daß deine beabsichtigte Verbindung dir das Glück gewähren wird, um das ich zum Himmel für dich flehe, so wie es das heiße Gebet deiner Mutter ist?«

Harley. – »Glück – ich hoffte es. Aber vielleicht –«

Egerton. – »Vielleicht was?«

Harley. – »Vielleicht findet die Heirath nicht statt. Vielleicht steht mir ein Nebenbuhler im Weg – nicht ein offener – ein geheimer, verstohlener Bewerber – und noch dazu ein Mensch, dem ich Liebe und Vertrauen schenkte, und dem ich Dienste leistete. Frage mich jetzt nicht weiter. Solche Beispiele von Verrath lehren uns eine redliche, aufopfernde und treue Freundschaft, wie die deinige, Audley Egerton, um so höher schätzen. Doch hier kömmt dein protégé, erlöst für eine Weile von den Mühen der Wahlbewerbung, und dein vertrauter Berather, Baron Levy. Er begleitete heute Randal durch die Stadt. So angelegentlich sorgt er dafür, daß der junge Mann kein falsches Spiel spiele und nicht sein eigenes Interesse dem deinigen voransetze. Würde dich dies überraschen?«

Egerton. – »Du bist zu streng gegen Randal Leslie. Er ist ehrgeizig und weltlich – seinem Herzen steht kein Ueberfluß von warmen Gefühlen zu Gebot –«

Harley. – »Ist es Randal Leslie, den du so schilderst?«

Egerton (mit einem matten Lächeln). – »Ja; du siehst, ich schmeichle nicht. Aber er ist als Gentleman geboren und erzogen und wird sich daher schwerlich einer Gemeinheit schuldig machen. Und im Grunde muß er mit mir steigen oder fallen – sein eigener Verstand wird ihm dies sagen. Aber ich bitte dich noch einmal, suche nicht, mich gegen ihn einzunehmen. Ich hätte einen Sohn lieben können – ich habe keinen. Randal, so wie er ist, füllt mir in gewisser Art die Stelle eines Sohnes aus. Er trägt meine Entwürfe und Interessen in dieser Menschenwelt noch über die Schranken des Grabes hinaus.«

Audley wandte sich freundlich zu Randal.

»Nun, Leslie, wie stehen die Angelegenheiten?«

»Levy hat das Wahlbuch, Sir. Ich denke, wir haben zehn neue Stimmen für Sie und etwa sieben für mich gewonnen.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen das Buch abzunehmen, Baron Levy,« sagte Harley.

In diesem Augenblick näherten sich Riccabocca und Violante schweigend dem Hause. Als der Italiener Randal bemerkte, gab er ihm ein Zeichen, sich zu ihnen zu gesellen. Der junge Liebhaber ließ einen furchtsamen Blick nach Harley hingleiten, sprang dann rasch vorwärts und befand sich bald an Violanten's Seite. Doch kaum hatte Harley, verwundert über Leslie's plötzliches Verschwinden, die Ursache wahrgenommen, als er eben so rasch die leise Unterredung, welche er mit Levy angefangen, abbrach, Randal nacheilte und, seine Hand auf des jungen Mannes Schulter legend, ausrief:

»Ich bitte Sie alle Drei tausendmal um Entschuldigung, allein ich kann diese Zeitverschwendung nicht zugeben, Mr. Leslie. Sie haben noch eine Stunde, bis es dunkel wird, und einige Meilen von hier befinden sich drei Wähler, einflußreiche Farmer, bei welchen Sie selbst in Person Ihre Werbung vorbringen müssen. Meines Vaters Verwalter soll Sie begleiten. Eilen Sie in den Stall, und wählen Sie sich selbst Ihre Pferde. In den Sattel – in den Sattel! Baron Levy, gehen Sie, und sagen Sie Mr. Smart, dem Verwalter, er werde Mr. Leslie im Stalle treffen; dann kommen Sie zu mir zurück – schnell! Wie, Sie zögern, Mr. Leslie? Sie bringen mich noch dahin, daß ich aus Unwillen über Ihre Trägheit und Gleichgültigkeit Ihre ganze Sache aufgebe.«

Erschreckt über diese Drohung erhob Randal anklagend seine Augen gen Himmel und zog sich zurück.

Inzwischen war Audley wieder zu Lady Lansmere getreten, welche in tiefen Gedanken auf dem Geländer der Terrasse lehnte.

»Haben Sie bemerkt,« sagte er leise, »wie Harley auf die schöne Italienerin zueilte, als er ihrer ansichtig wurde? Verlassen Sie sich darauf, daß ich Recht hatte. Ich kenne die junge Dame nur wenig, allein ich habe einige Male mit ihr gesprochen – und habe den Wechsel in dem Ausdruck ihrer Züge beobachtet. Wenn Harley jemals wieder lieben könnte, und wenn die Liebe einen erhebenden Einfluß auf seinen Geist auszuüben vermag, so wünschen Sie mit mir, daß seine Wahl dahin falle, wohin, wie ich glaube, sein Herz sich neigt.«

Lady Lansmere. – »Ah, daß es so wäre! Helene, ich gebe es zu, ist reizend; aber – aber – Violante steht ihm gleich durch ihre Geburt! Aber wissen Sie nicht, daß sie mit Ihrem jungen Freunde, Mr. Leslie, verlobt ist?«

Audley. – »Randal sagte mir davon; allein ich kann es nicht glauben. Um die Wahrheit zu gestehen – ich habe Gelegenheit gesucht, das Herz dieses schönen Wesens zu erforschen, und wenn ich mich irgend auf Frauen verstehe, so gehört ihre Liebe nicht Randal. Ich würde mich vollständig in ihr täuschen, wenn ihre Gefühle so schwach wären, daß sie sich leicht Zwang anlegen ließen; und eben so wenig kann ich annehmen, daß ihr Vater wünschen sollte, eine Heirath zu erzwingen, die fast als eine mésalliance erscheint. Randal muß sich selbst täuschen, und eine Aeußerung Harley's, die er so eben in unserer kurzen, aber peinlichen Unterredung fallen ließ, gibt mir die Vermuthung, daß sein Verhältniß zu Miß Digby gelöst ist. Er versprach, mir später Näheres darüber zu sagen. Ja,« fuhr Audley traurig fort, »beobachten Sie Violanten's Antlitz mit seinem stets wechselnden Spiele; hören Sie auf ihre Stimme, welche das Gefühl zur ausdrucksvollsten Musik zu machen scheint, und sagen Sie mir, ob Sie nicht bisweilen erinnert werden an – an – Mit Einem Wort, wir haben Diejenige gefunden, welche selbst ohne Rang und Vermögen würdig wäre, das Bild Leonora's zu ersetzen und für Harley zu werden – was Leonora nicht sein konnte; denn meine Ueberzeugung steht fest, daß Violante ihn liebt.«

Mittlerweile hatte Harley von gleichgültigen Dingen mit Riccabocca und Violante gesprochen und dabei von dem Ersteren nur kurze, von der Letzteren gar keine Antworten erhalten. Nun aber zog ihn der Weise bei Seite und flüsterte ihm zu –

»Sie hat eingewilligt, sich meiner Ehre zum Opfer zu bringen. Aber Harley, es würde mir das Herz brechen, wenn sie unglücklich werden sollte! Entweder müssen Sie mir Randal's Unwürdigkeit genügend beweisen, um mich dadurch meines Versprechens zu entbinden – oder aber muß ich Sie wiederholt und angelegentlich bitten, daß Sie versuchen, das arme Kind zu seinen Gunsten zu stimmen. Alles, was Sie sagen, hat Gewicht bei ihr; sie verehrt Sie, wie – wie einen zweiten Vater.«

Harley schien durch diese letztere Versicherung nicht besonders geschmeichelt, wurde jedoch einer unmittelbaren Antwort durch das Erscheinen eines Mannes enthoben, welcher aus der Richtung des Stalles herkam, und dessen bestaubter und beschmutzter Reiseanzug einen fremden Courier errathen ließ. Kaum war Harley dieses Mannes ansichtig geworden, als er ihm entgegen eilte und ihn mit kurzen, raschen Worten anredete.

»Ihr seid schnell gewesen; ich erwartete Euch nicht so bald. Habt Ihr die Spur entdeckt? Ist mein Brief übergeben?«

»Hier ist die Antwort, welche ich zurück gebracht, Mylord,« versetzte der Mann, indem er ein Schreiben aus der Ledertasche nahm, die an seiner Seite hing.

Harley riß das Siegel auf und ließ seine Augen über den Inhalt hingleiten, der nur aus wenigen Zeilen bestand.

»Gut. Sagt Niemand, woher Ihr kommt, und haltet Euch nicht hier auf, sondern geht sogleich nach London zurück.«

Als Harley wieder auf seine italienischen Gäste zutrat, leuchtete eine so ungewöhnliche Heiterkeit aus seinen Zügen, daß der Herzog ausrief –

»Eine Depesche von Wien! Meine Zurückberufung!«

»Von Wien, mein theurer Freund? Nicht möglich. Ich kann nicht darauf rechnen, früher von dem Fürsten zu hören, als einen oder zwei Tage vor dem Schluß der Wahl. Aber Sie wünschen, daß ich mit Violante spreche. Schließen Sie sich meiner Mutter dort an. Was kann sie Mr. Egerton mitzutheilen haben? Ich will einige Worte an ihre schöne Tochter richten, welche wenigstens die Theilnahme beweisen sollen, die an ihrem Schicksal – ihr zweiter Vater nimmt.«

»Gütigster aller Freunde!« entgegnete der arglose Schüler Macchiavel's und lenkte seine Schritte nach der Terrasse. Violante wollte ihm folgen; Harley hielt sie jedoch zurück.

»Gehen Sie nicht, bevor Sie mir gedankt haben; denn Sie sind nicht die hochherzige Violante, für welche ich Sie halte, wenn Sie nicht Jedem Anspruch auf Ihre Dankbarkeit zuerkennen, der Sie von der Gegenwart eines Verehrers, wie Mr. Randal Leslie, erlöst.‹

Violante. – »Geziemt es mir, auf solche Worte zu hören über einen Mann, den – den –«

Harley. – »Den Ihnen gegen Ihren Willen aufzudrängen Ihr Vater eigensinnig beharrt. Aber, mein theures Kind, Sie, die Sie als kleines Mädchen, ehe Sie noch wußten, welche Schlingen und Fallgruben für alle vertrauenden Seelen unter dem Rasen zu unseren Füßen verborgen liegen, gerade wenn er am herrlichsten mit den Blumen des Lenzes geschmückt ist – Sie, die Sie damals Ihre kleinen Arme um meinen Nacken schlangen und mit Ihrer melodischen Stimme in mein Ohr flüsterten: ›Rette uns – rette meinen Vater‹ – Sie wenigstens will ich nicht verlassen in einer Gefahr, die viel schlimmer ist, als diejenige, welche Sie damals bedrohte – eine Gefahr, die größere Schrecken für Sie hat, als Peschiera's Netze. Mag Randal Leslie die gemeineren Ziele seines Ehrgeizes erreichen – ich überlasse sie ihm mit Verachtung; – aber Sie! der anmaßende Schurke!«

Harley hielt einen Augenblick inne, halb erstickt vor Unwillen; dann fuhr er ruhig fort:

»Vertrauen Sie mir und fürchten Sie nichts. Ich will diese Hand vor der entweihenden Berührung Randal Leslie's bewahren – dann mag ich für immer jeder sanften Regung Lebewohl sagen. Vor mir bereitet sich die willkommene Einsamkeit aus. Die Unschuld gerettet, der Ehrenhaftigkeit zum Recht verholfen, Falschheit und Verrath von dem Arm einer gerechten Vergeltung erreicht – und dann – was dann? Nun, wenigstens werde ich dann Macchiavel mit mehr Erfolg studirt haben, als Ihr weiser Vater, und werde ihn bei Seite legen können, denn ich bedarf keiner Lehren der Philosophie mehr, um mich vor Täuschung zu bewahren.«

Seine Stirne verdüsterte sich, und er entfernte sich rasch, während Violante in Furcht und Staunen – mehr aber noch in ein unbestimmtes Gefühl des Entzückens versunken – zurückblieb.


Einundzwanzigstes Kapitel.

An demselben Abend hatte sich Randal nach den Anstrengungen des Tages in das Heiligthum seines Zimmers zurückgezogen und an den Tisch gesetzt, um die Hauptzüge der kritischen Rede zu entwerfen, welche er nun sehr bald zu halten haben würde – eine kritische Rede allerdings, wenn es ihm Angesichts von Feinden und Freunden, in Gegenwart der Londoner Berichterstatter und inmitten all' der widerstreitenden Interessen, welche er sämmtlich seinem Eigennutz dienstbar zu machen suchte, obliegen würde, eine förmliche Darlegung seiner politischen Ansichten zu geben.

Randal Leslie gehörte in der That nicht zu jenen Rednern, welche entweder Bescheidenheit, oder aber eine stolze Verachtung alles Unschönen und Mittelmäßigen, oder endlich das gewissenhafte Streben nach Wahrheit geneigt macht, sich der Mühe einer schriftlichen Abfassung zu unterziehen. Er besaß zu viel Gewandtheit, als daß er einen fließenden Periodenbau oder die geschickte Einmischung von Gemeinplätzen – das gewöhnliche Material eines oratorischen Stegreifvortrags – hätte vermissen lassen – zu wenig Sinn für das Schöne, um durch eine gewählte Wendung eine edle Empfindung in die anmuthigste Form zu kleiden – und endlich ein zu stumpfes Gewissen, um sich darum zu kümmern, ob der populäre Stoff von den Schlacken gereinigt sei oder nicht, welche dem sorglosen Redefluß in einem extemporirten Vortrag so oft unlieben.

Der gegenwärtige Anlaß jedoch war kein gewöhnlicher. Er forderte ein sorgfältiges Studium nicht sowohl von dem Redner, als vielmehr von dem Heuchler. Eine harte Aufgabe, den Blauen zu gefallen und nicht bei den Gelben anzustoßen, – scheinbar auf Audley Egerton's Seite zu stehen und doch Sympathie für Dick Avenel durchblicken zu lassen; – mit höflichem Lächeln dem jüngeren Opponenten entgegen zu treten, dessen Worte gleich Pfeilen seine Eitelkeit getroffen und einen um so bittereren Groll zurückgelassen hatten, weil sein Gewissen dadurch geweckt worden war.

Er hatte seine Feder in die Tinte getaucht und das vor ihm liegende Papier geglättet, als sich ein Klopfen an der Thüre hören ließ.

»Herein!« rief er ungeduldig.

Und Levy schlenderte nachlässig in das Zimmer.

»Ich komme, um den Stand der Dinge mit Ihnen zu besprechen, mon cher,« sagte der Baron, indem er sich auf das Sopha warf. »Und zuerst wünsche ich Ihnen Glück zu Ihren günstigen Aussichten auf Erfolg.«

Randal verschob die beabsichtigte Abfassung seines Aufsatzes mit einem kurzen Seufzer, rückte seinen Stuhl an das Sopha und erwiderte mit leiser, beinahe flüsternder Stimme:

»Sie glauben also auch, daß meine Aussichten günstig sind?«

»Günstig! Ei, es ist eine Whistpartie, in welcher Ihr Partner Ihnen den ganzen Gewinnst überläßt, und Ihr Gegner so gut wie gewiß sich verloren gibt. Allerdings muß entweder Avenel oder sein Neffe durchdringen; Beide aber nicht. Zwei parvenus, die einen gräflichen Wahlbezirk zu ihrem Familieneigenthum zu machen suchen! Pah! Zu abgeschmackt!«

»Ich höre von Riccabocca (oder vielmehr dem Herzog von Serrano), daß dieser junge Fairfield der Güte Lord L'Estrange's viel verdankt. Seltsam, daß er den gräflich Lansmere'schen Interessen entgegentritt.«

»Ehrgeiz, mon cher. Sie selbst sind Mr. Egerton mehr oder weniger verpflichtet, und doch hat er in Wirklichkeit mehr von Ihnen, als von Mr. Fairfield zu fürchten.«

»Ich erkenne seine Verpflichtungen meinerseits gegen Mr. Egerton an. Und wenn mich die Wähler ihm (den sie, beiläufig bemerkt, einst im Bilde verbrannt haben) vorziehen, so ist das nicht meine Schuld, vielmehr, falls irgend Jemand Schuld trägt, diejenige seines eigenen theuern Freundes L'Estrange. Ich begreife nicht, wie ein Mann von so klarem Verstande, wie L'Estrange unzweifelhaft besitzt, Egerton's Erwählung über seinem Eifer für die meinige auf das Spiel setzen kann. Auch täuscht er mich durch seine förmlichen Höflichkeiten nicht. Er hat sogar angedeutet, daß er mich der Beihülfe zu Peschiera's Absichten in Bezug auf Violante verdächtigt. Doch kann er diesen Verdacht durch nichts begründen. Denn es versteht sich von selbst, Levy, daß Sie mich nicht verrathen werden?«

»Ich! Welches Interesse könnte ich dabei haben?«

»Keines allerdings, das ich zu entdecken vermöchte,« sagte Randal mit einem Lächeln. »Und wenn ich in's Parlament komme, so werde ich, unterstützt von der gesellschaftlichen Stellung, welche mir durch meine Heirath zu Theil wird, mehr als Eine Gelegenheit haben, Ihnen zu dienen. Nein, es liegt sicherlich nicht in Ihrem Interesse, mich zu verrathen. Und ich zähle auf Sie als meinen Zeugen, wenn ich je eines solchen bedürfen sollte.«

»Gewiß, Sie dürfen auf mich zählen, mein lieber Freund,« erwiderte der Baron. »Aber ich denke, es wird kein Zeuge gegen Sie auftreten. Mit meinem armen, lieben Freund Peschiera, dessen Cigarren, beiläufig bemerkt, unvergleichlich waren – ich möchte wissen, ob welche zum Verkauf kommen! – ist es für immer vorbei. Und wenn er auch nicht unschädlich gemacht wäre, so dürfte es wohl eher L'Estrange sein, als wie Sie, auf den er es abgesehen hätte.«

»Peschiera kann aus der Karte der Zukunft gestrichen werden,‹ verletzte Randal. »Menschen, von denen wir nichts mehr zu hoffen oder zu fürchten haben, sind für uns, wie die Geschlechter vor der Sündfluth.«

»Sehr gute Bemerkung!« sagte der Baron bewundernd. »Peschiera, obwohl er nicht ohne Verstand ist, hat vollständig Fiasco gemacht. Und mein Grundsatz, an den ich mein Leben lang gehalten, ist, in einem solchen Fall den Mann ganz und gar aufzugeben.«

»Natürlich!« bemerkte Randal.

»Allerdings natürlich!« wiederholte der Baron. »Auf der andern Seite ist Ihnen bekannt, daß ich hoffnungsvollen, jungen Leuten gerne Vorschub leiste. Sie sind in der That erstaunlich gescheidt; wie kömmt es aber, daß Sie nicht besser sprechen? Wissen Sie, daß ich zweifle, ob Sie im Hause der Gemeinen alle meine Erwartungen, die ich an Ihre Gewandtheit und Besonnenheit im Privatleben knüpfte, erfüllen werden?«

»Weil ich dem Pöbel nicht gemeinen Plunder genug vorschwatzen kann? Pah! Der Erfolg ist mir sicher, wo immer das Wissen wirkliche Macht ist. Ueberdies müssen Sie meine höllische Lage bedenken. Sie wissen, daß Avenel, wenn er nicht sich und seinen Neffen durchsetzt, jedenfalls die Wahl des Candidaten unserer Partei in seiner Hand hat. Ich kann ihn nicht angreifen – eben so wenig seinen unverschämten Neffen –«

»Unverschämt? – Das nicht, wohl aber bitterlich beredt. Er setzt Ihnen tüchtig zu! Sie sind ihm nicht gewachsen, Randal – d. h. wenn es sich darum handelt, öffentlich und vor einem Publikum zu sprechen, denn en petit comité, da mochte kaum der Teufel selbst Ihnen gewachsen sein! Doch nun zu etwas Anderem, was Sie in ersterer Weise betrifft. Ihre Erwählung werden Sie durchsetzen, und Ihre Braut ist Ihnen versprochen – aber die alten Leslie-Ländereien, derzeit in Squire Thornhill's Besitz, sind noch nicht gewonnen, und Ihre Aussicht, sie zu bekommen, ist sehr gefährdet. Ich wollte es Ihnen heute Morgen nicht sagen, um Ihnen die Laune zu den Wahlumtrieben nicht zu verderben. Allein ich habe einen Brief von Thornhill selbst erhalten; man hat ihm ein Angebot auf das Besitztum gemacht, das nur tausend Pfund weniger beträgt, als er ursprünglich verlangt. Ein City-Aldermann, Namens Jobson, ist der Liebhaber – wie es scheint, ein Mann von vielen Mitteln und wenig Worten. Er hat den Tag bestimmt, an dem er eine endgültige Antwort haben will, und zwar ist dies der ***ste, also zwei Tage nach dem Lansmerer Wahlakt. Der Mann erklärt, er werde einen andern Kauf abschließen, wenn Thornhill bis dahin nicht auf seine Bedingungen eingegangen sei. Da nun dieser entschlossen ist, den Vorschlag anzunehmen, wenn ich ihm keinen bessern machen kann, und da jene Mittel, auf welche Sie rechneten (für den Fall, daß die Doppelheirath Peschiera's mit Violante und Frank Hazeldean's mit Madame di Negra zu Stande gekommen wäre), Ihnen entgangen sind, so weiß ich in der That nicht, wie Sie die erforderliche Summe in der gegebenen Zeit auftreiben könnten – und ich fürchte, die alten Ländereien der Leslie müssen ihren Ertrag einem Jobson überlassen.«

»Nichts auf der Welt liegt mir so am Herzen, wie dieses alte Besitzthum meiner Vorväter,« sagte Randal mit ungewöhnlicher Heftigkeit. »Die Lebenden verehre ich wenig – meine Verehrung gilt den Todten. Und meine Heirath wird so bald stattfinden – die Mitgift würde den armseligen Vorschuß, der nöthig ist, so reichlich decken!«

»Ja, aber die blose Aussicht auf eine Heirath mit der Tochter eines Mannes, dessen Güter noch mit Beschlag belegt sind, wäre keine Sicherheit für einen Geldverleiher.«

»Sie haben mir einst Ihre Hülfe angeboten, da meine Verhältnisse viel weniger günstig waren,« versetzte Randal.

»Und gewiß könnten Sie mir jetzt, als Freund, dieses Anlehen machen und die Titelurkunden des Besitzthums in Händen behalten als –«

»Als Gläubiger!« unterbrach ihn der Baron mit einem scherzhaften Lachen. »Nein, mon cher; die Hälfte der Summe bin ich noch immer bereit, Ihnen vorzuschießen, aber die andere Hälfte wäre mehr, als der Freund erschwingen oder der Geldverleiher wagen könnte. Es würde gegen alle Regel verstoßen und meinem Charakter Eintrag thun, wenn in Folge Ihrer Unfähigkeit, zu bezahlen, die Ländereien in meine Hände fielen, und ich somit als der wirkliche Käufer des Besitzthums meines bedrängten Clienten erscheine. Doch da fällt mir ein – versprach Ihnen nicht Squire Hazeldean seinen Beistand in dieser Sache?«

»Ja, er wollte mir allerdings behülflich sein,« erwiderte Randal, »so bald er sich die Heirath Frank's mit Madame di Negra aus dem Sinn geschlagen hätte. Ich wollte unmittelbar nach der Wahl nach Hazeldean hinüber. Wie kann ich vorher von hier fort?«

»Wenn Sie gehen, so ist ihre Wahl verloren. Aber warum nicht an den Squire schreiben?«

»Es ist gegen meinen Grundsatz, zu schreiben, wo ich sprechen kann. Allein es bleibt mir nichts Anderes übrig; ich will sogleich schreiben. Indessen verhandeln Sie mit Thornhill; halten Sie ihn mit Hoffnungen hin, und versichern Sie sich wenigstens, daß er nicht vor dem bestimmten Tage mit dem gierigen Aldermann abschließt.«

»Das habe ich alles bereits gethan, und mein Brief ist abgegangen. Nun thun Sie das Ihrige; und wenn Sie so gut schreiben, als Sie sprechen, so müßten Sie das Geld einem härteren Herzen, als Mr. Hazeldean's, abschmeicheln können. Ich verlasse Sie jetzt. Gute Nacht.«

Levy nahm seinen Leuchter, nickte, gähnte und entfernte sich.

Randal verschob abermals den Entwurf seiner Rede und setzte folgende Epistel auf –

»Mein theurer Mr. Hazeldean!

»Bevor ich London verließ, schrieb ich Ihnen einige hastige Zeilen, um Sie zu benachrichtigen, daß die Heirath, welche Sie so sehr fürchteten, abgebrochen sei, und ich meinen Bericht über die Einzelnheiten verschieben wolle, bis es mir möglich sein würde, Sie auf einige Stunden unter Ihrem freundlichen und gastfreien Dache zu besuchen, was ich während meines hiesigen Aufenthaltes ausführen zu können hoffte, da Lansmere keine Tagereise von Hazeldean entfernt ist.

Allein ich rechnete nicht darauf, hier in einen so scharfen Kampf zu gerathen. In keinem Wahlbezirk des ganzen Königreichs mag die Sache des großen Güterbesitzes einen größeren Triumph davontragen, oder eine vollständigere Niederlage erleiden. Denn hier im Lansmerer Bezirk, der so ganz vom Ackerbau abhängt, steht uns ein gemeiner, schmutziger Fabrikant gegenüber, der den revolutionärsten Ansichten huldigt und überdies die Frechheit hat, seinen eigenen Neffen – denselben Burschen, den ich einst auf Ihrer Dorfwiese für seine Unverschämtheit züchtigte, und der der Sohn eines gemeinen Zimmermanns ist – dieser Mensch hat die Frechheit, sage ich, diesen Bauern von einem Neffen sowohl, als sich selbst den Wählern aufzudrängen gegen das Interesse des Grafen und gegen Ihren ausgezeichneten Bruder – von mir selbst will ich gar nicht sprechen. Sie sollten die Sprache hören, in welcher sich diese beiden Männer über Ihre ganze Familie ergehen! Wenn wir in einem Bezirk, der für so gutgesinnt gehalten wird, wie Lansmere, von solchen Leuten geschlagen werden, so mag Jeder, der nur das geringste Fleckchen Land besitzt, bei solchem Vorzeichen des Verberbens zittern, das nicht nur unsere alte englische Konstitution, sondern den Bestand des Eigenthums selbst bedroht.

Ich brauche nicht zu bemerken, daß ich unter solchen Umständen nicht von hier fort kann. Mr. Egerton ist überdies unwohl, und so liegen die ermüdenden Wahlgeschäfte einzig und allein auf mir. Ich fühle mich jedoch als einen ächten Hazeldean, der für Ihre Sache kämpft, mein theurer und verehrter Freund, und dieser Gedanke hilft mir durch alles hindurch. So kann ich denn nicht zu Ihnen hinüber kommen, ehe die Wahl vorüber ist, und inzwischen werden Sie und meine theure Mrs. Hazeldean sehr verlangend sein, über jene Sache, die Ihnen Beiden so schwer auf dem Herzen lag, mehr zu erfahren, als ich Ihnen bis jetzt mitgetheilt habe oder füglich einem Briefe anvertrauen kann. Doch darf ich Ihnen die Versicherung geben, daß das Schlimmste überstanden ist, und die Dame England verlassen hat. Frank zeigte mir Mrs. Hazeldean's rührenden Brief, und ich bat ihn sehr ernstlich, sogleich nach der Halle zu eilen und die Herzen seiner Eltern zu erleichtern. Unglücklicher Weise wollte er sich von mir nichts vorschreiben lassen, sondern sprach davon, eine Reise auf den Kontinent anzutreten – nicht, wie ich hoffe (nein, nach meiner Ueberzeugung gewiß nicht), um wieder mit Madame di Negra zusammen zu treffen; aber dennoch – kurz, es wäre mir so sehr lieb, wenn ich Sie sehen und über die ganze Sache mit Ihnen sprechen könnte. Wäre es Ihnen nicht möglich, hierher zu kommen? Ich bitte, thun Sie es.

Und nun muß ich auf die Gefahr hin, daß Sie glauben, ich habe mit diesen Zeilen nur mein eigenes Interesse im Auge (doch nein – Ihr edles englisches Herz wird mich nie so verkennen!), mit einfacher Offenheit hinzufügen, daß, wenn Sie mir mit jenem Darlehen, welches Sie mir einst so großmüthig angeboten, unverzüglich aushelfen wollten, Sie unserer Familie die früher besessenen Ländereien, die uns sonst für immer verloren zu gehen drohen, retten könnten. Ein City Alderman, Namens Jobson, sucht nämlich in gemeiner Weise Vortheil aus Thornhill's Verlegenheit zu ziehen, um jene Ländereien an sich zu bringen. Er hat den ***ten dieses Monats als letzten Termin für Thornhill's Antwort bestimmt, und Levy, der sich hier befindet, um bei den Wahlen für Mr. Egerton thätig zu sein, sagt mir, daß Thornhill auf das Angebot eingehen werde, wenn ich nicht vorher mit zehn tausend Pfunden bereit sei; die andern zehn Tausend, deren ich noch bedarf, will mir alsdann Levy vorstrecken. Wundern Sie sich nicht über die Bereitwilligkeit des Wucherers; er weiß, daß ich auf dem Punkte stehe, eine sehr reiche Erbin zu heirathen (Sie werden sich freuen, wenn Sie ihren Namen kennen lernen, und werden sich alsdann auch meine Gleichgültigkeit gegen Miß Sticktorights erklären können), deren Mitgift mehr als hinreichen wird, um sein Anlehen sowohl, wie das Ihrige zurückzuerstatten, wenn ich auf Ihre großmüthige Zuneigung zu dem Enkel einer Hazeldean rechnen darf.

Ich trage um so weniger Bedenken, mich in dieser Angelegenheit an Sie zu wenden, als ich weiß, wie sehr es Sie bekümmern würde, wenn ein Jobson, der vielleicht niemals eine Großmutter kannte, Ihren eigenen Verwandten von den Besitzungen seiner Väter verdrängte. Eines ist sicher – wir Squires und Söhne von Squiren müssen gemeinschaftliche Sache machen gegen diese großen Kapitalisten, wenn sie uns nicht schon nach wenigen Generationen ausgekauft haben sollen. Die habgierigen Krallen dieser Leviathane haben jetzt schon die alte Race der Landedelleute bedeutend vermindert, und ist diese Race einmal ganz erloschen, was soll alsdann aus England's Ruhm und Stärke werden?

Der Ihrige, mein bester Mr. Hazeldean, mit der herzlichsten und dankbarsten Hochachtung,

Randal Leslie.«

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Nichts konnte Leonard drückender und mehr zuwider sein, als seine Betheiligung an dieser denkwürdigen Wahl. Erstens riß es die geheimen Wunden seines Herzens wieder auf, daß er sich genöthigt sah, zu dem Namen Fairfield zurückzugreifen, was ihm als eine stillschweigende Verleugnung seiner Herkunft erschien. Es hatte ihn so glücklich gemacht, daß dieselben Buchstaben, welche den Namen Nora bildeten, in jenem Namen Oran sich wiederfanden, der von ihm zu Bedeutung erhoben worden, und mit dem all' sein edleres Ringen und Streben, all' seine Hoffnungen auf einen dauernden Ruhm in Verbindung gestanden; er hatte darin ein geheimnißvolles Band zwischen seiner eigenen Laufbahn und dem unbekannteren Genius seiner Mutter erblickt. Ja es war ihm gewesen, als habe dieser Name ihr die Ehren verliehen, die ihm selbst zu Theil geworden – eine zarte und feingefühlte Vorstellung, deren nur ein Dichter fähig sein dürfte, welche vielleicht aber auch andere, gewöhnliche Menschen wenigstens verstehen mögen! Der frühere Name Fairfield war in seiner Erinnerung mit all' den roheren Beschäftigungen und Prüfungen seiner Knabenjahre verwoben – an den Namen Oran aber knüpfte sich Poesie und Ruhm. Er war sein Titel in der Welt der Ideale, in welcher nur schöne Gestalten und Geister sich bewegten. Mit der alten Benennung sah er sich wie durch einen Zauberspruch in die praktische Welt mit ihren Kämpfen und Bitterkeiten zurückversetzt.

Allein es blieb ihm keine andere Wahl, sobald er nach Lansmere kam. Abgesehen von Dick und dessen Eltern, bei welchen sein Geheimniß kaum sicher gewesen wäre, so wußte Randal Leslie, daß er früher den Namen Fairfield getragen – er kannte seine vermeintliche Herkunft und würde ohne Zweifel Gebrauch davon gemacht haben. Wie nun den späteren Namen erklären, ohne die Neugierde auf das in ihm enthaltene Anagramm zu lenken und dadurch vielleicht einen Argwohn über seine Abkunft von Nora zu erwecken und deren bis jetzt fleckenloses Andenken einer Kränkung auszusetzen?

Seine Gefühle in Beziehung auf Nora, welche durch die Entdeckung ihres schmerzlichen Nachlasses noch tiefer und inniger geworden waren, gewannen nur an Bitterkeit durch die Berührung mit ihren Eltern. Der alte John befand sich noch immer in demselben hülflosen Zustand des Geistes und Körpers, er war weder besser noch schlimmer geworden: nur zuweilen erwachte in ihm ein Strahl lebhafter Teilnahme für die Wahl, wenn er die blaue Fahne wehen sich oder den Ruf: »Blau für immer!« vernahm. Er glich dem alten, gliedlahmen Schlachtroß, das, auf der Wiese ausgestreckt, aus seinem Dosen auffährt, wenn es die Trommel wirbeln hört. Keine Ueberredungskunst von Seiten Dick's vermochte dem Vater das Versprechen abzugewinnen, seine Stimme auch nur einem Gelben zu geben. Eben so gut hätte man von dem alten Römer, der seinen Ruf gegen Karthago unablässig ertönen ließ, erwarten können, daß er dafür stimmen würde, Karthager zu Consuln zu wählen. Nichtsdestoweniger war der alte John nicht nur sehr höflich, sondern auch sehr demüthig gegen Dick – »sehr glücklich, dem Gentleman gefällig zu sein.«

»Dein eigener Sohn!« rief ihm Dick in's Ohr. »Und hier ist dein Enkel!«

»Sehr glücklich, Euch Beiden zu dienen: allein Ihr seht, Ihr habt die falsche Farbe.«

Dann, als der alte Mann Leonard genauer angeblickt hatte, näherte er sich ihm mit zitternden Knieen, strich ihm über die Haare und schaute ihm kläglich in's Gesicht.

»Bist du mein Enkel?« sagte er stotternd. »Weib, Weib, Nora hatte keinen Sohn, nicht wahr? Mein Gedächtniß fängt an, mich im Stich zu lassen, junger Herr. Ich bitte, entschuldigt mich. Allein Ihr habt einen Zug um die Augen –«

Der alte John begann zu weinen und Mrs. Avenel führte ihn hinweg.

»Komm nicht wieder her,« sagte sie rauh zu Leonard, indem sie zurückkehrte. »Nun wird er die ganze Nacht nicht schlafen!«

Als sie bemerkte, daß Thränen in Leonard's Augen traten, setzte sie in milderem Tone hinzu: »Es freut mich, zu hören, daß es dir gut geht, und daß du dich meinem Sohne Richard so nützlich gemacht hast; er ist der Ruhm und der Stolz der Familie, obgleich der arme John weder für ihn, noch für dich gegen sein Gewissen stimmen kann. Und man sollte es gar nicht von ihm verlangen –« fuhr sie aufbrausend fort – »und es ist eine Sünde, es zu thun – und der alte Mann hat Niemand, der ihn vertheidigt, als mich. Aber verteidigen will ich ihn auch, so lange noch ein Athemzug in mir ist!«

Der Dichter erkannte hierin das tapfere, liebende Herz des Weibes und würde die strenge Großmutter umarmt haben, wenn sie nicht vor ihm zurückgewichen wäre. Als sie sich jedoch der Thüre zuwandte, durch welche sie ihren Gatten weggeführt hatte, blickte sie über ihre Schulter nach Leonard hin und sagte:

»Ich bin nicht so lieblos, als es den Anschein hat, Junge; aber es ist besser für dich und für uns Alle, wenn du nicht wieder in dieses Haus kömmst – besser, du wärst gar nicht in die Stadt gekommen.«

»Pfui, Mutter,« sagte Dick, als er Leonard schweigend und gesenkten Hauptes aus dem Zimmer schreiten sah. »Du solltest stolzer auf deinen Enkel sein, als du es auf mich bist.«

»Stolz auf ihn, der noch Schande auf uns Alle bringen kann?«

»Was willst du damit sagen?«

Allein Mrs. Avenel schüttelte den Kopf und verschwand.

»Laß dich die arme alte Seele nicht anfechten,« sagte Dick, als er Leonard unter der Hausthüre einholte; sie hat immer ihre Launen gehabt. Und da für uns doch in diesem Hause keine Stimme zu holen ist, und man für seinen eigenen Vater keinen Caucus bestellen kann – wenigstens nicht in diesem ganz absonderlich verfaulten und vorurtheilsvollen alten Lande, das bis zum kindischen Aberwitz herabgesunken ist – so brauchen wir nicht wieder herzukommen, um uns anschnauzen zu lassen. Gott behüte ihre alten Herzen nichtsdestoweniger!«

Leonard fühlte sich bei seiner feinen Empfindlichkeit in allem, was seine Geburt betraf, durch Mrs. Avenel's Anspielungen, die er besser verstand, als sein Onkel, tief verletzt und nicht weniger peinlich berührt durch die Ungewißheit, in welcher ihn Harley's fortgesetztes Stillschweigen über die demselben anvertrauten Papiere erhielt. Es schien ihm unerklärlich, daß Harley jene Papiere gelesen haben und in derselben Stadt mit ihm sein sollte, ohne sich mit ihm darüber zu besprechen.

Endlich schrieb er einige Zeilen an Lord L'Estrange, in welchen er dessen Aufmerksamkeit auf den ihn so nahe betreffenden Gegenstand lenkte, und hinzufügte, wie jede Mittheilung, welche die Lücken in jenen unzusammenhängenden Bruchstücken auszufüllen im Stande wäre, von dem größten Interesse für ihn sein müsse.

Harley erwiderte auf diese Zeilen mit scheinbar zartem Grunde, daß »die Erörterung des berührten Gegenstandes eine lange persönliche Besprechung erfordere, bei dem scharfen Kampfe der Parteien jedoch eine solche Zusammenkunft zwischen ihm und einem Gegenkandidaten der Lansmerer Partei jedenfalls bekannt und politischen Intriguen zugeschrieben werden würde (um so mehr, als über die Veranlassung und den Inhalt der Besprechung selbstverständlich keine Erklärung möglich wäre), und somit die ihrer beiderseitigen Sorge anvertrauten Interessen nur zu leicht dadurch gefährdet werden könnten. Im Uebrigen habe er nicht vergessen, wie ängstlich Leonard's Sorge nun zunächst darauf gerichtet sein müsse, der todten Mutter Gerechtigkeit zu verschaffen und Namen, Stellung und Charakter des überlebenden Vaters kennen zu lernen. Und hierin hoffte Harley, Leonard behülflich sein zu können, sobald sich nach Beendigung der Wahl eine passende Gelegenheit dazu darbieten würde.«

Das Schreiben war sehr verschieden von Harley's früherem freundschaftlichem Tone – es war hart und trocken. Leonard achtete L'Estrange zu sehr, um sich zu gestehen, daß es gefühllos sei. Mit dem seiner Natur angebornen Edelmuth suchte er Entschuldigungen für das, was er nicht tadeln wollte. Vielleicht hatte etwas in Helenen's Benehmen oder in Ihren Worten den Verdacht in Harley geweckt, daß sie dem Gefährten ihrer Kindheit noch immer ein zu warmes Interesse bewahre; vielleicht verbarg sich unter dieser Kälte des Ausdrucks die brennende Qual der Eifersucht. Und o, diese Folter der verzehrendsten aller menschlichen Leidenschaften, in welcher jede Anstrengung der Vernunft nur den krampfhaften Zuckungen unseres Schmerzes folgt, Leonard verstand sie so wohl und empfand selbst für seinen glücklichen Nebenbuhler das edelste Mitleid.

Dabei fühlte er sich, abgesehen von allen übrigen Ursachen zur Unruhe, von seiner eigenen Eifersucht in hohem Grade gequält und gedemüthigt. Er wußte, daß Helene sich noch immer unter demselben Dache mit Harley befand. Sie, die Verlobten, konnten sich täglich, stündlich sehen. Er mußte erwarten, bald von ihrer Vermählung zu hören. Weit über den Kreis seines Daseins erhoben in höhere Regionen entrückt – war sie alsdann nur noch seinen Träumen zugänglich. Und doch, eifersüchtig auf Denjenigen zu sein, welchem sie Beide, Helene und er selbst, so viel verdankten, setzten ihn in seiner eigenen Achtung herunter – Eifersucht erschien ihm hier wie Undankbarkeit.

Was hätte ohne Harley aus Helene werden müssen, wäre sie seiner knabenhaften Fürsorge überlassen geblieben? Hatte er doch selbst in seiner Verzweiflung dem Gedanken Raum geben müssen, sie von seiner Seite zu senden, damit sie in der niedrigen Hütte seiner Mutter zu einer freudlosen Jugend heranwachse, während er allein dem Hunger in's Antlitz schaute, von jener Brücke, bei welcher er einst um Almosen gebettelt hatte – gebettelt bei demselben Audley Egerton, dem er nun als ein Gleicher gegenüber stand – von jener Brücke auf den schrecklichen Fluß hinabblickend, oder vor dem bösen Feinde fliehend, der ihn aus den Augen des spukhaften Chatterton anstarrte. Nein, Eifersucht war hier mehr, als Qual – war Erniedrigung – war Verbrechen!

Aber ach, konnte diese glänzende Verbindung Helene glücklich machen? Durfte er wenigstens auf diesen Trost sicher zählen? Bitter mußten seine Gefühle sein, wie er auch diese Frage sich beantwortete – entweder vergaß sie ihn vollständig in einem Glücke, von welchem er ausgeschlossen war als ein Gegenstand der Sünde – oder sie gedachte seiner, wie sie nicht sollte, und war elend!

Mit jener gesunden Willenskraft, welche öfter im Verhältniß zu der Tiefe und Empfindlichkeit des Gefühls steht, als die Welt gewöhnlich annimmt, riß sich der junge Mann endlich auf eine Zeitlang von der eisernen Fessel los, die seine Seele umstrickt hatte, und zwang seine Gedanken, bei eben denselben Gegenständen Erleichterung zu suchen, von welchem sie sich sonst mit dem größten Abscheu weggewendet hätten. Er bemühte sich, mit seiner Einbildungskraft seinem Verstande zu Hülfe zu kommen, und suchte einen Beweggrund von Seite Harley's zu entdecken, der sich nicht auf eine blose Niederlage des ränkesüchtigen Randal bezog – oder auf einen, Audley Egerton zu leistenden Dienst, der aus der Verstrickung der Maschen des Wahlgetriebes hervorgehen sollte – einen Beweggrund vielmehr, der seinem eigenen Herzen mehr Interesse für den Wahlkampf abzugewinnen vermöchte und mit Harley's versprochener Hülfe in Aufklärung des seine Herkunft betreffenden Geheimnisses in Verbindung gebracht werden könnte.

Aus Nora's Tagebuch ließ sich klar ersehen, daß sein Vater nach Rang und Stellung hoch über ihr gestanden. Sie hatte die Glut ihrer herrlichen Phantasie über den Ehrgeiz und die Laufbahn des Geliebten ausgegossen, in welchem ihr Ehrgeiz als Dichterin und ihre Laufbahn als Weib aufgegangen waren. Vielleicht, daß der Vater geneigter sein möchte, den Sohn anzuerkennen und willkommen zu heißen, wenn dieser sich Bahn brach und zu gegründeten Hoffnungen berechtigte in der großen öffentlichen Welt, in welcher nur der Ruhm dem Range voransteht. Vielleicht auch, daß, wenn es dem Sohne auf solche Weise gelingen sollte, sich selbst von dem stolzesten Vater mit Freuden anerkannt zu sehen – vielleicht, daß er alsdann auch eine Ehrenrettung des mütterlichen Namens zu bewirken im Stande wäre.

Diese Heirath, welche Nora, nach ihren dunkeln Winken zu schließen, für ungesetzlich zu halten veranlaßt worden war, dürfte vielleicht dennoch eine rechtmäßige gewesen und der kirchliche Akt bis daher nur aus weltlicher Scham wegen der Ungleichheit des Ranges verheimlicht worden sein. Hatte aber der Sohn einmal da sich einen Platz errangen, wo Rang und Stellung der Macht des Talentes sich unterordnen, so würde wohl diese Scham verschwinden. Solche Vermuthungen waren nicht unwahrscheinlich, noch standen sie im Widerspruch mit Leonard's Erfahrung von den zartfühlenden, wohlwollenden Absichten Lord L'Estrange's.

Auch Helenen's Bild verband sich mit demjenigen seiner Eltern, um seinen Muth zu kräftigen und seinen neuen Ehrgeiz zu beeinflussen. Allerdings war sie für ihn auf immer verloren. Keine weltlichen Ehren, keine politischen Erfolge konnten sie mehr an seine Seite zurückführen. Allein sie hörte vielleicht seinen Namen mit Achtung nennen in jenen Kreisen, in welchen allein sie in Zukunft sich bewegte, und in denen der parlamentarische Ruf höher gilt, als der literarische Ruhm. Und vielleicht auch, daß sie sich in späteren Jahren, wenn die Liebe ihre Leidenschaftlichkeit verloren und nur ihre Innigkeit bewahrt hatte, als Freunde wiedersehen durften. Er konnte dann ohne Schmerz ihre Kinder auf seinen Knien wiegen und vielleicht, wenn sie Beide betagt, und er die Stufe gesellschaftlicher Gleichheit selbst mit ihrem hochgebornen Gatten erreicht, zu ihr sprechen: »Nur die Hoffnung, das Vorrecht unserer Kindheit wieder zu erringen, gab mir die Kraft, Auszeichnung zu suchen, nachdem Sie und das Glück mich verlassen hatten.«

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, gewann plötzlich die Wahl, welche ihm vorher mit ihrem lächerlichen Fahnenschmuck und mißtönigen Trompetenschall nur als eine armselige und gemeine Kundgebung ungestümer Leidenschaften um kleinlicher Zwecke willen erschienen war, ein lebhaftes Interesse für ihn und nahm in seinen Augen den Charakter der Würde und Bedeutsamkeit an.

So ist es bei jedem Kampfe der Sterblichen. In demselben Verhältniß, als er jenes göttlichere Etwas besitzt oder entbehrt, welches die Pulse des Herzens beschleunigt und den Schwung der Phantasie beflügelt, erscheint er dem Philosophen als Gegenstand des Spottes oder dem Barden als Gegenstand der Begeisterung. Fühlst du dieses Etwas, so ist kein Kampf und kein Streben gemein! Fühlst du es nicht, so magst du wie Byron das Blutbad von Cannä In der Schlacht von Cannae (216 v.u.Z.) vernichtete das karthagische Heer unter Hannibal die zahlenmäßig überlegenen Römer. mit dem Schlachtfeld von Waterloo, welches die Grenzsteine der Nationen herstellte, in einer Reihe erblicken oder mit Juvenal den Stand Hannibal's verhöhnen, weil er Carthago vom Untergang zu retten und eine Welt vom römischen Joch zu befreien suchte So in Juvenals zehnter Satire..


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Nachdem nun Leonard mannhaft die einmal unternommene Aufgabe erfaßt und sich gezwungen hatte, ihr, wie Riccabocca gesagt haben würde, »die sonnige Seite« abzugewinnen, trat ihm auch alles, was wirklich groß im Grundsatz und ehrenhaft für die menschliche Natur war, wie tief es immer unter den schmutzigen Einzelheiten und kläglichen Interessen verborgen liegen mochte, welche man auf der Oberfläche des aufgeregten Stromes erblickte, klar vor die Seele. Der begeisterte Eifer seiner Umgebung begann auch ihn anzustecken; die großmüthige Hingebung an eine von dem eigenen Ich unabhängige Sache, welche bei einer Wahl zu Tage tritt, und der oft der ärmste Stimmberechtigte Opfer bringt, die erhaben genannt werden könnten – die warme persönliche Zuneigung, welche das gemeinschaftliche Interesse für den Verteidiger beliebter Ansichten hervorruft – dies alles vereinigte sich, um die Gleichgültigkeit des jungen Dichters gegen Parteipolitik zu zerstreuen und seinem früher gefaßten Widerwillen entgegen zu wirken.

Er begann sogar, eine Laufbahn, deren Anstrengungen und Ehren so verschieden von seinen früheren Arbeiten und Bestrebungen waren, um ihrer selbst willen mit Wohlgefallen zu betrachten, und legte, wie Dichter immer zu thun pflegen, die Poesie des Gedankens in die Prosa des Handelns, zu dem er sich fortgerissen sah. So widersprach er Dick Avenel nicht länger, wenn ihm dieser vorstellte, wie sehr sein Geschäft in Screwstown darunter leiden würde, wollte er seine Zeit und seine Kräfte, deren seine Mühle und seine Dampfmaschinen bedurften, seinem Vaterlande widmen, und wie wünschenswerth es in jeder Beziehung wäre, wenn Leonard Fairfield der parlamentarische Vertreter der Avenel's werde.

»Wenn wir also nicht Beide durchdringen können, und Einer von uns zurücktreten muß,« sagte Dick, »so überlasse es mir, die nöthigen Schritte beim Comite zu thun, damit du als der Hauptbewerber angesehen werdest. O, sei ganz ruhig, alle Bedenklichkeiten deines Ehrgefühls sollen berücksichtigt werden. Ich möchte schon um der Avenel's willen nicht, daß man auch nur ein Wort gegen ihren Vertreter sagen könnte.«

»Aber wenn ich mir dies auch gefallen lasse,« erwiderte Leonhard, »so fürchte ich, du hast die Absicht, die Stimmen, welche durch deinen Rücktritt frei werden, auf Egerton's Kosten Leslie zuzuwenden.«

»Was zum Henker geht Egerton dich an?‹

»Er geht mich weiter nichts an, als daß er ein Freund Lord L'Estrange's ist, und ich diesem zu großem Dank verpflichtet bin.«

»Pah! Ich will dir ein Geheimniß anvertrauen. Levy sagt mir, daß L'Estrange sehr zufrieden sein werde, wenn Leslie statt Egerton für Lansmere gewählt wird; und ich denke, ich habe Mylord, den ich in London sprach, davon überzeugt, daß für Leslie die Aussichten günstig sind, für Egerton aber nicht.«

»Ich muß glauben, daß Lord L'Estrange seine äußersten Kräfte aufbieten wird, um zu verhindern, daß Leslie, welchen er verachtet, Egerton, den er verehrt, vorgezogen werde. Und in dieser Ueberzeugung werde auch ich Leslie entschieden entgegen treten, wie du nach den Reden urtheilen kannst, welche sich deines Beifalls so wenig zu erfreuen hatten.«

»Laß uns dieses Garn kurz abbrechen, denn wenn wir auf Beifall und Mißfallen zu sprechen kommen, so könnte es einen allmächtigen Krach geben. Ich werde nichts von dir verlangen, wozu Lord L'Estrange nicht seine Zustimmung gibt. Bist du damit zufrieden?«

»Gewiß; vorausgesetzt, daß ich dieser Zustimmung sicher sein kann.«

Endlich brach der wichtige Tag an, der dem Wahlakt voranging, und an welchem die Candidaten in aller Form mit Namen vorgestellt werden und sich mit der ganzen Feierlichkeit der erklärten Nebenbuhlerschaft gegenübertreten sollten.

Das Rathhaus war zu diesem Vorgang ausersehen worden, und schon vor Sonnenaufgang ertönte Musik in allen Straßen und wehten die Banner der verschiedenen Parteien.

Audley Egerton fühlte, daß er sich nicht länger fern halten konnte, ohne den Unzufriedenen, die ihn bereits im Bilde verbrannt hatten, gerechte Ursache zu spöttischen Bemerkungen über seine Furcht zu geben, der Wählerschaft, welche er früher vertreten hatte, in's Antlitz zu schauen. So peinlich es ihm auch war, sich Nora's Bruder gegenüber zu stellen und vor den Augen der Menge all' die geheimen Erinnerungen zu bekämpfen, welche die gegenwärtige Wahl so schmerzlich mit jener früheren in Verbindung brachten, so wußte er, daß es nun einmal geschehen mußte, und fügte sich der Notwendigkeit mit dem während seines ganzen Lebens bewiesenen Muthe.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Die Häupter der blauen Partei zogen mit allem Prunke von Lansmere Park ab – die beiden Candidaten in offenen Wagen, jeder von seinem Vorschlagenden und dessen Secundanten begleitet. Die andern Equipagen waren für Harley, Levy und die Hauptmitglieder des Comites bestimmt. Riccabocca, an einem Anfall von Melancholie oder Cynismus leidend, lehnte es ab, sich dem Zuge anzuschließen. Unmittelbar jedoch, ehe derselbe sich in Bewegung setzte, als schon alle Teilnehmer vor dem Hauptportal versammelt waren, langte der Briefträger mit seiner willkommenen Ledertasche an. Er brachte Briefe für Harley, einige für Levy, viele für Egerton und einen für Randal Leslie.

Levy, der mit Durchlesen seiner eigenen Correspondenz bald fertig war, blickte mit der familiären Freiheit, welche er sich gewöhnlich gegen seine besondern Freunde erlaubte, über Randal's Schultern.

»Von dem Squire?« sagte er. »Ah, hat er endlich geschrieben! Weßhalb zögerte er so lange? Ich hoffe, er erleichtert Ihnen das Herz?«

»Ja,« rief Randal, während sein sonst so heimlicher und verschlossener Gesichtsausdruck einer festen dort sichtbaren Freude wich – »ja, er schreibt nicht von Hazeldean aus – war nicht dort, als mein Brief ankam – war in London – konnte es in der Halle nicht aushalten, wo ihn alles so sehr an Frank erinnerte – ging nach dem Empfang meines ersten Briefes, in welchem ich ihm mittheilte, daß die Heirath abgebrochen sei, wieder in die Stadt, um nach seinem Sohne zu sehen und Geld aufzunehmen, um das post-obit einzulösen. Lesen Sie selbst, was er sagt –«

»Da ich mir nun doch Geld auf Hypotheken geben lassen mußte (freilich hätte ich nie geglaubt, daß ich der Mann sein würde, der das Hazeldeaner Besitzthum mit Schulden belastet!), so dachte ich, könnte ich ebenso gut zwanzigtausend, statt zehntausend Pfund mehr aufnehmen. Warum sollten Sie überhaupt diesem Baron Levy verpflichtet sein? Haben Sie mit Geldverleihern nichts zu schaffen. Ihre Großmutter war eine Hazeldean, und von einem Hazeldean sollen Sie die ganze Summe haben, deren Sie zum Aufkauf dieser Rood'schen Ländereien – zum Theil ein guter, leichter Boden – bedürfen. Was die Zurückzahlung betrifft, so wollen wir davon später reden. Wenn Frank und ich wieder mit einander zu stehen kommen, wie früher, nun, dann wird ja mit der Zeit alles sein Eigenthum, und die Verpfändung nimmt er mir gewiß nicht übel, da er immer so große Anhänglichkeit an Sie besaß. Kommen wir aber nicht wieder zusammen – was liegt mir alsdann an Hunderten und Tausenden, die ich mehr oder weniger besitze?

So werde ich dann übermorgen in Lansmere eintreffen – gerade zum ärgsten Getümmel der Abstimmung. Schlagen Sie den Fabrikanten, mein Junge, und verfechten Sie tapfer die ländlichen Interessen. Sagen Sie Levy, daß er alles bereit hält. Ich werde das Geld in guten Banknoten mitbringen und ein paar Pistolen in meine Taschen stecken, für den Fall, daß Räuber etwas wittern und mich auf der Landstraße anfallen sollten, wie es einst meinem Großvater passirte. Eine Wahl in Lansmere erinnert Einen ohnehin an Pistolen. Ich hatte einmal wegen einer solchen ein Duell mit einem Offizier aus Seiner Majestät Flotte, der mir eine Kugel in die rechte Schulter jagte. Audley habe ich jedoch seine Betheiligung an dieser Geschichte verziehen.

Grüßen Sie ihn freundlich von mir. Und nehmen Sie sich selbst vor einem Duell in Acht; aber ich vermuthe, Fabrikanten schlagen sich nicht – nicht, daß ich ihnen einen Vorwurf daraus machen wollte – weit entfernt davon.«

In seinem weitern Verlauf drückte der Brief des Squire's Erstaunen aus und erging sich in Muthmaßungen über die reiche Heirath, von welcher ihm Randal als einer angenehmen Ueberraschung gesprochen hatte. »Miß Sticktorights konnte es nicht sein!«

»Nun,« sagte Levy, indem er Randal das Schreiben zurückgab, »Sie müssen in der That ebenso gescheidt geschrieben haben, als Sie sprechen, wenn anders der Squire nicht ein Einfaltspinsel ist.«

Randal lächelte, steckte seinen Brief in die Tasche und sprang, der ungeduldigen Aufforderung seines Vorschlagenden Folge gebend, leicht und rasch in den Wagen.

Auch Harley schien zufrieden mit dem Inhalt der ihm überlieferten Schreiben und trat nun zu Levy, als die Candidaten langsam wegfuhren.

»Hat nicht Mr. Leslie eine Antwort von dem Squire auf jenen Brief erhalten, von welchem Sie mir sprachen?«

»Ja, mein Lord; der Squire wird morgen hier eintreffen.«

»Morgen? Ich danke Ihnen für diese Mittheilung; seine Zimmer sollen in Bereitschaft gesetzt werden.«

»Ich vermuthe, er wird sich nur so lange aufhalten, bis er Leslie und mich gesprochen und uns das Geld übergeben hat.«

»Aha, das Geld! Er gibt es also?«

»Die doppelte Summe, und, wie es scheint, als Geschenk, was sich Leslie blos als ein Anlehen erbeten hatte. In der That, mein Lord, Mr. Leslie ist ein sehr gescheidter Mann, und obwohl ich zu Ihren Befehlen stehe, so möchte ich ihm – mit solchen Heirathsaussichten – nicht gerne schaden. Er könnte ein sehr gewichtiger Feind werden, und dies um so mehr, wenn er bei der Wahl den Sieg davontrüge.«

»Baron, die Herren warten auf Sie. Ich werde allein nachkommen.«


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

In dem Mittelpunkt der Plattform, welche in der Rathshalle aufgeschlagen worden, saß der Major, und zu beiden Seiten dieses Würdenträgers erschienen nun die Candidaten der sich feindlich gegenüberstehenden Parteien – rechts Audley Egerton und Leslie, links Dick Avenel und Leonard. Die Halle war gedrängt voll, und selbst zu den obern Fenstern des Gebäudes blickten Reihen grimmiger Gesichter von außen herein.

Der Wahlkampf erregte ganz besonderes Interesse dadurch, daß nicht nur politische Grundsätze, sondern auch Lokalleidenschaften mit in's Spiel kamen. Hier der sehr ehrenwerthe Audley Egerton, von der mächtigen Aristokratenpartei von Lansmere, und ihm gegenüber – noch dazu mit dem Neffen an seiner Seite – Dick Avenel, der Sohn eines kleinen Krämers, im Begriff, wie er sich auszudrücken pflegte, »den verwetterten blauen Ochsen an seinen beiden oligarchischen Hörnern zu fassen!« Es lag ein gewisser ritterlicher Muth selbst in der Unverschämtheit des Versuches, den wichtigen Wahlbezirk, für dessen einen Vertreter ein großer Lord sich bisher so ernstlich und eifrig bemüht hatte, in zwei Familiensitze für das Haus Avenel umzuwandeln und dem Pfahlbürgerregiment den Triumph zu verschaffen.

Dies allein schon würde hingereicht haben, um eine Landwählerschaft in Aufregung und Leidenschaft zu versetzen; nun aber kam noch die Neugierde dazu, welche sich an das lange verschobene öffentliche Auftreten eines so berühmten Candidaten, wie der Exminister, knüpfte – eines Mannes, dessen Laufbahn mit seinem Erfolg in Lansmere begonnen hatte, und der nun inmitten des Volkssturmes, durch welchen seine Collegen in alle Winde zerstreut worden, sein Schiff in dem nämlichen Hafen wieder herzustellen versuchte, von welchem es zuerst ausgelaufen war.

Neue Generationen waren herangewachsen, seit der Name Audley Egerton zum ersten Mal die Taubenschläge dieses Corioli Siehe Anm. 497. beunruhigt hatte. Die Fragen, welche damals so wichtig geschienen, hatten großentheils ihre Erledigung gefunden. Diejenigen der Anwesenden jedoch, welche sich Egerton's aus der früheren Zeit erinnerten, waren erstaunt, zu sehen, wie dieselben Eigentümlichkeiten der Haltung und äußern Erscheinung, durch welche er sich in seiner Jugend ausgezeichnet hatte, nun auch von Neuem das Interesse für den reifen und gefeierten Mann wach riefen. Ehe er seinen Stuhl neben dem Major einnahm, blieb er einige Augenblicke auf seinem Platze stehen und blickte über die Versammlung mit ihrem tobenden Lärm von Hurrahrufen und Zischen hinweg – und da war es denn dieselbe stattliche, aufrechte Gestalt von früher – der nämliche feste Blick – dieselbe unerklärbare, geheimnißvolle Würde in Miene und Haltung, welche Achtung erzwang, Vertrauen einflößte oder Abneigung besiegte. Das Zischen verstummte unwillkürlich.

Nachdem die Einleitungsceremonien vorüber waren, begannen die Vorschlagenden und deren Secundanten ihr Amt.

Audley wurde natürlich von dem Hauptsprecher seiner Partei vorgeschlagen – es war dies ein Gentleman, der in einem weißen Hause der Hauptstraße von seinen Renten lebte, eine Universitätsbildung genossen hatte und als jüngerer Sohn einer zum »Land-Adel« zählenden Familie angehörte. Dieser Herr sprach viel über Constitution, einiges über Griechenland und Rom – verglich Egerton mit William Pitt und Aristides Antiker christlicher Autor der ersten Hälfte des 2. Jh.; bezeichnete sich als Philosophen. – und setzte sich nach Beendigung seiner Rede, welche von einigen Wenigen für classisch, von den Meisten aber für ungenießbare Salbaderei erklärt wurde, wieder auf seinen Platz.

Audley's Secundant, ein dicker, einflußreicher Malzhändler, schlug einen derberen Ton an. Er verbreitete sich über die Nothwendigkeit, durch Gentlemen von Rang und Reichthum, nicht aber durch »Emporkömmlinge und Abenteurer« vertreten zu werden. (Bravorufe und Zischen.) »Blicke man auf die Candidaten der andern Seite, so sei es eine Beleidigung für die Achtbarkeit von Lansmere, anzunehmen, seine Wähler könnten ihre Stimmen einem Manne geben, der keine andern Ansprüche auf ihre Beachtung habe, als daß er ein kleiner Knabe in dem Städtchen gewesen, in welchem sein Vater einen Laden gehabt – und zwar ein recht wilder, lärmender, schmutziger kleiner Knabe!« Dick glättete seinen schneeweißen Busenstreif und schleuderte zornglühende Blicke nach dem Sprecher, während die Blauen herzlich lachten, und die Gelben »Pfui!« riefen.

»Was den andern Candidaten derselben Seite betreffe, so habe er, der Malzhändler, nichts gegen ihn vorzubringen. Ohne Zweifel sei er durch seinen Onkel und durch seine eigene Unerfahrenheit zu dieser Anmaßung verleitet worden. Man sage, dieser Candidat, Mr. Fairfield, sei Schriftsteller und Dichter; Berühmtheit habe er aber in diesem Fall noch nicht erlangt, denn kein Buchhändler im Städtchen habe jemals etwas von Mr. Fairfield's Werken gehört. Nun heiße es allerdings, Mr. Fairfield habe unter einem andern Namen geschrieben. Allein was würde dies beweisen? Entweder, daß er sich seines wahren Namens schämte, oder daß ihm seine Werke keine Ehre machten. Er (der Malzhändler) für seinen Theil sei ein Engländer und könne anonyme Schreiber nicht leiden; wo etwas verheimlicht werde, sei nicht alles in Richtigkeit. Ein Mann sollte sich nie scheuen, unter das, was er geschrieben, seinen Namen zu setzen. Aber selbst zugegeben, daß Mr. Fairfield ein großer Schriftsteller und großer Dichter sei, so brauche der Wahlbezirk Lansmere nicht einen Vertreter, der seine Zeit mit Schreiben von Sonetten auf Liese und Grete zubringe, sondern einen praktischen Geschäftsmann – einen Staatsmann – einen Mann, wie Mr. Audley Egerton – einen Gentleman von alter Herkunft, hoher Stellung und fürstlichem Vermögen. Der Vertreter eines so bedenkenden Bezirks, wie Lansmere, sollte einen gewissen Grad von Reichthum besitzen.« (»Hört, hört!« von den hundertundfünfzig Unentschlossenen, welche alle in einer Reihe am Ende der Halle standen; und »Lügen!« »Unsinn!« von einigen revolutionären, aber unbestechlichen Gelben.) Die Anspielung auf Egerton's Privatvermögen verfehlte jedoch ihres Eindrucks auf die Masse der Zuhörerschaft nicht, und der Malzhändler schloß seine Rede unter lauten Beifallrufen.

Nun folgte zunächst Mr. Avenel's Vorschlagender, ein bedeutender Specereihändler, und auf diesen sein Secundant, der Besitzer eines neuen Shawl und Wollenladens, der sich rühmte, den Leuten für ihr gutes Geld gute Waare zu geben – eine Ansicht, die er auch für vollkommen begründet halten mochte, da er wenigstens einen etwaigen Irrthum nie wieder gut machte. Die Beiden sagten so ziemlich das Nämliche. Mr. Avenel habe sich durch ehrenhaften Gewerbsfleiß ein Vermögen erworben – sei ein Mitbürger – müsse die Interessen der Stadt besser kennen, als ein Fremder – habe gesunde politische Grundsätze – schmeichle niemals der Regierung – wolle für die Rechte des Volks einstehen und gegen die Armee, die Flotte und alle sonstigen Einrichtungen einer verdorbenen Aristokratie zu Felde ziehen &c. &c. &c.

Randal Leslie's Vorschlagender, ein Halbsoldkapitän, begann eine lange Vertheidigung der Armee und Flotte gegen die unpatriotischen Verläumdungen der vorherigen Redner und kam dadurch vollständig von dem beabsichtigten Lobe seines Candidaten ab, bis wiederholte Rufe »Zur Sache!« »Zum Schluß!« ihn wieder an dieses Thema erinnerten, worauf er als hauptsächliche Empfehlungspunkte die »Liebenswürdigkeit des Charakters« hervorhob, »welche sich in dem leutseligen Wesen seines jungen Freundes so deutlich zeige« – »die Uebereinstimmung seiner Ansichten mit denjenigen des ausgezeichneten Staatsmannes in dessen Gemeinschaft er auftrete« – »seine Erziehung in den besten Grundsätzen« – »der einzige Fehler seine Jugend, welcher Fehler sich ja mit jedem Tag verbessere.«

Als Randal's Secundant trat ein derber Freisasse auf, dessen Stimme bei den wahlberechtigten Landwirthen der Gegend stark in's Gewicht fiel. Er war bei Weitem zu offen und gerade – tadelte Audley Egerton, daß er die auf das ländliche Interesse bezüglichen Fragen so bald bei Seite gesetzt – hoffte, daß er von den großen Städten genug gehabt habe – war bereit, zu vergeben und zu vergessen – erwarte aber, daß sich die Veranlassung nicht wiederholen werde, den Candidaten im Bilde zu verbrennen. Was den jungen Gentleman betreffe, dessen Vorschlagung er das Vergnügen habe, zu secundiren, so wisse er nicht viel von ihm; allein die Leslie's seien eine alte Familie der benachbarten Grafschaft, und Mr. Leslie nenne sich einen nahen Verwandten des Squire Hazeldean – eines so wackern Mannes, als nur je einer auf Schuhleder gestanden. Er (der Freisasse) halte viel auf eine gute Zucht bei Schafen und Ochsen, und er vermuthe, bei den Menschen werde es nicht viel anders sein. Er sei für den König und die Verfassung, allein Mißbräuchen wolle er nicht das Wort reden. So hätte er z. B. nichts gegen eine Ermäßigung des Zehnten und gegen Abschaffung der Malzsteuer einzuwenden – nicht das Geringste. Mr. Leslie scheine ihm ein ganz annehmbarer junger Bewerber zu sein, der ungewöhnlich gut zu sprechen verstehe und im Ganzen, so viel er (der Freisasse) sehen könne, ebenso gut in's Parlament tauge, als neun Zehntel der Gentleman, welche hineingeschickt werden. Diese Rede erntete nur spärlichen Beifall von den Blauen, um so größeren aber von den Gelben, und der Freisasse nahm seinen Platz mit dem unbestimmten Bewußtsein wieder ein, daß er in der einen oder andern Weise der Sache seiner Partei, welche er hatte unterstützen sollen, eher geschadet als genützt habe.

Leonard war nicht sehr glücklich in der Person seines Vorschlagenden, eines jungen Gentleman, der sich in verschiedenen Berufsarten mit merkwürdigem Nichterfolg versucht hatte, hierauf in den Besitz eines kleinen Vermögens kam und sich schließlich als Literat niederließ. Dieser junge Mann unternahm eine Vertheidigung der Dichter, gleich wie der Halbsoldkapitän es auf sich genommen, die Armee und die Flotte zu vertheidigen; allein nach einem Dutzend genäselter Phrasen über »das Mondlicht des Daseins« und die »Oase in der Wüste« brach er zur Befriedigung seiner ungeduldigen Zuhörer plötzlich ab.

Dieser mißlungene Versuch wurde durch Leonard's Secundanten wieder gut gemacht – einen Schneidermeister, der ein geübter Sprecher und ein ernster, denkender Mann war und Leonard Fairfield nicht nur aufrichtig bewunderte, sondern auch herzlich lieb gewonnen hatte. Er trug seine Ansichten kurz und bündig vor und sprach sein volles Vertrauen in Leonard's Talente und Ehrenhaftigkeit in einfachen, vom Gefühl eingegebenen Worten aus, welche aber deßwegen ihres Eindrucks – nicht verfehlten.

Eine tiefe Stille folgte auf diese Einleitungsreden; dann erhob sich Audley Egerton.

Schon bei den ersten paar Sätzen fühlten alle Anwesenden, daß sie einen Redner vor sich hatten, der gewöhnt war, über die Aufmerksamkeit zu gebieten und seinen Ansichten das Gewicht einer anerkannten Autorität zu verleihen. Der langsame, abgemessene Vortrag, die ruhige, männliche Haltung, der Anstand und die Einfachheit der Bewegungen – alles bekundete den Minister eines großen Reiches, der weniger durch leidenschaftliche Beredtsamkeit die Versammlungen in Aufregung versetzte, als für das Urtheil des Scharfblicks und der Erfahrung stillschweigende Achtung erzwang. Was aber bei einem Andern vielleicht als förmlich und schulmeisterhaft erschienen wäre, wurde bei Egerton gemildert und verwischt durch die Würde der Geberden, des Tons, der Haltung – mit einem Wort, durch den Zauber, der in dem Wesen des wahren Gentleman liegt, und welchem auch das ungebildetste Auditorium zugänglich ist. Audley besaß schon im Privatleben diesen Zauber in ungewöhnlich hohem Grade, noch vielmehr aber sprang er in die Augen, so oft er öffentlich aufzutreten hatte. Der » senatorius decor« Der »senatorische Schmuck«, d.h. der Bonus des Staatsmanns. schien eine für ihn erfundene Bezeichnung zu sein.

Egerton begann seine Rede damit, daß er von seinen Gegnern mit jener feinen Höflichkeit sprach, welche einer höhern Stellung so sehr zur Zierde gereicht, und viel eher zum Siege führt, als die schärfsten Stichelreden einer feindseligen Declamation. Mit einer leichten Verbeugung gegen Avenel drückte er sein Bedauern darüber aus, einen Gentleman sich gegenüber stehen zu stehen, dessen Geburt ihn natürlicher Weise der Stadt, deren ausgezeichneter Angehöriger er sei, theuer machen müsse, und dessen achtungswerther Ehrgeiz an sich schon den Beweis von der bewunderungswürdigen Grundlage einer Verfassung liefere, welche dem Geringsten gestatte, zu Ehren und Ansehen sich emporzuschwingen, während sie zugleich den Höchstgestelltesten zwinge, mit Aufbietung aller seiner Kräfte nach derjenigen Auszeichnung zu streben, welche am höchsten geachtet werde, weil sie von dem Vertrauen der Mitbürger abhänge und durch das Gefühl der Verantwortlichkeit für die übernommenen Pflichten geheiligt sei.

Leonard Fairfield's Talenten und Fähigkeiten zollte er eine vorübergehende, aber großmüthige Anerkennung und berührte alsdann mit seinem Takte das Interesse, das er jederzeit an den Erfolgen der Jugend genommen, wenn diese ihren Platz in der Vorhut der neuen Generation, welche in ihrem Voranschreiten die alte zu ersetzen bestimmt sei, einzunehmen trachtete. So erblicke er denn auch, fuhr Audley fort, in Leonard nicht seinen Gegner, sondern den wetteifernden Mitbewerber »seines jungen und geschätzten Freundes, Mr. Randal Leslie,« um einen würdigen Preis. »Sie sind glücklich in Ihren Jahren!« sagte der Staatsmann mit einem gewissen Pathos. »In der Zukunft sehen Sie nichts, was Sie zu fürchten, in der Vergangenheit nichts, was Sie zu vertheidigen hätten. Bei mir ist es nicht so.«

Und nun auf die von den früheren Rednern ausgesprochenen unbestimmten Andeutungen oder kühneren Angriffe auf ihn selbst und seine Politik übergehend, richtete er sich stolz auf und hielt einen Moment inne; sein Auge ruhte auf den Berichterstattern, die unmittelbar unter ihm saßen, und unter denen er manches Gesicht entdeckte, welches ihm von jener Zeit her bekannt war, da in der Hauptstadt des Landes ganze Versammlungen an seinem Munde gehängt und begierig jedes Wort von den Lippen aufgefangen hatten, welche damals das Vorrecht besaßen, dem Könige Rath zu ertheilen. Unwillkürlich kam dem Exminister der Gedanke, sich über den beschränkten Hörerkreis – über die Wahl mit allen ihren schmerzlichen Erinnerungen – ganz wegzusetzen und sich ausschließlich an das große und unsichtbare Publikum zu wenden, welchem diese Berichterstatter seine Ideen mitzutheilen berufen waren. Bei diesem Gedanken veränderte sich allmälig sein ganzes Wesen. Sein Blick heftete sich auf die äußerste Grenze der Versammlung, und noch feierlicher als zuvor, ertönte seine tiefe, klangvolle Stimme.

Er begann mit einem Ueberblick und einer Rechtfertigung seines ganzen politischen Lebens. Er sprach von den Maßregeln, zu deren Durchführung er beigetragen, von seinem Antheil an den Gesetzen, welche jetzt das Land regierten. Nur leise, aber mit Stolz berührte er die Dienste, welche er den von ihm vertretenen Ansichten geleistet. Er spielte auf seine nachlässige Verwaltung seines Privatvermögens an; allein in Betreff der seiner Sorge anvertrauten öffentlichen Amtes – konnte ihn da auch sein schlimmster Feind nur der geringsten Versäumniß anklagen? Durch diese Andeutung sollte ohne Zweifel das Publikum auf die Nachricht vorbereitet werden, daß Audley Egerton sein Vermögen verloren habe. Zum Schluß ging er auf die Tagesfragen über und gab eine allgemeine, aber meisterhafte Darlegung der Politik, deren Einhaltung er unter den Veränderungen, welche er voraussah, seiner Partei empfehlen würde.

Für die gemischte Versammlung in der Rathhaushalle war Audley's Rede allerdings nicht ganz geeignet; sie verbreitete sich über einen Kreis von Interessen, dem ein solches Auditorium mit seinen Sympathien nicht folgen konnte. Allein diese Versammlung war für Audley so gut wie nicht vorhanden – er hatte sie gänzlich vergessen. Die Berichterstatter jedoch verstanden ihn, und ihre raschen Federn gaben seine Worte wieder, ohne daß sie gewagt hätten, daran zu verbessern oder abzukürzen. Audley's Rede war an die Nation gerichtet – die Rede eines Mannes, in welchem das Volk noch immer einen Führer erblickte – der seine vergangene Laufbahn von aller Mißdeutung zu reinigen wünschte – der, wenn ihm das Leben erhalten blieb, auf höhere Bestimmungen zählte, als er bisher erfüllt hatte – der ein Manifest von Grundsätzen erließ, welche später in Kraft treten sollten, und ein Panier aufpflanzte, um welches die zersprengten Abtheilungen eines geschlagenen Heeres sich wieder sammeln konnten zum Kampf und zum Siege.

Oder aber war vielleicht (weder von den Berichterstattern, noch von dem Publikum geahnt und verstanden) in der Tiefe seines Herzens das Gefühl der Unsicherheit des Lebens stärker als die Hoffnung des Ehrgeizes, und wünschte der Staatsmann eine vollkommene Rechtfertigung jener öffentlichen Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit zurückzulassen, auf welcher wenigstens, wie ihm sein Gewissen bezeugte, kein Flecken haftete.

»Seit mehr aus zwanzig Jahren,« schloß Audley, »hat es für mich keinen Tag gegeben, der nicht dem Dienste meines Vaterlandes gewidmet gewesen wäre. Ich mag mich zu Zeiten den Wünschen des Volkes widersetzt haben – ich thue es vielleicht eben jetzt in diesem Augenblick – allein niemals geschah es und geschieht es aus einem andern Grunde, als weil ich, soweit mein Urtheil reicht, die Wohlfahrt des Volkes seinen Wünschen vorziehe. Und wenn es, wie ich glaube, Gelegenheiten gegeben hat, bei welchen ich, als Einer unter Männern von größerem Rufe, die Gesetze Englands verbesserte, seine Sicherheit befestigte, seinen Verkehr ausdehnte und seine Ehre aufrecht erhielt – so überlasse ich das Uebrige der strengen Kritik meiner Feinde und (seine Stimme bebte) der milden Veurtheilung meiner Freunde.«

Noch ehe die Bravorufe, welche den Schluß dieser Rede begleiteten, vorüber waren, erhob sich Richard Avenel. Der sogenannte »ehrenwerthere Theil« der Versammlung, nämlich die Gebildeteren und besser Gekleideten, auch unter den Gelben, empfanden einige bange Sorge für die Ehre ihres Bezirks, als sie ihren Candidaten mit dem großen Unterhausmitglied verglichen dessen hohe Gestalt noch vor ihren Augen schwebte und dessen majestätische Worte in ihren Ohren nachhallten. Die große Mehrheit aber auf beiden Seiten, Blaue sowohl als Gelbe, begrüßten das Aufstehen Dick Avenel's als eine Befreiung von dem Zwange, der ihrem geringen Verständniß angethan worden war, während sie ihre Aufmerksamkeit auf Audley's Rede gerichtet hielten. Die Gelben riefen Hurrah, und die Blauen pusteten; es war ein wirrer Stimmenlärm und in der ganzen aufgeregten Masse ein Hinundherwogen von ungewaschenen Gesichtern und derben Schultern.

Aber Dick hatte so viel Muth und Zuversicht als Audley selbst, und diese Sicherheit, sein hübsches Aeußere und die neugierige Erwartung, was er zu sagen haben werde, verschafften ihm allmälig Gehör. Und nachdem er einmal die Aufmerksamkeit gefesselt hatte, wußte er sie auch festzuhalten. Sein Selbstvertrauen wurde durch einen Groll gegen Egerton unterstützt, der an Gehässigkeit grenzte. Er hatte sich für diese Gelegenheit mit einem ganzen Arsenal von Citaten aus Egerton's Reden (Hansard's Debatten Hansard ist der traditionelle Name der transliterierten Parlamentsdebatten in Großbritannien; er geht zurück auf Thomas Curson Hansard (1776–1833), einen Londoner Drucker und Verleger, der sie als erster druckte. entnommen) bewaffnet, und indem er dieselben in der unredlichsten und scharfsinnigsten Weise benützte, suchte er den unzusammenhängendsten Bruchstücken eine so schlimme Deutung zu geben und die harmlosesten Reden in so unpopuläre, willkürliche und tyrannische Lehrsätze zu verkehren, daß es ihm so ziemlich gelang, den erleuchteten und unbestechlichen Egerton als ränkevollen Wetterhahn, als Verteidiger von Unterschleifen, als Lobredner von Manchestermetzeleien und so weiter hinzustellen. Und diese Ausfälle wirkten um so mehr, weil die sorgfältig verbreitete Selbstvertheidigung des Exministers dieselben herausgefordert zu haben schien.

Nachdem nun Dick, wie er erklärte, »den sehr Ehrenwerthen Gentleman siegreich mit seinen eigenen Worten widerlegt hatte«, glaubte er sich befugt, in die – wie er sich ausdrückte – gerechte Entrüstung eines freigebornen Briten, mit andern Worten, in alle Schattirungen von Schimpfreden auszubrechen, welche schlechter Geschmack einem gereizten Gefühl eingeben konnte. Und er that es so rundweg und furchtlos, in einem so ächten Wahltribünenstyl, daß er, für den Augenblick wenigstens, die große Masse hinlänglich mit sich fortriß, um das unwillige Gemurmel der blauen Comitemitglieder zum Schweigen zu bringen, ohne sich um das verlegene Kopfschütteln zu bekümmern, durch welches sich die aristokratischer Gesinnten und Gebildeteren unter den Gelben gegenseitig zu verstehen gaben, daß sie sich ihres Candidaten herzlich schämten.

Dick schloß seine Rede mit der nachdrücklichen Erklärung, daß die Tauge des sehr Ehrenwerthen Gentleman vorüber seien, und daß sich das Volk lange genug von hochmütigen Aktenwürmern habe prellen und plündern lassen, die nur an ihre Besoldungen dächten und nur aus ihre Kanzleien kämen, um Tinte, Papier und Federn zu vergeuden, die sie nicht bezahlten. Der sehr Ehrenwerthe Gentleman rühme sich, er habe während zwanzig Jahren seinem Vaterlande gedient! Ausgedient hätte er sagen sollen! (Gelächter.) In einem saubern Zustand befinde sich jetzt das Land. Kurz, zwanzig Jahre lang habe der sehr Ehrenwerthe Gentleman seine Hände in den Taschen des Vaterlandes stecken gehabt.

»Und ich frage euch,« rief Dick mit lauter Stimme, »ob Einer von euch im Geringsten besser daran ist, trotz allem, was er daraus geholt hat?«

Die hundertundfünfzig Unentschlossenen schüttelten die Köpfe. »Nein, das sind wir nicht!« riefen die Hundertundfünfzig in klagendem Tone.

»Ihr hört das Volk! Es verdammt Euch und Eure ganze Sippschaft. Ich wiederhole hier, was ich einst bei einer weniger öffentlichen Gelegenheit gelobte – ›So wahr mein Name Richard Avenel ist, Ihr sollt mir büßen für‹ – (Dick hielt einen Augenblick inne) – büßen für Eure Geringschätzung der wohlbegründeten Rechte, ehrenhaften Ansprüche und erleuchteten Bestrebungen Eurer entrüsteten Landsleute. Wir sind dem Schulmeister entwachsen, und der britische Löwe ist erwacht!«

Dick setzte sich nieder. Die krumme Linie der Verachtung war von Egerton's Lippe gewichen; – bei dem Namen »Avenel«, so hart ausgesprochen, hatte er plötzlich sein Gesicht mit der Hand beschattet.

Allein Randal Leslie erhob sich jetzt, und Audley schlug langsam die Augen auf und blickte mit dem Ausdruck freundlicher Theilnahme nach seinem Schützling hin. In der That war eine bessere Gelegenheit für das erste Auftreten eines jungen Mannes kaum denkbar, um die groben Angriffe auf einen ausgezeichneten Gönner, dem er mit Wärme zugethan war, zurückzuweisen, oder als angehender Politiker die von diesem Beschützer vertretenen Grundsätze zu verteidigen. Die Blauen zitterten vor entrüsteter Aufregung und hielten sich bereit, jedem Worte lauten Beifall zuzurufen, durch welches ihr tiefempfundenes Gefühl der erlittenen Schmähung zum Ausdruck gelangte, und selbst die Gemeinsten unter den Gelben hatten, nun Dick zu sprechen aufgehört, eine unbestimmte Empfindung, daß ihr Redner sich schreckliche Blößen gegeben habe und (ganz besonders von dem Freund und Verwandten Audley Egerton's) jede strafende Gegenbeschuldigung reichlich verdiene, die sich auf dem Herzen des Mannes auf die Zunge des Redners drängen konnte.

Wie schon bemerkt, eine bessere Gelegenheit für einen ehrenhaften jungen Debütanten konnte es nicht geben – für Randal Leslie aber war es die unangenehmste, verwirrendste und am schwersten zu bewältigende, welche die Bosheit der Schicksalsmächte zu erfinden vermocht hatte. Wie konnte er Dick Avenel angreifen – er, der auf Dick Avenel rechnete, um seine Erwählung durchzusetzen? Wie konnte er die Gelben gegen sich erbittern, nachdem Dick ihm so feierlich eingeschärft hatte, »nichts zu sagen, wodurch er sich um ihre Stimmen bringen könnte«? Wie durfte er sich zu Egerton's Politik bekennen, da seine Politik darin bestand, in den Augen seiner Gegner als ein vorurteilsfreier, verständiger junger Mann zu erscheinen, der über kurz oder lang ihre Farbe zu der seinigen machen werde? Demosthenes selbst würde die Stimme versagt haben – in noch schlimmerer Weise, als da er Harpalus' ›goldenen Becher geschluckt‹ Harpalos war Schatzmeister Alexanders des Großen gewesen, hatte sich jedoch zu viele Freiheiten erlaubt, große Mengen an Geld verschwendet und ein ausschweifendes Leben geführt. Bei Alexanders Rückkehr, 324 v.u.Z., floh er mit 5000 Talenten Silber und 6000 griechischen Söldnern nach Athen, wo er sich durch Bestechung und großartige Freigebigkeit das Ehrenbürgerrecht erwarb. Harpalos wurde auf Verlangen Alexanders später festgesetzt, konnte aber entkommen; auf Kreta schließlich erschlug ihn Thibron, ein spartanischer Söldnerführer. In Athen wurden mehrere der angesehensten Männer, darunter Demosthenes, der Bestechung durch Harpalos beschuldigt. Demosthenes und einige andere wurden auch tatsächlich verurteilt. – hätte sich Demosthenes in einer so verwünschten Klemme befunden.

So mag Randal Leslie wohl zu entschuldigen sein, wenn er stotterte und unschlüssig zögerte – wenn ihn jedes Bravo, das ein zu Egerton's Vertheidigung gesprochenes Wort hervorrief, erblassen machte – wenn er so jämmerlich und kriechend aussah, so oft ihm eine Höflichkeit gegen Dick auf die Lippen trat. Die Blauen waren kläglich enttäuscht und ließen den Muth sinken; die Gelben schmunzelten und faßten sich ein Herz. Audley Egerton's Stirne zog sich finster zusammen.

Harley, der halb hinter der vorderen Reihe verborgen als ruhiger Zuhörer auf der Plattform stand, beugte sich vor und flüsterte Audley trocken zu:

»Du hättest deinem gescheidten jungen Freunde vorher eine Unterweisung geben sollen. Seine Liebe zu dir überwältigt ihn!«

Audley erwiderte nichts, sondern riß ein Blatt aus seinem Taschenbuch und schrieb mit Bleistift folgende Worte darauf:

»Sagen Sie, daß Sie sich nicht ohne Verlegenheit befinden, wie Sie Mr. Avenel antworten sollen, indem ich Sie ausdrücklich ersucht hätte, sich zu keiner gehässigen Aeußerung gegen einen Gentleman hinreißen zu lassen, dessen Vater und Schwager ich die Mehrheit von zwei Stimmen verdankte, durch welche mir mein erster Sitz im Parlament gesichert wurde. Dann gehen Sie sogleich auf die allgemeine Politik über.«

Dieses Papier drückte Egerton Randal in die Hand, als der unglückliche junge Mann eben auf dem Punkte stand, gänzlich stecken zu bleiben. Er hielt inne, holte tief Athem und las die Worte aufmerksam. Das allgemeine Gekicher gab ihm endlich seine Geistesgegenwart zurück – er sah einen Ausweg aus seiner Klemme – sammelte sich – richtete plötzlich sein Haupt empor – und verbreitete sich mit fester Stimme über den ihm gebotenen Text.

Er sprach so unerwartet gut und fließend, daß er die ganze Zuhörerschaft in Erstaunen setzte; den Blauen gefiel der Beweis von Audley's Edelmuth und die Gelben waren gerührt von einer so achtungsvollen Rücksicht für die Familie ihrer beiden Candidaten. Der Redner ging nun auf diejenigen politischen Fragen und Erörterungen über, auf welche er sich gründlich und sorgfältig vorbereitet hatte, und hielt einen sehr kunstvoll zusammengesetzten Vortrag, in welchem er allerdings weder für die eine noch für die andere Seite entschieden Partei nahm, wohl aber den bewunderungswürdigen Takt und die feine Klugheit eines alten Praktikus zeigte, der sich gegen Niemand und in nichts eine Blöße geben will.

Im Ganzen war es eine anerkennenswerte Leistung, wenigstens als Beweis einer wohlüberdachten Zurückhaltung, wie man sie bei einem so jungen Mann selten finden mochte – für eine Volksrede vielleicht zu gesucht und zu gelehrt – immerhin aber eine recht gute Abhandlung über beide Seiten der Frage. Randal wischte sich die blasse Stirne mit selbstzufriedener Miene und nahm unter dem Beifall namentlich der anwesenden Rechtsgelehrten seinen Platz wieder ein.

Die Reihe des Sprechens kam nun an Leonard. Leicht erregbar, wie Dichter und Schriftsteller es meistens sind, und von Natur aus schüchtern, zitterte seine Stimme, als er begann. Allein er verließ sich, ohne es selbst recht zu wissen, weniger auf seinen Verstand als auf sein warmes Herz und sein edles Gemüth, von denen ersteres ihm die Worte eingab, und letzteres allmälig seinem ganzen Wesen eine Würde verlieh. Er benützte die Stellen aus Randal's Rede, welche demselben von Audley in den Mund gelegt worden waren, um den Eindruck zu verwischen, den der rohe Angriff seines Onkels hervorgebracht hatte.

»Wenn doch der sehr ehrenwerthe Gentleman selbst jene zarte und großmüthige Anspielung auf die Dienste gemacht hätte, deren sich zu erinnern er so gütig gewesen, denn in diesem Fall würde nach seiner (Leonard's) Ueberzeugung Mr. Avenel von all' der Bitterkeit frei geblieben sein, welche ein politischer Kampf um so leichter erzeuge, je fester gewurzelt die politischen Meinungen seien. Ein Glück wäre es, wenn irgend ein solches milderes Gefühl, wie dasjenige, welchem Mr. Egerton durch Mr. Leslie habe Worte geben lassen, vor jedem scharfen Streit zum Ausdruck käme und die Gegner daran erinnerte – wie Mr. Leslie so nachdrücklich gethan – daß jeder Schild zwei Seiten ›habe und man recht wohl die eine für golden erklären könne, ohne der Behauptung des Kämpen zu nahe zu treten, welcher sage, die andere sei silbern.«

Hierauf ließ der junge Redner, ohne daß es geschienen hätte, als lasse er seinen Onkel fallen, in dessen Namen mit so ausgezeichneter Anmuth und seinem Gefühl eine Entschuldigung einfließen, daß ihm beide Parteien lauten Beifall spendeten, und selbst Dick es nicht wagte, die Einsprache, die auf seinen Lippen schwebte, laut werden zu lassen.

Wenn jedoch Leonard mit solcher Achtung gegen Mr. Egerton verfuhr, so hatte er nicht den mindesten Grund, Randal Leslie zu schonen. Gewöhnt, mit scharfem Blick Charaktere zu zergliedern und die menschliche Natur zu erforschen, entdeckte er schnell die übertünchte Unredlichkeit in Randal's kunstvoller Rede. Seine Wangen glühten – seine Stimme ertönte immer lauter – seine Phantasie begann ihre Schwingen zu entfalten – sein Witz sprühte – als er die rhetorische Mosaik seines jüngeren Gegners in ihre einzelnen Theile zerlegte, die Falschheit seiner erkünstelten Mäßigung darthat, den Schleier von Worten mit seinem Schillergewebe von Gelb und Blau zerriß und zeigte, daß nicht eine einzige feste Ueberzeugung dahinter entdeckt werden könne.

»Mr. Leslie's Rede,« sagte er, »kömmt mir vor, wie ein Fährboot, das zu keinem andern Zwecke dient, als um von der einen auf die andere Seite überzugehen.«

Das Gleichniß war so treffend, daß es mit einem schallenden Gelächter aufgenommen wurde und selbst Egerton ein Lächeln entlockte.

»Was mich betrifft,« schloß Leonard, die Ergebnisse seiner schonungslosen Zergliederung zusammenfassend, »so bin ich ein Neuling in dem Kampf der Parteien, stünde ich jedoch nicht als Mr. Leslie's Gegencandidat, sondern als einfacher Wähler hier, so würde ich, der ich nach Rang und Stellung dem Volk angehöre, die Ueberzeugung hegen, daß er einer von jenen Politikern ist, in welchen die Wohlfahrt, die Ehre und die sittliche Erhebung des Volkes keine passenden Vertreter findet.«

Leonard erntete reichen und allgemeinen Beifall; seine Rede hatte die Gelben in ihrer eigenen Achtung wieder gehoben, Randal Leslie dagegen in den Augen der Blauen bedeutend geschadet. Randal fühlte dies mit einem bittern Gefühl im Herzen und einem Hohnlächeln auf der Lippe. Er warf Dick Avenel, von dem zuletzt trotz allen Blauen seine Erwählung doch noch abhängen konnte, einen verstohlenen Blick zu, den dieser mit einem ermuthigenden Blinzeln erwiderte. Alsdann wandte sich Randal zu Egerton und flüsterte diesem zu:

»Wie sehr hätte ich gewünscht, mehr Uebung im Sprechen zu besitzen, um Ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen zu können!«

»Ich danke Ihnen, Leslie; Mr. Fairfield hat jede Versäumniß von Ihrer Seite, so weit sie mich betraf, wieder gut gemacht. Und Sie sollten seinen Angriff auf Sie selbst entschuldigen, weil er dazu dienen kann, Ihnen zu zeigen, worin Ihr Fehler als Redner liegt.«

»Und worin wäre das?« frag Leslie mit eifersüchtigem Aerger.

»Darin, daß Sie nicht ein einziges Wort von dem glauben, was Sie sagen,« versetzte Egerton sehr trocken, wandte sich dann zu seinem Vorschlagenden und bemerkte mit einem leichten Seufzer: »Mr. Avenel darf stolz auf seinen Neffen sein! Ich wollte, der junge Mann wäre auf unserer Seite – ich könnte einen großen Debattenmann aus ihm ziehen.«

Die Verhandlungen sollten nun durch ein Aufheben der Hände zum Abschluß gelangen, als ein großer, breitschulteriger Wahlmann sich plötzlich in der Mitte der Halle erhob und erklärte, er habe einige Fragen zu stellen. Eine Bewegung ging durch die ganze Versammlung, denn dieser Wähler war der Demagog der Gelben, ein vortrefflicher Sprecher mit ehernen Lungen. »Ich werde mich sehr kurz fassen,« sagte der Demagog und begann nun unter der Form von Fragen an die beiden blauen Candidaten einen wüthenden Angriff auf den Grafen von Lansmere und dessen Sohn, Lord L'Estrange, indem er Letzteren der gröbsten Einschüchterungen und Bestechungen anklagte und als Beweis für die Wahrheit dieser Beschuldigungen die Anwesenheit verschiedener Wähler aus Fish Lane und Back Slums anführte, welche den Gelben untreu geworden in Folge der niedrigen Kunstgriffe der blauen Aristokratie, deren Vertreter, den edlen Lord, er hiermit aufforderte, ihm zu antworten.

Der Redner schwieg, und Harley trat plötzlich auf das Vordertheil der Plattform, zum Zeichen, daß er die Herausforderung annehme. So neugierig man auch gewesen war, Audley Egerton sprechen zu hören, so sah man doch mit wo möglich noch größerer Spannung Lord L'Estrange's Rede entgegen. Seine langjährige Abwesenheit von Lansmere – das unermeßliche Vermögen, dessen Erbe er war – der fast geheimnißvolle Ruf ausgezeichneter Talente, welche er noch niemals erprobt hatte – dies waren in der That Gründe genug, um Blaue und Gelbe zu veranlassen, mit angestrengtester Aufmerksamkeit und unterdrücktem Athem seinen Worten zu lauschen.

Man sagt, der Dichter werde als Dichter geboren, der Redner aber zum Redner gemacht – eine Behauptung, die nur theilweise wahr ist. Manche Menschen sind zu Dichtern gemacht und andere als Redner geboren worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Harley L'Estrange bisher nie öffentlich gesprochen, und nun vergingen keine fünf Minuten, ehe er die Leidenschaften und Launen aller Anwesenden eben so sehr in seiner Gewalt hatte, wie der Musiker die Töne seines Instrumentes beherrscht. Er besaß von Natur eine der vielfältigsten Modulation fähige Stimme, beredte, in ihrem Ausdruck stets wechselnde Züge und (wie es bei tiefen Humoristen immer der Fall ist) eine sehr lebhafte Empfänglichkeit für die komische sowohl, wie für die ernste Seite bei allem, was sich seinem kräftigen Verstande darbot. Leonard war die Beredsamkeit des Dichters, Audley Egerton diejenige des Parlamentsredners eigen; Harley aber besaß die seltenere Gabe jener Beredsamkeit, die nichts mit dem Stoff gemein hat, den sie behandelt – die Gabe, welche Demosthenes unter der dreifache Erforderniß des Redners versteht, und die unrichtig mit »Action« übersetzt worden ist, während in Wirklichkeit das Handeln selbst, das »Bühnenspiel«, damit gemeint ist. Leonard und Audley sprachen Beide gut, weil ihre Reden verständig waren; Harley aber hätte Unsinn reden und ihn wirksamer als Weisheit machen können – wie ein Kemble oder Macready John Philip Kemble (1757-1823) und William Charles Macready (1793-1873), bedeutende und einflussreiche englische Schauspieler. in dem unbedeutendsten Lustspiel tiefere Eindrücke hervorzubringen vermochten, als unsere besten Schauspieler in einem »Hamlet« zu erzielen im Stande sind.

Die Rednerkunst steht in der That mit der dramatischen in einer innigeren Verbindung, als mit irgend einer andern, und durch Harley's ganzes Wesen (obwohl ihm selbst vollständig unbewußt) zog sich, wie der Leser bemerkt haben mag, jener Hang, das ganze Thun und Denken auf einen einzelnen Zweck zu concentriren und die Verhältnisse demselben dienstbar zu machen, wodurch die Welt sich zu einer Schaubühne umwandelt, und die verschiedenen und zerstreuten Handlungen zu dem Ebenmaß und der Gedrungenheit des Drama's gesammelt werden.

Man findet diesen Hang, der allerdings oft scheinbar theatralische Wirkungen hervorbringt, nicht selten bei den aufrichtigsten, einfachsten Menschen, und er ist in der That nichts Anderes, als die natürliche Folge rascher, aus warmen Gefühlen entspringender Kraftentwicklung. Daher drückt sich auch stets die Geschichte der Völker, so lange sie in ihrer frischen, kräftigen, halbcivilisirten Jugend stehen, in dramatischer Form aus, während man in demselben Verhältniß, in welchem mit der Civilisation der nüchterne Verstand auf Kosten der lebhafteren Fähigkeiten und Impulse um sich greift, geneigt ist, in der dramatischen Form des Ausdrucks, gleichviel, ob in Bezug auf Gedanken oder Handlungen, das Gegentheil der Wahrheit, statt des eigentlichsten, innersten Wesens derselben zu erblicken.

Um jedoch von dieser langen und einigermaßen metaphysischen Abschweifung zurückzukommen, so mag der Grund, weßhalb Harley L'Estrange so wunderbar gut sprach, gewesen sein, welcher er wollte – daß er wunderbar gut sprach, war über jeden Zweifel erhaben. Er zog den Demagogen und seinen Angriff auf die glücklichste Weise in's Lächerliche, beschrieb ein Abenteuer dieses tugendhaften Gentleman, wie er die reinen Regionen von Fishlane und Back Slums durchsuchte und nach Bestechung fahndete, und faßte alsdann die Beweise, auf welche der Demagog seine Anklage gegründet hatte, mit einem so beißenden und originellen Humor zusammen, daß die Lachmuskeln der Zuhörerschaft in fortwährender Thätigkeit erhalten wurden. Dann aber riß Harley die Anwesenden von der größten Heiterkeit fast zu Thränen hin, als er von den Verdächtigungen gegen seinen Vater sprach; er that es in einer Weise, daß jeder Sohn und jeder Vater in der Versammlung sich wie von der Stimme der Natur ergriffen fühlte.

Eine Wendung in der Rede, und eine neue Empfindung bemächtigte sich der Anwesenden. Harley sprach von seinem Stolze, Lansmere anzugehören und einer seiner Wähler zu sein, und plötzlich wurden auch alle andere Lansmerer Wähler stolz auf diesen ihren Mitbürger. Er erinnerte sich der alten Freunde aus seinen Schulferien und freute sich herzlich, so viele derselben gesund und in guten Verhältnissen wieder zu sehen. Er fand ein glückliches Wort für Jeden.

»Theures altes Lansmere!« sagte er, und dieser einfache Ausruf gewann ihm Aller Herzen. Und als er endlich inne hielt, wie wenn er ausgeredet habe, brach ein förmlicher Sturm von Beifall los. Audley ergriff seine Hund und flüsterte:

»Ich bin der Einzige hier, der nicht überrascht ist, Harley. Du hast nun deine Kräfte erprobt – lasse sie nie wieder einschlummern. Welch' ein Leben liegt vor dir, wenn du es nicht länger vergeudest!«

Harley machte seine Hand los, und sein Auge funkelte. Er gab ein Zeichen, daß er noch mehr zu sagen habe, und das Rufen und Toben verstummte.

»Mein sehr ehrenwerther Freund macht mir Vorwürfe, daß ich meine Jahre vergeudet. Allerdings, ich habe sie vergeudet – gleichviel, wie oder weßhalb. Allem die seinigen – wie hat er sie heimgebracht? In solcher Aufopferung für das allgemeine und öffentliche Wohl, daß ihm nach der Ansicht derjenigen, welche ihn nicht so genau kennen, wie ich, nicht ein Gefühl übrig geblieben für die niedrigeren Pflichten und untergeordneteren Neigungen, welche bei Männern von gewöhnlichen Talenten und weniger hochfliegendem Geiste die Kettenglieder in jener gesellschaftlichen Ordnung bilden, die zu behüten und zu verteidigen die erhabene Aufgabe von Staatsmännern gleich Demjenigen ist, welcher in diesem Augenblick an meiner Seite sitzt. Ich für meinen Theil glaube jedoch, daß es nichts Gefährlicheres gibt, als den feierlichen Heuchler, der, weil er seine kalte Natur mechanisch in den Dienst eines conventionellen Begriffs zwängt – mag er diesen ›Constitution‹ oder ›Volk‹ nennen – sich alles dessen enthoben wähnt, was in dem warmen Blute des Privatlebens Liebe zum Guten und Vertrauen zu der Wahrheit erzeugt. So überlasse ich es denn Andern, meinen sehr Ehrenwerthen Freund als einen durch nichts zu bestechenden Politiker zu preisen; mir aber möge gestattet sein, ihn als den treuen, aufrichtigen Mann zu zeichnen, der wie jener ehrliche Priester ›nicht im Stande wäre, eine Lüge auszusprechen, selbst wenn er den Himmel damit gewinnen könnte,‹ und dessen feines Ehrgefühl schon in der Verheimlichung der Wahrheit eine Lüge sehen würde!«

Harley entwarf sodann eine glänzende Schilderung von dem Musterbild ritterlicher Ehrenhaftigkeit – von dem Ideal, welches sich der Engländer unter einem »vollkommenen Gentleman« vorstellt – und wandte jeden Satz mit einem scheinbar aus dem innersten Herzen quellenden Nachdruck auf seinen sehr Ehrenwerthen Freund an. Allen Anwesenden, zwei ausgenommen, erschien diese Lobeserhebung als der unwillkürliche Erguß warmen Freundeseifers – die überzeugende Aufrichtigkeit, mit welcher sie ausgesprochen wurde, bewahrte sie vor dem Vorwurf der Uebertreibung. Aber Levy rieb sich die Hände und lachte innerlich, während Egerton das Haupt senkte und unruhig auf seinem Stuhle hin und her rückte. Jedes Wort aus Harley's Munde traf Audley's Brust gleich einem Pfeil.

Unter den Beifallrufen, welche dieser bewunderungswürdigen Zeichnung des »treuen Mannes« folgte, erkannte Harley Leonard's begeisterte Stimme. Rasch wandte er sich gegen den jungen Mann –

»Mr. Fairfield scheint an diesem Bilde von Rechtschaffenheit und seiner Anwendung Gefallen zu finden. Möge er das Muster, das ihm vorgehalten worden, nachahmen, so wird er dereinst ein eben so aufrichtiges Lob, wie das meinige, aus dem Munde eines Freundes hören dürfen, der seinen Werth erprobte, wie ich denjenigen Mr. Egerton's erprobt habe. Mr. Fairfield ist ein Dichter; sein Anspruch an diesen Titel wurde von einem meiner Vorredner angefochten – allein mit Unrecht! An Mr. Fairfield ist jeder Zoll ein Dichter. Aber es ist gefragt worden, ob Poeten sich für die Staatsgeschäfte eignen? ob sie nicht Sonette auf Liese und Grete schreiben werden, wenn sie ihre göttliche Einbildungskraft den Einzelheiten eines Biersteuergesetzes zuwenden sollten? Mr. Fairfield's Freunde mögen sich jedoch beruhigen. Die Wahrheit zwingt mich, zu sagen – selbst auf die Gefahr hin, den beiden Candidaten, deren Sache ich zu der meinigen gemacht habe, zu schaden – daß die besten Dichter, wenn sie sich zu Geschäften herablassen, nicht weniger prosaisch sind, als die Blödesten unter uns; sie werden von denselben Interessen geleitet, von denselben kleinlichen Leidenschaften beeinflußt. Man irrt, wenn man glaubt, irgend etwas im gewöhnlichen Leben, im öffentlichen wie im Privatleben, könne zu gering sein für die außerordentliche Geschmeidigkeit ihrer Phantasie. Ja, im öffentlichen Leben dürfen wir ihnen sogar eher trauen, als andern Menschen, denn die Eitelkeit ist eine Art zweiten Gewissens, und – wie ein Dichter selbst gesagt hat –

›Wer schlimmes Thun nicht scheut, will doch den Namen nicht,
Und ist ein Sklav' der Scham, wo kein Gewissen spricht.‹ Aus: John Denham (1615-68), »Coopers Hill«.

Im Privatleben jedoch thun wir gut, vor diesen Kindern der Phantasie auf unserer Hut zu sein, denn sie weihen die Schätze ihres Gefühls so ganz der Muse, daß wir ihnen eben so wenig zumuthen dürfen, einen Gedanken an die gewöhnlichen Menschenpflichten zu vergeuden, als wir von einem zu den Löwen der Hauptstadt zählenden Verschwender erwarten können, ›er werde sein Geld mit Berichtigung seiner Schulden vertändeln.‹ Aber alle Welt ist einverstanden, Nachsicht mit den Schwächen derjenigen zu haben, welche sich selbst betrügen und ihre eigene Strafe in sich tragen. Die Dichter haben mehr Begeisterung, mehr Liebe, mehr Herzenswärme, als andere Menschen, doch nur für ihre selbstgeschaffenen Phantasiegebilde. Es ist umsonst, sie durch gewöhnliche Verdienste und alltägliche Verpflichtungen an Uns fesseln zu wollen, so viele Mühe und Opfer wir auch aufwenden mögen. Sie sind undankbar gegen uns aus dem einfachen Grunde, weil die Dankbarkeit etwas gar so Unpoetisches ist. Wir verlieren sie in demselben Augenblick, in dem wir sie fest zu halten suchen. Ihre Liebe

›Hebt, leicht wie Luft, droht ihr ein menschlich' Band,
Die Schwingen und enteilt in fernes Land.‹ Nach Alexander Pope, Eloisia to Abelard, V. 75f.

Sie folgen ihren Laune, beten ihre eigenen Blendwerke an und beschwören, weil ihnen menschliche Gestalten zu materiell für ihre phantastische Zuneigung erscheinen, ein Gespenst herauf, in dessen kalter Umarmung der Tod ihrer wartet!«

Harley wurde plötzlich gewahr, daß er das Fassungsvermögen seiner Zuhörer und zugleich die Grenzen seines bittern Geheimnisses überschritt (denn nicht Leonard, sondern Nora schwebte ihm in diesem Augenblick vor), und so gab er denn seiner schrecklichen Ironie eine neue und verständlichere Wendung, indem er die erhabensten Stellen aus Leonard's Rede in's Lächerliche zog, hierauf einen raschen Blick auf die politischen Fragen im Allgemeinen warf und Leslie mit demselben scheinbaren Ernst und der verborgenen Satyre verteidigte, womit er Egerton gelobt hatte. Endlich schloß er seine Rede, die in Beziehung auf populären Erfolg in dieser Halle nie ihres Gleichen gehabt hatte und einen donnernden Beifallssturm hervorrief, der das ganze Gebäude erzittern machte.

Nach wenigen Minuten wurden die Verhandlungen geschlossen – man ging zum Erheben der Hände über. Der Major, ein durch und durch Blauer, erklärte, das Ergebniß dieses Verfahrens spreche zu Gunsten des sehr ehrenwerthen Audley Egerton und Randal Leslie's, Esquire.

Rufe von »Nein!« – »Pfui!« – »Parteiisch!« und so weiter ließen sich hören – eine namentliche Abstimmung wurde verlangt – und dann begann die Menge aus der Halle zu strömen.

Harley war der Erste, der verschwand; er zog sich durch einen besondern Eingang zurück, und Egerton folgte ihm. Randal blieb noch etwas zurück, und als Avenel dies bemerkte, trat er auf ihn zu und schüttelte ihm offen die Hand, wobei er ihm jedoch heimlich zuflüsterte: »Treffen Sie mich diesen Abend in Lansmere Park – in dem Eichenwäldchen, ungefähr dreihundert Schritte von dem Pförtchen am Ende des Parks gegen die Stadt hin. Wir müssen sehen, wie wir alles in Ordnung bringen. Was für eine verwünschte Schwindelei dies gewesen ist!«


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Harley's kräftige Rede hatte Freund und Feind in höchstem Grad überrascht, auf keinen der Zuhörer jedoch – nicht einmal den von seinem Gewissen geschlagenen Egerton ausgenommen – einen so tiefen Eindruck gemacht, als auf den bestürzten und schwer angegriffenen Leonard. Er war zuerst völlig betäubt von dem so unverdienten, beißenden Spott, und erst nachdem die Versammlung auseinander gegangen, konnte er sich auf irgend eine Veranlassung besinnen, welche diesen bittern Hohn herausgefordert und dessen Pfeile gestützt haben mochte. Augenscheinlich war das Geständniß seiner Liebe, welches Leonard Helene Digby gemacht hatte, Harley zu Ohren gekommen, von diesem jedoch ganz falsch aufgefaßt worden. Und nun fühlte sich der junge Mann durch diese Beschuldigungen einer Mißachtung der Pflichten des gewöhnlichen Lebens nicht nur im innersten Herzen verletzt, sondern auch an seiner Ehre beleidigt. Der gekränkte Stolz des Mannes empörte sich gegen diese Ungerechtigkeit. Er mußte Lord L'Estrange unverzüglich aufsuchen und sich vor ihm rechtfertigen – sich und Helene rechtfertigen, denn die Anklage gegen ihn enthielt zugleich auch eine stillschweigende Beschuldigung gegen sie.

Nachdem sich Leonard von seinen begeisterten Anhängern losgemacht hatte, schlug er sogleich den Weg nach Lansmere Haus ein. Die Umzäunung des Parks, welcher sich bis dicht vor die Stadt erstreckte, war hier durch eine kleine Pforte für Fußgänger unterbrochen, und als Leonard, dieselbe benützend, einige hundert Schritte im Park zurückgelegt und eben das Eichenwäldchen erreicht hatte, in welchem Avenel mit Leslie zusammentreffen wollte, sah er sich plötzlich Miß Digby gegenüber.

Helene erschrak und stieß einen schwachen Schrei aus. Allein Leonard, ganz von seinem Wunsche erfüllt, sie Beide zu rechtfertigen, hielt sich nicht damit auf, die Gründe seines Hierherkommens auseinander zu setzen oder ihre Aufregung zu beschwichtigen.

»Miß Digby!« rief er, indem er in seine Stimme und in sein Benehmen jene Achtung legte, welche oft so grausam den Gegensatz zwischen der früheren Vertraulichkeit und der gegenwärtigen Entfremdung hervorhebt – »Miß Digby, ich freue mich, Sie zu sehen – freue mich, daß ich Sie hiermit um die Erlaubniß bitten kann, mich von einem Vorwurf reinigen zu dürfen, der zwar nur gegen mich gerichtet gewesen ist, in Wahrheit aber auch Sie selbst betrifft. Lord L'Estrange hat soeben öffentlich angedeutet, daß ich – ich – der ich ihm so viel verdanke und ihn so aufrichtig verehrt habe, daß ich in dem gerechten Unwillen, der mich jetzt erfüllt, halb und halb eben jene Undankbarkeit erblicke, deren er mich anklagt – Lord L'Estrange hat angedeutet, daß – ah, Miß Digby, ich kann kaum Worte finden, um das zu wiederholen, was hören, was hören zu müssen mich so sehr demüthigte. Aber Sie wissen, wie falsch jede derartige Beschuldigung ist – Sie wissen, daß niemals Eines von uns fähig gewesen wäre, unsern gemeinschaftlichen Wohlthäter zu hintergehen. Gestatten Sie mir, unsere Unterredung, als wir uns das letzte Mal sahen, Ihrem Vormund mitzutheilen und ihm zu sagen, in welcher Weise ich Sie damals verließ.«

»O. Leonard, gehen Sie sogleich zu ihm und rechtfertigen Sie sich in seinen Augen. Lord L'Estrange ist ungerecht und unedelmüthig!«

»Helene Digby!« ließ sich eine Stimme ganz in der Nähe vernehmen »von wem sprichst du so?«

Beim Ton dieser Stimme wandten sich Helene und Leonard gleichzeitig um und sahen Violante vor sich stehen. Der edle Unwille, der aus ihren Augen blitzte, auf ihren Wangen glühte und ihre stolze Gestalt beseelte, verlieh ihrer jugendlichen Schönheit beinahe etwas Erhabenes.

»Bist du es, die so von Lord L'Estrange spricht? Du – Helene Digby – du?«

Hinter Violante kam nun auch Mr. Dale zum Vorschein.

»Ruhig, Kinder,« sagte er, eine Hand auf Violantes Schulter legend, während er die andere Leonard hinbot. »Was soll dies? Kommen Sie mit mir, Leonard, und erklären Sie mir, was Sie haben.«

Leonard entfernte sich mit dem Pfarrer und machte in einigen kurzen Sätzen seinem schwellenden Herzen Luft.

Mr. Dale theilte Leonard's Unwillen, und nachdem er bald alles von ihm in Erfahrung gebracht, was auf jene denkwürdige Zusammenkunft mit Helene Bezug hatte, rief er aus:

»Genug! Gehen Sie vorerst nicht zu Lord L'Estrange – ich bin im Begriff, ihn selbst aufzusuchen. Er hat mich nämlich hierher beschieden, allerdings erst auf morgen, allein der Squire schrieb mir einige hastige Zeilen, in welchen er mich bittet, morgen mit ihm in Lansmere zusammenzutreffen und nachher mit ihm dem armen Frank nachzureisen, und so dachte ich, es würde mir wenig Zeit zu einer Unterredung mit Lord L'Estrange übrig bleiben, wenn ich nicht seiner Einladung statt morgen heute schon nachkäme. Und nun wie gut, daß ich es that! Ich traf erst vor einer Stunde ein, hörte, daß Mylord im Stadthaus sich befinde, und suchte die jungen Damen im Park auf. Miß Digby, welche sich wohl denken mochte, daß ich meiner alten Freundin Violante vielleicht manches im Vertrauen zu sagen haben würde, ging einige Schritte voraus. So traf es sich denn glücklich, daß ich hier war, um Ihren Bericht entgegen nehmen zu können, und nun hoffentlich im Stande sein werde, dieses Mißverständniß aufzuklären. Lord L'Estrange muß nun zurückgekehrt sein, und während ich ihn aufsuche, gehen Sie nach der Stadt zurück, ich bitte Sie inständig darum. Ich werde nachher zu Ihnen in Ihren Gasthof kommen. Ihre Anwesenheit hier im Parke, selbst die wenigen Worte, welche Sie mit Helene gewechselt, könnten den Bruch zwischen Ihnen und Ihrem Wohlthäter erweitern. Dieser Gedanke ist mir unerträglich. Darum bitte ich Sie dringend, gehen Sie zurück. Ich will Lord L'Estrange alles auseinandersetzen, und er soll Ihnen gerecht werden. Das ist – das muß seine Absicht sein!«

» Istmuß seine Absicht sein – nachdem er eben erst so ungerecht gegen mich gewesen!«

»Doch, doch,« stotterte der arme Pfarrer, der sich seines Lord L'Estrange gegebenen Versprechens erinnerte, seine Zusammenkunft mit demselben geheim zu halten, und nun nicht wußte, was er sagen und wie er Leonard beschwichtigen sollte. Noch immer hielt er Leonard für Harley's Sohn, und indem er alles dessen gedachte, was Harley, von augenscheinlicher Reue über ein begangenes Unrecht getrieben, so ausdrücklich von Sühne gesprochen hatte, so erschien es Mr. Dale selbst ganz unbegreiflich, weßhalb Harley in solcher Weise der Genugthuung eine Beleidigung vorausschicken mochte. Um jedoch ein Zusammentreffen zwischen Harley und Leonard zu verhindern, so lange noch Beide unter dem Einfluß so gereizter Gefühle standen, machte er eine gewaltige Anstrengung über sich selbst und befürwortete seinen diplomatischen Vorschlag mit so viel Geschick, daß Leonard endlich, wenn auch mit Widerstreben, einwilligte, Mr. Dale's Bericht abzuwarten.

»Was eine etwaige Genugthuung oder Entschuldigung betrifft,« sagte er stolz, »so bleibt diese Lord L'Estrange überlassen. Ich verlange sie nicht. Sagen Sie ihm nur so viel, daß ich von dem Augenblick an, als ich erfuhr, daß diejenige, welche ich so viele Jahre wie ein reineres, höheres Wesen liebte und verehrte, seine Verlobte geworden, jedem früher gehegten Wunsche, sie die meinige nennen zu dürfen, auf immer entsagte – daß ich Tag und Nacht betete, sie, die ein Segen für mein einsames und mühevolles Leben gewesen wäre, möge dem seinigen ein Glück bereiten, wie es ihm sein Reichthum und seine Größe nicht zu verleihen im Stande sind. Wenn dies Mißachtung der gewöhnlichen Menschenpflichten, wenn dies Undank ist, so bekenne ich mich schuldig, so mag er mich verdammen; ich weiche aus seiner Sphäre – als ein Ding, das ihm für einen Augenblick in den Weg gekommen, und dessen Spur nun verwischt ist; Helene aber soll er keinen Vorwurf machen – sie durch keinen Argwohn beleidigen – nicht einmal in Gedanken. Noch ein Wort. In dieser Wahlangelegenheit – in diesem Kampf um Dinge, die meinen Gewohnheiten, meinen Verhältnissen und allen meinen bisherigen auf ein schöneres Ziel gerichteten Bestrebungen so ferne liegen – habe ich nur seinem Willen oder seiner Laune gefolgt, zu einer Zeit, da meine ganze Seele sich nach Ruhe und Einsamkeit sehnte. Ich hatte mich endlich gezwungen, Interesse an dem zu finden, was mir vorher so zuwider gewesen war. Allein in jeder Hoffnung für die Zukunft, in jedem Sporn des Ehrgeizes stand mir stets Lord L'Estrange's Achtung vor Augen. Was soll ich nun länger hier? Sein ganzes Benehmen, mit Ausnahme seiner Verachtung gegen mich, ist mir ein unverständliches Räthsel. Und wenn er nicht seinen ausdrücklichen Wunsch wiederholt, den ich allerdings noch immer halb und halb als Gesetz betrachten würde, so trete ich von dem Kampfe zurück, den er mir verbitterte, entsage dem Ehrgeiz, den er vergiftete, und kehre in meine Heimat zurück, eingedenk jener bescheidenen Pflichten, deren Geringschätzung er mir vorgeworfen hat.«

Der Pfarrer gab bei jedem dieser Sätze seinen Beifall durch ein Kopfnicken zu verstehen, und Leonard kehrte, nachdem er sich in gleich förmlicher Weise von Helene, wie von Violante verabschiedet hatte, nach der Stadt zurück.

Inzwischen hatten auch die beiden Mädchen eine vertrauliche Unterhaltung gepflogen und waren sich in Folge derselben viel theurer geworden. Die überraschte und aufgeregte Helene hatte nämlich Violante ihre Neigung zu Leonard bekannt und ihr zugleich mitgetheilt, daß Lord L'Estrange sie ihres ihm gegebenen Versprechens entbunden habe. Violante sah, daß Harley frei war – und Harley hatte versprochen, auch sie frei zu machen! Sie rief sich seine Worte, seine Blicke in's Gedächtniß zurück, und wie ein Blitz durchzuckte sie der Gedanke, daß sie geliebt sei, daß die Ehre allein ihm verboten habe, seine Liebe zu bekennen, so lange noch Beide in anderer Weise gefesselt waren. Violante erschien wie verwandelt, »erglühend in himmlischem Rosenroth« Nach John Milton, »Paradise Lost«, VIII, V. 619. – den Himmel im Herzen, Wonne in den Augen. Sie liebte so innig und vertraute so fest! Und in der eigenen überströmenden Glückseligkeit fand sie so süße Trostworte, daß Helenen's Arm sie sachte umschlang, und Wange an Wange sich legte. Sie waren Schwestern geworden!

Zu jeder andern Zeit würde sich Mr. Dale wahrscheinlich etwas verwundert haben über diese Freundschaft der beiden Mädchen, welche sich so plötzlich entwickelt hatte; denn in seinem vorhergehenden Gespräch mit Violante war er bemüht gewesen, in scherzhafter und, wie er wähnte, sehr schlauer Weise die Ansicht der jungen Italienerin über die verschiedenen guten Eigenschaften ihrer jungen Freundin zu ergründen; Violante aber hatte den Titel »Freundin« eher zu umgehen gesucht, und das Lob, welches sie großmüthig genug war, Helenen in reichem Maße zu spenden, schien nicht warm aus dem Herzen zu kommen. Der gute Mann war jedoch in diesem Augenblick nur damit beschäftigt, seine Gedanken für die Zusammenkunft mit Harley zu ordnen; schweigend schloß er sich den beiden Mädchen wieder an, gab Jeder einen Arm und ging langsam dem Hause zu. Als sie sich der Terrasse näherten, gewahrte er Riccabocca und Randal, welche zusammen auf dem Kiesweg auf und ab gingen.

Violante drückte den Arm des Pfarrers und flüsterte: »Lassen Sie uns auf der andern Seite des Hauses hineingehen; ich möchte einige Minuten ungestört mit Ihnen sprechen.«

Mr. Dale glaubte, Violante fühle sich durch Helenen's Gegenwart beengt, und sagte daher zu der Letzteren: »Mein liebes Fräulein, Sie haben vielleicht die Güte und entschuldigen mich bei Doctor Riccabocca, der mir winkt und ohne Zweifel sehr erstaunt ist, mich hier zu sehen – indeß ich meine Unterredung mit Violante, in welcher wir vorhin gestört worden, wieder aufnehme.«

Helene entfernte sich, und Violante führte den Pfarrer durch einen Theil des Gartens nach einer Seitenthüre in einen andern Flügel des Hauses.

»Was haben Sie mir zu sagen?« frug Mr. Dale, verwundert über ihr Stillschweigen.

»Sie werden Lord L'Estrange sehen. Ueberzeugen Sie ihn doch ja von Leonards Ehrenhaftigkeit. Der Verdacht eines Verraths schmerzt sein edles Herz so sehr, daß die Klarheit seines Urtheils darunter leiden könnte.«

»Sie scheinen eine sehr hohe Meinung von dem Herzen dieses Lord L'Estrange zu haben, mein Kind!« entgegnen Mr. Dale mit einiger Ueberraschung.

Violante erröthete, fuhr jedoch mit Festigkeit und großem Ernste fort: »Einige Worte, die er – das heißt, Lord L'Estrange – ganz kürzlich zu mir sagte, lassen mich die größte Beruhigung darin finden, daß Sie hier sind, daß Sie zu ihm gehen wollen, denn ich weiß, wie gut Sie sind – und wie weise – mein lieber, theurer Mr. Dale! Er sprach wie Jemand, der ein schweres Unrecht erlitten hat, und dessen ganze Lebensanschauung plötzlich dadurch verbittert worden. Er redete davon, sich von der Welt zurückzuziehen und in die Einsamkeit zu vergraben – er, an den sein Vaterland so viele Ansprüche hat. Ich weiß nicht, was diese Sinnesänderung veranlaßt haben kann – wenn nicht – wenn nicht der Grund in der Auflösung seines Verlöbnisses mit Helene Digby liegt.«

»Wie? Ist das Verlöbniß aufgelöst?«

»Ich weiß es von Helene selbst. Sie mögen wohl erstaunt sein, daß sie auch nur an einen Andern denken konnte, nachdem sie ihn kennen gelernt hatte!«

Der Pfarrer heftete einen sehr ernsten Blick auf die junge Schwärmerin. Allein, obwohl ihre Wangen glühten, so zeigte doch der Ausdruck ihres Gesichtes so viel offene, arglose Unschuld, daß sich Mr. Dale mit einem leichten Kopfschütteln und der trockenen Bemerkung begnügte:

»Ich finde es ganz natürlich, daß Helene Digby Leonard Fairfield vorzieht. Sie ist ein gutes Mädchen, das Eitelkeit und Ehrgeiz noch nicht verdorben haben – Versuchungen, welche zu fliehen uns Allen obliegt, und nicht am wenigsten vielleicht jungen Damen, die plötzlich mit Rang und Reichthum in Berührung kommen. Was die Verdienste dieses Edelmannes betrifft, so weiß ich noch nicht, ob ich sie anerkennen oder bestreiten soll, und behalte mir mein Urtheil bis nach unserer Unterredung vor. Das ist alles, was Sie mir zu sagen haben?«

Violante schwieg einen Augenblick.

»Ich kann nicht glauben,« sagte sie dann halb lächelnd – »ich kann nicht glauben, daß die Veränderung, welche mit ihm vorgegangen– denn verändert ist er – und die dunkeln Andeutungen über die erlittene Unbill und die Gerechtigkeit, die geübt werden müsse – daß an all' dem nur seine getäuschte Hoffnung in Bezug auf Helene die Schuld trägt. Aber Sie können es in Erfahrung bringen; Sie können sehen, ob es ihm so sehr nahe geht. Ich glaube es aber nicht!«

Sie entzog ihre kleine Hand dem Arme des Pfarrers und huschte durch das Immergrün. Halb verborgen hinter den Lorbeerbäumen wandte sie sich um, und Mr. Dale begegnete ihrem halb schalkhaften, halb wehmüthigen Blick; er strahlte nur matt, von einer Thräne umflort.

»Das gefällt mir nicht ganz,« murmelte der Pfarrer. »Ich werde Doctor Riccabocca eine Warnung zukommen lassen.«

Hierauf trat er durch die Seitenthüre in das Haus und bat einen Diener, den er dort antraf, ihn bei Lord L'Estrange zu melden.

Harley war in diesem Augenblick mit Levy eingeschlossen, und der Ausdruck seiner Züge, obwohl ruhig und gefaßt, verrieth einen erschreckenden Ernst.

»So, so,« sagte er, »morgen um diese Zeit ist Mr. Egerton um seinen Sitz im Parlament durch Mr. Randal Leslie betrogen – gut! Morgen um diese Zeit ist seinem Ehrgeiz der Todesstoß versetzt durch den Verrath seiner Freunde – gut! Morgen um diese Zeit nehmen die Häscher ihn fest – ihn, den zu Grunde gerichteten Bettler – weil er vertraut hatte und getäuscht wurde – gut! Und wenn er Ihnen einen Vorwurf macht, mein kluger Baron Levy – wenn er den glatten Mr. Randal Leslie anklagt – vergessen Sie nicht, ihm zu sagen: ›Wir waren Beide nur die blinden Werkzeuge Ihres Freundes Harley L'Estrange; fragen Sie ihn, warum Sie so schmählich hintergangen wurden.‹«

»Und darf ich Sie nun um ein einziges Wort der Aufklärung bitten, Mylord?«

»Nein, Sir! Begnügen Sie sich damit, daß ich Sie geschont habe. Allein Sie waren nie mein Freund – ich nehme keine Rache an einem Manne, dessen Hand ich niemals berührte.«

Mit finsterem Blicke ergab sich der Baron in die Gewalt seines Tyrannen, gegen welche er nicht anzukämpfen vermochte, und die ihm wirklichen Schrecken einflößte. Nach einer Pause begann er wieder –

»Und obgleich Mr. Leslie – Dank Ihren Bemühungen – Parlamentsmitglied für Lansmere werden soll, wünschen Sie doch noch immer, daß ich –«

»Thun Sie genau, wie ich Ihnen gesagt habe. Von meinem Plane wird nun kein Haar breit abgewichen.«

Der Kammerdiener trat ein

»Mylord, Seine Ehrwürden Mr. Dale lassen fragen, ob Sie ihn empfangen können?«

»Mr. Dale? Er sollte erst morgen kommen. Sage ihm, daß ich ihn heute noch nicht erwartete und unglücklicher Weise bis zum Diner beschäftigt bin, welches früher, als gewöhnlich, stattfinden wird. Man soll ihn in das für ihn bestimmte Gemach führen, er wird nur kurze Zeit zum Umkleiden haben. Beiläufig, Mr. Egerton speist auf seinem Zimmer.«


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Die Hauptmitglieder des blauen Comite's waren zur Tafel geladen und für dieselbe in der That eine sehr frühe Stunde anberaumt worden, da es an dem Vorabend einer Wahl, welche einen so scharfen Kampf erwarten ließ, noch manches zu thun geben konnte, um so mehr, als die unerschütterlichen Hundertundfünfzig ihre sehr werthvollen Stimmen noch immer zurückhielten.

Die Gesellschaft war heiter und belebt trotz der Abwesenheit Audley Egerton's, der sich unter dem Vorwand einer Verschlimmerung seines Befindens gleich nach seiner Rückkehr vom Stadthaus in seine Gemächer eingeschlossen und Harley hatte sagen lassen, daß er sich zu unwohl fühle, um an der Tafel Theil zu nehmen.

Randal war ganz besonders munter und aufgeräumt, ungeachtet des sehr zweideutigen Erfolgs seiner Rede. Was hatte es auch zu sagen, ob seine Worte Beifall gefunden oder nicht, wenn nur seine Erwählung sicher war? Er sehnte sich nach dem Zusammentreffen mit Dick Avenel, welches »alles in Ordnung bringen« sollte. Den Squire erwartete er am anderen Morgen mit dem Gelde zum Ankauf der Ländereien, deren Besitz er so sehr wünschte, und Riccabocca hatte ihm die Hand seiner Tochter wiederholt zugesichert. Wenn jemals Randal Leslie ein glücklicher Mann genannt werden konnte, so war es, als er an jener Tafel saß, mit Mr. Mayor und Mr. Alderman anstieß und über das blanke Silbergeräthe hinweg die lange Perspective von Reichthum und Macht vor sich erblickte.

Das Diner war kaum vorüber, als Lord L'Estrange in einer kurzen Ansprache seine Gäste an die noch vor ihnen liegende Arbeit erinnerte und nach einem Toast auf die Gesundheit der künftigen Vertreter von Lansmere das Comite zu seinen Geschäften entließ.

Levy machte Randal ein Zeichen, und dieser folgte dem Baron auf sein Zimmer.

»Leslie, Ihre Erwählung scheint mir einigermaßen gefährdet. Nach der Unterhaltung meiner Tischnachbarn zu schließen, hat Egerton durch seine Rede die Blauen so gänzlich für sich gewonnen, und fürchten diese so sehr, einen Man zu verlieren, der ihnen zu so großer Ehre gereicht, daß das Comite nicht nur davon spricht, zu Egerton's Gunsten Ihnen sein zweites Votum zu entziehen, sondern auch eine Subscription unter sich zu veranstalten, um die spröde Körperschaft der Hundertfünfzig zu gewinnen, auf welche, wie ich weiß, Avenel in Betreff der Stimme rechnet, die er auf Sie übertragen zu können hofft.«

»Es wäre sehr unehrenhaft von dem Comite, welches unsere beiderseitige Sache zu verfechten vorgibt, wenn es mich um Egerton's willen fallen lassen wollte,« sagte Randal mit großem Unmuth. »Aber ich glaube nicht, daß es jene Hundertfünfzig ohne die offenste und gröbste Bestechung auf seine Seite bringen kann. Die daraus erwachsenden, jedenfalls sehr großen Kosten würde Egerton nicht ersetzen, und eine Unterstützung oder Begünstigung von Seiten Lord L'Estrange's oder seines Vaters dürfte diesen Herrn wenig Ehre machen.«

»Ich habe bereits erklärt,« versetzte Levy, »daß ich als Mr. Egerton's Agent jeden Schritt ablehnen müsse, der möglicher Weise die Wahl ungültig machen könnte, daß ich jedoch die Unterhandlung mit jenen Männern selbst übernehmen wolle, und wirklich bin ich auch eben im Begriff, zu diesem Zweck in die Stadt zu gehen. Ferner beredete ich die Häupter des Comite's, ihren Entschluß, Egerton auf Ihre Kosten durchzusetzen, noch einmal zu überlegen; sie haben nun beschlossen, L'Estrange's Weisungen zu folgen – und was dieser sagen wird, weiß ich. Sie dürfen sich auf mich verlassen,« fuhr der Baron mit einem düstern Ernst fort, der seinem sonstigen cynischen Wesen fremd war, »daß ich Ihnen, wenn es irgend wie in meiner Macht liegt, den Sieg über Audley Egerton verschaffen werde. Inzwischen sollten Sie Avenel notwendig heute noch sprechen.«

»Wir haben eine Zusammenkunft im Park auf zehn Uhr ausgemacht; und nach seinen Ausfällen auf Egerton zu urtheilen, darf ich an seiner Hülfe nicht zweifeln, wenn er erst aus seiner Wahlliste die Ueberzeugung geschöpft hat, daß er nicht sich selbst und seinen unverschämten Neffen durchsetzen kann. Meine Rede, wie höhnisch Mr. Fairfield sie auch behandelt hat, muß wenigstens die Gelben geneigt gemacht haben, eher für mich, als für einen so entschiedenen Gegner, wie Egerton, zu stimmen.«

»Ich hoffe so; denn Ihre Rede und Fairfield's Antwort hat Ihnen bei den Blauen außerordentlich geschadet. Ihre Haupthoffnung beruht jedoch auf jenen hundertundfünfzig Spitzbuben, oder vielmehr darauf, daß es mir gelingt, dieselben für Sie zu gewinnen und von jeder Zersplitterung ihrer Stemmen auf Egerton abzuhalten; und um dies zu erreichen, werde ich kein Mittel scheuen – nur darf ich nicht wegen erwiesener Bestechung vor ein Comite des Unterhauses gestellt werden, denn dies würde meiner dermaligen gesellschaftlichen Stellung großen Nachtheil bringen. Ich werde ihnen sagen, was ich auch den Comitemitgliedern gesagt habe – daß Egerton's Wahl gesichert sei, und er nichts bezahlen werde, Sie aber die Stimmen brauchen und – kurz, wenn sie auf Levy zu kaufen sind, so will ich sie kaufen. Uebrigens kann Ihnen hier Avenel die besten Dienste leisten, denn da sie im Grund Alle gelb gesinnt sind, so verlangen sie für eine blaue Stimme noch einmal so viel, als für eine gelbe, und da ferner Avenel ihr Mitbürger ist und ihre Art kennt, so dürfte es ihm vielleicht gelingen, sie ohne Bestechung zu gewinnen.«

Randal (ungläubig den Kopf schüttelnd). – »Ohne Bestechung!«

Levy. – »Pah! Ohne Bestechung, die heraus kommen könnte.«

Man hörte ein Klopfen an der Thüre. Ein Diener trat ein und meldete Baron Levy Mr. Egerton's Kompliment mit der Bitte, sogleich auf einige Minuten zu ihm auf sein Zimmer zu kommen.

»Gut,« sagte Levy, nachdem der Diener sich wieder entfernt hatte, ich gehe nun zuerst zu Egerton und dann sogleich nach der Stadt. Möglich, daß ich die Nacht dort bleibe.«

Mit diesen Worten verließ er Randal und begab sich nach Audley's Gemächern.

»Levy,« begann der Staatsmann ohne weitere Einleitung, sobald der Baron eingetreten war – »haben Sie mein Geheimniß – meine erste Vermählung – Lord L'Estrange verrathen?«

»Nein, Egerton; ich gebe Ihnen mein Ehrenwart, daß ich es nicht gethan.«

»Sie hörten seine Rede. Entdeckten Sie nicht eine fürchterliche Ironie in seinen Lobeserhebungen? Oder ist es – ist es nur – mein Gewissen?« setzte der stolze Mann, durch die geschlossenen Zähne sprechend, hinzu.

»In der That,« sagte Levy, »Lord L'Estrange schien mir gerade diejenigen Züge Ihres Charakters aufzulesen, welche jeder Andere Ihrer Freunde zu einer Lobrede gewählt haben würde.«

»Ja, jeder Andere meiner Freunde! – Welcher Freunde?« murmelte Egerton düster. Dann fuhr er, sich ermannend, in einem Tone fort, dem die gewohnte Klarheit und Festigkeit vollständig mangelte – »Ihre Anwesenheit in diesem Hause, Levy, überraschte mich von Anfang an; ich konnte nicht begreifen, daß sie nothwendig sein sollte, und Sie werden sich erinnern, daß ich meine Verwunderung sogleich gegen Sie aussprach. Harley drang darauf, daß Sie kommen sollten? Er, der niemals Ihr Freund gewesen! Sie Beide sagten, Ihre Bekanntschaft mit Richard Avenel werde es Ihnen möglich machen, seine Opposition zu verhöhnen. Ich kann Ihnen zu Ihrem Erfolg nicht Glück wünschen.«

»In wie weit meine Bemühungen Erfolg gehabt haben, wird sich noch zeigen. Die Heftigkeit seines heutigen Angriffs kann möglicher Weise nur eine Finte gewesen sein.«

Ohne auf diese Unterbrechung zu achten, fuhr Audley fort »Es ist eine Veränderung mit Harley vorgegangen – gegen mich und gegen seine ganze Umgebung – eine Veränderung, die für Andere vielleicht nicht bemerkbar ist; allein ich habe ihn von seinen Knabenjahren an gekannt.«

»Er versucht sich zum ersten Mal in den praktischen Geschäften des Lebens. Ich denke, dies dürfte wohl eine noch größere Veränderung erklären.«

»Sehen und sprechen Sie ihn oft?«

»Nein, und nur in Wahlangelegenheiten. Zuweilen allerdings fragt er mich in Bezug auf Randal Leslie um Rath, für welchen er sich als Ihren besonderen Schützling lebhaft interessirt.«

»Auch dies wundert mich. Doch ich bin es müde, mir den Kopf zu zerbrechen. Der Aufenthalt hier ist mir verhaßt; übermorgen reise ich ab, dann erst werde ich wieder frei athmen können, Sie haben die Wahlberichte gesehen – ich habe weder Muth noch Lust, sie durchzugehen. Ist meine Erwählung so sicher, als man mir sagt?«

»Wenn Avenel seinen Neffen zurückzieht, und die dadurch frei gewordenen Stimmen Ihnen zufallen, so sind Sie gesichert.«

»Und Sie glauben, daß der Neffe zurücktritt? Armer junger Mann! In seinem Alter und bei solchen Talenten ist eine Niedertage schwer zu ertragen.«

Audley seufzte.

»Ich muß Sie jetzt verlassen, wenn Sie mir nichts Wichtiges mehr zu sagen haben,« versetzte der Baron aufstehend. »Es gibt noch viel zu thun, wenn die Wahl gewonnen werden soll, und – für Sie wäre ein Mißlingen –«

»Ruin – ich weiß es. Nun, Levy, im Grunde ist es Ihr Vortheil, wenn ich durchgreife. Es dürfte noch mehr bei mir zu holen sein. Und nach den Briefen, welche ich diesen Morgen erhielt, ist meine Stellung in Folge der unbedingten Notwendigkeit von Seiten meiner Partei, mich zu halten, so gesichert, daß ich auch ein Lautwerden meiner mißlichen pekuniären Verhältnisse nicht so zu fürchten brauche, als ich Anfangs glaubte. Nie war meine Laufbahn so frei von Hindernissen – der höchsten Stufe des Ehrgeizes so nahe – selbst in den prunkhaftesten Tagen meines Glanzes nicht – wie jetzt, da ich auf dem Punkte stehe, mit einem einzigen Bedienten eine Miethwohnung zu beziehen.«

»Es freut mich, dies zu hören, und ich werde um so ängstlicher für Ihre Erwählung, von welcher diese Laufbahn abhängt, thätig sein, als – doch, ich sage es Ihnen nicht gerne –«

»Sprechen Sie – sprechen Sie!«

»Ich habe mich in Folge eines plötzlichen Sturms auf alle meine Hilfsquellen genöthigt gesehen, einige von Ihren Wechseln und Schuldscheinen einem Andern zu überlassen, der, wenn Sie nicht durch das Parlamentsprivilegium vor Verhaftung geschützt werden, möglicher Weise hart auftreten könnte, und –«

»Verräther!« unterbrach ihn Egerton mit großer Heftigkeit, während er den Wucherer gewöhnlich mit ruhiger Verachtung zu behandeln pflegte – »kein Wort mehr. Wie konnte ich auch jemals etwas Anderes erwarten! Sie haben meine Niederlage vorausgesehen und an meinem Verderben gearbeitet. Erkühnen Sie sich nicht, mir zu antworten, Sir! Entfernen Sie sich aus meinen Augen.«

»Sie werden finden, daß Sie schlimmere Freunde haben, als mich,« sagte der Baron, auf die Thüre zugehend, »und wenn Sie unterliegen – wenn Ihre Aussichten für Lebenszeit zerstört sind – so bin ich der Letzte, dem Sie Vorwürfe machen werden. Doch ich vergebe Ihren Unmuth und hoffe, Sie werden morgen diejenigen Erklärungen meines Verhaltens entgegennehmen, welche Sie in Ihrer jetzigen Stimmung nicht ertragen könnten. Ich gehe, um meine Sorge der Wahlangelegenheit zu widmen.«

Als Audley allein war, schien an die Stelle der plötzlichen Leidenschaft seine gewohnte Ruhe wieder zu treten. Mit jener klaren, logischen Pünktlichkeit, welche nur im öffentlichen Geschäftsleben gewonnen wird, sammelte er alle seine Gedanken und prüfte alle seine Besorgnisse. Ein Gedanke, eine Besorgniß, quälender und unerträglicher, als alle anderen, drängte sich ihm nun aber immer mehr auf: die Befürchtung, Levy möchte ihn an Lord L'Estrange verrathen haben.

»Ich kann diese Ungewißheit nicht ertragen!« rief er plötzlich laut. »Ich will selbst zu Harley. Offen, wie er ist, wird mir schon der Ton seiner Stimme sagen, ob ich auch in der Freundschaft zum Bettler geworden bin. Wenn mir diese Freundschaft gesichert bleibt – wenn Harley meine Hand noch mit derselben Herzlichkeit und Wärme drückt, wie bisher – so soll mir kein anderer Verlust einen einzigen Laut der Klage entlocken.«

Er läutete seinem Kammerdiener, der sich im Vorzimmer befand.

»Geh' und sieh', ob Lord L'Estrange beschäftigt ist. Ich möchte ihn sprechen.«

Der Bediente kam nach weniger als zwei Minuten wieder zurück.

»Mylord scheint eben jetzt sehr dringende Geschäfte zu haben, denn es ist strenger Befehl ertheilt, ihn nicht zu stören.«

»Dringende Geschäfte! – Welcher Art? – Mit wem?«

»Er ist mit einem Geistlichen in seinem Zimmer eingeschlossen, der heute zur Tafel hier ankam. Wie ich höre, war er früher Pfarrer in Lansmere.«

»In Lansmere – Pfarrer! Sein Name – sein Name? Nicht Dale?«

»Ja, gnädiger Herr, das ist der Name – Seine Ehrwürden Mr. Dale.«

»Du kannst gehen,« sagte Audley mit kaum hörbarer Stimme.

»Dale! Der Mann, der auf Harley einen Verdacht geworfen – der mich in London aufsuchte, von einem Kinde sprach – von meinem Kinde – und auf dessen Mittheilung ich hinging, um ein zweites Grab zu finden! Er mit Harley eingeschlossen – er!«

Audley sank in seinen Stuhl zurück, buchstäblich nach Athem ringend. Wenige Menschen standen so, wie er, im Rufe jenes sowohl physischen, wie moralischen Muthes, der dem Manne Würde verleiht. In diesem Augenblick aber war es nicht Schmerz, nicht Gewissenspein, was Audley lähmte – es war Furcht. Deutlich und drohend sah er das Bild seines eigenen Verraths vor sich – das Verbrechen eines Feiglings – und der sonst so muthige Mann wurde dadurch selbst zur Memme. Was hatte er zu fürchten? Nichts, als den anklagenden Blick eines beleidigten Freundes – nichts, als das. Was aber konnte schrecklicher sein? Unter all' seinen Anhängern und Parteigenossen das einzige Wesen, das ihm geblieben war, um ihm nicht nur Verehrung und Bewunderung, sondern warme Liebe zu geben – das einzige Wesen, für welches der kalte Staatsmann die glückliche, belebende, menschliche Innigkeit einer Herzenszuneigung fühlte – es sollte ihm auf immer verloren sein!

Er bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen, und wie das Kind im Finstern, so saß er in gespannter Erwartung von etwas Schrecklichem – den Angstschweiß auf der Stirne, am ganzen Körper zitternd.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Inzwischen hatte Harley mit kalter Aufmerksamkeit Mr. Dale's Vertheidigung seines jungen Freundes angehört.

»Genug,« sagte er endlich. »Mr. Fairfield – denn so wollen wir ihn noch immer nennen – wird mich diesen Abend sehen, und wenn ihm eine Abbitte gebührt, so soll sie ihm werden. Bis dahin wird es sich auch entscheiden, ob er sich noch weiter bei dem Wahlkampf betheiligen oder zurücktreten soll. Allein nicht, um von Ihnen zu hören, wie dieser junge Mann um meine verlobte Braut sich bewarb oder vor der Werbung zurückschreckte, habe ich Sie gebeten, mich in diesem Hause zu besuchen, Mr. Dale! Wir sind übereingekommen, daß der Verführer von Nora Avenel eine Züchtigung verdiene, und ich versprach Ihnen, daß Nora Avenel's Sohn einen Vater finden solle. Beides wird morgen in Erfüllung gehen. Und Sie,« fuhr Harley fort, indem er sich erhob, und seine Gestalt unter der Würde der Leidenschaft sich allmälig zu vergrößern schien – »der Sie das Gewand tragen, welches dem heiligen Dienste der christlichen Liebe angehört, dennoch aber sich anmaßten, zu glauben, ich wäre, noch ehe der Bart meine Wangen umdunkelte, fähig gewesen, das Mädchen, das unter diesem Dache erzogen worden, zuerst zu verführen und dann zu verlassen – wie eine Memme von dem Orte wegzuschleichen, nach welchem mein Opfer gekommen war, um zu sterben – meinen eigenen Sohn, von dem schwer gekränkten Weibe mir geschenkt, preis zu geben, ohne ihm während der gefährlichen Jahre der Jugend auch nur den mindesten Schutz zu gewähren, bis der Zufall mir ihn als einen von der Welt Ausgestoßenen in die Arme führte – Sie, mein Herr, der Sie Jahre lang eine so lieblose Meinung von mir gehegt, sollen nun Gelegenheit erhalten, Ihren heiligen Zorn auf das rechte Haupt niederfallen zu lassen – Sie sollen in mir, den Sie als den Schuldigen verdammten, den Richter erkennen! ›

Mr. Dale war Anfangs erschreckt und bestürzt über diesen unerwarteten Ausbruch. Allein gewöhnt, mit den wildesten und finstersten Leidenschaften zu verkehren, gewann sein ruhiger Verstand und das Gefühl der Ueberlegenheit über Diejenigen, welche ihm einen Blick in ihr Inneres vergönnten, bald wieder die Oberhand.

»Mein Lord,« sagte er, »zuerst beuge ich mein Haupt in Demuth vor Ihrem Tadel und bitte Sie um Vergebung wegen meines irrtümlichen und, wie Sie sich ausdrückten, lieblosen Verdachts. Wir Dorfbewohner und geringe Hirten einer bescheidenen Heerde sind vielleicht geneigt, den mannigfachen Versuchungen, vor denen wir selbst gnädig bewahrt sind, eine zu große Macht über Diejenigen zuzutrauen, deren Bestimmung es ist, in der großen Welt mit ihren vielen, der Sünde offen stehenden Thoren zu leben. Dies ist meine einzige Entschuldigung, wenn ich mich durch die scheinbar so stark gegen Sie sprechende Anzeigen irre leiten ließ. Vergeben Sie mir jedoch auch ferner, wenn ich Sie warne, nicht selbst in eitlen Irrthum zu verfallen, der vielleicht wenig geringer sein dürfte, als der meinige. Die Heftigkeit, mit welcher Sie sich von meinem ungerechten Verdachte reinigten, stand Ihnen wohl an. Aber ach, mein Lord, als Sie mit düsterer Stirne und blitzenden Augen Ihre Drohung gegen einen Andern aussprachen, zu dessen Richter Sie sich aufwerfen wollen, uneingedenk der göttlichen Vorschrift: ›Richtet nicht!‹ – da fühlte ich, daß es nicht mehr eine ehrenhafte Selbstverteidigung, sondern der Durst nach Rache war, der aus Ihnen sprach.«

»Nennen Sie es Rache, oder wie Sie wollen,« entgegnen Harley mit finsterer Entschlossenheit; »allem ich bin zu tief gestochen worden, um nicht wieder zu stechen. Offen gegen Jedermann war ich bis vor wenigen Tagen – offen gegen Sie wenigstens bin ich auch heute noch und erkläre Ihnen, daß ich niemals Tugend nenne, was nach meiner Ueberzeugung Gerechtigkeit ist, daß aber weder Vorstellungen, noch Predigten, darauf berechnet, Gerechtigkeit als sündhaft hinzustellen, an meinem Entschluß etwas zu ändern vermögen. Als Mann bin ich schwer beleidigt worden, und als Mann will ich Vergeltung üben. Der Weg und die Art – der wahre Verbrecher und die ihm gebührende Strafe – dies alles wird Ihnen bald kein Geheimniß mehr sein. Und nun entschuldigen Sie mich, wenn ich jede weitere Besprechung auf ein anderes Mal verschiebe – ich habe diesen Abend noch vieles zu besorgen.«

»Nein, nein, schicken Sie mich nicht fort. Ihre Worte, so hart sie auch klingen, erregen so sehr meine Teilnahme – ich sehe, daß ein so tiefes Leiden dieser Bitterkeit vorausgegangen sein muß, daß ich Sie vor einem Schmerz bewahren möchte, der schlimmer wäre, als alle andern – vor der Reue! O halten Sie inne, mein theurer Lord, halten Sie inne und beantworten Sie mir nur zwei Fragen. Alsdann mögen Sie ungehindert dem eigenen Ermessen folgen«

»Sprechen Sie!« erwiderte Lord L'Estrange in sanfterem und achtungsvollem Tone.

»Zuerst denn – prüfen Sie Ihre Gefühle. Ist es nur das Verlangen, einen Uebelthäter zu bestrafen und dem Lebenden Recht zu verschaffen – denn wer vermöchte an den Todten Gerechtigkeit zu üben? – was diese Gereiztheit veranlaßt, oder ist es ein Privathaß, dessen Eingebungen Sie folgen, und der alles unklar macht?«

Harley schwieg, und Mr. Dale fuhr fort:

»Sie liebten jenes unglückliche Mädchen. Ihre Sprache verräth dies selbst jetzt noch. Sie reden von Verrath; vielleicht hatten Sie einen Nebenbuhler, der Sie hinterging. Wer es gewesen sein mag, weiß ich nicht – kann es mir nicht entfernt denken. Wird aber der Schlag, den Sie gegen den Nebenbuhler führen, nicht auch den unschuldigen Sohn treffen? und wenn Sie Nora's Kind seinem Vater zuführen, wie Sie zu thun versprochen haben, wäre es möglich, daß Sie dabei einen grausamen Hohn beabsichtigten, der unter scheinbarem Wohlwollen eine unnatürliche Rache verbirgt?«

»Sie verstehen es gut, in dem menschlichen Herzen zu lesen,« sagte Harley. »Doch Sie wollten noch eine zweite Frage stellen; fahren Sie fort.«

»Ja, eine zweite, noch ernstere und wichtigere Frage. In meiner kleinen Welt auf dem Dorfe gehört die Rache zu den gewöhnlichen Leidenschaften; sie ist die Sünde der Ungebildeten. Dem Wilden erscheint sie edel; die christliche Religion aber verwirft sie mit allem Nachdruck. Weßhalb? Weil die Religion den Menschen zu veredeln sucht, und nichts ihn so tief erniedrigt, als die Rachsucht. Blicken Sie in Ihr Herz und sagen Sie mir, ob nicht, seit Sie dieser Leidenschaft Raum gegeben, Ihr Sinn für Recht und Unrecht sich verwirrt hat – ob Ihnen nicht früher gemein und schlecht däuchte, was Ihnen jetzt nur als rechtmäßiges Mittel zu Erreichung des ersehnten Zweckes erscheint? Die Rachsucht ist stets eine Heuchlerin. Der Zorn schlägt wenigstens mit nacktem Schwerte zu; aber geduldig und verstohlen trägt die Rache den verborgenen Dolch des Mörders. Mein Lord, Sie wechseln die Farbe. Welche Antwort haben Sie auf meine Frage?«

»O,« rief Harley mit vor tiefem Weh zitternder Stimme, »nicht seit ich dem Gedanken an Rache mich hingegeben, bin ich verändert, ist Recht und Unrecht für mich dunkel geworden, scheint mir Heuchelei die für die Erde passende Atmosphäre zu sein. Nein – seit der Entdeckung, welche die Rache fordert, bin ich ein anderer Mensch geworden! Es ist nutzlos,« fuhr er mit Heftigkeit fort, »es ist nutzlos, mir Vorstellungen machen zu wollen. Würde ich in dem Bewußtsein der erlittenen Kränkung geduldig und unthätig hinsitzen, so dürfte sich in der That jenes Gefühl der Erniedrigung meiner bemächtigen, welches Sie der Befriedigung dessen zuschreiben, was Sie Rachsucht nennen. Nie könnte ich die verlorene Selbstachtung wieder gewinnen, nie den Gedanken los werden, als müßte mir die ganze Welt meine Demüthigung ansehen und mich darob verhöhnen. Doch ich weiß nicht, weßhalb ich mich so weit ausgesprochen – weßhalb ich Ihnen so viel von dem verrathen, was mein Innerstes bewegt, und mich herabgelassen, meinen Entschluß zu vertheidigen. Es war nicht meine Absicht gewesen. Und noch einmal sage ich, wir müssen dieser Unterredung ein Ende machen.«

So sprechend ging Harley nach der Thüre und öffnete sie bedeutungsvoll.

»Ein Wort noch, Lord L'Estrange – ein einziges. Sie wollen auf mich nicht hören. Ich bin ein Fremder für Sie – allein Sie haben einen Freund, einen warmen, innigen Freund, der eben jetzt unter demselben Dache mit Ihnen weilt. Wollen Sie nicht wenigstens Mr. Audley Egerton's Rath einholen? Niemand kann an seiner Freundschaft für Sie zweifeln – Niemand in Abrede ziehen, daß, was er Ihnen räth, mit Ihrer Ehre im Einklang stehen muß. Wie, mein Lord, Sie zögern? Sie schämen sich, Ihrem theuersten Freunde ein Vorhaben mitzutheilen, das er verwerfen würde? So will ich zu ihm gehen – will ihn anflehen, daß er Sie vor einer Handlung bewahre, die Ihnen nur Reue bringen kann!«

»Mr. Dale, ich muß Ihnen verbieten, Mr. Egerton aufzusuchen. Was zwischen uns vorgefallen ist, müssen Sie so heilig halten, wie der römische Priester das Beichtgeheimniß. So viel jedoch möge zu Ihrer Beruhigung dienen: ich verspreche Ihnen, nichts zu thun, was mich Mr. Egerton's Freundschaft unwerth machen oder sein feines Ehrgefühl zu einem Tadel berechtigen könnte. Mit diesem Versprechen müssen Sie zufrieden sein.«

»Ach, mein Lord,« rief Mr. Dale, unschlüssig auf der Thürschwelle stehen bleibend und Harley's Hand ergreifend, »ich wäre in der That zufrieden, wenn Sie sich einem höheren Rathe als dem meinigen, als Mr. Egerton's oder irgend eines Menschen unterwerfen wollten. Haben Sie nie die Kraft des Gebets empfunden?«

»Mein Leben ist ein vergeudetes gewesen,« erwiderte Harley, »und ich wage es daher nicht, mich zu rühmen, daß ich mein Beten wirksam gefunden habe. So weit ich mich jedoch erinnern kann, pflegte ich täglich mein Morgen- und Abendgebet zu verrichten – wenigstens bis – bis –«

Harley hielt inne; die natürliche und unbeugsame Aufrichtigkeit des Mannes hatte ihm die letzten Worte abgerungen.

»Bis die Rachegedanken in Ihr Herz eingegangen? Sie haben seitdem nicht mehr zu beten gewagt? O, bedenken Sie, wie schlimm es um unser Inneres stehen muß, wenn wir nicht mehr zum Himmel aufzublicken, nicht mehr um das zu bitten wagen, was wir wünschen. Sie sind bewegt – ich überlasse Sie Ihrem eigenen Nachsinnen.«

Harley machte eine leichte Verbeugung, als der Pfarrer an ihm vorüberschritt und ihn allein ließ – erschüttert zwar, ob aber auch besänftigt?

Als Mr. Dale in großer Aufregung den Gang entlang eilte, schlich Violante aus einer durch ein hohes Bogenfenster gebildeten Nische hervor, legte ihren Arm in den seinigen und sagte ängstlich und schüchtern:

»Ich habe auf Sie gewartet, bester Mr. Dale – und wie lange schon! Sie sind bei Lord L'Estrange gewesen?«

»Ja.«

»Warum sprechen Sie nicht? Haben Sie ihn beruhigter – glücklicher verlassen?«

»Glücklicher? Nein.«

»Wie?« rief Violante überrascht und in einem halb traurigen, halb unmuthigen Tone. »Wie, schmerzt es ihn denn so sehr, daß Helene ihm einen Andern vorzieht?«

Trotz der ernsten Gedanken, welche seinen Geist beschäftigten, war Mr. Dale, der Violante väterlich liebte, von dieser Frage und noch mehr von dem Ton betroffen, in welchem sie gestellt worden.

»Kind, Kind,« sagte er, »ich bin froh, daß Helene Lord L'Estrange entronnen ist. Haben Sie Acht, o, haben Sie Acht, daß er nicht ein wärmeres Interesse in Ihnen wecke! Er ist ein gefährlicher Mann – ein so gefährlicher wegen einzelner Züge einer ursprünglich schönen Natur. Wohl glaube ich, daß er ein unschuldiges und unerfahrenes Herz zu rühren vermag, hat er sich doch seltsam in das meinige eingeschlichen. Sein Herz aber ist erfüllt von Stolz, Zorn und böser Tücke.«

»Das ist falsch – Sie sind im Irrthum!« rief Violante mit Heftigkeit. »Ich kann kein Wort zum Nachtheil Dessen glauben, der meinen Vater vom Gefängniß oder vom Tode errettet hat. Sie sind unsanft mit ihm umgegangen. Er glaubt sich von Leonard gekränkt und beleidigt und von Helene mit Undank gelohnt. Sein edles, empfängliches Herz fühlt diesen Stachel um so tiefer, und Sie haben Vorwürfe gemacht, wo Sie hätten trösten sollen. Armer Lord L'Estrange! Sie verließen ihn noch immer erzürnt und unglücklich?«

»Thörichtes Mädchen! Ich verließ ihn über Sünde brütend. Was er vorhat, weiß ich nicht, allein seine Rachegedanken, die bereits seinen Geist so verfinstert haben, daß er nicht mehr zu beten wagt, erstrecken sich weiter, als nur auf Leonard, und wenn sein Herz wirklich edel und empfänglich ist, so wird er aus seinem Grimm nur erwachen, um das Opfer einer langen und nutzlosen Reue zu werden. Sollte Ihr Vater Einfluß über ihn besitzen, so wiederholen Sie ihm, was ich Ihnen sagte, und fordern Sie ihn auf, seinerseits den Mann zu retten, der ihn gerettet hat. Er wollte auf die Stimme der Religion nicht hören – den Vorstellungen der Philosophie mag er vielleicht zugänglich sein. Und nun kann ich mich nicht länger mehr aufhalten – ich muß zu Leonard.«

Mr. Dale machte sich von Violante los und entfernte sich rasch.

Violante blieb stehen – betäubt und athemlos. Harley über einer geheimnißvollen Sünde brütend! Harley das Opfer seiner Gewissensbisse! Harley, der ihren Vater gerettet hatte, selbst der Rettung bedürftig! Ihre Brust wogte – die Farbe ihrer Wangen kam und ging – ihre Augen waren aufwärts gerichtet – ihre Lippen bewegten sich. Sie machte einige leichte Schritte – sie sah den Wiederschein der Lichter aus Harley's Zimmer; plötzlich jedoch wurde es dunkel, als ob die Thüre mit zorniger, ungeduldiger Hand geschlossen worden wäre.

Wie oft verräth nicht eine äußerliche Handlung die innere Stimmung. In gleicher Weise, wie Harley die Thüre geschlossen, so hatte er auch sein Herz gegen das Eindringen sanfterer und heiliger Gedanken zuzuschließen gesucht. Da stand er nun vor seinem Herde, kalt und entschlossen. Der Mann, der so viele Jahre mit dieser seltenen Beharrlichkeit und Treue geliebt hatte, konnte sich auch von dem Haß nicht plötzlich lossagen. Eine Leidenschaft, die er einmal in seine Brust ausgenommen, schlug so tiefe Wurzeln in derselben!

Aber wehe Dir, Harley L'Estrange, wenn du morgen um diese Stunde wieder an deinem Herde stehst und deine Plane erfüllt sind – wenn du, deinem blinden Willen folgend, Falschheit mit Falschheit, Täuschung mit Täuschung vergolten hast! Deine Anschläge erscheinen dir jetzt nur als der Vollzug eines gerechten, verdienten und ausgesucht passenden Strafgerichtes, als die einzige Rache, die der Witz erfinden kann, und das civilisirte Leben gestattet – wirst du aber jemals im Stande sein, den Flecken aus deiner Erinnerung auszutilgen, mit dem du deine Ehre zu besudeln im Begriffe stehst – du, der du noch immer Freundschaft heuchelst und den Verrath mit einem Lächeln zudeckst?

Mag das dir zugefügte Unrecht wirklich so groß sein, als es dir erscheint – ja, mag es noch zehn Mal größer sein – das Gefühl deiner Gemeinheit wird dir, o Gentleman und Krieger, in der Tiefe deiner Einsamkeit das Blut in die Wangen treiben. Du, der du jetzt Andere einer vertrauensvollen Liebe unwerth erachtest, wirst dich selbst für immer der ihrigen unwürdig fühlen. Die Ruhe wird deiner Abgeschiedenheit fern bleiben. Die Würde des Mannes wird dich verlassen – dein stolzes Auge sich senken vor dem Blick, der dich trifft. Wer sich einmal einer niedrigen Handlung schuldig gemacht, kann sich nie mehr vollständig mit der Ehre aussöhnen.

Und wehe – drei Mal wehe, wenn du zu spät erfährst, daß du die erlittene Kränkung übertrieben hast – daß Entschuldigungsgründe vorhanden sind, wo du keine siehst – daß dein Freund zwar geirrt haben mag, sein Irrthum aber verzeihlich ist im Vergleich mit deiner vermeintlichen Vergeltung!

So stand der stolze, entschlossene Mann an dem Herde seiner Väter und an dem Abgrund einer nie mehr auszulöschenden Seelenpein und Schande – ein schreckliches Beispiel, welche Veränderung ein einziger, mit Ausschluß aller andern gehegter böser Gedanke in der edelsten Natur hervorzubringen vermag!

Eine Hand ist an der Thüre – er hört es nicht; eine Gestalt tritt über die Schwelle – er sieht sie nicht; ein leichter Schritt hält inne, ein sanftes Auge blickt auf ihn – er ist taub und blind für beides.

Violante faßt Muth, kömmt näher und steht am Herd an seiner Seite.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

» Lord L'Estrange – edler Freund!«

»Sie? – und hier – Violante? Bin ich es, den Sie suchen? Weßhalb? Gütiger Himmel, was ist vorgefallen? Warum sind Ihre Wangen so blaß? Warum zittern Sie?«

»Haben Sie Helene vergeben?« frug Violante ausweichend, und die Blässe ihrer Wangen war verschwunden.

»Helene – das arme Kind! Ich habe ihr nichts zu vergeben, vielmehr ihr viel zu danken. Sie ist offen und ehrlich gewesen.«

»Und Leonard – dessen ich mich von meiner Kindheit erinnere – haben Sie ihm verziehen?«

»Schöne Vermittlerin,« sagte Harley mit einem kalten Lächeln, »glücklich ist der Mann, der einen Andern täuscht und hintergeht, denn Alles legt Fürsprache für ihn ein. Und wenn der Getäuschte nicht vergeben kann, so findet er Niemand, der mit ihm fühlt und ihn entschuldigt.«

»Aber Leonard hat Sie nicht hintergangen!«

»Ja, von Anfang an. Es ist eine lange Geschichte, und sie paßt nicht für Ihre Ohren. Allein ich kann ihm nicht vergeben.«

»So leben Sie wohl, Mylord. Helene muß Ihnen noch immer sehr theuer sein!«

Violante wandte sich ab, um zu gehen. Ihre tiefe Bewegung war so ungekünstelt, selbst ihr Unwille so bezaubernd, daß die Liebe, welche Harley unter dem Einfluß seiner späteren und finsteren Leidenschaften mit so festem Willen bekämpft hatte, in wildem Sturm in seine Brust zurückkehrte.

»Bleiben Sie, aber sprechen Sie nicht von Helene!« rief er. »O, wenn Leonard's einziges Vergehen in seiner Liebe zu ihr bestünde – glauben Sie, daß ich Groll gegen ihn empfinden könnte? Nein, ich würde dankbar die Hand ergreifen, durch welche ein übereiltes Band gelöst worden; ich würde meine Mündel dem Erwählten ihres Herzens vermählen, und ihre Morgengabe sollte meines Reichthums würdig sein. Allein sein Vergehen rührt schon von seiner Geburt her. Ihn reich und glücklich zu machen, den Sohn eines Mannes, der – Violante, hören Sie mich an. Wir scheiden vielleicht bald und für immer. Mögen Andere meine Handlungen mißdeuten, Sie wenigstens sollen die gerechten Beweggründe kennen lernen, aus welchen sie entspringen. Ich hatte einen Freund, der mir mehr galt, als die ganze übrige Welt, den ich inniger, als einen Bruder, liebte. In der Romantik meiner Knabenjahre ward ich mit einem Wesen bekannt, das meine Einbildungskraft bezauberte und mein Herz fesselte. Es war ein schöner Traum im wachenden Leben. Ich liebte – und glaubte mich geliebt. Jener Freund ward mein Vertrauter; er unternahm es, meine Bewerbung zu unterstützen. Unter diesem Vorwand sah er zuerst das unglückliche Mädchen – sah sie, um zum Verräther an ihr zu werden und sie zu verderben! Er sagte mir nicht, daß ihre Liebe, die ich zu besitzen glaubte, so wild an einen andern verschwendet worden war: er ließ mich in dem Wahne, sie habe sich nur aus edelmüthiger Selbstaufopferung meiner Bewerbung entzogen – denn sie war arm und von bescheidener Herkunft. Ich glaubte – o eitler Thor, der ich war! – das Opfer sei zu schwer für ein junges Menschenherz gewesen – ich glaubte, es sei in dem Kampfe gebrochen! Und er ließ mich die Blüthezeit meines Lebens in Gewissenspein verzehren, drückte meine Hand in höhnender Theilnahme und lächelte zu meinen Schmerzensthränen – er, der nicht eine einzige für sein armes Opfer gehabt! Und plötzlich, vor kurzer Zeit, erfuhr ich alles dieses. Und der Mann, der mir jede Quelle der Freude vergiftet hat, ist der Vater Leonard Fairfield's! Sie weinen! O Violante – daß er mir die Befangenheit zerstört und verbittert hat, könnte ich ihm verzeihen; allein er hat auch meine Zukunft zu Grunde gerichtet. Denn eben hatte ich angefangen, aus der Erstarrung meiner trübseligen Buße zu erwachen, muthig die bisher vernachläßigten Pflichten in's Auge zu fassen und einzusehen, daß nicht alles kahl und öde auf dem Wege sei, der vor mir liege. Und dann – o dann fühlte ich, daß nicht alle Liebe in einem Grabe schlummere – ich fühlte, daß sie, wenn es des Schicksals Wille gewesen wäre, für mein Mannesalter alles das hätten sein können, was ich in meiner Jugend nur durch die goldenen Nebel der Täuschung erblickt hatte. Allerdings war ich an Helene gebunden, und die Ehre verbot mir, irgend eine Hoffnung zu nähren. Allein schon das Bewußtsein erschien mir so himmlisch süß, daß mein Herz noch nicht ganz zu Asche verbrannt – daß ich wieder lieben könne – daß ich dieses herrliche Vorrecht unseres Seins noch mein Eigenthum nennen dürfe! Dann aber brach die Entdeckung dieses Betrugs auf mich herein, und alle Wahrheit schien mir aus der Welt ausgetilgt. An Helene bin ich nun nicht mehr gefesselt, bin frei – frei fürwahr, weil weder Rang und Reichthum, noch Wohlthaten und vertrauensvolle Innigkeit auch nur ein einziges menschliches Herz an mich zu ketten vermochten! Frei von ihr – aber Violante, zwischen mir und Ihrer frischen Natur steht der Argwohn gleich einem Upasbaum Siehe Anm. 301. Jede Hoffnung, welche die verpestete Luft durchdringen und Ihnen zufliegen möchte, müßte todt niederfallen unter seinen giftigen Zweigen. Ich lieben! ha, ha! ich – ich, den die Vergangenheit gelehrt hat, wie unmöglich es ist, wieder geliebt zu werden! Nein; wenn diese sanften Lippen ein leises ›Ja‹ flüsterten als Antwort auf die feurige Bitte, welche sich, wäre mir meine Freiheit zwei kurze Wochen früher wieder geschenkt worden, aus der Tiefe meines aufrichtigen Herzens Bahn gebrochen haben würde, so könnte ich nur glauben, daß Sie sich selbst täuschen – daß Sie den ersten flüchtigen Traum des Mädchens für Wirklichkeit halten. Wären Sie meine Braut, Violante, so würde ich Sie durch den Fluch meines Mißtrauens herabwürdigen – mein argwöhnisches Herz würde bei jedem Worte der Zärtlichkeit sprechen: ›Wie lange wird dies währen? Wann wird die Enttäuschung kommen?‹ Ihre Schönheit, Ihre Talente würden mich mit eifersüchtigem Schrecken erfüllen; unaufhörlich müßte ich aus der Gegenwart in die Zukunft fliehen und mir sagen: ›Diese Haare werden grau sein, während schmeichelnd die Jugend Sie im Höhepunkt ihrer Reize umgibt.‹ Warum also hasse und verfluche ich meinen Feind? Warum sinnt mein Geist auf Rache? Ich verstehe es nun. Ich wußte und fühlte, daß etwas Anderes, als der Geist der Vergangenheit, mich so gebieterisch vorwärts drängte; allein erst, seitdem ich Sie vor mir sehe, wird mir plötzlich klar, was es gewesen: die unbestimmte Ahnung eines gewaltigen, unschätzbaren Verlustes – des Verlustes nicht der todten Nora, sondern der lebenden Violante. Blicken Sie mich nicht mit so vorwurfsvollen Augen an; sie vermögen an meinem Entschlusse nichts zu ändern, sie können den Argwohn nicht aus meiner kranken Seele bannen und dieses geisterhafte Zwielicht nicht in Sonnenschein verwandeln. Gehen Sie – gehen Sie; überlassen Sie mich der einzigen Wonne, die keine Täuschung zurückläßt – dem einzigen Gefühl, das mich noch mit der menschlichen Gesellschaft verknüpft – überlassen Sie mich meiner Rache!«

»Rache? O grausamer Freund!« rief Violante, ihre Hand auf Harley's Arm legend. »Und um Ihren Durst nach Rache zu stillen, wollen Sie Ihr eigenes Leben gefährden?«

»Mein Leben gefährden? Thörichtes Kind! Dies ist kein Kampf um Leben oder Tod. Wollte ich meine Kränkungen der Welt und ihrem schadenfrohen Gelächter preisgeben, so würde ich nur meinem Feinde den Triumph bereiten, meinen Wahnsinn zu bemitleiden und entweder dem Kampfe auszuweichen, oder aber – wenn er ihn annähme und ich einen Secundanten finden könnte – in die Luft zu schießen, damit alle Welt sagen könnte: ›Der großmüthige Egerton! Die Seele der Ehre!‹«

»Egerton – Mr. Egerton! Er kann nicht dieser Feind sein? Ihm kann Ihre Rache nicht gelten – ihm, dessen Sache Sie jede Stunde Ihrer Zeit opfern – dessen unbedingtes Vertrauen Sie besitzen – auf dessen Schultern Sie noch gestern sich stützten und ihm so freundlich in's Antlitz lächelten?«

»That ich dies? Heuchelei gegen Heuchelei – Fallstrick gegen Fallstrick; das ist meine Rache!«

»Harley, Harley! Hören Sie auf, hören Sie auf!«

Der Sturm der Leidenschaft brauste fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten.

»Ich unterstütze seinen Ehrgeiz nur, um ihn in den Koth zu treten. Ich habe ihn aus den sanfteren Krallen eines Wucherers befreit, damit ihm nichts bleibe, als ein Almosen aus meiner Hand oder das Gefängniß –«

»Freund, Freund! Stille, stille!«

»Ich habe den Jüngling, den er sich heranzog und dessen Tücke seiner eigenen gleicht – Ihres Vaters kostbaren Auserwählten, Randal Leslie – zu meinem Werkzeug gemacht, um ihm durch diesen die bittere Lehre zu geben, wie sehr der Stachel des Undanks verletzt. Sein eigener Sohn soll die Mutter rächen und als Sieger an die Brust des Vaters geführt werden – im Verein mit Randal Leslie als Sieger in dem Kampfe, der den unterliegenden Vater und Wohlthäter alles dessen beraubt, was dem selbstsüchtigen Ehrgeiz das Leben werth und theuer macht. Und wenn Audley Egerton eine Erinnerung geblieben ist an das, was ich ihm und der Wahrheit gewesen bin, so wird nicht die geringste Strafe für ihn in dem Bewußtsein liegen, daß sein eigener Verrath den Mann so umgewandelt hat, den eben seine Verachtung der Falschheit lehrte, in dem Betrug die Macht der Vergeltung zu suchen.«

»Wenn dies nicht ein schrecklicher Traum ist,« murmelte Violante zurückschaudernd, »so berauben Sie nicht blos Ihren Feind alles dessen, was das Leben theuer macht. Handeln Sie so – und was wird für die Zukunft mir bleiben?«

»Ihnen? O, seien Sie unbesorgt. Ich mag wohl Randal Leslie zu einem Triumph über seinen Beschützer verhelfen, zu gleicher Zeit aber will ich seine Schlechtigkeit aufdecken und Sie für immer von ihm befreien. Was Ihnen für die Zukunft bleibt? Ihr Geburtsrecht, Ihr Heimathland – Hoffnung, Freude, Liebe, Glück. Könnte es möglich sein, daß Sie in der weichen, sonnigen Phantasie, welche das jungfräuliche Herz umspielt, ohne jedoch seine Tiefen zu durchglühen – könnte es möglich sein, daß Sie mich eines wärmeren Gefühls gewürdigt hätten, so wird es vorübergehen, und Sie werden der Stolz und die Wonne eines Mannes von Ihren Jahren werden, dessen Blick in die Zukunft durch keine erkältenden Schreckbilder getrübt wird – eines Mannes, der in dieses liebliche Antlitz blicken kann, ohne sich abwenden und zu sich sprechen zu müssen: ›Zu schön, zu schön für mich!‹«

»O des bittern Schmerzes!« rief Violante mit plötzlicher Leidenschaft. »Hören Sie mich an. Wenn ich, wie Sie versprochen, den schrecklichen Gedanken nicht mehr zu fürchten brauche, daß Randal Leslie, vor dessen Berührung ich zurückschaudere, Ansprüche an meine Hand erheben könnte, so ist meine Wahl unwiderruflich getroffen. Der Altar, der mich erwartet, wird keiner menschlichen Liebe geweiht sein. Aber ach, ich beschwöre Sie – bei jeder Erinnerung Ihres wenn auch kummervollen, so doch bisher unbefleckten Lebens – bei der edlen Theilnahme, welche Sie für mich zu empfinden vorgeben, für mich, die Sie zum zweiten Mal aus einer Gefahr erretten, gegen welche der Tod Barmherzigkeit wäre – lassen Sie, o lassen Sie mir das Recht, Ihr Bild zu verehren, und es heilig zu halten, wie ich von den ersten Tagen meiner Kindheit an gethan habe. Gestatten Sie nicht, daß durch eine Handlung der Gemeinheit – o, daß ich das Wort aussprechen muß! – der Gemeinheit und Grausamkeit, die Ihr ganzes Leben zu einer Lüge stempeln würde, selbst die dankbare Erinnerung an Sie zu einer Sünde für mich gemacht werde. Wenn ich innerhalb der Mauern, die mich von der Welt scheiden, betend aus den Knien liege, o so lassen Sie mich Ihrer als des edelsten Wesens gedenken, welches die Erde enthält! Hören Sie mich! Hören Sie mich!«

»Violante!« murmelte Harley, und sein ganzer Körper zitterte von innerer Erregung – »haben Sie Nachsicht mit mir. Fordern Sie nicht ein Opfer, welches zu bringen meine Manneswürde mir verbietet – verlangen Sie nicht, daß ich in dem Bewußtsein, mein ganzes Lehen lang der Bethörte gewesen zu sein, demüthig und geduldig in eine Kränkung mich füge, welche mich so tief herabwürdigt. Wahrlich, ich würde mir selbst viel niedriger vorkommen, wollte ich vergeben, als ich Ihnen erscheinen kann, indem ich mich räche! Wäre es ein offener Feind, so könnte ich auf Ihr Gebot meine Arme gegen ihn ausbreiten; dem hinterlistigen Freunde jedoch – fordern Sie es nicht von mir! Meine Wange brennt bei dem Gedanken, als hätte sie die Schmach eines Schlages empfunden. Geben Sie mir nur morgen, nur einen einzigen Tag – mehr verlange ich nicht – für mich und die Vergangenheit; alsdann mögen Sie in Zukunft aus mir machen, was Sie wollen. Vergeben Sie, o vergeben Sie die unedlen Gedanken, welche das Mißtrauen auf Sie ausdehnten. Ich nehme sie zurück; sie sind in nichts zerflossen – besiegt von Ihren aufrichtigen Worten und Ihren treuen Augen. Zu Ihren Füßen, Violante, bereue ich und flehe Sie an! Ihr Vater selbst wird jenen schnöden Freier aus Ihrer Nähe verbannen. Morgen um diese Stunde werden Sie frei sein. O dann, dann wollen Sie mir nicht diese Hand reichen, daß sie mich zurückführe in das Paradies meiner Jugend? Violante, es ist umsonst, daß ich mit mir kämpfe – daß ich Vernunft und Klugheit zu Hülfe rufe und mir tausend Zweifel vorhalte – ich liebe, ich liebe Sie! Ich glaube wieder an Tugend und Treue. Ich lege mein Geschick in Ihre Hände.«

Wenn es zuweilen scheinen mochte, als habe Violante die Grenze strenger, jungfräulicher Schüchternheit und Sittsamkeit überschritten, so dürfte sich dies theilweise aus ihrer natürlichen Offenheit, ihrer abgeschiedenen Erziehung und ihrer Unkenntniß der Welt, mehr aber noch aus der Unschuld ihrer Seele und der Wärme ihres Herzens erklären, dessen südliche Glut sie als Italienerin nicht verleugnen konnte. Jetzt aber wurden selbst die Einflüsterungen ihrer Liebe zum Schweigen gebracht durch die Erhabenheit des Sinnes und Willens, welcher ihr ganzes Wesen durchdrang und zu ihrer Entfaltung nur eines Anlasses bedurfte. Träume, die sie sich kaum zu gestehen gewagt hatte, waren in Erfüllung gegangen – Harley frei – Harley zu ihren Füßen!

Ihr Herz pochte in ungestümen Schlägen, eine hohe Glut bedeckte ihre Wangen. Aber stärker, als die Liebe – stärker als die Freude, sich wieder geliebt zu sehen – war der heldenmüthige Wille – der Wille, den zu retten, welcher ihr in allem Andern als die Richtschnur ihres Daseins erschien – ihn vor der bleibenden Herabwürdigung zu bewahren, zu welcher blinde Leidenschaft seinen wirren, mit sich selbst im Kampfe liegenden Geist fortzureißen drohte.

»Ah,« sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, eine Hand gen Himmel erhebend, während Harley, der noch immer vor ihr kniete, die andere leidenschaftlich umfaßt hielt – »ah, wenn mir der Himmel das stolze und selige Vorrecht verleihen würde, an Ihr Schicksal gekettet zu sein und zu Ihrem Glück beitragen zu dürfen, so sollte nicht die leiseste Furcht vor Ihrem Mißtrauen meinen Frieden stören. Keine Zeit, kein Wechsel, kein Kummer, nicht einmal der Verlust Ihrer Liebe könnte mir das Recht nehmen, eingedenk zu sein, daß Sie mir einst ein so edles Herz vertrauten. Aber« – und ihre Stimme hob sich und die Gluth wich aus ihren Wangen – »aber du Allgegenwärtiger, höre und empfange das feierliche Gelübde. Wenn er mir das Opfer der Sünde verweigert, die ihn erniedrigen würde, so sei diese Sünde auf ewig eine Schranke zwischen uns. Und möge alsdann mein Leben, deinem Dienste geweiht, eine Sühne sein für die Stunde, in welcher er die Natur Lügen strafte, die er von dir empfing. Harley, lassen Sie mich los! Ich habe gesprochen, fest, wie Sie selbst – Sie mögen nun wählen.«

»Sie beurtheilen mich hart,« versetzte Harley, in düsterem Groll sich erhebend. »Aber wenigstens bin ich nicht so gemein, um zu verkaufen, was ich für Gerechtigkeit halte, selbst wenn ich mich dadurch meiner letzten Hoffnung auf irdisches Glück berauben sollte.«

»Gemein! O unglücklicher, geliebter Harley!« rief Violante in einem so seelenvollen, innigen Tone des Vorwurfs, daß er die Stimme seines scheidenden Schutzengels zu vernehmen glaubte. »Eben die Gemeinheit ist es ja, vor welcher ich Sie so sehnlichst zu bewahren wünsche. Sie können nicht urtheilen, nicht klar sehen. Alles in Ihnen ist dunkel – dunkel! Verlorener Christ! ist es nicht so schlimm, wie die Nacht des Heidenthums selbst, Freundschaft zu heucheln, um desto besser verrathen zu können – Falschheit durch Falschheit zu bestrafen – das Vertrauen Ihres bittersten Feindes anzunehmen und dann in Bezug auf Täuschung und Betrug tief unter ihn herabzusinken? Und o – schlimmer als alles –zu drohen, daß Sie einen Sohn – den Sohn des Weibes, welches Sie geliebt zu haben vorgeben – als Werkzeug Ihrer Rache gegen den Vater benützen wollen. Nein, Sie waren es nicht, der das gesagt – es war der böse Feind!«

»Genug!« rief Harten, in seinem Gewissen getroffen und das Gefühl der Scham unter einem beleidigten Tone verbergend. »Genug! Sie beschimpfen den Mann, den Sie zu ehren behaupten.«

»Ich ehrte das Vorbild der Tapferkeit und Güte. Ich ehrte Denjenigen, welcher mir jedes großartige und edle Bild, das nur je eine Dichterseele geschaffen, mit Leben zu bekleiden schien. Zerstören Sie dieses Ideal, und Sie vernichten den Harley, welchen ich ehrte. Er ist todt für mich auf immer. Ich werde um ihn trauern als seine Wittwe und, treu seinem Gedächtniß, weinen über dem Gedanken, was er gewesen.«

Schluchzen erstickte ihre Stimme; als jedoch Harley, abermals tief bewegt, an ihre Seite eilte, entzog sie sich ihm mit einer raschen Bewegung, ging schnell auf die Thüre zu und entschwand seinen Blicken.

Unschlüssig – ja, beinahe besiegt – stand Harley einen Augenblick still. Dann aber kehrte die Wolke finsteren Ernstes allmälig auf seine Stirne zurück. Der Dämon behauptete sich noch immer in der halsstarrigen und wunderbaren Hartnäckigkeit, mit welcher Harley an allem festhielt, was einmal in seinem Herzen Wurzel geschlagen hatte. In Folge einer plötzlichen Eingebung, die zwar noch nicht auf einen festen Entschluß, doch aber auf eine bedeutende Erschütterung der gefaßten Vorsätze hinwies, ging er auf seinen Schreibpult zu, nahm Nora's Manuscript heraus und verließ das Zimmer.

Harley hatte im Sinne gehabt, das von ihm entdeckte Geheimniß nicht früher vor Audley zu enthüllen, als bis das Werk seiner Rache vollendet wäre. Er wollte sich nicht mit eitlen Vorwürfen befassen; sein Zorn sollte in Thaten reden, und ein einziges Wort würde dann als Schlüssel zu allem genügen. Nun aber, nachdem er bisher die Möglichkeit einer Entschuldigung nicht hatte gelten lassen, mochte er vielleicht geneigt sein, nicht ungerne einen Milderungsgrund für die begangene Treulosigkeit zu begrüßen; er beschloß, die Zusammenkunft herbeizuführen, welche er bis jetzt so eigensinnig vermieden hatte, und begab sich geraden Wegs zu Audley Egerton, welcher noch immer einsam und voll banger Furcht erfüllt in seinem Zimmer saß.


Dreißigstes Kapitel.

Egerton hörte den wohlbekannten Tritt näher und näher kommen – er hörte die Thüre sich öffnen und wieder schließen – und einer jener seltsamen und unerklärlichen Instinkte, welche wir Ahnungen nennen, sagte ihm, daß die Stunde endlich angebrochen, vor welcher er so viele Jahre im Stillen gezittert hatte. Er suchte Muth zu fassen, entfernte die Hände von seinem Antlitz und erhob sich schweigend. Nicht weniger lautlos stand Harley vor ihm. Die beiden Männer sahen einander an: man konnte jeden Athemzug hören.

»Du hast Mr. Dale gesehen?« begann endlich Egerton. »Du weißt –«

»Alles!« versetzte Harley, den abgebrochenen Satz vollendend.

Audley seufzte tief auf.

»Es sei! Doch nein, Harley – du täuschest dich. Von keinem andern Lebenden, als von mir, kannst du alles erfahren.«

»Meine Kunde kömmt von den Todten,« erwiderte Harley, und die unseligen Blätter entsanken seiner Hand. Sie fielen mit einem leisen, dumpfen Ton auf den Tisch – schwach und klagend, wie man sich den Tritt eines Geistes denken könnte, wenn solche Tritte einen Laut von sich geben würden. Da lagen sie – die stillen Bekenntnisse eines dunkeln, unverstandenen Lebens – mitten unter einer Menge von Briefen und Documenten, den beredten Zeugen des Kampfes, der damals Millionen bewegte – der flüchtigen und ungestümen Hoffnungen und Befürchtungen, welche die Parteien in steter Spannung erhielten und die Nation verwirrten – der stürmischen Geschäftigkeit des praktischen Lebens, welches mit dem Lieben und Leiden des Einzelnen so gar nichts gemein hat.

Egerton's Auge sah sie fallen. Das Zimmer war nur theilweise erleuchtet. In der Entfernung, in welcher er stand, erkannte er die Schriftzüge nicht. Allein ein unwillkürlicher Schauder ergriff ihn – und unwillkürlich trat er näher.

»Warte noch einen Augenblick!« sagte Harley. »Ich bringe meine Anklage vor, und dann magst du das einzige Zeugniß widerlegen, das ich mitbringe. Audley Egerton, ich gab dir den höchsten Beweis von Vertrauen, den ein Mensch dem andern geben kann. Du wußtest, wie ich Leonora Avenel liebte. Ich durfte sie nicht sehen und selbst um sie werben. Dir war der Zutritt zu ihr gestattet, der mir selbst versagt blieb. Ich bat dich, jene Bedenklichkeiten zu zerstreuen, deren Ursprung ich nur in übertriebener Bescheidenheit und Großmuth suchte, und für mich um sie zu werben, nicht in Unehren, sondern als um mein rechtmäßiges Weib. War es so? Antworte mir!«

»Es war so,« versetzte Audley und preßte krampfhaft die Hand auf sein Herz.

»Du sahst sie, die ich so innig liebte – die ich so arglos deiner Ehre anvertraute. Du warbst um sie für dich selbst. Ist es so?«

»Harley, ich leugne es nicht. Doch höre auf. Ich nehme die Strafe an – ich verzichte auf deine Freundschaft – ich verlasse dieses Dach – ich unterwerfe mich deiner Verachtung, denn ich wage es nicht, dich um deine Vergebung anzuflehen. Höre auf – laß mich fort von hier, und bald!«

Der starke Mann rang nach Luft.

Harley blickte ihn fest an, wandte alsdann die Augen ab und fuhr fort:

»Nein; das ist nicht alles! Du warbst um sie für dich – und du gewannst sie. Wie aber, wenn ich nun Rechenschaft fordere über dieses Leben, welches du von dem meinigen losgerissen hast? Du schweigst. So will ich dir sagen, was du gethan: du nahmst jenes Leben und richtetest es zu Grunde!«

»Schone mich – schone mich!«

»Was war das Loos derjenigen, die so frisch vom Himmel gekommen zu sein schien, als diese Augen sie zuletzt erblickten? Ein gebrochenes Herz – ein entehrter Name – ein früher Tod – ein vergessener Grabstein.«

»Nein, nein – vergessen – nein!«

»Nicht vergessen? Kaum ein Jahr verging, und du warst mit einer Andern vermählt. Ich half dir zu dieser Verbindung, welcher du deinen Reichthum verdankst. Rang, Macht und Ruhm hast du erreicht. Die Großen des Reichs nennen dich den Typus eines englischen Gentleman. Die Geistlichkeit sieht in dir ein Vorbild christlicher Tugend. Wirf die Maske ab, Audley Egerton – zeige dich der Welt so, wie du wirklich bist!«

Egerton erhob den Kopf und kreuzte ruhig die Arme über der Brust. Dann sagte er demüthig und traurig zugleich:

»Ich ertrage alles von dir, denn es ist gerecht. Fahre fort.«

»Du stahlst mir das Herz Nora Avenel's – du zerbrachst es, indem du sie verließest. Und ihr Andenken warf keinen Schatten auf das Sonnenlicht deiner Tage, während auf meinen Gedanken – meinem Leben – o Egerton – Audley, Audley – wie konntest du mich so täuschen!«

Die Harley angeborene Innigkeit, die unter all' diesem Haß verborgen lag – gleich der in hartem Gestein eingebetteten Quelle – brach sich in diesen Worten Bahn. Harley schämte sich jedoch seiner Schwäche und fuhr hastig fort:

»Ich ward betrogen – nicht für eine Stunde oder einen Tag – sondern um meine ganze Jugend, um die besten Jahre meines Mannesalters. Du ließest mich der Reue zum Raub, die an deinem Herzen hätte zehren sollen. Ihr Leben gemordet, das meinige vergeudet – und soll Keines von uns gerächt werden?«

»Gerächt? O Harley, du bist gerächt!«

»Nein – aber ich werde mich rächen! Nicht umsonst sind mir aus dem Grabe jene Berichte zugekommen. Und wen hat das Schicksal auserlesen, um das einer Mutter zugefügte Unrecht zu enthüllen? Wen hat es zu ihrem Rächer bestellt? Deinen Sohn – deinen eigenen, verlassenen, namenlosen Sohn!«

»Sohn! – meinen Sohn!«

»Den ich vom Hungertod oder von noch Schlimmerem errettete, und der mir dafür die Beweise in die Hände lieferte, welche dich als den meineidigen Freund Harley L'Estrange's und den arglistigen Verführer Nora Avenel's bezeichnen, der sie – schlimmer als jede offene Sünde – durch eine Scheinheirath betrog.«

»Das ist eine Lüge!« rief Egerton, welchem plötzlich seine frühere Kraft und Würde zurückgegeben schien. »Ich verbiete dir, so zu mir zu sprechen – ich verbiete dir, auch nur durch ein einziges Wort das Andenken meiner rechtmäßigen Gattin zu beflecken.«

»Ah,« sagte Harley betroffen – »eine Lüge? Beweise mir die Wahrheit dieser Behauptung, und die Rache ist vorüber! Dem Himmel sei gedankt!«

»Nichts leichter, als diesen Beweis dir zu geben! Und weßhalb habe ich so lange damit gezögert? Was anders war der Grund dieser jahrelangen Verheimlichung, als meine Liebe zu dir und die Furcht – eine selbstsüchtige, aber menschliche Furcht – deine Achtung, die einzige, die mir theuer war, zu verscherzen – in dir den einzigen Leidtragenden zu verlieren, der eine Thräne an dem Grabstein vergossen haben würde, dessen lügnerische, Parteizwecken dienende Inschrift den Dank einer Nation ausdrückte. Eitle Hoffnung! Ich entsage ihr! Du sprachst von einem Sohne, Harley; aber ach, du bist abermals getäuscht. Ich hörte, daß ich einen Sohn gehabt – vor vielen, langen Jahren. Ich suchte ihn – und fand ein Grab! Doch Segen über dich, wenn du einem Jüngling beigestanden, den du, wenn auch irrthümlich, für Leonora's Sohn gehalten.«

»Von deinem Sohne wollen wir später sprechen,« erwiderte Harley, seltsam erweicht. »Ehe ich mehr von ihm sage, muß ich dich um Aufklärung bitten. Laß mich hoffen, daß du einige Entschuldigung hast für das, was –«

»Du hast Recht,« unterbrach ihn Egerton rasch. »Von meinen eigenen Lippen sollst du endlich die Erzählung meiner Sünde gegen dich vernehmen. Ich bin es dir und mir schuldig. So höre mich geduldig an.«

Und nun erzählte Egerton alles – seine Liebe zu Leonora – seine Kämpfe gegen dieselbe, weil sie ihm als ein Verrath am Freunde erschien – seine plötzliche Entdeckung von Nora's Gegenliebe – das Zusammenstürzen aller seiner Vorsätze und Entschlüsse in Folge dieser Entdeckung – ihre geheime Vermählung – ihre Trennung – endlich Nora's Flucht, als deren Ursache Audley noch immer ihren unbestimmten und grundlosen Argwohn betrachtete, die Trauung möchte keine gesetzliche gewesen sein, und ihre Ungeduld darüber, daß er mit der Veröffentlichung des kirchlichen Aktes so lange gezögert hatte.

Harley unterbrach ihn hier mit einigen Fragen, deren rasche und klare Beantwortung Ersteren in den Stand setzte, Levy's gewandter Verdrehung der Thatsachen auf die Spur zu kommen, und immer deutlicher stieg der Verdacht in ihm auf, daß der Grund der Falschheit des Wucherers in einer verbrecherischen Leidenschaft zu suchen sei, welche ihm die unglückliche junge Frau eingeflößt hatte.

»Egerton,« sagte Harley, mit Mühe seinen Unmuth über den Nichtswürdigen unterdrückend, der beide Ehegatten betrogen hatte, »wenn du beim Durchlesen dieser Papiere findest, daß Leonora für ihren Argwohn und ihre Flucht mehr Grund hatte, als du jetzt glaubst – und wenn du Verrath entdeckst an dem Vertrauten deines Geheimnisses, so überlasse seine Bestrafung dem Himmel. Was du sagst, überzeugt mich mehr und mehr, daß wir nicht einmal durch die Wolke sehen und noch viel weniger den Blitzstrahl leiten können. Doch fahre fort.«

Egerton blickte Harley überrascht und betroffen an, und verlangend wandte sich sein Auge den Papieren zu; nach einer kurzen Pause jedoch fuhr er in seiner Erzählung fort.

Er sprach nun von Nora's unerwarteter Rückkehr in das Haus ihres Vaters – von ihrem Tode – von seinem eigenen Schmerz, den er niederkämpfte, um Harley die plötzliche erschütternde Kunde ihres Hingangs zu ersparen. In reuevoller Theilnahme für den Lebenden hatte er sich von der Todten losgerissen. Er berührte Harley's Krankheit, die ein so verhängnißvolles Ende zu nehmen drohte – er wiederholte seine eifersüchtigen Worte, »daß er lieber Nora's Tod betrauere, als in dem Gedanken, sie habe einen Andern geliebt, Trost suchen wolle«. Er schilderte seine Reise nach dem Dorfe, wo nach Mr. Dale's Aussage Nora's Kind sich befand, und schloß diesen Theil seiner Erzählung mit den Worten: »Wem konnte nun, nachdem Mutter und Kind nicht mehr am Leben waren, durch die Anerkennung eines Bundes Recht verschafft werden, der, wie ich fürchtete, dein Herz so sehr zerreißen würde?«

Audley schwieg einige Augenblicke und nahm alsdann seine Rede in kurzen, eindrucksvollen Sätzen wieder auf. Der kalte, ernste Mann der Welt erschloß jetzt zum ersten Mal sein Herz – vielleicht ohne selbst zu wissen, daß er es that – ohne zu wissen, daß er dadurch verrieth, wie tief er inmitten von Staatssorgen und öffentlichen Auszeichnungen den Mangel häuslicher Liebe vermißt hatte – wie mechanisch sein äußeres Leben gewesen – und wie werthlos ihm sein Reichthum geworden, den er auf Niemand vererben sollte.

Nur der an seinem Leben nagenden und immer fortschreitenden Krankheit erwähnte er nicht; er war zu stolz und zu männlich, um für physische Leiden Theilnahme zu beanspruchen. Er erinnerte Harley, wie oft und wie dringend er ihn Jahr um Jahr und Monat um Monat gebeten habe, sich aus seinen schwermüthigen Träumereien herauszureißen und die ihm innewohnenden Kräfte seinem Vaterland zu weihen, oder ein sichereres Glück in häuslichen Banden zu suchen.

»Selbstsüchtig mögen diese Bitten gewesen sein,« sagte Egerton, »denn nur wenn ich Ruhe und Frieden in dein Herz zurückgekehrt sah, konnte ich hoffen, daß du meine Aufklärungen über die Vergangenheit gelassen anhören und auf dem Boden einer glücklichen Heimath mir deine Verzeihung schenken werdest. Ich sehnte mich darnach, dir meine Schuld zu bekennen, und doch fand ich nie den Muth, es zu thun. Oftmals schwebten mir die Worte auf den Lippen – und eben so oft schloß mir eine zufällige Bemerkung von deiner Seite wieder den Mund. In dir vereinigten sich alle Gedanken und Gefühle meiner Jugend – selbst diejenigen, welche Nora's Grab umspielten – so ausschließlich, daß ich es nicht ertragen konnte, deiner Freundschaft zu entsagen und umgeben von der Bewunderung und den Ehrenbezeugungen einer Welt, an der mir nichts lag, der Verachtung in deinem vorwurfsvollen Auge zu begegnen.«

In allem, was Audley sagte – in allem, was keine Entschuldigung gestattete, ließen sich zwei vorherrschende Gefühle klar und in nicht zu mißdeutendem rührendem Pathos erkennen: reuevoller Schmerz um die verlorene Nora und selbstanklagende, tiefinnige, fast weibliche Zärtlichkeit für den Freund, den er getäuscht hatte.

So vergaß Harley, während er Egerton zuhörte, mehr und mehr selbst die Erinnerung an seinen eigenen sündhaften, schrecklichen Haß; die Kluft, die sich so schwarz zwischen den Beiden aufgethan hatte, ward ausgefüllt, und wieder standen sie, wie in den Zeiten ihrer Schuljahre, als Brüder neben einander.

Aber Harley schwieg noch immer und beschattete sein Gesicht mit der Hand, als stehe er unter dem Einfluß eines sanften, aber zwingenden Zaubers, bis Audley mit den Worten schloß:

»Und nun weißt du alles, Harley. Du sprachst von Rache?«

»Rache?« murmelte Harley und schrak zusammen.

»Glaube mir,« fuhr Egerton fort, »ich wäre glücklich, wenn die Rache in deiner Gewalt läge; wie gerne wollte ich sie als Sühne über mich ergehen lassen! Eine Beleidigung hinzunehmen für die Kränkung, die ich dir zufügte – zuerst in jugendlicher Leidenschaft und dann aus Mangel an Festigkeit, indem ich dir das Unrecht verhehlte – dies würde mein Gewissen beruhigen und mir die verlorene Selbstachtung wieder geben. Die einzige Rache, die du an mir nehmen kannst, ist diejenige, welche mich am meisten demüthigt – rächen heißt vergeben!«

Harley stöhnte. Noch immer hielt er mit der einen Hand sein Gesicht bedeckt, die andere aber streckte er Audley entgegen, und zwar viel mehr mit der Miene eines Mannes, der um Verzeihung bittet, als der sie ertheilt. Audley ergriff und drückte sie.

»Und nun, Harley, lebe wohl. Mit Tagesanbruch verlasse ich dieses Haus. Ich kann deine Hülfe bei der Wahl nicht mehr annehmen. Levy soll meinen Rücktritt bekannt geben. Randal Leslie mag statt meiner gewählt werden, wenn du damit einverstanden bist. Er besitzt Fähigkeiten, welche unter sicherer Leitung seinem Vaterlande nützen können, und ich habe kein Recht, aus eitlem Stolz zurückzuweisen, was seine Laufbahn zu fördern im Stande ist.«

»Denke jetzt nicht an Randal Leslie,« murmelte Harley, »denke an deinen Sohn.«

»Meinen Sohn! Aber weißt du denn gewiß, daß er noch lebt? Du lächelst; du – du – o Harley – ich nahm dir die Mutter – gib mir dafür den Sohn, und brich mir das Herz in Dankbarkeit. Deine Rache ist gefunden!«

Lord L'Estrange erhob sich mit einer plötzlichen, raschen Bewegung und blickte Audley einen Augenblick unschlüssig an – unschlüssig nicht aus Groll, sondern aus Scham. Er war jetzt der Gedemüthigte; er war derjenige, welcher Vorwürfe fürchtete und Verzeihung bedurfte. Audley, der nicht errathen konnte, was in Harley's Brust vorging, wandte sich ab.

»Du denkst, daß ich zu viel verlange; und doch ist alles, was ich dem Kinde meiner Liebe und dem Erben meines Namens geben kann, der werthlose Segen eines zu Grunde gerichteten Mannes. Harley, ich sage nicht mehr. Ich wage nicht hinzuzusetzen: ›auch du liebtest seine Mutter – und mit einer tieferen, edleren Liebe, als die meinige war!‹«

Er hielt inne, und Harley warf sich an seine Brust.

»Mir – mir mußt du verzeihen, Audley! Deine Schuld war gering gegen die meinige; du hast sie mir enthüllt – ich aber kann dir niemals entdecken, wie sehr ich gegen dich gefehlt. Freue dich, daß wir uns gegenseitig zu vergeben haben – daß Keiner etwas vor dem Andern voraus hat – Audley, daß wir noch immer Brüder sind! Blick' auf – blick' auf; denke, wir seien wieder Knaben, wie ehemals – Knaben, die einen tollen Streit mit einander gehabt und, sobald er vorüber ist, sich inniger lieben, als zuvor.«

»O Harley – das ist Rache! Sie trifft in's Herz,« murmelte Egerton, und Thränen entströmten seinen Augen, die ohne Zucken der Folter entgegengesehen haben würden. Die Glocke schlug; Harley sprang auf.

»Ich habe noch Zeit,« rief er. »Viel muß noch geschehen und viel ungeschehen gemacht werden. Du bist aus den Krallen Levy's befreit – deine Erwählung wird durchgesetzt werden – dein Vermögen läßt sich großen Theils wieder herstellen – Ehren und Auszeichnungen, die du bis jetzt nicht erreicht hast, stehen dir bevor – du hast deine Laufbahn kaum erst begonnen – deinen Sohn sollst du morgen umarmen. Laß mich fort – nochmals deine Hand! O Audley, wie glücklich werden wir noch sein!«


Einunddreißigstes Kapitel.

» Die Geschichte hat einen Haken,« sagte Dick mit starker Stimme, als er um zehn Uhr mit Randal in dem Eichenwäldchen zusammentraf. »Das Leben steckt voll Haken.«

Randal. – »Die Kunst des Lebens besteht in Beseitigung derselben. Was für ein Haken ist es, mein theurer Avenel?«

Dick. – »Leonard hat an gewissen Ausdrücken, welche Lord L'Estrange heute bei der Vorstellung der Candidaten gebrauchte, Anstoß genommen und spricht davon, zurückzutreten.«

Randal (mit heimlicher Freude). »Sein Rücktritt würde ja einen Haken beseitigen, nicht erst schaffen. Die ihm versprochenen Stimmen würden damit frei und gingen auf –«

Dick. – »Den sehr Ehrenwerthen Aktenwurm über!«

Randal. – »Sprechen Sie im Ernste?«

Dick. – »Wie ein Leichenbitter! Die Sache ist die. Unter den Gelben gibt es, wie in der Kirche, zwei Parteien – Hochgelbe und Niedergelbe. Leonard besitzt unter der Hochgelben einen großen Anhang und mehr Einfluß, als ich; und die Hochgelben ziehen Egerton Ihnen bei weitem vor. Sie sagen: ›von der Politik abgesehen würde er dem Bezirke Ehre machen.‹ Leonard ist der gleichen Ansicht: und wenn er sich zurückzieht, so glaube ich nicht, daß ich mit guten Worten bei ihm und diesen Hochfliegern etwas ausrichten und seinen Rücktritt Ihnen zu gute kommen lassen könnte.«

Randal. – »Aber die Pflicht der Dankbarkeit würde gewiß Ihren Neffen bestimmen, nicht Ihren Wünschen zuwider zu handeln?«

Dick. – »Unglücklicher Weise liegt die Pflicht der Dankbarkeit auf der anderen Seite – sie liegt mir ihm, nicht ihm mir gegenüber ob. Was Lord L'Estrange betrifft, so kann ich aus seinen wahren Absichten nicht klug werden; und warum er Leonard in dieser Weise zu Leibe gerückt ist, begreife ich vollends nicht, denn er wünschte dessen Auftreten als Bewerber. Und Levy hat mir im Vertrauen mitgetheilt, daß, ungeachtet Mylord's Freundschaft für den sehr Ehrenwerthen, Sie der Mann seien, welchen er durchzusetzen wünscht.«

Randal. – »Diesen Wunsch hat er auch während der ganzen Wahlbewerbung durchblicken lassen.«

Dick. – »In mir ist der Verdacht aufgestiegen, daß die Wahlbezirksverschacherer Egerton anderswo einen Sitz verschafft haben, oder vielleicht soll er, wenn seine Partei wieder an das Ruder gelangt, in das Oberhaus hineingeschoben werden.«

Randal (lächelnd). – »Ah, Avenel, Sie sind so schlau; Sie durchschauen alles. Ich will noch beifügen, daß Egerton einer kurzen Zeit der Erholung fern von dem öffentlichen Leben bedarf, um seine Gesundheit zu pflegen und seine Privatangelegenheiten zu besorgen. Sonst würde mir der bloße Gedanke, die Wähler könnten mich ihm vorziehen, Schmerz bereiten.«

Dick. – »Schmerz! – Unsinn! Kolossaler Unsinn! Die Eichen hören uns nicht! Sie wollen in das Parlament kommen, das ist zweifellos. Wenn ich zurücktrete – was ich mir immer vorgenommen und auch Leonard vor dieser verwünschten Rede L'Estrange's gebilligt hatte – so werden Sie in das Parlament kommen; denn die Niedergelben kann ich um den Finger wickeln, vorausgesetzt, die Hochgelben mischen sich nicht darein; – kurz, ich kann mir versprochene Stimmen auf Sie übertragen, aber ich kann nicht für die meinem Neffen versprochenen gut stehen. Levy sagt mir, Sie werden ein reiches Mädchen heirathen und über eine Masse Geld verfügen; dann werden Sie mir selbstverständlich meine Auslagen ersetzen, wenn Sie durch meine Stimmen hinein kommen.«

Randal. – »Mein theurer Avenel, gewiß werde ich dies thun.«

Dick. – »Und zwei Privatbillen habe ich, welche ich durch das Parlament schmuggeln möchte.«

Randal. – »Sie sollen durchgeschmuggelt werden, verlassen Sie sich darauf. Mr. Fairfield und ich, er auf der einen und ich auf der anderen Seite des Hauses, können jeden mißliebigen Widerstand niederhalten. Privatbillen sind leicht zu behandeln – wenn es mit jenem Takte geschieht, den zu besitzen ich mir schmeichle.«

Dick. – »Und wenn die Billen das Haus durchwandert und Sie Zeit gehabt haben, sich umzusehen, so werden Sie sich überzeugen, daß kein Mensch der öffentlichen Meinung widerstehen kann, er hätte denn Lust, mit dem Kopfe gegen eine steinerne Mauer anzurennen; und daß die öffentliche Meinung entschieden gelb ist.«

Randal (aufrichtig). – »Ich kann nicht leugnen, daß die öffentliche Meinung gelb ist; und in meinem Alter ist es natürlich, daß ich mich nicht mit der Politik einer früheren Generation befasse. Blau nützt sich rasch ab. Aber, auf Mr. Fairfield zurückzukommen – so wollen Sie doch nicht sagen, daß Sie keine Hoffnung hätten, ihn den, wie ich vernehme, mit Ihnen getroffenen Verabredungen treu zu erhalten? Unzweifelhaft ist seine Ehre dabei im Spiele.«

Dick. – »Wie es mit dem Ehrenpunkte steht, weiß ich nicht; aber er hat jetzt für das öffentliche Leben eine Vorliebe gefaßt; so sagte er mir wenigstens erst heute Morgen, ehe wir in den Gerichtssaal gingen; und ich hoffe, die Sache wird recht werden. Ich habe ihn bei dem Pfarrer Dale gelassen, der mir versprach, er wolle allem aufbieten, um über Leonard zu wachen, damit er keinen übereilten Schritt thue.«

Randal. – »Aber warum sollte Mr. Fairfield zurücktreten, weil Lord L'Estrange seine Gefühle verletzt? Wahrhaftig, meine Gefühle hat Mr. Fairfield auch verletzt, aber ich denke nicht daran, deßhalb zurückzutreten.«

Dick. – »O, Leonard ist ein Dichter, und Dichter sind gerade so grillenhaft, wie sie L'Estrange beschrieb. Und Leonard hat gegen Lord L'Estrange Verpflichtungen und glaubte, Lord L'Estrange sehe sein Auftreten gern, während jetzt – kurz, alles das sind mir böhmische Dörfer, und ich weiß nur, daß Leonard das hohe Roß bestiegen hat, und wenn es ihn abwirft, so fürchte ich, wirft es Sie mit zu Boden. Indessen setze ich noch immer großes Vertrauen in Pfarrer Dale, ein guter Mann, der auf Leonard viel Einfluß hat. Und obgleich ich es für recht hielt, nicht Versteckens zu spielen, sondern Ihnen zu zeigen, wo die Gefahr liegt, so kann ich Ihnen jedenfalls Eines versprechen: Wenn ich von der Bewerbung abstehe, so sollen Sie hinein kommen. Darauf haben Sie meine Hand.«

Randal. – »Mein theurer Avenel! Und es ist Ihr Wunsch, zurückzutreten?«

Dick. »Zuversichtlich. Ich werde es in der ersten Hälfte des Nachmittag thun und so einrichten, daß ich in der Stimmenzahl hinter Leonard zurück bin. Sie kennen Emanuel Trout, den Hauptmann der hundert und fünfzig ›Wächter der Vorsehung,‹ wie man sie nennt?«

Randal. – »Gewiß kenne ich ihn.«

Dick. – »Wenn Emanuel Trout in die Bude tritt, werden Sie wissen, wohin sich die Wahl neigt. So, wie er stimmt, werden alle Hundert und fünfzig stimmen. Ich muß jetzt zurück. Gute Nacht. Sie werden nicht vergessen, daß mir meine Auslagen zu bezahlen sind. Ehrensache. Werden sie nicht bezahlt, so kann die Wahl umgestoßen werden – Klage wegen Bestechung und Geschenkannahme; werden sie aber bezahlt, nun, dann können Sie vielleicht den Sitz für Lansmere auf Lebenszeit haben.«

Randal. – »Ihre Auslagen sollen Ihnen bezahlt werden, sobald mir meine Heirath die Mittel dazu in die Hand gibt – und dies muß sehr bald geschehen.«

Dick. – »So versichert Levy. Und meine kleinen Anliegen – die Privatbillen?«

Randal – »Betrachten Sie die Billen als durchgegangen und Ihre Anliegen als erledigt.«

Dick. – »Und sein Vaterland darf man auch nicht vergessen. Man muß für seine Grundsätze thun, was man kann. Egerton ist höllisch blau. Sie geben zu, die öffentliche Meinung – ist –«

Randal. – »Gelb. Gar kein Zweifel.«

Dick. – »Gute Nacht. Ha – ha – Schwindel, ha?«

Randal. – »Schwindel? Zwischen Männern wie wir! – O nein. Gute Nacht, mein theurer Freund – ich verlasse mich auf Sie.«

Dick. – »Ja; aber wohl gemerkt, ich verspreche nichts, wenn Leonard Fairfield nicht fest bleibt.«

Randal. – »Er muß fest bleiben; lassen Sie ihn nicht los. Ihre Familie – Ihr Geschäft – Ihre Fabrik –«

Dick. – »Sehr wahr. Er muß fest bleiben. Ich habe großen Glauben an Pfarrer Dale.«

Randal schlich durch den Park zurück. Auf der Terrasse sah er sich plötzlich Lord L'Estrange gegenüber.

»Ich komme eben aus der Stadt, mein theurer Lord, und hörte dort ein seltsames Gerücht: Mr. Fairfield fühle sich durch einige Bemerkungen in Eurer Lordschaft bewunderungswürdiger Rede dermaßen beunruhigt, daß er davon spreche, die Bewerbung fallen zu lassen. Dies würde der Wahl ein ganz anderes Ansehen geben, und alle unsere Berechnungen zerstören. Und ich fürchte, in diesem Falle möchten sich Avenel's Freunde und unser Comite heimlich zusammen verbinden, welch' letzteres durch meine gemäßigte, von Eurer Lordschaft so beredt in Schutz genommene Rede nicht befriedigt worden ist. Durch eine solche Verbindung würde Avenel zugleich mit Egerton den Sieg davon tragen, während, wenn wir Alle vier Stand halten, Egerton's Wahl nach meiner Ueberzeugung ganz ungefährdet und mir selbst bedeutende Aussicht bleibt.«

Lord L'Estrange. – »So, Mr. Fairfield will in Folge meiner Bemerkungen zurücktreten. Ich gehe aber in die Stadt und beabsichtige, diese Bemerkungen zu entschuldigen und zurückzunehmen.«

Randal (freudig). – »Edel!«

Lord L'Estrange blickte in Leslie's Gesicht, welches die Sterne mit ihrem bleichen Lichte beschienen. »Mr. Egerton ist um Ihren Erfolg besorgter, als um seinen eigenen,« sagte er und eilte fort.

Randal blieb auf der Terrasse zurück.Vielleicht schlugen Harley's letzte Worte an sein Gewissen. Sein Kopf sank nachdenklich auf die Brust herunter, und er schritt den langen Kiesweg auf und ab, allen seinen Verstand zu Hülfe rufend, um jeder Versuchung zu einer, sein eigenes Interesse beeinträchtigenden Handlungsweise zu widerstehen.

»Der schleichende Bube!« murmelte Harley. »Hier wenigstens wird mir die Reue erspart sein, wenn ich an ihm Gerechtigkeit üben kann. Das ist keine Rache, nein, das muß verdiente Wiedervergeltung sein. Ueberdies, wie kann ich Violante erlösen?«

Er lachte vergnügt, es war ihm so leicht um's Herz, und seine Füße trugen ihn so behend, wie die eines aufgeschreckten Wildes.

Wenige Schritte vor dem Schlagbaume holte er Richard Avenel ein, der sich durch einen rauhen Ueberziehrock und eine Brille unkenntlich zu machen gesucht hatte. Nichtsdestoweniger erkannte Harley den gelben Candidaten auf den ersten Blick. Er nahm vertraulich Dick's Arm.

»Gut getroffen – ich war auf dem Wege zu Ihnen. Wir müssen die Wahlfrage in's Reine bringen.«

»Unter den Bedingungen, welche ich Eurer Lordschaft bezeichnet habe?« sagte Dick betroffen. »Ich will der Erwählung eines Ihrer Candidaten nichts in den Weg legen, aber es darf nicht Audley Egerton sein.«

Harley flüsterte Avenel leise etwas in das Ohr. Avenel stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Die beiden Gentlemen gingen rasch und in lebhaftem Gespräche zusammen weiter.

»Freilich,« sagte Avenel, endlich stehen bleibend, »thut man gar viel, um sich seiner Familienverwandtschaft gefällig zu zeigen – und noch dazu einer Verwandtschaft, die Einem so viel Ehre macht; und wie kann man denn gegen den eigenen Schwager zu Felde ziehen? einen Gentleman von so hoher Stellung – ein Rückhalt für die ganze Familie! Wie sich Mrs. Richard Avenel freuen wird! Warum zum Teufel wußte ich das nicht früher? und die arme – theure – theure Nora. Ach, daß sie noch lebte!«

Dick's Stimme zitterte.

»Ihrem Namen wird Gerechtigkeit werden; und ich will Ihnen auseinandersetzen, warum es mein Fehler war, daß Egerton nicht schon früher seine Heirath bekannte und Sie als Schwager begrüßte. Und jetzt ist also alles richtig und im Reinen?«

»Nein, mein Lord; ich habe mich auf einer anderen Seite gebunden. Ich sehe nicht, wie ich mein Wort – gegen Randal Leslie – los werden könnte; – ich bin nicht übermäßig bedenklich, und auch nicht, was man quixotisch nennt; aber ich habe einmal mein Wort gegeben, daß ich, wenn ich zurücktrete, mein Möglichstes thun wolle, um Leslie statt Egerton durchzubringen.«

»Ich weiß dies von Baron Levy. Wenn aber Ihr Neffe zurücktritt?«

»Ja, dann fiele jede Schwierigkeit weg. Aber der arme Junge sehnt sich jetzt förmlich danach, in das Parlament zu kommen; und er hat mir in der Stunde der Noth einen Dienst erwiesen.«

»Ueberlassen Sie dies mir. Und was Randal Leslie betrifft, so soll sich ihm Gelegenheit bieten, Sie Ihres Wortes zu entbinden und vieles wieder gut zu machen; und es wird sein Glück sein, wenn er noch einen Funken von Dankbarkeit und einen Rest von Ehrgefühl besitzt.«

Die Beiden sprachen noch eine Weile zusammen. Dick schien die Wahl selbst zu vergessen und Fragen zu stellen, die seinem Herzen näher lagen und von Harley in einer Weise beantwortet wurden, daß Dick L'Estrange's Hand in großer Erregung schüttelte und leise sagte:

»Meine arme Mutter! Ich verstehe jetzt, warum sie nie mit mir von Nora reden wollte. Wann darf ich ihr die Wahrheit mittheilen?‹

»Morgen Abend nach der Wahl wird Egerton Euch Alle umarmen.«

Dick fuhr in die Höhe und bog mit den Worten: »Suchen Sie Leonard so bald wie möglich auf – es ist keine Zeit zu verlieren,« in ein Gäßchen ein, welches in die schmutzigeren Stadttheile führte.

Harley verfolgte seinen Weg mit demselben leichten, elastischen Schritt, den er, seit er seine wahre Natur verleugnete, verloren und jetzt wieder in einem Grade gefunden hatte, daß sein Fuß sogar die Spur, die er auf dem Boden zurücklassen mußte, zu bedauern schien.

Auf der Hauptstraße begegnete er Mr. Dale und Leonard Fairfield, die langsam Arm in Arm gingen.

Harley. – »Leonard, ich wollte eben zu Ihnen. Geben Sie mir Ihre Hand. Vergessen Sie für jetzt die Worte, durch welche Sie sich mit Grund verletzt und beleidigt fühlten. Ich will mehr thun, als abbitten – ich will das Unrecht wieder gut machen. Entschuldigen Sie, Mr. Dale – ich habe mit Leonard ein Wort im Vertrauen zu reden.«

Er zog Fairfield bei Seite.

»Avenel sagt mir, daß Sie, wenn Sie von der Bewerbung abständen, Ihrer Neigung ein Opfer bringen würden. Ist es so?«

»Mein Lord, ich habe Kummer und Schmerzen, die ich gerne vergessen möchte, und obwohl ich Anfangs vor dem Kampfe, in welchen ich seither verwickelt bin, zurückschrack, so scheint doch eine schriftstellerische Laufbahn ihren früheren Reiz für mich verloren zu haben; und ich finde, daß das öffentliche Leben für Gedanken, welche die Einsamkeit verbittern, eine bessere Zerstreuung ist, als Bücher. Wünschen Sie daher noch immer, daß ich – obgleich ich Ihre Beweggründe nicht kenne – in der Bewerbung fortfahre, so wird es nicht mehr, wie Anfangs, eine widerstrebende und peinliche Unterwerfung unter Ihre Anordnung sein.«

»Ich verstehe. Sie haben durch den Beginn des Kampfes Ihre Neigung zum Opfer gebracht – und jetzt würden Sie durch das Aufgeben des Kampfes von Neuem Ihre Neigung opfern‹«

»Ehrlich gestanden – ja, mein Lord.«

»Es freut mich, dies zu hören; denn ich fordere dieses Opfer – ein Opfer, dessen Sie sich später mit Stolz und Hochgenuß erinnern werden, ein Opfer, das, wenn ich in Ihrer Seele richtig lese, süßer, weit süßer ist, als alles, was der alltägliche Ehrgeiz zu bieten vermag! Und wenn Sie erfahren, warum ich dieses Verlangen stelle, so werden Sie sagen ›Ja, das ist Genugthuung für die Worte, welche meine Gefühle verwundet und mein Herz gekränkt haben.‹«

»Mein Lord, mein Lord!« rief Leonard, »ich habe schon diese Genugthuung. Sie geben mir Ihre Achtung zurück, indem Sie meiner Antwort im Voraus so gewiß waren. Ihre Achtung! – ein neues Leben beginnt für mich. Ohne einen Seufzer kann ich mich wieder der Laufbahn, für welche ich mehr geschaffen bin, zuwenden. Jetzt brauche ich keine Zerstreuung für meine Gedanken mehr. Sie werden mir glauben, daß, wie groß auch meine frühere Vermessenheit war, ich aufrichtig für Ihr Glück beten kann.«

»Dichter! Sie zieren Ihre Laufbahn, Sie erfüllen Ihre Sendung, sogar in diesem Augenblicke, Sie verschönern die Welt; Sie schlingen um die harte Form der Pflicht den Gürtel der Grazien,« sagte Harley, seinen bebenden Lippen ein Lächeln abzwingend. »Aber wir müssen rasch zur Prosa des Daseins zurückkehren. Ich nehme Ihr Opfer an. Hinsichtlich der behufs der Sicherung eines Erfolges zu wählenden Zeit und Mittel bitte ich Sie, sich an die Weisungen zu halten, welche ich Ihnen durch Ihren Onkel zugehen lassen werde. Bis dahin kein Wort über Ihre Absichten – nicht einmal gegen Mr. Dale. Verzeihen Sie mir, wenn mir Egerton's Erwählung mehr am Herzen liegt, als die Ihrige. Möge Ihnen diese Erklärung vor der Hand genügen. Wie denken Sie, beiläufig bemerkt, über Audley Egerton?«

»Als ich ihn sprechen hörte, und als er mit jenen rührenden Worten schloß, worin er sein Leben, soweit es nicht dem Dienste seines Vaterlandes gewidmet war, dem nachsichtigen Urtheile seiner Freunde anheimgab, da dachte ich, wie stolz ich, selbst als sein Gegner, seine Hand gedrückt haben würde. Und wenn er mich im Privatleben verletzt hätte, so wäre es mir als Undank gegen das Vaterland, welchem er solche Dienste geleistet, erschienen, der Beleidigung eingedenk zu bleiben.«

Harley wandte sich rasch von Leonard ab und trat zu Mr. Dale.

»Lassen Sie Leonard allein nach Hause gehen; Sie sahen, ich habe die Wunden, die ich ihm geschlagen, wieder geheilt.«

Pfarrer. – »Und nachdem Ihre bessere Natur einmal erwacht ist, so hoffe ich, mein Lord, Sie entsagen auch dem Gedanken an –«

Harley. – »Rache – nein! Und wenn Sie nicht morgen diese Rache billigen, so will ich nicht ruhen, als bis Sie – Bischof sind!«

Mr. Dale (entsetzt). – »Pfui, mein Lord!«

Harley (ernsthaft). – »Meine Leichtfertigkeit sitzt nur auf den Lippen, mein theurer Mr. Dale. Aber zuweilen zeigt der Schaum auf der Welle eine Veränderung in den Strömungen«

Der Pfarrer blickte ihn ernst an, und dann faßte er in heiliger Freude und Liebe seine beiden Hände.

»Gehen Sie jetzt in den Park zurück,« sagte Harley lächelnd, »und sagen Sie Violante, wenn es nicht zu spät ist, sie zu sehen, daß sie sogar noch beredter war, als Sie.«

Lord L'Estrange eilte von hinnen.

Mr. Dale begab sich durch den Park nach Lansmere Haus zurück. Auf der Terrasse traf er Randal, der noch immer, bald im Sternenlicht, bald im Schatten, auf und ab wandelte.

Leslie blickte empor, und als er Mr. Dale gewahr wurde, kehrte der schlaue und verschlossene Ausdruck seines Gesichtes zurück; und, aus dem ungewissen Lichte in den tiefen Schatten tretend, sagte er:

»Es thut mir leid, zu erfahren, daß sich Mr. Fairfield durch Lord L'Estrange's scharfe Anspielungen so verletzt fühlte. Es wäre zu beklagen, wenn politische Meinungsverschiedenheiten einen freundschaftlichen Privatverkehr stören würden. Aber ich höre, daß Sie bei Mr. Fairfield waren – und ohne Zweifel als Friedensstifter. Vielleicht sind Sie Lord L'Estrange unterwegs begegnet? Er versprach mir, sich zu entschuldigen und jene Aeußerungen zurückzunehmen.«

»Guter junger Mann,« sagte der arglose Pfarrer; »er hat es gethan.«

»Und Mr. Fairfield wird sich demnach an dem Kampfe auch fernerhin betheiligen?«

»Kampf? – oh, diese Wahl? Ich vermuthe es – natürlich. Aber es schmerzt mich, daß er gegen Sie austritt, der Sie ihm so freundlich gesinnt zu sein scheinen.«

»Oh,« sagte Randal mit wohlwollendem Lächeln, »Sie wissen ja, wir haben uns schon früher gemessen, und ich bin damals Sieger geblieben. Vielleicht ist dies auch jetzt wieder der Fall!«

Und er trat Arm in Arm mit dem Pfarrer in das Haus. Mr. Dale suchte Violante auf; Leslie zog sich in sein Zimmer zurück in dem Bewußtsein, daß seine Erwählung gesichert sei.

Lord L'Estrange hatte die belebtesten Straßen erreicht – an Gruppen brüllender Fanatiker vorüber, Blauen und Gelben, die bald mit Hurrah's bald mit Grunzen begrüßt wurden. Vor einem Wirthshause, welches die Ecke der Hauptstraße und eines Seitengäßchens bildete, von oben bis unten ein Lichtmeer war und von Geschrei wiederhallte, sah er den graziösen Baron an die Hausthüre gelehnt seine Cigarre rauchen, deren göttlichen Duft mit den Fensterwolken im Innern zu vermengen ihm sein heikler Geschmack nicht erlaubte, und mit einer Truppe Weibspersonen gemüthlich plaudern, welche theils durch die allgemeine Aufregung herbeigezogen worden waren, theils auf einen Gatten, Bruder, Vater oder Sohn warteten, während dieselben jetzt in den Chor »Blau für immer!«, der von der Schenkstube bis hinauf zu dem Dachstübchen des hell beleuchteten Hauses ertönte, mit einstimmten.

Als Levy Harley's ansichtig wurde, nahm er die Cigarre aus dem Munde und eilte auf ihn zu.

»Alle die Dreihundert und fünfzig sind da drinnen,« sagte der Baron, mit dem Daumen rückwärts nach dem Wirthshause deutend. »Ich habe sie alle privatim, je zehn auf einmal, vorgenommen, und den Damen hier außen habe ich gesagt, daß ihren Familien am besten gedient wäre, wenn sie nach Hause gingen und uns die Hundert und fünfzig von den Gelben absperren ließen, bis wir sie zur Wahlurne bringen. Aber ich fürchte,« fuhr Levy fort, »daß den Spitzbuben nicht zu trauen ist, wenn man ihnen nicht im Voraus ein Draufgeld gibt; und dies wäre unehrenhaft, unmoralisch und – was wichtiger ist – könnte die Wahl umstoßen. Zudem fragt es sich immer noch, ob man, wenn man sie vorher bezahlt, gewiß weiß, wie sie abstimmen werden.«

»Mr. Avenel wird wohl mit ihnen fertig werden,« sagte Harley. »Ich bitte, thun Sie nichts Unmoralisches, nichts, was die Wahl umstoßen könnte. Ich meine, Sie dürften ruhig nach Hause gehen.«

»Nach Hause! Nein, verzeihen Sie, mein Lord; es muß Jemand da sein, der die oberste Leitung über das Comite führt und dafür sorgt, daß unsere Hauptleute auf ihren Posten bei den zweifelhaften Wählern bleiben. Viel Unheil kann zwischen jetzt und morgen geschehen, und die ganze Nacht – ja sechs Nächte in der Woche ein ganzes Vierteljahr lang – wollte ich aufbleiben, um ein ungeschicktes Versehen zu verhindern, durch welches Audley Egerton gewählt werden könnte.«

»Seine Erwählung würde Ihnen so großen Kummer verursachen?« frug Harley.

»Der Eifer, womit ich auf alle Ihre Plane eingehe, mag Ihnen ein Beweis dafür sein.«

Jetzt erscholl ein plötzliches und wunderbar lautes Brüllen aus einer anderen Kneipe – einer gelben, welche am entgegengesetzten Ende des Gäßchens lag und nicht so hell beleuchtet war, im Gegentheile dunkel und finster aussah, mehr wie eine Stätte für Verschwörer und Verbrecher, als für ehrliche, unabhängige Wähler – »Avenel für immer! – Avenel und die Gelben!«

»Entschuldigen Sie, mein Lord, ich muß zurück und über meine schwarzen Schafe wachen, wenn ich sie blau haben will!« sagte Levy und stellte sich wieder an der Thüre auf. Aber bei dem Rufe »Avenel für immer!« stürzten wie auf ein Zeichen verschiedene Wähler von den gefürchteten Hundertundfünfzig aus dem blauen Wirthshause hervor, fegten an Levy vorbei und rannten das Gäßchen hinunter der kleinen dunkeln gelben Kneipe zu, gefolgt von der Weiberbande, wie kleine Vögel einer Eule nachziehen. Es war indessen nicht sehr leicht, in diese gelbe Kneipe hineinzukommen. Gelbe Reformatoren, die großen Eifer für die Reinheit der Wahl zur Schau trugen, hielten die Thüre von Außen besetzt und ließen immer nur je einen Kandidaten sich in das Innere durchdrücken.

»Im Grunde,« dachte der Baron, als er in das Hauptzimmer des blauen Wirthshauses trat und die Volkshymne › Rule Britannia‹ zu singen vorschlug – »im Grunde haßt Avenel diesen Egerton so sehr, wie ich, und beide Theile arbeiten auf dasselbe Ziel hin.« Und auf den Tisch trommelnd fiel er mit einer schönen Baßstimme in den berühmten Vers eilt:

»Denn Britten werden nimmer Sklaven!«

Mittlerweile war Harley in dem »Lansmerewappen«, dem Hauptquartier des blauen Comite's, verschwunden. Allein er stieg nicht in das Zimmer hinauf, in welchem noch einige Unermüdliche damit beschäftigt waren, von Kundschaftern Berichte entgegenzunehmen, Befehle zu ertheilen, Wetten einzugehen und höchst verwirrte Begriffe von britischem Geiste und britischen Grundsätzen Preis zu geben, sondern er rief den Wirth bei Seite und frug, ob der Fremde, für welchen Zimmer gerichtet worden, angekommen sei.

Der Wirth bejahte es und führte Harley eine Nebentreppe hinauf in einen Theil des Hauses, welcher von den, für die Wahlen bestimmten, Räumen getrennt war. Lord L'Estrange blieb etwa eine halbe Stunde bei diesem Fremden, begab sich dann in das Comite-Zimmer, schaffte sich hier die Aufgeregteren vom Halse, besprach sich mit den Ruhigeren, versah die zuverlässigsten Leiter mit einigen kurzen Weisungen und kehrte eben so schnell, wie er gekommen, wieder nach Hause zurück.

Der Morgen graute am Himmel, als Harley sein Zimmer aufsuchte. Um dahin zu gelangen, mußte er an Violanten's Thüre vorbei. Sein Herz quoll über von dankbarer, unaussprechlicher Zärtlichkeit, er blieb stehen und küßte die Schwelle.

Als er in seinem Zimmer stand – das nämliche, welches er in früher Jugend bewohnt hatte – fühlte er seine Brust von einer jahrelangen Bürde befreit. Die freudige, göttliche Spannkraft des Geistes, welche in dem Morgen des Lebens sich der Zukunft, wie der Vogel dem Aether, entgegenschwingt, durchdrang sein ganzes Sein.

Ein griechischer Dichter meint, die höchste Glückseligkeit liege in der plötzlichen Linderung eines Schmerzes; es gibt noch ein edleres Glück: das entzückende Bewußtsein der Befreiung von einem schuldhaften Gedanken. Neben dem Bette, an welchem er als Knabe gekniet hatte, kniete Harley jetzt wieder. Der Hochgenuß des Gebetes, welcher ihm versagt gewesen, seit er sich in der Verblendung der Leidenschaft zu sündhaften Plänen, die er dem Allbarmherzigen nicht zu gestehen wagte, hatte hinreißen lassen, war ihm zurückgegeben.

Als er aber sein Knie beugte, fühlte er sich nicht mehr in so gehobener Stimmung, wie vorher. Das Gefühl der Gefahr, welcher seine Seele entronnen war, die Erkenntniß der Schuld, zu welcher ihn der Böse verlockt hatte, stieg mit allen ihren Schrecken klar vor seinem Blicke auf; er schauderte voll Abscheu vor sich selbst. Und ihm, dem es noch vor wenigen Stunden so unmöglich gedeucht hatte, seinem Nebenmenschen zu verzeihen, war jetzt zu Muthe, als seien Jahre nützlichen und wohltätigen Wirkens erforderlich, um seine reuige Seele von der Erinnerung an eine einzige häßliche Leidenschaft zu reinigen.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Während Harley in solcher Weise die Stunden der Nacht der Sorge für die Lebenden widmete, hielt Audley Egerton mit den Todten Zwiesprache. Er hatte den Bericht von Nora's verstummtem Herzen aus einem Stoß von Papieren, zwischen welche er hineingerathen war, hervorgezogen. Mit wehmüthigen Staunen sah er, wie er einst geliebt worden war. Was waren alle die Erfolge, welche der einsame Staatsmann mit seinem ehrgeizigen Streben errungen, im Vergleich mit der glorreichen Herrschaft, die er verloren hatte – mit diesen Schätzen einer lieblichen Phantasie, diesen Welten köstlicher Erregung, jenem Unendlichen, das der göttlichen Sphäre angehört und den genialen Geist mit menschlicher Liebe verbindet?

Seine positive und irdische Natur lernte zum ersten Male, wie zur Strafe, jenen höheren, ätherischen Gast vom Himmel begreifen, der einst mit einem Seraphslächeln durch die vergitterten Fenster seines ehernen Lebens hereingeschaut hatte – jene himmlische Verklärung der Liebe, jenes Ueberströmen des Gefühls, unter dessen warmem Hauche die erdeverschönernde Einbildungskraft der Idee des Schönen die verschiedensten Formen verleiht. Von alle Dem, als es ganz sein eigen war, hatte er sich halb müde, halb ungeduldig weggewendet und es Uebertreibungen einer romantischen Träumerei genannt; und jetzt, da sie für die Welt auf immer verloren waren, deutete er sie richtig als Wahrheiten.

Wahrheiten waren sie, obschon Sinnentäuschungen. Der Philosoph versichert uns, der Farbenglanz, welcher das All bedeckt, liege nicht auf der Oberfläche, wo wir ihn zu sehen meinen, sondern in unsern eigenen Augen; allein man nehme die Farben aus dem All, und welche Philosophie kann uns einreden, daß dasselbe keinen Verlust erlitten habe?

Aber als Audley in dem Manuscripte an die Stelle kam, die, freilich nur unvollkommen, die eigentliche Veranlassung zu Nora's Flucht erzählte – als er sah, wie Levy aus einem ihm unerklärlichen Grunde seiner jungen Gattin jene kränkenden Zweifel eingeflößt, den Trauungsakt als einen Betrug dargestellt, sich hiefür auf Audley's eigene, kurze, empfindliche Briefe an Nora berufen und ihr so unter Benützung ihrer geringen Lebenserfahrung einer und ihres ängstlich strengen Sittlichkeitsgefühls anderseits in einem Zustande, der für ihre Vernunft fürchten ließ, die Ueberzeugung von ihrer Schande beigebracht hatte – da verfinsterte sich seine Stirne, und seine Faust ballte sich. Er stand auf und schritt geraden Wegs nach Levy's Zimmer. Er fand es leer – er frug nach ihm und hörte, Levy sei ausgegangen und habe hinterlassen, er werde wohl über Nacht fort bleiben.

Ein Glück vielleicht für Audley – ein Glück für den Baron – daß sie sich nicht begegneten. In jener Stunde wäre, ungeachtet der Warnungen seines Freundes, der Durst nach Rache bei Egerton wohl eben so mächtig gewesen, wie bei Harley, und nicht, wie bei Letzterem, abgelenkt worden.

Audley ging in sein Zimmer zurück und las den tragischen Bericht zu Ende. Er folgte dieser geliebten Hand, wie sie unter den Folterqualen der Ungewißheit und der Verzweiflung erbebte; – er sah, wo heiße Thränen niedergefallen waren; – er sah, wo die Hand inne gehalten, wo sie den Satz nicht vollendet hatte; – im Geiste begleitete er seine schwer heimgesuchte Gattin auf der traurigen Reise nach der Heimath ihrer Mädchenjahre und erblickte sie vor sich, wie er sie zum letzten Male gesehen hatte, sogar im Tode noch schöner, als ihm seither je das Antlitz eines lebenden Weibes gedünkt hatte; – und als er sich über die letzten Worte niederbeugte, und der leere Raum, welchen sie auf dem Blatte ließen, sich unter den zitternden, von Thränen vermischten Schriftzügen bleich ausdehnte – bleich und leer, wie die Stätte entschwundener Liebe – da fühlte er sein Herz plötzlich stille stehen, dessen Schlag gehemmt zugleich mit dem Schlusse des Berichtes. Es rührte sich wieder, aber schwach so schwach! Das Athemholen machte ihm Mühe und Schmerz, es schwindelte ihm vor den Augen. Allein die beharrliche Uebung in festem und namhaftem Ueberwinden kam ihm auch jetzt zu Hülfe – sein Wille kämpfte noch gegen die Krankheit – das Leben sammelte sich wieder, wie das Licht der verlöschenden Kerze aufflackert.

Als Harley am andern Morgen in das Zimmer seines Freundes trat, schlief Egerton. Aber der Schlaf schien vielfach gestört worden zu sein; der Athem ging hart und schwer; die Bettdecke hatte sich verschoben, wie es zu geschehen pflegt, wenn man sich in Folge unruhiger Träume herumwirft; der kräftige, sehnige Arm, die breite, athletische Brust waren zum Theil entblößt. Seltsamer Weise ließ die tödtliche innere Krankheit dem Körper so viel scheinbare Kraft, daß der schlafende Dulder dem ungeübten Auge als das Bild lebensfrischer Gesundheit erschien. Die eine Hand war mit unbequemer Anstrengung unter die Kissen gedrückt; sie hielt die verhängnißvollen Papiere gefaßt; einige Blätter sahen hervor, und wo die Schriftzeichen von Nora's Thränen erzählten, da waren feuchte Spuren von vielleicht noch bitterern Zähren.

Harley fühlte sich tief ergriffen; und als er vor dem Bette stand, wachte Egerton mit einem schweren Seufzer auf. Verwirrt hafteten seine Blicke bald auf diesem, bald auf jenem Gegenstande, bis sie auf Harley ruhen blieben. Er lächelte und sagte:

»So frühe? Ah – richtig, es ist heute der Tag unseres großen Schifferstechens Im Original »boat-race«: Wettrudern.. Wir werden die Strömung gegen uns haben; aber du und ich zusammen – wann hätten wir je verloren?«

Egerton redete irre, sein Geist war zu den alten Tagen von Eton zurückgewandert. Aber Harley hielt seine Worte für eine bildliche Anspielung auf den gegenwärtigen wichtigeren Kampf.

»Wahr, mein Audley, du und ich zusammen, wann hätten wir ihn verloren? Aber willst du nicht aufstehen? Ich möchte, daß du am Orte der Abstimmung wärest, um mit deinen Wählern, wenn sie anrücken, einen Händedruck zu wechseln. Um vier Uhr wirst du erlöst und die Wahl gewonnen sein!«

»Die Wahl! Wie? – was?« sagte Egerton, nach und nach zu sich kommend. »Ich erinnere mich jetzt, ja – ich nehme diesen letzten Freundesdienst noch von dir an. Ich sagte immer, ich wolle im Harnisch sterben. Oeffentliches Leben – ich habe kein anderes. Ah, ich träume schon wieder! Harley! – meinen Sohn – meinen Sohn!«

»Du sollst ihn nach vier Uhr sehen. Ihr werdet stolz auf einander sein. Aber eile, dich anzukleiden. Soll ich deinem Diener läuten?«

»Thue es,« versetzte Egerton kurz und in die Kissen zurücksinkend.

Harley verließ das Zimmer und schloß sich Randal und einigen bedeutenderen Mitgliedern des blauen Comite's an, die bereits ein hastiges Frühstück einnahmen.

Alle waren ängstlich und aufgeregt außer Harley, der, seinem italienischen Mäßigkeitsprincipe treu, mit heiterer Fassung seine gerösteten Brodschnitten in seinen Kaffee tauchte.

Randal rang vergebens nach gleicher Ruhe; denn, obwohl seiner Erwählung sicher, mußte er sich doch sagen, daß die derselben folgende Scene seine ganze Kunst des Heuchelns in Anspruch nehmen werde. Er hatte dann mitten in der schnödesten Freude tiefe Betrübniß an den Tag zu legen, die Rolle schicklichen, hochsinnigen Bedauerns zu spielen, daß durch einen eigensinnigen Zufall, eine unvorhergesehene Stimmenzersplitrerung Randal Leslie's Sinn mit Audley Egerton's Niederlage erkauft worden sei. Und überdies ließ ihm die Erwartung keine Ruhe, den Squire zu sehen und in den Besitz des Geldes zu gelangen, womit er das theuerste Ziel seines Ehrgeizes zu erreichen hoffte.

Das Frühstück war bald zu Ende. Die Comitemitglieder suchten ihre Hüte und sahen auf ihre Uhren, womit sie das Zeichen zum Aufbruch gaben; aber noch immer zeigte sich kein Squire Hazeldean. Harley trat durch die Fensterthüre auf die Terrasse hinaus, indem er Randal winkte, der seinen Hut nahm und folgte.

»Mr. Leslie,« sagte Harley, indem er sich an die Balustrade lehnte und Nero's rauhen, ehrlichen Kopf nachlässig streichelte, »Sie werden sich erinnern, daß Sie die Güte hatten, sich mir gegenüber zu der Erklärung gewisser, mit dem Grafen di Peschiera in Verbindung stehender Umstände zu erbieten, nachdem Sie diese Erklärung dem Herzog von Serrano bereits gegeben hatten; und ich erwiderte damals, meine Gedanken seien für den Augenblick mit der Wahl beschäftigt, sobald aber diese beendigt, würde ich sehr gerne jeder, Sie und meinen alten Freund, den Herzog, betreffenden Mittheilung, womit sie mich zu beehren die Gefälligkeit haben sollten, Gehör schenken.«

Diese Anrede überraschte Randal und trug nicht eben zur Beruhigung seiner Nerven bei. Indessen antwortete er schnell besonnen:

»Hierin, sowie in jedem anderen Punkte, der auf Ihr Urtheil über mich von Einfluß sein könnte, wird es meine angelegentlichste Sorge sein, den kleinsten Zweifel zu beseitigen, der in Ihren Augen auf meiner Ehre haften kann.«

»Sie sprechen ungemein gut, Mr. Leslie; kein Mensch kann sich schöner ausdrücken; und ich will Sie um so unbedenklicher beim Worte nehmen, weil sich der Herzog die Abneigung seiner Tochter, die Zusage zu erfüllen, an welcher seine Ehre hängt, wenn die Ihrige fleckenlos dasteht, in hohem Grade anfechten läßt. Ich darf mich einigen Einflusses auf die junge Dame rühmen, da ich den schändlichen Anschlag Peschiera's gegen sie vereiteln half; und der Herzog dringt in mich, Ihre Erklärung zu hören, weil er glaubt, ich könnte, wenn sie mich ebenso befriedigt, wie ihn, sein Kind mit der Werbung eines Freiers aussöhnen, der gegen einen so gefürchteten Duellanten, wie Peschiera, sogar sein Leben gewagt haben würde.«

»Lord L'Estrange,« versetzte Randal mit einer Verbeugung, »Sie würden mich in der That tief verpflichten, wenn Sie dieses Widerstreben Seitens meiner Verlobten beseitigen könnten, das allein mein Glück trübt, und das meiner Werbung auf der Stelle ein Ende machen würde, müßte ich es nicht einer ungenauen Kenntniß meiner Person zuschreiben, und hätte ich nicht die Hoffnung, dadurch, daß ich mein ganzes Leben dem Dienste meiner Gattin widme, Zutrauen und Liebe bei ihr zu erwecken.«

»Kein Mensch kann schöner sprechen,« wiederholte Harley noch einmal, scheinbar von tiefer Bewunderung ergriffen; und er betrachtete auch wirklich Randal, wie wir eine seltene Merkwürdigkeit betrachten. »Es freut mich, Ihnen meinerseits mittheilen zu können,« fuhr L'Estrange fort, »daß, wenn Ihre Heirath mit der Tochter des Herzogs von Serrano statt findet –«

» Wenn!« unterbrach ihn Randal.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich etwas als bedingt hinstellte, dessen sicheres Eintreffen Sie als ein Recht betrachten – ich will mich besser ausdrücken: sobald Ihre Heirath mit dieser jungen Dame statt findet, werden Sie wenigstens eine Klippe vermeiden, an der viele feurige junge Männer gleich bei dem Antritt der großen Reise gescheitert sind. Sie werden keine unkluge Verbindung eingehen. Mit Einem Worte, ich erhielt gestern eine Depesche von Wien, welche die vollständige Begnadigung und formgerechte Wiederbelehnung Alphonso's, Herzogs von Serrano, enthält. Und ich kann noch beifügen, daß die östreichische Regierung, welche in unserem Lande zuweilen mißverstanden wird, an ihre eigenen Gesetze gebunden ist und dem Herzoge, nach Wiedereinsetzung in seine Würden, in keiner Weise die Wahl seines Schwiegersohnes oder die Verfügung über sein Eigenthum, das auf sein Kind übergeht, vorschreiben kann.«

»Und weiß der Herzog von seiner Zurückberufung?« rief Randal, die Wangen glühend, das Auge funkelnd.

»Nein. Ich spare diese gute Neuigkeit und noch einiges Andere auf, bis die Wahl vorüber ist. Aber Egerton läßt uns trostlos lang warten. Ah, da kommt sein Kammerdiener.«

Audley's Diener trat zu ihnen. »Mr. Egerton fühlt sich heute etwas schlimmer, als gewöhnlich, mein Lord; er bittet, ihn zu entschuldigen, daß er Sie jetzt nicht in die Stadt begleiten kann. Er wird nachkommen, wenn seine Anwesenheit durchaus nöthig ist.«

»Nein. Sagen Sie ihm, er möge sich in aller Ruhe pflegen. Ich hätte nur gewünscht, er wäre selbst Zeuge seines Triumphes gewesen – das ist alles. Richten Sie aus, daß ich ihn auf dem Abstimmungsplatze vertreten wolle. Gentlemen, sind Sie bereit? Wir wollen gehen.«

Die Abstimmungsbude war in der Mitte des Marktplatzes aufgeschlagen. Das Abstimmen hatte bereits begonnen, und Mr. Avenel und Leonard standen schon auf ihren Posten, um ihren Wählern, die an ihnen vorüberzogen, Gruß und Dank auszudrücken. Randal und L'Estrange betraten unter lauten Hurrahs und unter den Klängen des Nationalliedes: »Sieh', der siegreiche Held erscheint,« die Bude.

Die Wähler hielten in rascher Aufeinanderfolge ihren Durchgang. Diejenigen, welche ausschließlich nach Grundsatz oder Farbe – was auf das Gleiche hinauslief – abstimmten und deßwegen einer sogenannten »Behandlung« nicht zugänglich waren, kamen zuerst und gaben ihre Stimmen entschieden entweder den beiden blauen oder den beiden gelben Candidaten. Nach Verfluß einer halben Stunde waren die Gelben um ungefähr zehn vor den Blauen voraus. Dann begann eine Zersplitterung der Stimmen und gestattete keine weitere Vermuthungen über das Endresultat. Nach Ablauf der ersten Stunde hatte Leonard Fairfield fünf Stimmen mehr, als alle Anderen, Randal fünfzehn mehr, als Audley Egerton, und zwei mehr, als Dick Avenel.

Randal verdankte diesen Platz auf der Liste denjenigen Wählern, welche ihm durch Harley's persönliche Anstrengungen verschafft worden waren, und er war sehr erfreut, daß ihm Lord L'Estrange nicht eine einzige, auf solche Weise erhaltene Zusage entzogen hatte. Zugleich war dies ein prächtiges Vorzeichen für Harley's Bereitwilligkeit, seinen, Randal's, versprochenen »Erklärungen« Glauben zu schenken. Kurz, die ganze Wahl schien gerade so zu gehen, wie er berechnet hatte.

Aber um zwölf Uhr traten in der Stellung der vier Bewerber einige Veränderungen ein. Dick Avenel hatte allmälig Boden gewonnen und nicht nur Randal, sondern auch Leonard übersprungen. Er stand mit einer Mehrheit von Zehn oben an. Dann kam Randal. Audley war um zwanzig hinter Randal, Leonard um vier Stimmen hinter Audley zurück.

Mehr, als die Hälfte der Wahlberechtigten hatte abgestimmt, aber noch kein einziges Mitglied der beiderseitigen Comites und noch kein einziger Mann aus der gefürchteten Schaar der Hundert und fünfzig.

Das Abgeben der Stimmen erfolgte jetzt merklich langsamer. Randal sah sich im Kreise um, nach einer Gelegenheit spähend, Dick zu fragen, ob er wirklich seine eigene Bewerbung statt derjenigen seines Neffen fest halten wolle, als er bemerkte, daß Harley verschwunden war; und gleich darauf erhielt Randal ein Billet, das ihn nach dem Comitezimmer beschied. Er machte sich eiligst dahin auf.

Als er sich durch die Leute, welche das Vorzimmer einnahmen, in der Richtung nach der Thüre des Comitezimmers hindurchdrückte, faßte ihn Levy am Arme und flüsterte: »Sie fangen da drinnen an, für Egerton zu fürchten; sie möchten einen Vergleich, um seine Erwählung zu sichern; sie werden Ihnen vorschlagen, zurückzutreten, wenn Avenel seinen Neffen zu dem gleichen Schritte vermöge. Lassen Sie sich nicht fangen. L'Estrange wird Ihnen wohl die Frage vorlegen; allein – im tiefsten Vertrauen – ihm selbst wäre Egerton's Niederlage das Liebste. Glauben Sie mir und halten Sie Stand.«

Randal antwortete nicht, sondern trat, als ihm die Menge Platz machte, in das Zimmer. Levy folgte. Die Thüren wurden sofort wieder geschlossen. Das ganze blaue Comite war versammelt. Die Leute sahen erhitzt, ängstlich und erwartungsvoll aus. Lord L'Estrange, der allein unter Allen eine kalte Ruhe bewahrte, stand oben an der langen Tafel. Aber auch seine Stirne war gedankenvoll.

»Ja,« sagte er zu sich selbst, »ich will diesem jungen Manne volle Gelegenheit geben, sich gegen seinen Wohlthäter dankbar zu zeigen; und erprobt er sich hier, so will ich ihm wenigstens eine öffentliche Brandmarkung seiner anderweitigen Unredlichkeiten ersparen. Bei seiner Jugend muß doch einiges Gute in ihm sein – zum mindesten dem Manne gegenüber, welchem er alles verdankt.«

»Mr. Leslie,« sagte L'Estrange laut, »Sie kennen den Stand der Abstimmung. Unser Comite ist der Ansicht, daß, wenn Sie auf Ihrer Bewerbung beharren, Egerton durchfallen muß. Er fürchtet, die Gelben möchten, da Leonard Fairfield wenig Aussicht hat, ihre zweite Stimme nicht an ihn wegwerfen, sondern auf Sie übertragen, um Egerton auszuschließen. Treten Sie zurück, so ist für Egerton keine weitere Gefahr vorhanden. Es liegt Grund zu der Vermuthung vor, Leonard könnte dann gleichfalls zum Rücktritt bewogen werden.«

»Sie haben von Egerton nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu fürchten,« flüsterte Levy. »Er ist vollständig zu Grunde gerichtet; und wenn er unterliegt, so wandert er in den Schuldthurm. Die Bailiffe Gerichtsdiener. warten auf ihn.«

Noch immer war Randal stumm; und ob dieses Schweigens entstand ein unwilliges Gemurmel unter den einflußreicheren Mitgliedern des Comite's. Denn obwohl Audley persönlich nicht sehr beliebt war, so mußten sie doch einem so hervorragenden Candidaten ihr Hauptaugenmerk zuwenden, und sie hätten sich den Gelben gegenüber höchst kläglich ausgenommen, wenn ihr großer Mann durch denselben Candidaten, der zu seiner Unterstützung vorgeschlagen worden war – durch einen jungen Menschen, den Niemand kannte – ausgestochen würde. Eitelkeit und Patriotismus steigerten ihren Unwillen.

»Sehen Sie, junger Sir,« rief ein reicher, derber Schlächtermeister, »man hatte sich, wie billig, dahin vereinbart, daß Mr. Egerton gesichert sein solle. Sie hatten keinen andern Anspruch an uns, als den eines Kampfgenossen in zweiter Linie. Und wir Alle sind erstaunt, daß Sie nicht auf der Stelle erklären: ›Egerton muß gerettet werden, natürlich!‹ Entschuldigen Sie meine Freiheit, Sir, es ist jetzt keine Zeit zu leeren Redensarten.«

»Lord L'Estrange,« sagte Randal, sich milde von dem Schlächter wegwendend, »stellen Sie, als der Erste hier an Rang und Einfluß und als Mr. Egerton's besonderer Freund an mich das Verlangen, meine eigene Erwählung und die, wie es scheint, entschiedenen Wünsche der Mehrheit der Wahlberechtigten zum Opfer zu bringen, damit Mr. Egerton eine immerhin zweifelhafte Aussicht eröffnet werde, statt meiner durchzudringen?«

»Ich stelle an Sie kein Verlangen, Mr. Leslie. Es ist dies eine Gefühls- oder Ehrensache, welche ein Gentleman recht gut für sich entscheiden kann.«

»Ist ein solches Abkommen zwischen Eurer Lordschaft und mir getroffen worden, als Sie mir zuerst Ihre Theilnahme schenkten und in Person für mich warben?«

»Gewiß nicht. Gentlemen, stille! Eines solchen Abkommens habe ich mit keiner Sylbe erwähnt.«

»Ebenso wenig Mr. Egerton. Worin auch die von dem geehrten Wahlmann, der mich anredete, genannte Vereinbarung bestanden haben mag – ich habe mich nicht dabei betheiligt. Ich bin überzeugt, Mr. Egerton ist der Letzte, der wünschen würde, seine Erwählung einem Kunstgriffe, womit man auf die Wähler mitten in der Abstimmung einen Druck ausübt, sowie einer nach dem Urtheile der Welt sehr unschönen Behandlung meiner selbst zu verdanken, auf den alle mit der Bewerbung verbundenen Plackereien gefallen sind.«

Wieder erhob sich das Gemurmel. Aber Randal's Haltung war so entschieden, daß sie den Unwillen niederhielt und ununterbrochenes, wenn auch eiskaltes und halb verächtliches Gehör erzwang.

»Nichtsdestoweniger,« nahm Randal wieder auf, »würde ich augenblicklich zurücktreten, hätte ich nicht die feste Ueberzeugung, ich werde alle Anwesenden, die mich jetzt zu verdammen scheinen, überzeugen können, daß ich ganz in Mr. Egerton's Sinne handle. Dieser Gentleman ist bekanntlich nie in Ihre Mitte getreten, hat sich nie in eigener Person beworben, hat keine weitere Anstrengungen gemacht, mit Ausnahme einer Rede, die augenscheinlich nur eine Vertheidigung seiner früheren politischen Laufbahn sein sollte. Was bedeutet alles das? Einfach, daß sein Auftreten lediglich eine Formsache war, um den Wünschen seiner Partei, die aber seinen eigenen Neigungen nicht entsprechen, zu willfahren.«

Die Comitemitglieder sahen sich erstaunt und zweifelnd an. Randal erkannte den errungenen Vortheil und verfolgte ihn mit einem Takt und einer Gewandtheit, die zeigten, daß er ungeachtet seiner mangelhaften rednerischen Anlagen die Befähigung zu einem geschickten Opponenten in sich hatte.

»Ich will offen gegen Sie sein, Gentlemen! Mein Charakter, mein ernstliches Verlangen, mit Ihnen auf gutem Fuße zu stehen, machen es mir zur Pflicht. Mr. Egerton wünscht vorerst nicht, in das Parlament zu kommen. Er ist im höchsten Grade leidend; seine Privatangelegenheiten nehmen seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich stehe ihm, ich darf es wohl sagen, so nahe wie ein Sohn. Er ist um meinen Erfolg sehr besorgt; Lord L'Estrange sagte mir erst gestern Abend sehr richtig, ›besorgter für meinen Erfolg, als für seinen eigenen.‹ Nichts würde ihn mehr freuen, als sich sagen zu können, daß ich im Parlamente, wenn auch nur mit schwachen Kräften, jenen großen Interessen diene, die mit seiner gewohnten Energie in der gegenwärtigen Krisis zu vertheidigen er weder Gesundheit noch Muße genug hätte. Später allerdings wird er ohne Zweifel allerdings auf den Kampfplatz zurückzukehren suchen, auf welchem er einen so ausgezeichneten Platz einnimmt; und wenn die Aufregung des Volkes, welche die Ungerechtigkeit desselben im Gefolge hat, vorüber ist, welcher Wahlbezirk wird nicht stolz sein, einen solchen Mann seinen Vertreter zu nennen? Zur Unterstützung des Gesagten und zum Beweise für dessen Richtigkeit berufe ich mich jetzt auf Mr. Egerton's eigenen Bevollmächtigten – einen Gentleman, der ungeachtet seines ungeheuren Vermögens und seiner gesellschaftlichen Stellung eingewilligt hat, auf eigene Kosten für diesen großen Staatsmann zu wirken. So frage ich Sie denn mit gebührender Achtung, Baron Levy – ist Mr. Egerton nicht im höchsten Grade leidend und der Ruhe bedürftig?«

»So ist es,« sagte Levy.

»Und fordern nicht seine Angelegenheiten seine ernstliche und ungeteilte Aufmerksamkeit?«

»Ja wohl,« versetzte der Baron. »Gentlemen, ich habe für meinen ausgezeichneten Freund gegen die Angaben seines Adoptivsohnes, Mr. Leslie, nichts vorzubringen.«

»Dann kann ich weiter nichts sagen,« rief der Schlächter mit seiner mächtigen Faust auf den Tisch schlagend, »als daß Mr. Egerton sich gegen uns verdammt unschön benommen hat und uns zum Gespötte des ganzen Wahlbezirks machen wird.«

»Ruhig, ruhig!« sagte Harley. »Da hinten klopft Jemand an die Thüre. Entschuldigen Sie.«

Harley verließ das Zimmer, aber nur für eine oder zwei Minuten. Nachdem er wieder eingetreten, wandte er sich an Randal.

»Haben wir hienach anzunehmen, Mr. Leslie, daß Ihre Absicht ist, nicht zurückzutreten?«

»Woferne nicht Eure Lordschaft mich förmlich zu dem Gegentheile hindrängen, möchte ich antworten: ›Man lasse der Wahl ihren Lauf, und Jeder möge deren Ergebniß abwarten!‹ Solches scheint mir ehrlich, männlich, englisch« (großer Nachdruck auf dieses letztere Beiwort) »und ehrenhaft gehandelt.«

»So sei es,« versetzte Harley; »Jeder möge das Ergebniß der Wahl abwarten. Mr. Leslie, wir wollen Sie nicht länger aufhalten. Gehen Sie auf den Abstimmungsplatz zurück – Einer der Kandidaten sollte dort sein; und Sie, Baron Levy, ersuche ich, sich gleichfalls dahin zu begeben, und Denjenigen zu danken, welche noch immer für Mr. Egerton stimmen.«

Levy verbeugte sich und verließ Arm in Arm mit Randal das Gemach.

»Prächtig, prächtig!« sagte der Baron. »Sie haben einen wundervollen Kopf.«

»Gleichwohl hat mir L'Estrange's Blick nicht gefallen. Aber er kann mir jetzt nicht mehr schaden; die Stimmen, welche er mir statt Egerton verschaffte, sind bereits abgegeben. Das Comite wird vielleicht nicht für mich stimmen; allein dann sind immer noch Avenel's Leute im Rückhalt. Ja, die Wahl ist in Wirklichkeit vorüber. Wenn wir zurückkommen, wird Hazeldean mit dem Gelde zum Ankaufe des Eigenthums meiner Ahnen eingetroffen sein. Doctor Riccabocca ist in die Lande und Titel von Serrano wieder eingesetzt; – was kümmere ich mich weiter um Lord L'Estrange? und doch gefiel mir sein Blick nicht.«

»Pah, Sie haben gerade das gethan, was er wollte. Es ist mir verboten, mehr zu sagen. Hier sind wir an der Bude. Ein neuer Anschlag seit unserer Abwesenheit. Wie stehen die Zahlen? Avenel vierzig vor Ihnen, Sie dreißig vor Egerton; und Leonard Fairfield noch immer der letzte. Aber wo sind Avenel und Fairfield?«

Diese beiden Candidaten waren verschwunden, vielleicht in dem Zimmer ihres eigenen Comite's.

Kaum hatte sich die Thüre hinter Randal und dem Baron geschlossen, so sprang Lord L'Estrange inmitten des zornigen Getöses, welches nach ihrem Weggehen ausbrach, auf den Tisch. Diese Bewegung und sein Blick stellte allgemeines Schweigen her.

»Gentlemen, in unsern Händen liegt es, einen von Unsern Candidaten durchzubringen und zwischen Beiden eine Wahl zu treffen. Sie haben Mr. Leslie und Baron Levy gehört. Auf ihre Angaben erwidere ich nur dies: – Das Land ist Mr. Egerton's bedürftig, und er ist ohne Rücksicht auf seine Gesundheit oder seine Angelegenheiten bereit, diesem Rufe zu folgen. Wenn er sich nicht selbst beworben hat – wenn er nicht in diesem Augenblicke vor Ihnen erscheint, so reden für ihn mehr als zwanzigjährige Dienste. Welchen also von den beiden Candidaten wählen Sie zu Ihrem Vertreter – einen erprobten Staatsmann oder einen bartlosen Knaben? Beide besitzen Ehrgeiz und Fähigkeit. Bei dem Einen sind diese Eigenschaften mit der Geschichte eines ganzen Landes verwoben und (was jetzt zu seinen Ungunsten angeführt wird) mit einer Hingebung gepaart, die eine kraftvolle Gestalt gebrochen und ein fürstliches Vermögen zu Grunde gerichtet hat. Der Andere bekundet seinen Ehrgeiz damit, daß er Sie auffordert, ihn seinem Wohlthäter vorzuziehen, und beweist seine Fähigkeit durch die Entschuldigungen, welche er für seinen Undank vorbringt. Wählen Sie zwischen den Beiden – zwischen einem Egerton und einem Leslie.«

»Egerton für immer!« rief die ganze Versammlung wie mit Einer Stimme, und ließ ein Grunzen für Leslie darauf folgen.

»Aber,« bemerkte ein ernstes und verständiges Comitemitglied, »haben wir denn auch noch eine Wahl? Liegt nicht die Entscheidung bei den Gelben? Ist Eure Lordschaft nicht zu sanguinisch?«

»Oeffnen Sie die Thüre dort hinten; eine Deputation unserer Gegner wartet in dem Zimmer auf der unteren Seite des Ganges. Lassen Sie dieselben eintreten.«

Athemloses Schweigen, während Harley's Befehl befolgt wird. und bald, zu großem Staunen des Comite's, trat Leonard Fairfield selbst, von sechs Hauptführern der gelben Partei geleitet, in das Zimmer.

Lord L'Estrange. – »Mr. Fairfield, Sie haben uns in Beziehung auf Ihre eigenen und Mr. Avenel's Person mit Genehmigung Ihres Comite's einen Vorschlag zu machen?«

Leonard (an den Tisch vortretend). – »Ja. Wir sind überzeugt, daß keine Partei ihre beiden Candidaten durchsetzen kann. Mr. Avenel ist gesichert. Die einzige Frage ist, welcher von Ihren beiden Candidaten der Wählerschaft am meisten Ehre bringt. Mein Rücktritt, den ich anzubieten im Begriffe bin, wird eine hinreichende Anzahl Stimmen zur Verfügung stellen, um entweder Mr. Egerton's oder Mr. Leslie's Triumph zweifellos zu machen.«

»Egerton für immer!« riefen die aufgeregten Blauen.

»Ja – Egerton für immer!« sagte Leonard mit erglühender Wange. »Wir mögen seine politischen Ansichten nicht theilen, aber wer nennt uns diejenigen Mr. Leslie's? Wir mögen mit dem Politiker nicht übereinstimmen, aber wer wäre nicht stolz auf den Senator? Ein großer, unberechenbarer Vortheil erwächst einer Wählerschaft, die einen ausgezeichneten Mann in das Parlament schickt. Sein Ruhm adelt den Ort, welchen er vertritt, erhält den öffentlichen Geist, erhöht das männliche Interesse an allem, was die Nation betrifft. So oft seine Stimme dem versammelten Parlament Schweigen auferlegt, erinnert sie uns an unser gemeinsames Vaterland; und selbst die Besprechungen zwischen den Wählern, welche seine Stimme hervorruft, klären das Verständniß der Letzteren für das öffentliche Wohl und theilen ihnen die Schärfe seines Blickes mit, welcher über ihren Interessen wacht und ihre Aufmerksamkeit fesselt. Also Egerton für immer! Muß unsere Partei der Erwählung eines der Gegner zustimmen, so wollen wir uns Alle darin vereinigen, den Würdigsten aufzulesen. Mein Lord L'Estrange, wenn ich dieses Zimmer verlasse, so geschieht es, um meinen Rücktritt zu verkündigen, und um Diejenigen, welche mir ihre Stimmen versprochen haben, zu bitten, daß sie dieselben auf Mr. Audley Egerton übertragen.«

Unter den dröhnenden Hurrahs, welche dieser Rede folgten, näherte sich Leonard Harley: »Mein Lord, ich habe Ihren Wünschen gehorcht, wie sie mir von meinem Onkel mitgetheilt wurden, der in diesem Augenblick anderswo mit deren Beziehung beschäftigt ist.«

»Leonard,« sagte Harley, gleichfalls mit gedämpfter Stimme, »Sie haben Audley Egerton gerettet, was Sie allein ihm retten konnten – den Triumph über einen treulosen Untergebenen, die Fortsetzung der einzigen Laufbahn, welche bisher der Trost und die Freude seines Lebens gewesen ist. Er muß Ihnen mit seinen eigenen Lippen danken. Kommen Sie nach dem Schlusse der Abstimmung in den Park. Dort sollen dann die für Beide nöthigen Erklärungen gegeben und entgegengenommen werden.«

Dann verbeugte sich Harley gegen die Versammlung und fuhr mit erhobener Stimme fort:

»Gentlemen, gestern bei der Vorstellung der Candidaten habe ich Bemerkungen fallen lassen, welche Mr. Fairfield mit Recht kränkten. In Ihrer Gegenwart nehme ich dieselben nach allen Seiten hin zurück und spreche mein aufrichtiges Bedauern darüber aus. In Ihrer Gegenwart bitte ich ihn um Verzeihung und erkläre, daß, wenn er mir seine Freundschaft schenken will, ich ihn in meiner Achtung und Liebe an die Seite des Staatsmannes stellen will, welchen er seinem Vaterlande zurückgegeben hat.«

Leonard umfaßte die ihm dargebotene Rechte mit beiden Händen und eilte dann, von seinen Gefühlen überwältigt, aus dem Zimmer. Die Blauen und Gelben begrüßten sich gegenseitig und freuten sich über den genossenen Vergleich, der allen Parteizwist beendigen, den Frieden des Bezirkes sichern und ruhigen Leuten, welche sich den Tag vorher noch verabscheut und einander Gewerbe und Kundschaft zu untergraben gelobt hatten, die Annehmlichkeit freundschaftlichen und brüderlichen Zusammenlebens gestatten werde – bis zur nächsten allgemeinen Wahl.

Unterdessen war die Abstimmung langsam, wie bisher, weiter geschritten – noch immer zu Randal's Vortheil.

»Nicht zwei Drittheile der Wählerschaft wird abstimmen,« murmelte Levy, indem er auf seine Uhr sah. »Die Sache ist entschieden. Aha, Audley Egerton! Du, der du mich einst mit unaussprechlicher Eifersucht foltertest, die solch' unbarmherzigen Haß zur Folge hatte – du, der du meine Gesellschaft verschmäht und mich einen ›Spitzbuben‹ genannt hast; eben jene Macht verachtend, welche durch deine Thorheit in meine Hände gelangte – aha, deine Zeit ist um! Und der Geist, der dir zu deiner eigenen Vernichtung dienstbar war, tritt in den Kreis, seine Beute zu ergreifen.«

»Sie sollen mein erstes Freicouvert haben, Levy,« sagte Randal, »für Ihren Brief an Mr. Thornhill's Sachwalter. Diese Wahlgeschichte ist vorüber; wir müssen jetzt sehen, was uns sonst noch zu thun übrig bleibe.«

»Was zum Teufel soll dieses Plakat?« rief Levy, erbleichend.

Randal blickte auf. Ueber den Marktplatz her bewegte sich, gefolgt von einer ungeheuern Menschenmenge, hoch über den Köpfen Aller eine gelbe Tafel, die wie ein Komet durch die Luft zu wandern schien:

 

Zwei Uhr Nachmittags.

Fairfield's Rücktritt.


Gelbe!

Stimmt für

Avenel und Egerton!

(Unterzeichnet)

Gelbes Comite.              Timothy Alljack.

 

»Was für eine höllische Verrätherei ist dies?« rief Randal, leichenblaß vor Entrüstung.

»Warten Sie einen Augenblick; dort ist Avenel!« sagte Levy; und an der Spitze einer andern Procession, die aus den schmutzigeren Gassen der Stadt auftauchte, schritt mit ernster Majestät der überlebende gelbe Candidat. Dick verschwand einen Augenblick im Innern eines, auf der breitesten Seite des Platzes befindlichen Specereiladens, um auf einem Ballone des ersten Stockwerkes dicht über einem mächtigen gelben Aushängeschild, der das Gewerbe und die politische Ansicht des Hausbesitzers bezeichnete, wieder zum Vorschein zu kommen. Kaum war Dick, den Hut in der Hand, auf diese Rednerbühne vorgetreten, als die beiden Processionen unten Halt machten, die Musik verstummte, die Fahnen sich um ihre Stangen rollten, das Volk sich in Gehörweite drängte und sogar die Beamten an der Wahlurne die Bude verließen. Randal und Levy suchten sich mit den Andern einen Platz zu erobern. Dick auf dem Balkone war der Deus ex machina.

»Freie Männer und Wähler!« sagte Dick mit weithin schallender Stimme, »weil ich fand, daß die öffentliche Meinung dieses unabhängigen und erleuchteten Bezirks in zwei so gleiche Hälften getheilt ist, daß nur Ein gelber Candidat durchgebracht werden kann, und nur Ein blauer Aussicht hat, war es gestern Abend meine Absicht, mich von dem Kampfe zurückzuziehen und so allen Reibereien und bösem Blute ein Ende zu machen. (Haltet Eure Mäuler da drüben, wollt Ihr wohl!) – Ich sage es ehrlich, ich hätte lieber die Erwählung meines ausgezeichneten und talentvollen jungen Neffen – eine ehrenvolle Verwandtschaft – als meine eigene gesehen; aber er wollte nichts davon hören und schwatzte unser ganzes Comite in die irrige aber hochsinnige Ueberzeugung hinein, daß die Stadt Pfui schreien würde, wenn der Neffe in das Parlament spränge, indem er dem Onkel den Hals bricht.« (Laute Bravos des Pöbels und einzelne Rufe: »Wir wollen Euch Beide haben!«)

»Das werdet Ihr nicht, und Ihr wißt das auch recht wohl; nochmals sage ich: haltet Eure Mäuler,« nahm Dick gebieterisch und gutgelaunt wieder auf. »Laßt mich fortfahren, hört Ihr? Die Zeit drängt. Mit Einem Wort, mein Neffe hat sich entschlossen, zurückzutreten, wenn heute um zwei Uhr keine Aussicht vorhanden sei, daß wir Beide gewählt werden; und eine solche ist nicht vorhanden. Jetzt handelt es sich also für die Gelben, welche noch nicht gestimmt haben, zunächst darum, wie sie ihre zweite Stimme abgeben wollen. Wäre ich der Mann gewesen, der zurücktritt, nun, dann hätte ich aus gewissen Gründen gerathen, sie Leslie zu schenken – ein gescheidter Bursche und ziemlich scharf.«

»Hört, hört, hört!« rief der Baron kräftig.

»Aber ich darf nicht verhehlen daß mein Neffe seine eigene Ansicht hat – wie ein unabhängiger Britte, und mag er zwei Mal mein Neffe sein, sie haben soll; und seine Ansicht geht den andern Weg, und ebenso die unseres Comites.«

»Verkauft!« rief der Baron, und Einige unter der Menge schüttelten ihre Köpfe und machten ernste Gesichter – besonders Diejenigen, welche des Wunsches, erkauft zu werden, verdächtig waren.

»Verkauft! – Du bist mir ein sauberer Bursche, du mit dem Blumenstrauß im Knopfloch, um von Verkaufen zu reden! Du, der seinen eigenen Clienten verkauft hätte, wenn es nach dir gegangen wäre – das weißt du recht gut.« (Levy zog sich zurück.)

»Seht, Gentlemen, das ist Levy, der Jude, der von Verkaufen spricht! Und wenn er den Charakter dieser Wählerschaft verleumdet, so stehe ich hier, um ihn zu vertheidigen; und dort steht der Gemeindepumpbrunnen mit einem Schwengel für den Arm der Ehrlichkeit und einer Röhre für die Lippen der Falschheit!«

Am Schlusse dieser hochliegenden, ohne Zweifel irgend einem großen amerikanischen Redner entlehnten Periode wich Baron Levy unwillkürlich unter das schirmende Dach der Abstimmungsbude zurück, gefolgt von einigen unheimlichen Gelben mit sehr drohenden Geberden.

»Aber der Verleumder schleicht davon; überlaßt ihn den Vorwürfen seines Gewissens,« nahm Dick mit edler Großmuth wieder auf.

»Verkauft!« – (Das Wort tönte wie ein Trompetenstoß über den Platz hin) – »Verkauft! Nein, glaubt mir, kein einziger Mann, der für Egerton statt für Fairfield stimmt, wird, soweit es auf mich ankommt, um einen Heller besser daran sein – (Erkältendes Schweigen) – »oder« (mit einem kaum bemerklichen Blinzeln gegen die ängstlichen Gesichter der Hundert und fünfzig, welche den Hintergrund füllten) »oder um einen Heller schlimmer.« (Laute Bravos der Hundert und fünfzig und Rufe: »Edel!«) »Ich bin kein Freund von Mr. Egerton's Politik. Aber ich bin nicht blos Politiker – ich bin auch Mensch! Die Gründe unseres geachteten Comite's – in welchem Geschäftsleute, zärtliche Gatten und besorgte Väter sitzen – haben Gewicht in meinen Augen. Ich selbst bin Gatte und Vater. Wenn ein nutzloser Kampf bis zum Aeußersten fortgesetzt wird mit all' der Gehässigkeit, die er erzeugt, wer leidet darunter? – natürlich der Gewerbs- und der Arbeitsmann. Parteizwist, Verlust der Kundschaft, rücksichtslose Einforderungen des Hauszinses, Aufkündigungen – mit einem Wort, die Schraube!«

»Hört, hört!« und »den Stimmzettel her!«

»Den Stimmzettel – von Herzen gern, wenn ich ihn bei mir hätte! Und wenn wir ihn da hätten, dann wollte ich Den sehen, der sich unterstünde, blau zu stimmen.« (Laute Bravos der Gelben.) »Aber so, wie es einmal ist, müssen wir an unsere Familien denken. Und ich darf hinzufügen, daß, wenn auch Mr. Egerton wieder in sein Amt einrückt, jedenfalls« (mit großer Feierlichkeit) »ich als sein College mein Möglichstes thun werde, ihn auf der geraden Bahn zu halten; und Eure eigene Erleuchtung (denn dem Schulmeister seid Ihr entwachsen) wird ihm zeigen, daß kein Minister der öffentlichen Meinung trotzen und mit seinem täglichen Brod Streit anfangen darf.« (Vielseitiger Beifall.) »In Zeiten, wie die gegenwärtigen, muß sich die Aristokratie bei der Mittel- und arbeitenden Klasse beliebt machen; und ein Parlamentsmitglied, das Minister wird, hat in Stempel, Accise, Zoll und Postsachen und bei anderen Departements dieses verrosteten alten – ich wollte sagen, dieses ruhmvollen Reiches – viel zu vergeben, womit es seinen Wählern sich nützlich machen und die Vorrechte der Aristokratie mit den Ansprüchen des Volkes versöhnen kann – und ganz besonders in gegenwärtigem Falle mit den Ansprüchen des Bezirkes von Lansmere.« (Hört, hört!)

»Indem ich hienach Parteineigungen (welchen ich, wie mir scheint, in keiner Weise Vorschub zu leisten vermag) auf dem Altare des allgemeinen guten Einverständnisses zum Opfer bringe, kann ich mich dem Rücktritt meines Neffen – eine ehrenvolle Verwandtschaft – nicht widersetzen und ebensowenig meine Augen den Vortheilen verschließen, welche einem so wichtigen Bezirke und der Nation im Ganzen erstehen können, wenn die Wähler es für passend finden, meinen sehr Ehrenwerthen Schwa– ich wollte sagen, den sehr ehrenwerthen blauen Candidaten mir als Collegen beizugeben. Nicht, daß ich mir anmaßte, in der einen oder anderen Weise Vorschriften zu ertheilen oder einen Wunsch aufzudrücken – als Familienvater sage ich Euch, Wähler und freie Männer, nur: nachdem Ihr Eurem Vaterlande durch meine Erwählung einen Dienst geleistet habt, habt Ihr Euch ritterlich das Recht verdient, an Eure Kleinen zu Hause zu denken.«

Dick legte die Hand auf das Herz, verbeugte sich anmuthig und verließ unter einstimmigem Beifall den Balkon.

Drei Minuten später hatte Dick in seiner Eigenschaft als Candidat seinen Platz in der Bude wieder eingenommen. Rasch und feurig strömten jetzt die gelben Wähler herein. Angezogen kam Emanuel Trout und gab mit fester Stimme sein Votum – »Avenel und Egerton« – ab. Alle Hundert und fünfzig stimmten ebenso. Auf jede Frage: »Für wen stimmt Ihr?« schlug immer und immer wieder das verwünschte Todtengeläute »Avenel und Egerton« an Randal Leslie's Ohr. Der junge Mann kreuzte in finsterer Verzweiflung die Arme über der Brust.

Levy hatte in Egerton's Namen mit einer Geschwindigkeit, welche ihm den Athem benahm, die Hände zu schütteln. Gerne hätte er sich hinweggedrückt und L'Estrange aufgesucht, von welchem er vermuthete, er werde über diese Wendung des Glücksrades ebenso erzürnt sein, wie er selbst. Aber wie als Egerton's Vertreter den fortwährenden Griffen dieser hornhäutigen Hände entgehen? Ueberdies stand da gerade der Bude gegenüber der Gemeindebrunnen, und einige stämmige, wildblickende Gelbe trieben sich um denselben herum, offenbar in der Absicht, sich auf Levy zu werfen, sobald er sein gegenwärtiges Heiligthum verlassen würde.

Plötzlich wich die um die Bude versammelte Menge auf die Seite – Lord L'Estrange's Wagen fuhr vor, und Harley sprang heraus, um einem grauhaarigen, gelähmten alten Manne aussteigen zu helfen. Der alte Mann blickte um sich und nickte lächelnd den Leuten zu.

»Ich bin hier – ich bin gekommen; ich bin nur ein armes Geschöpf; aber ich bin ein guter Blauer bis zuletzt!«

»Der alte John Avenel – der wackere alte John!« riefen verschiedene Stimmen.

Und John Avenel, noch immer auf Harley's Arm gestützt, trippelte in die Bude und stimmte für »Egerton.«

»Deine Hand, Vater,« sagte Dick, sich vorwärts beugend, »obwohl du nicht für mich stimmen willst.«

»Ich war ein Blauer, ehe du geboren warst,« antwortete der alte Mann mit zitternder Stimme. »Aber dennoch wünsche ich dir Glück, und Gott segne dich, mein Junge.«

Selbst die Wahlbeamten waren gerührt; und als jetzt die Menge sah, wie Dick, seinen Platz verlassend, Lord L'Estrange behilflich war, den armen John wieder in den Wagen hinein zu setzen, da übte dieses Bild von Kindesliebe inmitten der politischen Uneinigkeit – der wohlhabende, tatkräftige Sohn, der als Knabe in eben dieser Straße mit Steinen gespielt, sich durch eigene Anstrengung im Leben emporgeschwungen und es jetzt bis zum Parlamentsmitglied für seine Vaterstadt gebracht hatte, des gebrechlichen alten Vaters wartend, den selbst der Vortheil seines Sohnes, auf welchen er so stolz war, nicht der in seinen Augen mit der Wahrheit und Rechtlichkeit verkörperten Farbe untreu machen konnte – dieses Bild übte sogar auf den Rohesten unter dem anwesenden Pöbel eine solche Wirkung, daß man hätte eine Nadel fallen hören können – bis der Wagen nach John's bescheidener Wohnung zurückfuhr, und dann ein wahrer Sturm von Hurrahs losbrach.

John Avenel's Abstimmung für Egerton brachte in die Wechselfälle dieser denkwürdigen Wahl abermals eine Wendung. Bis jetzt war Avenel vor Audley voraus gewesen; aber daß Avenel's eigener Vater sich für Egerton erklärte, gab für viele Blaue, die bis jetzt noch nicht gestimmt hatten und sich nicht entschließen konnten, ihre Stimmen zwischen Dick und Audley zu theilen, einen Vorgang ab; und so kamen verschiedene tonangebende Gewerbsleute, die, weil sie Egerton gesichert sahen, sich der Wahl ganz hatten enthalten wollen, noch in der letzten Stunde herbei und stimmten für Egerton, der hiedurch Avenel weit überholte. Und der arme John, dessen Stimme zusammen mit der Mark Fairfield's dem jugendlichen Ehrgeize des unbekannten Schwiegersohns den Eintritt in das öffentliche Leben erschlossen hatte, mußte von Neuem dazu beitragen, die Namen des hochgebornen Egerton und des einfachen Avenel mit Erfolg und Triumph, aber auch mit Kummer und vielleicht mit dem Tode in Verbindung zu bringen.

Die große Stadtuhr verkündet die vierte Stunde; der leitende Beamte erklärt die Abstimmung für geschlossen; die förmliche Verkündigung des Ergebnisses wird später geschehen. Aber die ganze Stadt weiß, daß Audley Egerton und Richard Avenel die Vertreter von Lansmere sind. Und Fahnen flattern; und Trommeln wirbeln, und die Leute schütteln sich herzlich die Hände; und man spricht von einer morgen abzuhaltenden Volksversammlung; und die Wirthshäuser sind gefüllt; und auf den Straßen und öffentlichen Plätzen ist ein Gesumme und Getöse, untermischt hie und da mit lautem Gebrülle; und die Wolken im Westen lagern sich roth und düster um die Sonne, die hinter dem Kirchthurm untergegangen ist – hinter den Trauerweiden, welche das stille Grab Nora Avenel's überschatten.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Die zunehmende Dämmerung sieht unsern Randal Leslie durch den Park von Lansmere dem Hause zuwandeln. Er hatte sich, noch ehe die Abstimmung geschlossen worden, auf die Seite gedrückt, war durch Nebengäßchen geschlichen und in den entlaubten Gehölzen auf den sinnlichen Waidegründen des Grafen herausgekommen. Verwirrt und ohne Anhaltspunkt für irgend eine Vermuthung, wie ihn dieses befremdende Mißgeschick befallen, war er geneigt, es Leonard's Einfluß auf Avenel zuzuschreiben; aber auch gegen Harley schöpfte er Verdacht, und halb zweifelte er an Baron Levy. Er suchte zu ergründen, welchen Urtheilsfehler er selbst begangen, welchen Kunstgriff er unbenützt, welchen Faden in seinem Gewebe er schadhaft und unvollendet gelassen habe. Er konnte nichts entdecken. Die Geschicklichkeit, womit er seine Vorkehrungen getroffen, schien unanfechtbar – totus, teres atque rotundus Siehe Anm. 318..

Und dann durchzuckte seine Brust ein scharfes Wehe – schärfer, als dasjenige getäuschten Ehrgeizes – das Gefühl, betrogen, mißbraucht und verrathen worden zu sein. Denn für jeden Menschen ist Wahrheit eine solche Lebensnothwendigkeit, daß der elendeste Verräther staunt, sich schlecht behandelt glaubt und die Pfeiler der Erde erschüttert wähnt, wenn der Verrath auf seine eigene Person zurückfällt. »Dieser Richard Avenel, welchem ich vertraute, konnte mich so betrügen!« murmelte Randal, und seine Lippe bebte.

Er befand sich noch mitten im Parke, als ein Mann mit einer gelben Kokarde auf dem Hut, der aus der Richtung der Stadt gelaufen kam, ihn einholte, ihm einen Brief überreichte und, ohne eine Antwort abzuwarten, denselben Weg zurückeilte. Randal erkannte aus der Adresse Avenel's Hand, erbrach das Siegel und las, wie folgt.

»(Privatim und vertraulich)

»Mein lieber Leslie, – verlieren Sie nicht den Muth. Sie werden heute Abend oder morgen die Gründe erfahren, aus welchen ich meine Ansicht über den Sehr Ehrenwerthen änderte; und Sie werden sich dann überzeugen, daß ich als Angehöriger meiner Familie nicht anders handeln konnte. Obgleich ich Ihnen gegenüber mein Wort nicht gebrochen habe – denn Sie werden sich erinnern, daß der von mir zugesagte Beistand meinen eigenen Rücktritt zur Voraussetzung hatte und nicht eintreten sollte, wenn statt meiner Leonard zurücktreten würde – so fühle ich doch, daß Sie sich über den Löffel barbirt Siehe Anm. 312. glauben müssen. Allein ich war durch Familienpflichten genöthigt, Sie zu opfern, wie Sie bald zugeben werden. Mein eigener Neffe ist gleichfalls geopfert worden; und ich selbst habe meine geschäftlichen Interessen geopfert, welche für die nächsten paar Jahre in Screwstown den ganzen Mann erfordern. Wir sind also Alle im gleichen Spital krank, wenn Sie auch vielleicht glauben mögen, es sei Ihnen mehr geschehen, als Andern. Indessen habe ich nicht im Sinne, im Parlament zu bleiben, sondern werde in ziemlich kurzer Zeit wieder austreten. Und wenn Sie sich mit den Blauen auf gutem Fuß erhalten, so will ich bei den Gelben das Meinige thun, um Sie in meine Stelle hineinzuschieben; denn ich glaube nicht, daß Leonard sich noch einmal bewerben wird. Für den weisen Mann ist hiemit genug gesagt – und Sie können noch immer Parlamentsmitglied für Lansmere werden.

R. A.

In diesem Briefe konnte Randal ungeachtet seines Scharfsinns die ehrlichen Gewissensbisse, welche der Schreiber empfand, nicht entdecken. Er hatte Anfangs nur die schlimmste Seite der menschlichen Natur im Auge und hielt den Brief für einen erbärmlichen Versuch, seinen gerechten Zorn zu ersticken und sich seiner Verschwiegenheit zu versichern.

Aber bei weiterem Nachsinnen kam ihm der Gedanke, Dick würde natürlich froh sein, sich wieder seiner Fabrik zuwenden zu können und von Randal ein quid pro quo Siehe Anm. 260. unter dem vielumfassenden Titel »Ersatz für Auslagen« herauszuschlagen.Vielleicht war es Dick gar nicht leid, zu warten, bis Randal's Heirath ihm die Mittel zu deren Bezahlung verschaffte. Ja, vielleicht war Randal dieses Mal im Stiche gelassen worden, um bei einer Einzelwahl ihm bessere Bedingungen abzupressen.

Solche Erwägungen anstellend, tröstete er sich in dem Glauben an die feilen Beweggründe Anderer. Allerdings war es möglicher Weise nur eine kurze Enttäuschung. Ehe das nächste Parlament einen Monat alt wäre, würde er vielleicht schon seinen Sitz als Vertreter für Lansmere einnehmen. Aber alles hing von seiner Heirath mit der Erbin ab; er mußte dieselbe beschleunigen.

Vor der Hand war es nöthig, alle seine Gedanken, allen seinen Muth und alle seine Geistesgegenwart zu Hilfe zu rufen. Es bangte ihm vor der Rückkehr nach Lansmere Haus, vor dem Anblick Egerton's – Harley's – überhaupt Aller. Allein es blieb ihm nichts Anderes übrig. Er mußte sich mit den Blauen wieder in gutes Einvernehmen setzen und wegen des in dem Comitezimmer eingeschlagenen Verfahrens rechtfertigen. Ohne Zweifel wartete dort der Squire Hazeldean auf ihn mit dem Kaufschillinge für die Rood'schen Ländereien – ferner war da der Herzog von Serrano, bereits im vollen Genusse seiner Ehren und seines Reichthums – deßgleichen seine verlobte Braut, die große Erbin, von welcher alles abhing, was den dürftigen Gentleman zu Reichthum und Stellung erheben konnte.

Nach und nach riß sich Randal Leslie mit der dem systematischen Ränkeschmied stets zu Gebot stehenden Elasticität aus dem peinlichen Brüten über einen vernichteten Anschlag heraus und bereitete sich vor, andere auszuführen, welche einen glücklicheren und so nahen Erfolg versprachen. Jedenfalls war ihm Egerton von keinem Nutzen mehr, es konnte mithin nicht viel bedeuten, wenn er dessen Gunst nicht wieder gewann. Er hatte nur den Kopf in die Höhe zu werfen und Dem, was man zuweilen »Undank« nennt, keck in's Gesicht zu sehen – vorausgesetzt, daß es ihm gelingen sollte, das blaue Comite zufrieden zu stellen. Und diesen einfältigen Gesellen gegenüber, wie konnte es ihm da fehlen! Der macchiavellistische Weise war leicht zu beschwatzen. Nur geringe Schwierigkeit kostete es, alles zur Zufriedenheit von Audley's »Fernbruder,« des Squire's, zu erklären. Harley allein – aber Levy hatte ihn so bestimmt versichert, daß Harley's Besorgniß für Egerton nicht aufrichtig gemeint sei; und was die wichtigeren Erklärungen hinsichtlich Peschiera's betraf, so mußte doch wahrhaftig das, was Violanten's Vater befriedigt hatte, auch einen Dritten befriedigen, der eigentlich gar kein Recht hatte, überhaupt Erklärungen zu verlangen; und wenn ihn diese Erklärungen nicht befriedigten, so mußte die Last der Widerlegung derselben auf Harley fallen; und wer oder was sollte Randal's nicht unwahrscheinlichen Versicherungen entgegentreten – Versicherungen, zu deren Bekräftigung er selbst in der Person des Baron Levy einen Zeugen benennen konnte?

Sich so zu jeder Erprobung seiner Kräfte stählend, überschritt Randal Leslie die Schwelle von Lansmere Haus und traf in der Halle mit dem Baron zusammen, der auf ihn wartete.

Levy. – »Ich kann mir durchaus nicht denken, warum diese verwünschte Wahl so verkehrt gegangen ist. L'Estrange begreife ich nicht; aber, daß er Egerton haßt, weiß ich, und ferner weiß ich, daß er diesem Hasse durch eine andere Art von Rache Ausdruck geben wird, da es ihm mit dieser mißlang. Aber es ist gut, Randal, daß Ihnen Hazeldean's Geld und die Hand der reichen Erbin sicher ist; sonst –«

»Sonst, was?«

»Sonst, mon cher, würde ich meine Hand von Ihnen abziehen; denn ungeachtet Ihres Verstandes und aller meiner Versuche, etwas für Sie zu thun, steigt in mir eine dunkle Ahnung auf, daß Ihnen Ihre Talente nie ein Vermögen einbringen werden. Der Sohn eines Zimmermanns versteht das öffentliche Reden besser, als Sie, und ein gemeiner Fabrikbesitzer überlistet Sie in Privatgeschäften. Ganz entschieden, Randal Leslie, haben Sie bis jetzt Fiasko gemacht. Und, wie Sie so bewunderungswürdig bemerkten, ›einen Mann, von welchem man nichts zu hoffen und nichts zu fürchten hat, muß man aus der Zukunftskarte streichen.‹«

Randal's Antwort wurde durch das Erscheinen des Kammerdieners abgeschnitten.

»Mylord ist in dem Salon und bittet die beiden Herrn, ihn gefälligst dort aufsuchen zu wollen.«

Levy und Randal folgten dem Diener die breite Treppe hinauf. Der Salon bildete den Mittelpunkt einer Reihe von Zimmern. Wegen seiner Größe wurde er selten und gewöhnlich nur bei feierlichen Gelegenheiten benützt. Er hatte das frostige und förmliche Aussehen von Staatsgemächern.

Riccabocca, Violante, Helene, Mr. Dale, Squire Hazeldean und Lord L'Estrange waren um den kalten florentinischen Marmortisch versammelt, auf dem kein Buch, keine weibliche Arbeit, keines jener traulichen, die Heimath verschönernden und belebenden Zeichen häuslicher Beschäftigung dem Auge begegnete. Nichts war da, als ein großer silberner Armleuchter, welcher das geräumige Zimmer nur schwach beleuchtete und die Bilder an der Wand auf ihren Rahmen heraustreten und mit spähender, neugieriger Miene jeden auf sie gerichteten Blick zurückgeben ließ.

Sobald Randal eintrat, machte sich der Squire von den Uebrigen los, ging auf den unterlegenen Candidaten zu und drückte ihm herzlich die Hand.

»Munter, mein Junge, es ist keine Schande, den Kürzeren zu ziehen. Lord L'Estrange sagt, Sie hätten Ihr Möglichstes gethan, um zu siegen, und mehr kann ein Mensch nicht thun. Und ich bin froh, Leslie, daß wir unser kleines Geschäftchen erst in's Reine bringen, nachdem die Wahl vorüber ist; denn nach einer Widerwärtigkeit ist etwas Erfreuliches doppelt willkommen Ich habe das Geld in meiner Tasche. St.! – und hören Sie, mein lieber, lieber Junge, ich kann durchaus nicht heraus bekommen, wo Frank ist; aber es ist wirklich ganz und gar vorbei mit jener papistischen Ausländerin – he?«

»Ja wohl, Sir, ich hoffe es. Ich werde mit Ihnen darüber sprechen, wenn wir allein sind. Wir werden gleich nachher fortschlüpfen können, hoffe ich.«

»Ich will Ihnen einen geheimen Plan von mir und Harry anvertrauen,« sagte der Squire mit noch leiserem Flüstern. »Wir müssen diese Marchesa, oder was sie ist, dem Jungen aus dem Kopfe hinaustreiben und dafür ein hübsches englisches Mädchen hineinprakticiren. Dann wird er auch einmal Ruhe finden. Und ich muß es versuchen, diese bittere Pille, das Postobit, hinunterzuwürgen. Harry nimmt es sogar noch schlimmer auf, als ich, und ist so hart gegen den armen Burschen, daß ich genöthigt war, seine Partei zu ergreifen. Ich habe keine Lust zu einem Pantoffelregiment im Hause – ein solches war nie Sitte bei den Hazeldeans. Um aber wieder auf unsern Plan zurückzukommen – wen glauben Sie wohl, daß ich unter den hübschen Mädchen meine?«

»Miß Sticktorights!«

»Alle Wetter, nein! – Ihre eigene kleine Schwester, Randal. So ein süßes, hübsches Gesichtchen. Harry faßte von Anfang an eine Vorliebe für sie, und dann sind Sie Frank's Schwager, und Ihr gesunder Kopf und Ihr gutes Herz werden ihn schon auf dem rechten Wege halten. Und da Sie sich auch nächstens verheirathen wollen (Sie müssen mir später den ganzen Hergang erzählen), so werden wir vielleicht an einem und demselben Tag zwei Hochzeiten in der Familie haben.«

Randal ergriff die Hand des Squires, und etwas, wie menschliche Dankbarkeit, rührte sich in ihm – denn wir wissen, daß er, gegen alles Andere unempfindlich, für seine heruntergekommene Familie eine ungeheuchelte Theilnahme bewahrte; und seine vernachlässigte Schwester war das einzige Wesen auf Erden, von dem man beinahe sagen konnte, daß seine Gefühle gegen sie die der Liebe seien. So sehr er als Verstandesmensch auf den ehrlichen, einfachen Frank herabsah, kannte er doch Niemand auf der Welt, bei dem er seine junge Schwester sicherer und glücklicher aufgehoben wüßte. Unter Mrs. Hazeldean's Dach verpflanzt und durch ihr praktisches Wohlwollen veredelt – mit der Liebe eines Mannes gesegnet, der selbst nicht zu gebildet war und deßhalb an den Mängeln ihrer Erziehung keinen Anstoß nahm – was konnte er mehr für seine Schwester verlangen, wenn er sie sich, die Haare über die Ohren herunterhängend und einen erbärmlichen Roman, als einzige geistige Nahrung, in der Hand, vergegenwärtigte?

Aber ehe er antworten konnte, schloß sich Violanten's Vater ihnen an und fügte zu den schlichten Trostworten des Squires noch die der Philosophie hinzu. Wer konnte je die Volkslaune berechnen? Die Weisen aller Jahrhunderte hatten sie verachtet. In diesem Punkte waren Horaz und Macchiavell der gleichen Ansicht, u. s. w. u. s. w.

»Aber,« sagte der Herzog mit salbungsreicher Freundlichkeit, »vielleicht kommt Ihnen gerade dieses Mißgeschick anderswo zu statten. Das weibliche Herz ist dem Mitleid offen und stets begierig, zu trösten. Ueberdies werden Sie, wenn ich Italien wieder betreten darf, Muße haben, uns zu begleiten und das Land zu sehen, in welchem jeder andere Ehrgeiz bereitwilligst vergessen wird, sogar,« – setzte der Italiener mit einem Seufzer bei – »von seinen eigenen Söhnen!«

Diese Art der Anrede Seitens des Squires und des Herzogs erfüllte Randal wieder mit frischem Muthe. Es war klar, Lord L'Estrange hatte ihnen keinen ungünstigen Eindruck von seinem Betragen in dem Comitezimmer beigebracht.

Während dessen hatte sich Levy Harley genähert, der sich mit dem Baron in eine Fenstervertiefung zurückzog.

»Mein Lord, begreifen Sie dieses Benehmen Richard Avenels? Er sichert Egerton den Sieg! Er!«

»Was ist natürlicher, Baron Levy? Seinem eigenen Schwager!«

Der Baron fuhr zusammen und wurde sehr blaß.

»Aber wie erfuhr er dies? Ich sagte ihm nie ein Wort. Ich meinte nie mehr –«

»Sie meinten vielleicht, Egerton's Stolz zuletzt noch durch die Veröffentlichung seiner Verbindung mit der Tochter eines Krämers zu beschämen? Eine vortreffliche Rache für Sie; aber Rache wofür? Noch einige Worte, Baron, ehe sich unsere Bekanntschaft für immer schließt. Sie kennen die Gründe meines Grolls gegen Egerton. Die Ihrigen kann ich nur vermuthen; wollen Sie mich darüber aufklären?«

»Mein Lord, mein Lord,« stotterte Baron Levy. »Auch ich warb um Nora Avenel als Gattin; auch ich hatte einen glücklicheren Nebenbuhler in dem hochmütigen Weltmenschen, der sein Glück nicht zu würdigen verstand; auch ich – mit Einem Worte, manche Frauen flößen eine Neigung ein, die sich dem ganzen Wesen eines Mannes mittheilt und von allen Strömen seines Lebensblutes aufgenommen wird. Nora Avenel war eine dieser Frauen.«

Harley war betroffen. Dieser Ausbruch von Leidenschaft bei einem so verdorbenen und cynischen Mann milderte sogar seine Verachtung gegen den Wucherer. Levy faßte sich bald wieder.

»Aber noch ist unsere Rache nicht vereitelt. Egerton befindet sich bis jetzt zwar nicht in meiner, wohl aber in Ihrer Gewalt. Seine Erwählung läßt allerdings seine Verhaftung nicht zu; allein das Gesetz kennt andere Mittel, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen und vollständig zu Grunde zu richten.«

»Für den Schurken, ja – wie ich Ihnen in Ihrem eigenen Hause vertraulich mittheilte – Ihnen, der Sie sich Ihrer Liebe zu Nora Avenel rühmen und in Ihrem Innersten sich bewußt sind, daß Sie ihr Verderber waren – Sie, der Sie, obgleich Zeuge ihrer ehelichen Verbindung, ihr zu sagen wagten, sie sei entehrt!«

»Mein Lord – ich – wie konnten Sie wissen – ich wollte sagen, wie konnten Sie denken, daß – daß –« stammelte Levy mit zu Berge stehenden Haaren.

»Nora Avenel hat aus ihrem Grabe gesprochen,« versetzte Harley feierlich. »Erfahren Sie, daß, wo immer ein Verbrechen verübt wird, der Himmel einen Zeugen findet!«

»Ich also bin es,« sagte Levy, mit einem abergläubischen Schauer in seinem Herzen kämpfend – »an dem Sie jetzt Ihre ganze Rache kühlen; und ich muß es tragen, so gut ich kann. Aber ich habe meinen Antheil an unserem Vertrage erfüllt; ich habe Ihnen blindlings gehorcht – und –«

»Ich will meinen Antheil erfüllen und Sie in ungestörtem Besitze Ihres Reichthums lassen.«

»Ich wußte, daß ich dem Worte Eurer Lordschaft vertrauen könne,« rief der Wucherer mit unterwürfigem Frohlocken.

»Und dieses nichtswürdige Geschöpf hegte dieselben Leidenschaften, wie ich; und erst gestern waren wir Genossen in einem und demselben Entschlusse und von einem und demselben Gedanken beseelt,« murmelte Harley vor sich hin.

»Ja,« sagte er laut, »ich wage es nicht, Baron Levy, mich zu Ihrem Richter aufzuwerfen. Wandeln Sie auf Ihrem Pfade fort – alle Wege führen zuletzt vor den gemeinschaftlichen Richterstuhl. Aber noch sind Sie Ihres Vertrages nicht entbunden; Sie müssen gegen Ihren Willen ein gutes Werk thun. Blicken Sie dorthin, wo Randal Leslie, sicher lächelnd, zwischen zwei Gefahren steht, die er sich selbst heraufbeschworen hat. Und da Randal Leslie selbst mich eingeladen hat, sein Richter zu sein, und er Sie, wie Ihnen in Erinnerung sein wird, eben heute als seinen Zeugen benannte, so muß ich hier den Schuldigen entlarven – denn hier lebt noch der unschuldige Theil und bedarf des Schutzes.«

Harley wendete sich weg und nahm seinen Platz am Tische ein.

»Ich wünschte,« sagte er, seine Stimme erhebend, »mit dem Triumphe meines ältesten und theuersten Freundes das Glück Anderer zu verbinden, an deren Wohlfahrt ich Antheil nehme. Ihnen, Alphonso, Herzog von Serrano, übergebe ich jetzt diese Depesche, welche gestern Abend von Fürst Z. durch einen expressen Boten an mich kam und Ihre Wiedereinsetzung in Land und Ehren enthält.«

Der Squire sperrte Mund und Augen auf. »Rickybocky ein Herzog? Ei, dann ist Jemima eine Herzogin! Gerechter Gott, da steht sie und weint!« Und sein gutes Herz drängte ihn, zu seiner Cousine hinzueilen und ihr Muth einzusprechen.

Violante warf sich, nach einem raschen Blick auf Harley, an die Brust ihres Vaters. Randal stand unwillkürlich auf und näherte sich dem Stuhle des Herzogs.

»Und Sie, Mr. Randal Leslie,« fuhr Harley fort, »sehen, obgleich die Wahl zu Ihren Ungunsten ausfiel, in diesem Augenblicke solche Aussichten auf Reichthum und Glück vor sich, daß ich Ihnen nur meine Glückwünsche werde darzubringen haben, im Vergleich zu welchen diejenigen, die Mr. Audley Egerton erwarten, lau und unschmackhaft erscheinen – vorausgesetzt, Sie beweisen, daß Sie das Recht nicht verwirkt haben, sich auf das Versprechen zu berufen, welches der Herzog von Serrano dem Bewerber um seiner Tochter Hand gegeben hat. Einige Zweifel, die mir noch geblieben sind, haben Sie aus freien Stücken zu entfernen sich erboten. Ich habe die Erlaubniß des Herzogs, einige wenige Fragen an Sie zu stellen, und ich mache jetzt von Ihrem Anerbieten Gebrauch.«

»Jetzt – und hier, mein Lord?« sagte Randal, im Zimmer umherblickend, als verbitte er sich die Anwesenheit so vieler Zeugen.

»Jetzt – und hier. Auch stehen die anwesenden Personen diesen Aufklärungen nicht so ferne, wie Ihre Frage anzudeuten scheint. Mr. Hazeldean, es fügt sich zufällig, daß viel von demjenigen, was ich Mr. Leslie sagen werde, Ihren Sohn betrifft.«

Randal's Haltung verlor die bisherige Sicherheit. Ein unbehagliches Zittern beschlich ihn.

»Meinen Sohn! – Frank? O, dann wird Randal natürlich Rede stehen. Sprechen Sie, mein Junge!«

Randal blieb stumm. Der Herzog blickte auf sein arbeitendes Gesicht und rückte mit dem Stuhle weg.

»Junger Mann, können Sie zaudern? sagte er. »Es ist ein Zweifel erhoben worden, dessen Lösung mit Ihrer Ehre zusammen hängt.«

»Potz Element!« rief der Squire, der gleichfalls Randal's scheuen Blick und bebende Lippe anstarrte, »vor was fürchten Sie sich?«

»Fürchten!« sagte Randal, zum Sprechen gezwungen, mit dumpfem Lachen – »Fürchten? – ich? Vor was? Ich dachte nur darüber nach, was Lord L'Estrange meinen könne.«

»Ich will Ihnen hierin sofort zu Hülfe kommen. Mr. Hazeldean, Ihr Sohn hat Sie gekränkt erstens durch den Heirathsantrag, welchen er der Marchese di Negra ohne Ihre Zustimmung machte, zweitens durch die Postobitverschreibung an Baron Levy. Haben Sie von Mr. Randal Leslie gehört, daß er der genannten Heirath sich widersetzt oder sie begünstigt – daß er das erwähnte Postobit gebilligt oder getadelt hätte?«

»Nun, natürlich,« rief der Squire, »daß er sich beidem widersetzt habe.«

»Ist es so, Mr. Leslie?«

»Mein Lord – ich – ich – meine Liebe zu Frank und meine Achtung vor seinem verehrten Vater – ich – ich –« (mit einer gewaltsamen Anstrengung und mit fester Stimme) »Natürlich that ich alles, was ich konnte, um Frank abzurathen; und was das Postobit anbelangt, so weiß ich nichts davon.«

»So viel vor der Hand hievon. Ich gehe zu einem wichtigeren Punkte über, welcher sich auf Ihre Verlobung mit der Tochter des Herzogs von Serrano bezieht. Ich erfahre von Ihnen, Herzog, daß Sie, als Sie in Verbannung und Dürftigkeit lebten, diesem Gentleman die Hand Ihrer Tochter versprachen, um Ihr Kind vor den Fallstricken des Grafen di Peschiera zu schützen, und weil Sie glaubten, Mr. Leslie theile Ihre Furcht vor den Anschlägen des Grafen. Als die Wahrscheinlichkeit der Wiedereinsetzung in Ihre Fürstenthümer sich nahezu zur Gewißheit gestalten zu wollen schien, bestätigten Sie dieses Versprechen auf Mr. Leslie's Versicherung hin, daß er, wenn gleich ohne Erfolg, sich Mühe gegeben habe, Ihre Erbin vor einer hinterlistigen Falle zu bewahren. Ist es nicht so?«

»Gewiß. Und wäre mir ein Thron geworden, ich könnte das Versprechen nicht widerrufen, welches ich in Verbannung und Dürftigkeit gegeben habe – ich könnte dem Manne, welcher seinen weltlichen Ehrgeiz durch die Verbindung mit einem Mädchen ohne jedwedes Vermögen zu opfern bereit war, den Lohn seiner Großmuth nicht verweigern. Meine Tochter theilt meine Anschauungen.«

Violante zitterte, ihre Hände waren fest in einander verschlungen, ihr Blick auf Harley geheftet.

Mr. Dale wischte sich die Augen und dachte, wie der arme Flüchtling die Fische im Teiche fütterte und sich unter dem Schatten des Kasino schuldenfrei zu erhalten suchte.

»Ihre Antwort ist Ihrer würdig, Herzog,« nahm Harley wieder auf. »Sollte aber der Beweis geliefert werden, daß Mr. Leslie, anstatt für sich um die Prinzessin zu werben, in Wirklichkeit auf den Empfang einer Summe Geldes für ihre Auslieferung an Graf Peschiera rechnete – daß er, anstatt sie vor den gefürchteten Gefahren zu retten, in Wirklichkeit den Fallstrick, aus welchem sie befreit wurde, ersann – würden Sie sich dann noch immer verpflichtet fühlen, Wort zu halten einem –«

»Solchem Elenden! Nein, gewiß nicht!« rief der Herzog. »Das ist aber eine grundlose Voraussetzung! Sprechen Sie, Randal.«

»Es kann nicht Lord L'Estrange's Absicht sein, mich dadurch, daß er es für etwas Anderes, als eine grundlose Voraussetzung hält, zu beschimpfen,« sagte Randal und versuchte das Haupt hoch zu tragen.

»Ich muß hiernach annehmen, Mr. Leslie, daß Sie eine solche Voraussetzung mit Verachtung zurückweisen.«

»Mit Verachtung – ja. Und,« fuhr Randal, einen Schritt näher tretend, fort, »nachdem die Voraussetzung einmal aufgestellt worden ist, so fordre ich von Lord L'Estrange als seines Gleichen (denn alle Gentlemen sind unter einander gleich, wo es gilt, die Ehre auf Kosten des eigenen Lebens zu vertheidigen) entweder sofortige Zurücknahme oder sofortigen Beweis.«

»Das ist zum ersten Male wie ein Mann gesprochen,« rief der Squire. »Ich selbst habe um einer geringeren Sache willen meinen Platz fest behauptet. Ich habe eine Kugel in meiner rechten Schulter davon getragen.«

»Ihre Forderung ist gerecht,« sagte Harley unbewegt. »Ich kann nichts zurücknehmen – ich will den Beweis liefern.«

Er stand auf und läutete. Der Diener trat ein, erhielt seinen in leisem Tone gegebenen Befehle und entfernte sich. Eine drückende Pause folgte. Randal überlegte mit ängstlichem Herzen, was zu seiner Ueberführung vorgebracht werden könnte – er vermochte nichts zu finden. Die Flügelthüren des Salons wurden aufgerissen und der Diener meldete:

»Graf di Peschiera.«

Das Zerplatzen einer Bombe im Zimmer hätte keine größere Bestürzung hervorbringen können. Aufrecht, keck, mit gebieterischer Gestalt und Haltung schritt der Graf in die Mitte des Kreises. Nach einer leichten, höflich-stolzen Verbeugung, welche für alle Anwesenden bestimmt war, warf er den Kopf in die Höhe und sah sich mit ruhigem Auge und gekräuselter Lippe um – der selbstbewußte, prächtige, fein gebildete Mann der rücksichtslosen That.

»Herr Herzog,« sagte der Graf in englischer Sprache und mit einer Stimme, die langsam, klar und fest, das ganze Zimmer auszufüllen schien, indem er sich gegen seinen erstaunten Verwandten wendete, »ich bin nach England zurückgekehrt auf einen Brief von Lord L'Estrange hin und, ich gestehe es, in der Erwartung, ihm gegenüber die Genugthuung ansprechen zu dürfen, welche Männer von unserer Geburt sich gegenseitig gewähren, wenn aus irgend einem Grunde eine Beleidigung angethan oder empfangen worden. Nein, schöne Verwandte –« und der Graf verneigte sich mit einem flüchtigen, aber ernsten Lächeln gegen Violante, die einen leisen Schrei ausgestoßen hatte – »diese Absicht ist aufgegeben. Wenn ich den alten Grundsatz der Höfe, daß in der Liebe jede List erlaubt sei, zu leicht genommen habe, so bin ich auch verpflichtet, mich Lord L'Estrange's Beweisführung, daß Gegenlist in gleicher Weise erlaubt sein müsse, zu fügen. Und am Ende steht es mir besser an, über meine eigene traurige Figur als Besiegter zu lachen, als mich durch einen Scharfsinn, welcher den meinigen an Erfolg übertroffen hat, tödtlich gekränkt zu erklären.«

Der Graf hielt inne, und aus seinem Auge leuchtete ein düsteres Feuer, welches zu seinem spöttischen Tone und zu seinem vornehmen, ungezwungenen Wesen schlecht paßte.

» Ma foi!« fuhr er fort, »ich darf so sprechen, denn ich bin wenigstens den Beweis für meine Gleichgültigkeit gegen jede Gefahr und für mein gutes Glück, so oft ich einer solchen ausgesetzt war, nicht schuldig geblieben. In den letzten sechs Jahren hatte ich die Ehre, neun Duelle auszufechten, und kam in den bedauerlichen Fall, fünf meiner Gegner zu verwunden und vier aus der Welt zu schicken – die tapfersten und würdigsten Gentlemen, die je die Sonne beschienen hat.«

»Ungeheuer!« stammelte der Pfarrer.

Der Squire riß entsetzt die Augen auf und rieb sich mechanisch die Schulter, welche von Kapitän Dashmore's Kugel zerfleischt worden war. Randal's blasses Gesicht wurde noch blässer, und sein auf den Grafen gerichtetes Auge senkte sich zu Boden.

»Aber,« nahm der Graf mit einer anmuthigen Handbewegung wieder auf, »ich weiß es Lord L'Estrange Dank, mich daran erinnert zu haben, daß ein Mann, dessen Muth über allen Verdacht erhaben ist, das Vorrecht besitzt, nicht nur sich zu entschuldigen, wenn er einen Anderen verletzt hat, sondern auch diese Entschuldigung mit einer Sühne zu begleiten. Herzog von Serrano, dies ist es, was mich hierher führte. Mein Lord, Sie haben den Wunsch angedeutet, einige Fragen von hoher Wichtigkeit hinsichtlich des Herzogs und seiner Tochter an mich zu stellen – ich will sie ohne Rückhalt beantworten.«

»Monsieur le Comte,« sagte Harley, »indem ich von Ihrem artigen Erbieten Gebrauch mache, erlaube ich mir Sie zu fragen, wer Ihnen mittheilte, daß sich diese junge Dame als Gast unter meines Vaters Dache befinde?«

»Mein Gewährsmann steht dort – Mr. Randal Leslie. Und ich fordere Baron Levy auf, meine Angabe zu bestätigen.«

»Es ist wahr,« sagte der Baron langsam, als werde er durch den Ton und die Miene eines gebieterischen Häuptlinges beherrscht.

Ein leiser Ton wie ein Zischen entschlüpfte Randal's Lippen.

»Und war Mr. Leslie von Ihrem Plane, der Ihnen die Person und die Hand Ihrer jungen Verwandten sichern sollte, unterrichtet?«

»Gewiß – und es ist dies Baron Levy bekannt.« Der Baron nickte bejahend. »Gestatten Sie mir hinzuzufügen – denn ich bin solches einer mir so nahe verwandten Dame schuldig – daß es, wie ich seither erfahren habe, lediglich gewisse falsche Vorspiegelungen Seitens Mr. Leslies waren, die jene Dame, nachdem alle meine Gründe sich erfolglos gezeigt, bewogen haben, ihre Hülfe einem Plane zu leihen, den sie sonst ebenso entschieden verdammt hätte, wie ich selbst, Herzog von Serrano, ihn jetzt von Grund meines Herzens verdamme.«

Der Graf sagte dies mit jener persönlichen Würde, die, ob nur natürlich oder erkünstelt, für den Augenblick das menschliche Urtheil besticht und in vorliegendem Falle durch die besonderen Vortheile seiner schönen Gestalt, seiner einnehmenden Züge und seiner vornehmen Haltung in einem Grade gehoben wurde, daß der Herzog, dem Auge seines guten Herzens folgend, dem treulosen Verwandten die Hand hinbot und alle seine macchiavellistische Weisheit vergaß, die ihm gesagt haben würde, daß ein im Laster so verhärteter Mensch wie der Graf, sich schwerlich durch irgend welche reine Beweggründe zu einem offenen Bekenntnisse oder zu einer männlichen Reue bestimmen ließe.

Der Graf nahm die ihm dargebotene Hand und beugte das Haupt, vielleicht um das Lächeln zu verbergen, welches seine geheimen Gedanken verrathen haben würde. Randal blieb noch immer stumm und blaß wie der Tod. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er fühlte, daß alle Anwesenden von ihm zurückwichen. Zuletzt nach einer gewaltsamen Anstrengung stammelte er in abgebrochenen Sätzen:

»Eine so plötzliche Anklage ist wohl – ist wohl im Stande, mich zu verwirren. Aber – aber – wer wird ihr Glauben schenken? Das Gesetz und der gesunde Menschenverstand verlangen einen Beweggrund für eine verbrecherische Handlung; welchen Beweggrund sollte ich hier gehabt haben? Ich – ich, der Bewerber um die Hand der Tochter des Herzogs – ich sie verrathen! Abgeschmackt – abgeschmackt. Herzog – Herzog, Ihre eigene Menschenkenntniß soll entscheiden – wer wird je so gegen sein eigenes Interesse handeln – und – und gegen sein eigenes Herz?«

Diese Berufung, so schüchtern sie gemacht ward, blieb nicht ohne Wirkung auf den Philosophen.

»Das ist wahr,« sagte der Herzog und zog seine Hand aus der des Grafen; »ich sehe nirgends einen Beweggrund.«

»Vielleicht,« sagte Harley, »kann uns Baron Levy darüber aufklären. Kennen Sie irgend einen eigennützigen Beweggrund, der Mr. Leslie veranlaßt haben könnte, dem Grafen in seinen Plänen behülflich zu sein?« Die folgenden zwei Seiten, im einzigen verfügbaren Exemplar fehlend, mussten wiederum nach der Übersetzung von Carl Kolb (s.o.) ergänzt werden (bis »Friede, Mörder!«)

Levy zauderte. Statt seiner ergriff der Graf das Wort.

» Pardieu!« sagte er in dem klaren Tone der Entschiedenheit und des festen Willens – »Pardieu! ich kann nicht dulden, daß meine Versicherung bezweifelt werde – am allerwenigsten von denen, welche von ihrer vollen Wahrheit überzeugt sind. Und ich fordere Sie auf, Baron Levy, anzugeben, ob ich für den Fall meiner ehlichen Verbindung mit der Herzogstochter nicht versprochen habe, meiner Schwester ein Geschenk zu machen mit einer gewissen Summe, an die sie alte Ansprüche zu haben vorgab und die durch Ihre Hände gehen sollte?«

»Ja, dies ist wahr,« versetzte der Baron.

»Und war nicht ein Theil dieser Summe bestimmt, an Mr. Leslie überzugehen?«

Levy wollte abermals nicht mit der Sprache heraus.

»Reden Sie, Sir,« rief der Graf zürnend.

»Die Sache verhält sich so,« sagte der Baron, »daß Mr. Leslie angelegentlich darum zu thun war, einen Kauf über gewisse Besitzungen abzuschließen, die vormals seiner Familie gehört hatten. Die Vermählung des Grafen mit der Signorina und die Heirath seiner Schwester mit Mr. Hazeldean würde mich in die Lage versetzt haben, Mr. Leslie durch ein Anlehen zu dem Kauf behilflich zu sein.«

»Was! was!« rief der Squire, hastig seine Brusttasche mit der einen Hand zuknöpfend, während er mit der anderen Randals Arm packte – »die Heirath meines Sohnes! Auch dazu haben Sie sich hergegeben? Stehen Sie nicht so da wie ein gepeitschter Hund, sondern reden Sie wie ein Mann, wenn Sie ein Mann sind.«

»Dazu hat er sich hergegeben, mein guter Sir!« sagte der Graf. »Meinen Sie, die Marchesa di Negra hätte sich herablassen können zu einer Verbindung mit einem Mr. Hazeldean –«

»Herablassen! – ein Hazeldean von Hazeldean!« rief der Squire wild aufbrausend und halb erstickt vor Unwillen.

»«Wenn sie nicht,« fuhr der Graf fort, ohne sich stören zu lassen, »durch die Umstände gezwungen worden wäre, besagtem Mr. Hazeldean die Ehre zu erweisen, von ihm eine Aushülfe in einer Geldverlegenheit anzunehmen, die sie in keiner anderen Weise zu beseitigen wußte? Und ich halte mich für verpflichtet, zu erklären, Sir, daß in dieser Beziehung die Familie Hazeldean alle Ursache hat, Mr. Leslie dankbar zu sein; denn er war es, welcher ihr die Nothwendigkeit dieser mesalliance auf's Nachdrücklichste an's Herz legte. Auch hat er, wie ich glaube, meinem Freund, dem Baron, die Art angedeutet, wie Mr. Hazeldean am besten in die Lage gesetzt würde, die Aushülfe zu leisten, welche meine Schwester anzunehmen sich herabließ.«

»Die Art! – das Postobit!« rief der Squire, Randals Arm loslassend und dafür Levy packend.

Der Baron zuckte die Achseln.

»Jeder Freund von Mr. Frank Hazeldean würde ihm dasselbe Verfahren empfohlen haben als die ökonomischste Weise, Geld anzunehmen.«

Pfarrer Dale, welchen anfänglich die allmäligen Enthüllungen von Randals Schurkerei mehr als irgend einen Anderen der Anwesenden entsetzt hatten, richtete jetzt seine Blicke auf den jungen Mann und wurde von dem Bild der Vernichtung in seinen Zügen so ergriffen, daß er seine Hand auf Harley's Arm legte und ihm zuflüsterte:

»Seht – seht nur dieses Gesicht an! – Und er noch so jung! Schont ihn, schon ihn!«

»Mr. Leslie,« sagte Harley in milderem Tone, »glaubt mir, daß nichts Anderes als die Gerechtigkeit gegen den Herzog di Serrano und auch gegen meinen jungen Freund Mr. Hazeldean mich zu dieser peinlichen Pflicht gezwungen hat. Mögen damit alle weiteren Fragen beendigt sein.«

»Und da ich von Lord L'Estrange in Erfahrung gebracht habe,« nahm der Graf mit ausgesuchter Geschmeidigkeit wieder auf, »Daß Mr. Leslie jene persönliche Herausforderung gegen mich, welche meiner Meinung nach nur eine angenehme und freundliche Uebereinkunft in einem Theil unseres vereitelten Planes sein sollte, als einen von seiner Seite ernstlich gemeinten Akt vorstellte, so darf sich dieser Gentleman versichert halten, daß, wenn er nicht zufrieden ist mit dem Bedauern, welches ich jetzt über meine vorzugsweise Betheiligung an diesen Enthüllungen ausdrücke, ich ganz zu Mr. Leslie's Diensten stehe.«

»Friede, Mörder!« rief der Pfarrer schaudernd und schlüpfte an die Seite des entlarvten Sünders, von welchem alle Anderen mit Abscheu zurückgewichen waren.

List gegen List, Talent gegen Talent, Verrath gegen Verrath – in alle dem wäre Randal Leslie Giulio di Peschiera überlegen gewesen. Was ihn jetzt erdrückte, war nicht der überlegene Verstand – es war die rein thierische Macht der Kühnheit und der Muskeln. Hier stand der unbekümmerte, schamlose Schurke, der über seine Schuld leicht hinwegging und ihr das Widrige mit entschlossenem Blick und aufrechter Stirne benahm. Und dort stand der begabtere, schlauere und tiefere Verbrecher, sich krümmend, verächtlich, erbarmungswürdig; die Macht des bloßen intellektuellen Wissens zerschellte an dem ehernen Metall, mit welchem der Zufall des Körperbaus oft eine unedlere Natur wappnet.

Der Gegensatz war in die Augen fallend und bestätigte die im wirklichen Leben so selten ausgesprochene, wenn auch stillschweigend beinahe allgemein anerkannte Wahrheit, daß Menschen von überlegener Charakterstärke Solche, die ihnen an Fähigkeit und Verstand weit überlegen sind, sich unterwerfen und lähmen können. Diese Charakterstärke war es, die Peschiera zu Randal's Meister machte – ja, gerade die physischen Attribute des Grafen, seine Stimme und Gestalt, sein unerschrockenes Auge, seine kühne Stirne überwältigten den schärferen Geist des zart gebauten Ränkeschmieds, wie in einer Volksversammlung ein derber Witzbold jeden anders denkenden Weisen zu furchtsamem Schweigen einschüchtert.

Leise flüsterte der Pfarrer Randal Trostesworte zu und suchte Reue in ihm zu erwecken; aber in finsterer Ungeduld wandte sich Letzterer von ihm ab und sagte endlich in klareren Tönen, als ihm bisher zu Gebot gestanden waren:

»Nicht ein persönliches Ausfechten des Streites mit dem Grafen die Peschiera kann meine Ehre retten; und ich verschmähe es, mich gegen die Anklagen eines Wucherers und eines Mannes zu vertheidigen, der –«

» Monsieur!« sagte der Graf sich hoch aufrichtend.

»Eines Mannes,« beharrte Randal, obwohl er merklich zitterte, »der nach seinem eigenen Geständnisse sich aller jener Anschläge, als deren Miturheber er mich zeihen möchte, selbst schuldig gemacht hat, und der jetzt, ohne sich selbst zu reinigen, einen Andern überführen möchte –«

» Cher petit Monsieur,« sagte der Graf mit majestätischer Verachtung, »wenn ein Mann, wie ich, von Menschen, wie Sie, Gebrauch macht, so belohnen wir sie für einen Dienst, wenn er geleistet worden, oder schicken sie weg, wenn der Dienst nicht geleistet worden ist; und wenn ich mich herablasse, eine Handlung, die ich begangen habe, zu bekennen und mich wegen derselben zu entschuldigen, so kann sicherlich Mr. Randal Leslie das Gleiche thun, ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Ich hätte mir übrigens nie die Mühe genommen, Sir, gegen Sie aufzutreten, hätten Sie nicht, wie ich höre, Ansprüche auf die Hand der Dame erhoben, welche ich mit weniger Anmaßung meine Braut zu nennen hoffte; und wie kann ich behaupten, daß Sie mich in diesem Punkte nicht hintergangen und verrathen haben? Gibt unsere frühere Bekanntschaft irgend wie Veranlassung zu der Annahme, daß Sie nicht, anstatt mir zu dienen, nur sich selbst zu dienen suchten? Sei dem, wie ihm wolle, es blieb mir nur Ein Weg, das Unrecht, welches ich dem Haupte meines Hauses zugefügt habe, zu sühnen: – der, daß ich seine Tochter vor der erniedrigenden Verbindung mit einem Betrüger bewahrte, welcher meine Pläne gegen Bezahlung förderte, und der jetzt die Frucht derselben für sich selbst stehlen möchte.«

»Herzog!« rief Randal aus.

Der Herzog wandte ihm den Rücken zu. Randal streckte seine Hände dem Squire entgegen.

»Mr. Hazeldean – wie? auch Sie verdammen mich – und ungehört?«

»Ungehört! – Donnerwetter, nein! Wenn Sie etwas zu sagen haben, so sprechen Sie die Wahrheit, und machen Sie den Teufel zu Schanden.«

»Ich hätte Frank zu dieser Heirath aufgemuntert! – Ich das Postobit gebilligt! – O!« rief Randal, sich an einen Strohhalm festklammernd, »wäre nur Frank selbst hier!«

Harley's Mitleid schwand vor dieser hartnäckigen Heuchelei.

»Sie wünschen Frank Hazeldean's Gegenwart. Der Wunsch ist gerecht. Mr. Dale, wollen Sie jetzt die Seite dieses jungen Mannes verlassen und statt Ihrer Frank Hazeldean hierher stellen? Er wartet im nächsten Zimmer – rufen Sie Ihn.«

Bei diesen Worten rief der Squire mit lauter Stimme: »Frank! Frank! – mein Sohn! mein armer Sohn!« – und stürzte durch das Zimmer der von Harley bezeichneten Thüre zu.

Dieser Vorfall gab den Gefühlen der Anwesenden eine andere Richtung, und einen Augenblick lang war Randal selbst ganz vergessen. Der junge Mann benützte diesen Augenblick. Befreit von den Dolchen aller dieser – Verachtung und Anklage schlendernden Augen schlich er langsam der Thüre zu, langsam und geräuschlos, wie die Natter, die, wenn sie verwundet ist, den Kamm zurücklegt und sich windend durch das Gras hingleitet. Levy folgte ihm bis an die Schwelle und flüsterte ihm in das Ohr:

»Ich konnte es nicht ändern – Sie würden mir gegenüber gerade so gehandelt haben. Sie sehen, es ist Ihnen alles fehlgeschlagen, und wenn ein Mann vollständig Fiasko macht, so muß man ihn, wie wir Beide übereingekommen sind, aufgeben.«

Randal sagte nicht ein Wort, und der Baron sah seinen Schatten auf die breite Treppe fallen, sich hinunterstehlen, Schritt für Schritt immer weiter und weiter, bis er von den Steinen verschwand.

»Von einigem Nutzen war er aber doch,« murmelte Levy. »Seine Verrätherei und seine Bloßstellung wird dem kinderlosen Egerton den Triumph vergällen. Immer noch eine kleine Rache!«

Der Graf berührte den Arm des sinnenden Wucherers –

» J'ai bien joué mon rôle, n'est-ce-pas? (Ich habe meine Rolle gut gespielt, nicht wahr?)«

»Ihre Rolle! Ah! Aber, mein lieber Graf, ich verstehe dieselbe nicht ganz.«

» Ma foi – Sie sind ziemlich blöde. Ich hatte eben den französischen Boden betreten, als mich ein Brief von L'Estrange erreichte. Er enthielt eine Einladung – wie ich sie deutete, zu einem Duell. Solche Einladungen weise ich nie zurück. Ich antwortete. Ich kam hierher – nahm meine Wohnung in einem Gasthause. Mylord sucht mich gestern Abend auf. Ich beginne in dem Tone, den Sie sich wohl werden denken können. Pardieu! er ist klug, dieser Lord! Er zeigte mir einen Brief von dem Fürsten Z***, Alphonso's Zurückberufung, meine eigene Verbannung. Er legt mir, aber mit bewundernswerther Liebenswürdigkeit, die Wahl vor zwischen Armuth und Ruin einer- und einem ehrenhaften Anspruch an Alphonso's Dankbarkeit andererseits. Und was diesen petit Monsieur anbelangt, glauben Sie, ich könnte es ruhig mit ansehen, wie mein eigenes Werkzeug sich alles dessen erfreut, was ich selbst verloren habe? Ja, noch mehr, wenn dieser junge Harpagon Alphonso's Schwiegersohn wäre – könnte der Herzog einen meinen Interessen feindseligeren Ohrenbläser haben? Um kurz zu sein, ich sah auf den ersten Blick, welchen Weg ich einzuschlagen habe. Hiernach habe ich mein Benehmen eingerichtet. Die Schwierigkeit war nur die, mich aus der Sache so herauszuziehen, wie es einem Manne › de sang et de feuVon feurigem Blute. geziemte. Ist mir dies gelungen, so wünschen Sie mir Glück. Alphonso hat meine Hand genommen, und ich überlasse es jetzt ihm – mich wieder flott zu machen und meinen Ruf wieder zu klären.«

»Wenn Sie nach London gehen,« sagte Levy, »mein Wagen wird gleich da sein, und ich bin stolz, Ihnen einen Platz anbieten zu können und Ihre Aussichten mit Ihnen zu besprechen. Aber, peste! mon cher, Ihr Fall geschah von einer beträchtlichen Höhe herunter, und jeder Andere würde die Glieder gebrochen haben.«

»Die Kraft ist immer leicht,« sagte der Graf lächelnd, »und sie fällt nicht; sie springt herunter und schnellt wieder auf.«

Levy blickte auf den Grafen und tadelte sich daß er Peschiera unter- und Randal überschätzt hatte.

Während diese Unterredung vor sich ging, befand sich Harley an Violanten's Seite.

»Ich habe Ihnen mein Versprechen gehalten,« sagte er mit demüthiger Zärtlichkeit. »Sind Sie noch immer so strenge gegen mich?«

»Ah!« antwortete Violante, mit dem ganzen Stolze des Weibes in den beredten, bewundernden Augen auf sein edles Antlitz blickend, »ich habe von Mr. Dale gehört, daß Sie über sich selbst einen Sieg errungen haben, der mich beschämt, wenn ich denke, daß ich mir anmaßte, zu zweifeln, wie Ihr Herz sprechen würde, sobald ein Augenblick des Zorns, so gerecht der Zorn war, vorübergegangen sein würde.«

»Nein, Violante – entlassen Sie mich noch nicht; seien Sie Zeuge meiner Sache (denn ich habe ihr noch nicht entsagt), und dann gestatten Sie meinem Herzen, zu sprechen, und hören Sie seine Bitte, daß die Engelsstimme, deren Laute es jetzt höher schlagen machen, fortan sein warnender Schutzgeist sein möge.«

»Was ist das?« rief eine erstaunte Stimme, sich umwendend, bemerkte, daß der Herzog an seiner Seite stand und in komischer Ueberraschung bald Harley, bald Violante ansah. »Soll dies heißen, daß Sie –«

»Daß ich Ihnen einen Bewerber um diese theure Hand vom Halse schaffte, um selbst der Bittsteller zu werden!«

» Corpo di Bacco!« rief der Weise, Harley beinahe umarmend, »das nenne ich eine freudige Neuigkeit. Aber ich darf nicht zum zweiten Male einen übereilten Bescheid geben – nicht zum zweitem Male der Neigung meines Kindes Zwang anthun. Und Sie sehen, Violante ist im Begriffe, davon zu laufen.«

Der Herzog streckte seinen Arm aus und hielt sein Kind zurück. Er zog sie an sein Herz und flüsterte ihr in das Ohr. Violanten's Antlitz erglühte, und sie verbarg ihren Kopf an seiner Schulter. Harley drängte sich eifrig herzu.

»Hier,« sagte der Herzog, Harley's Hand mit der seiner Tochter vereinigend. »Von dem Kloster werde ich jetzt wohl nichts mehr hören müssen; aber etwas Derartiges habe ich nie geahnt. Wenn in der Welt eine Sprache existirt, für die es kein Wörterbuch und keine Grammatik gibt, so ist es diejenige, in welcher ein Weib denkt, aber nie spricht.«

»Es ist alles, was von der Sprache, die in dem Paradiese gesprochen worden, noch übrig geblieben ist,« sagte Harley.

»Bei der Unterredung zwischen Eva und der Schlange – ja,« versetzte der unverbesserliche Weise. »Aber wer kommt hier? – unser Freund Leonard.«

Leonard trat ein; aber Harley konnte ihn kaum begrüßen, als er von dem Grafen unterbrochen wurde.

»Mylord,« sagte er, ihm bei Seite winkend, »ich habe mein Versprechen erfüllt, und ich will jetzt Ihr Dach verlassen. Baron Levy geht nach London zurück und bietet mir einen Platz in seinem Wagen an, der, so viel ich weiß, bereits vor der Thüre steht. Der Herzog und seine Tochter werden mir gerne verzeihen, wenn ich ihnen nicht in aller Form Lebewohl sage. Bei unseren veränderten Stellungen ziemt es mir nicht, in Geltendmachung der verwandtschaftlichen Bande allzu aufdringlich zu werden; es ziemte mir nur, eine Schranke gegen jede solche Geltendmachung zu entfernen, und ich hoffe, es ist mir dies gelungen; erfreut sich mein Verhalten Ihres Beifalls, so wollen Sie dem Herzog Ihre Ansicht kund thun.«

Mit einer tiefen Verbeugung wandte sich Peschiera der Thüre zu, und Harley versuchte nicht, ihn zurück zu halten, sondern begleitete ihn mit höflicher Förmlichkeit die Treppe hinunter.

»Vergessen Sie ja nicht, mein Lord, daß ich um nichts bitte. Anzunehmen kann ich mir gestatten. Voilà tout

Er verbeugte sich abermals mit der unnachahmlichen Grazie des alten Regime und stieg in den Reisewagen des Barons.

Levy, der langsam nachgekommen war, blieb stehen, um L'Estrange anzureden.

»Euer Lordschaft werden Mr. Egerton auseinandersetzen, in welchem Grade sein Adoptivsohn seine Achtung verdiente, und wie er seine Liebe lohnte. Im Uebrigen fürchte ich, daß, obwohl Sie die dringenderen und nächsten Forderungen an Mr. Egerton aufgekauft haben, selbst Ihr Vermögen nicht im Stande sein wird, alle die Verbindlichkeiten zu tilgen, welche ihn vielleicht zu einem armen Manne machen werden.«

»Baron Levy,« sagte Harley abgebrochen, »wenn ich Mr. Egerton verziehen habe, können Sie ihm nicht gleichfalls verzeihen? Er hat mich gekränkt – Sie haben ihn gekränkt, und zwar in ganz anderer, schändlicher Weise.«

»Nein, mein Lord, ich kann ihm nicht verzeihen. Sie hat er nie gedemüthigt – Sie hat er nie zu Befriedigung seiner Bedürfnisse verwendet und von seiner Gesellschaft verächtlich ausgeschlossen. Sie haben nie erfahren, was es heißt, den ersten Schritt in das Leben mit einem Manne zu thun, der an Vermögen Ihnen gleich und an Talenten nicht überlegen ist. Sehen Sie, Lord L'Estrange, ungeachtet des zwischen mir und Egerton bestehenden Unterschiedes, daß er den ohne Anstrengung erworbenen Reichthum verschleudert hat, während ich aus den Thorheiten Anderer ein reiches Einkommen für mich selbst gezogen habe – ungeachtet dieses Unterschieds genießt der Verschwender in seiner Dürftigkeit eine Achtung, und eine Stellung, die mir nicht Millionen zu verschaffen vermögen. Sie werden mir entgegenhalten, ich sei ein Wucherer und er ein Staatsmann. Aber können Sie wissen, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht als der natürliche Sohn eines Peers das Licht der Welt erblickt hätte? Können Sie auch nur ahnen, was aus mir geworden wäre, wenn ich Nora Avenel zur Gattin gehabt hätte? Der Flecken auf meiner Geburt und die Vergiftung meiner Jugend – und das Bewußtsein, daß er, der mit jedem Jahr höher stieg in dem Range, welcher ihn berechtigte, mich als Gast von seiner Tafel zurückzuweisen – daß er, den die Welt das Muster eines Gentlemans nannte, ein Feigling und ein Lügner gegen den Freund seiner Jugend war – alles dies machte mich mit Geringschätzung auf die Welt blicken; und während ich Audley Egerton verachtete, haßte und beneidete ich ihn. Sie, den er kränkte, strecken Ihre Hand nach wie vor dem großen Staatsmann entgegen; vor meiner Berührung würden Sie als verunreinigend zurückbeben. Mein Lord, Sie mögen ihm verzeihen, den Sie lieben und bemitleiden; ich kann demjenigen nicht verzeihen, den ich verachte und beneide. Entschuldigen Sie meine Weitschweifigkeit. Ich verlasse jetzt Ihr Haus.«

Der Baron ging einen Schritt vorwärts, dann wandte er sich um und sagte mit stechendem Hohne:

»Sie werden doch Mr. Egerton erzählen, wie ich den Sohn, den er an Kindesstatt angenommen, bloßstellen half! Ich dachte an den kinderlosen Mann, als sich Eure Lordschaft einbildete, ich fürchte nur Ihre Drohungen! Ha! ha! – das wird den wunden Fleck treffen!«

Der Baron knirschte mit den Zähnen, als er, hastig in den Wagen steigend, die Vorhänge herunter ließ – die Postillone knallten mit ihren Peitschen, und die Räder rollten davon.

»Wer kann sagen,« dachte Harley, »auf welchen Wegen die Vergeltung den Menschen erreicht? Dieser Mann ist in seinem Reichthum gezüchtigt – fortwährend gequält von dem Wunsche nach etwas, das ihm sein Reichthum nicht erkaufen kann!«

Er raffte sich auf, strich sich über die Stirne, als wolle er einen Gedanken, der ihn düster und unruhig stimmte, entfernen, und trat wieder in den Salon. Hier legte er die Hand auf Leonard's Schulter und blickte heiter in die milden, ehrlichen, leuchtenden Augen des Dichters.

»Leonard,« sagte er sanft, »Ihre Stunde ist endlich gekommen.«


Vierunddreißigstes Kapitel.

Audley Egerton war allein in seinem Zimmer. Kurz nachdem Harley und Randal am frühen Morgen das Haus verlassen hatten, bemächtigte sich seiner ein tiefer Schlaf, welcher den ganzen Tag über anhielt. Während dieser ganzen Zeit hatte sich die Stadt Lansmere mit ihm beschäftigt – während dieser ganzen Zeit waren so viele wilde Leidenschaften Sturm gelaufen in dem Kampfe, welcher darüber entschied, ob die Januspforten Die beiden Tore des Janus-Tempels im alten Rom waren in Kriegszeiten stets geöffnet. des politischen Krieges sich für den Ehrgeiz des Staatsmannes schließen oder wieder öffnen sollten – und der Gegenstand so vieler Befürchtungen und Hoffnungen, so vieler Entwürfe und Gegenentwürfe, hatte tief geschlummert wie ein Kind in der Wiege. Er erwachte gerade zu rechter Zeit, um Harley's Botschaft zu empfangen, welche ihm den glücklichen Ausgang der Wahl unter dem Anfügen meldete:

»Vor Einbruch der Nacht sollst du deinen Sohn umarmen. Suche uns nicht auf, wenn ich zurückkehre. Halte dich ruhig – wir wollen zu dir kommen.«

Ohne die gefährliche Beschaffenheit von Audley's Leiden und die warnenden Symptome zu kennen, hatte Lord L'Estrange seinem Freunde den Auftritt von Randal's Entlarvung ersparen wollen.

Bei Empfang dieser Zeilen erhob sich Egerton. Die Aussicht, seinen Sohn – Nora's Sohn – zu sehen, löschte jede Erinnerung an seine Krankheit aus. Das arme, müde, überarbeitete Herz schlug laut, oft von krampfhaften Stichen unterbrochen. Er achtete es nicht. Der Reiz, welcher ihn zu der einzigen, bisher von ihm noch werth gehaltenen Art der Lebensweise zurückführte, ward rein vergessen. Die Natur forderte ihre Rechte – forderte sie unbekümmert um Tod oder um Ruhm.

Da saß der Staatsmann, mit seiner gewohnten Pünktlichkeit gekleidet; der schwarze Rock über der breiten Brust zugeknöpft; sein Gesicht mechanisch in die Falten ruhiger Selbstbeherrschung gelegt, und ohne äußerliche Zeichen großer Erregung, obwohl von Zeit zu Zeit ein krankhaftes Roth die eherne Wange färbte, und das Auge den Zeiger der Uhr verfolgte, und das Ohr nach einem Fußtritt im Gange draußen hungerte.

Endlich wurde der Ton gehört – Tritte – viele Tritte. Er sprang auf – er stand an dem Herde. Sollte der Herd kein einsamer mehr sein? Harley trat zuerst ein. Egerton's Augen hafteten einen Augenblick erwartungsvoll auf ihm, dann flogen sie weiter über die Schwelle hinweg. Nach Harley kam Leonard – Leonard Fairfield, – den er als seinen Gegner gesehen hatte! Er begann, zu ahnen – zu vermuthen – der Mutter zärtliche Augen in des Sohnes männlichem Gesichte zu erblicken. Unwillkürlich öffnete er die Arme, als aber Leonard ruhig stehen blieb, ließ er sie mit einem tiefen Seufzer wieder sinken und glaubte, sich getäuscht zu haben.

»Freund,« sagte Harley. »Ich gebe dir einen Sohn, der in Widerwärtigkeiten geprüft ist und sich den Weg zum Ruhme selbst erkämpft hat. Leonard, in dem Manne, dem ich Sie Ihren eigenen Ehrgeiz zu opfern bat – von dem Sie mit so anerkennenswertestem Lobe sprachen – dessen Laufbahn der Ehre Sie förderten – und dessen, von allen Auszeichnungen unbefriedigt gebliebenes Leben Sie durch Ihre kindliche Liebe versüßen werden – sehen Sie den Gatten Nora Avenel's! Beugen Sie das Knie vor Ihrem Vater! O Audley, umarme deinen Sohn!«

»Hierher – hierher!« rief Egerton, als Leonard sein Knie beugte. »Hierher an mein Herz! Sieh' mich an mit diesen Augen! – freundlich, verzeihend; es sind deiner Mutter Augen!«

Sein stolzes Haupt sank auf seines Sohnes Schulter.

»Aber damit ist es noch nicht genug,« sagte Harley, indem er Helene herbeiführte und an Leonard's Seite stellte. »Du mußt dein Herz noch für mehr öffnen. In seinen Kammern gib meiner holden Mündel und Tochter ein Plätzchen. Was ist eine Heimath ohne das Lächeln eines Weibes? Sie haben sich von Kindheit auf geliebt. Audley, deine Hand sei es, die sie vereinige – deine Lippen seien es, die sie segnen.«

Leonard war ängstlich betroffen.

»O Sir! – mein Vater! – dieses großmüthige Opfer darf nicht geschehen. Denn er – er, der mich diese überschwängliche Freude erleben ließ – er liebt sie gleichfalls!«

»Nicht doch, Leonard,« sagte Harley lächelnd, »ich habe mich nicht vergessen. Noch eine Heimath verlangt nach dir, Audley. Er, den du so lange vergeblich zu bestimmen suchtest, sich mit dem Leben wieder auszusöhnen und schwermüthige Träume mit beglückenden Pflichten zu vertauschen – auch er stellt dir seine Braut vor. Liebe sie um meinetwillen – um deiner selbst willen. Ihr Werk, nicht das meinige ist diese heilige Wiedervereinigung. Ohne sie wäre ich ein verblendeter, rachgieriger, schuldiger, von Reue gequälter Mann gewesen; und –«

Violanten's weiche Hand war auf seinen Lippen.

»So findet der Mensch,« sagte der Pfarrer mild und feierlich, »daß des Erlösers Gebot: ›Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen‹ und ›Liebet einander‹ die Fäden sind, welche uns durch das Labyrinth des menschlichen Lebens führen, wenn die Anschläge des Hasses und der Finsterniß mißlingen und uns in dem Irrgewinde hülflos stehen lassen.«

Egerton erhob das Haupt und schien antworten zu wollen. Aber über seine Züge war eine plötzliche Veränderung gekommen, die alle Anwesenden mit Schrecken bemerkten. Seine Augen waren verschwommen; die Worte versagten seinen Lippen – er sank auf einen Stuhl nieder. Die linke Hand ruhte auf Stößen von Akten und amtlichen Papieren, und die Finger spielten mit denselben, wie der sterbende Dulder mit der Bettdecke spielt, die er bald mit dem Sterbehemd vertauschen wird. Aber seine rechte Hand tastete suchend nach dem wiedergefundenen Sohne, und als sie gefunden, was sie suchte, zog er Leonard leise näher und näher.

Ach! das glückliche Privatleben – dieser geheime Mittelpunkt jedes menschlichen Herzens – das so lange vermißt und ersehnt worden – entschlüpfte seinen Händen in dem Augenblicke, da es wieder erschien, eilte fort, wie die Kreise auf dem Wasser, die, kaum erblickt, in dem Unendlichen verschwinden. Mit Einem Male wurden beide Hände ruhig; das Haupt fiel zurück. Die Freude hatte die letzten Bande zerrissen, welche längst in verborgenem Kummer mürbe geworden waren.

Von Ferne verkündete Freudengeläute Triumph, und der Schall drang in das Zimmer herein; draußen brüllte der Pöbel seine Hurrah's; John Avenel's Stimme mischte sich vielleicht in das Geschrei, als die trunkenen Eiferer an seinem Hause vorbeitaumelten und die krächzenden Raben aufscheuchten, die um die hohle Eiche herumflatterten. Der sprudelnde Schaum, der auf der Oberfläche des Lebens tanzt, während unten die Wellen geräuschlos dahinziehen, wurde von der winterlichen Luft nach dem Zimmer des Staatsmannes, dessen Triumph man feierte, und über das Gras hin getragen, welches um Nora Avenel's Grab seine Weisen flüsterte.

Aber für die Bewohner des Zimmers und des Grabes hatten die schäumenden Wellen keinen Klang und die Strömung in der Tiefe keine Fluth. Inmitten der Verheißungen einer Heimath, einer glücklichen Vereinigung des Friedens und des Ruhms brach der Tod herein, um sich ruhig und still mit dem Aussehen des Lebens niederzulassen. Warme Herzen klopften um ihn her; große Hoffnungen flogen aufwärts; die Liebe kniete zu seinen Füßen, die Religion mit erhobenem Finger stand an seiner Seite.


Schlußkapitel.

Schauplatz. – Die Halle in dem alten Thurm
des Kapitän Roland Caxton.

» Du bist aber noch nicht fertig?« sagte Augustin Caxton.

Pisistratus. – »Was fehlt denn noch?«

Mr. Caxton. – »Was noch fehlt? – nun, das Schlußkapitel! – Die letzten Nachrichten, soweit du welche geben kannst, über die Personen, die du theils zu unserer Freude, theils zum abschreckenden Beispiel uns vorgeführt hast.«

Pisistratus. – »Es ist gewiß dramatischer, das Werk mit einer Scene enden zu lassen, in welcher der Grundgedanke desselben zu einem Abschlusse gelangt, und es der prophetischen Einbildungskraft Aller, deren schmeichelhafte Neugierde damit noch nicht ganz befriedigt ist, anheimzugeben, welche weitere Schicksale sich an die einzelnen Existenzen knüpfen werden, wenn sie sich wieder von dem See abzweigen, in welchen ihre Wasser zusammenfließen nach dem alten, von Neuem bestätigten Satze der Sibylle, daß die Handlungen der Menschen durch das Verhängniß bestimmt werden.«

Mr. Caxton. – »Dramatischer – das gebe ich zu; aber du hast kein Drama geschrieben. Ein Novellist muß ein behaglicher, geschwätziger, mittheilsamer, plaudernder Schicksalsverkündiger sein, nicht eine grimmige, lakonische, orakelfeste Sibylle. Ich habe es gerne, wenn für die Ausstattung einer Novelle die altmodischen Regeln der Meister zum Vorbild genommen werden, besonders für eine Novelle, welcher du mit Emphase den Titel ›Meine Novelle‹ gibst.«

Kapitän Roland. – »Ein höchst unbestimmter und unpraktischer Titel: ›Meine Novelle‹. Er muß geändert werden, ehe das Werk in der gehörigen Form vor die Oeffentlichkeit tritt.«

Mr. Squills. – »Allerdings kann der gegenwärtige Titel von Vielen nicht einmal ausgesprochen werden, ohne daß sie ihr ganzes Nervensystem erschüttern. Glauben Sie zum Beispiel, daß meine Freundin Lady Priscilla Graves, die selbst eine eifrige Novellenleserin ist, aber alle Schriftstellerinnen für unweibliche Geschöpfe und Ueberläuferinnen zu der Fahne des Mannes hält, es je über das Herz bringen könnte, zu fragen: ›Bitte, Sir, haben Sie Zeit gehabt, einen Blick in – Meine Novelle zu thun?‹ Lieber würde sie sterben. Und doch würde es Mylady in dem Gebrauche ihrer Sprachorgane wesentlich beeinträchtigen, wenn sie über die jüngste Erwerbung der Leihbibliotheken Stillschweigen beobachten sollte. Oder wie könnte die hübsche Miß Dulcet, die aus lauter Gefühl, aber ebenso auch aus verschämter Schüchternheit zusammengesetzt ist, Kapitän Smirke von einem Antrage durch die Bemerkung zurückschrecken: ›Finden Sie nicht des Pfarrers Predigt in Meiner Novelle ein wenig zu trocken?‹ Es wird eine eherne Stirne oder wenigstens einen langen Gebrauch von Eisencitronat erfordern, bis eine ehrbare Dame oder ein anspruchsloser junger Gentleman, welchem die gebührende Scheu inne wohnt, für einen Schmierer gehalten zu werden, einen geselligen Kreis durch die Aeußerung elektrisirt: ›die Kritiker lassen den vortrefflichen Gedanken in – Meiner Novelle keine Gerechtigkeit widerfahren.‹«

Kapitän Roland. – »Ernst können allerdings die Folgen der Verwechslungen sein, zu welchen ein solcher Titel Veranlassung gibt. Da ist zum Beispiel der Advokat Digwell nicht blos ein Mann des Gesetzes, sondern auch ein Freund guter Literatur, dessen Laufbahn vor den Schranken des Gerichtes durch den ungerechten Argwohn der Attorney's Staatsanwälte., als habe er eine ›philosophische Abhandlung‹ geschrieben, einen langen Stillstand erfuhr. Stellen Sie sich vor, ein solcher Mann entschuldigt seine Verspätung bei einem Diner der großen Perrücken mit den Worten: ›Ich konnte mich nicht von – Meiner Novelle losreißen.‹ Er wäre geschäftlich zu Grunde gerichtet! Ich bin im Allgemeinen durchaus nicht für die Advokaten eingenommen, aber ich möchte doch nicht Leuten mit Familie das Brod vor dem Munde wegnehmen helfen: und Digwell hat Kinder – schon das zehnte, ein unschuldiges Wickelkind.«

Mr. Caxton. – »Was Digwell im Besonderen und die Advokaten im Allgemeinen anbelangt, so sind sie an Umschreibung zu sehr gewöhnt, um sich der Gefahr auszusetzen, welche dein liebevolles Herz befürchtet; aber ich räume ein, daß ein schüchterner Gelehrter, wie ich, oder ein ernsthafter Lehrer ein klein wenig roth werden könnte, wenn ihm aus Versehen die Worte entschlüpfen würden: ›Vergeudet nicht Eure Zeit mit solchem Plunder wie – Meine Novelle.‹ Und damit bietet sich uns ein anderer und angenehmer Gesichtspunkt für diese kritische Frage. Der Titel, welchen Ihr verdammt, stellt das Werk unter den Schutz des Publikums. Lebt irgendwo ein Mann oder eine Frau, welche sich der Selbstliebe so sehr entäußert haben, daß sie sagen würden: ›Welch elendes Zeug ist doch – Meine Novelle?‹ Ist es nicht wahrscheinlicher, daß er oder sie dem Drange eines achtungswerthen und tugendhaften Herzens, sich mit seinen Freunden so gut wie möglich zu stellen, nachgeben und sagen würde: ›Man muß zugeben, daß da und dort etwas wirklich Gutes in – Meiner Novelle ist.‹ Da ferner die Novelle es sich zur Aufgabe macht, die meisten Interessen oder Leidenschaften, welche das Menschengeschlecht bewegen, in Thätigkeit zu setzen, die Einzelheiten des Lebens, welche bei uns Allen wiederkehren, zu generalisiren, so besagt der Titel in Wirklichkeit, das Werk müsse, wenn der Verfasser es nicht mit Unrecht seine Novelle nennt, von der Art sein, daß jeder Leser ohne Unterschied Eigenthumsansprüche darauf erheben könnte, weil es seine eigenen Ideen ausdrückt, seine eigenen Erfahrungen darstellt – überhaupt, wenn auch nicht en façe, doch wenigstens im Profil sein eigenes Ich wiedergibt. Es ist gerade, wie wenn wir in dem Zimmer eines Andern in den Spiegel sehen: unser Bild eignet sich für den Augenblick den Spiegel an, und je nach unserer Stimmung oder unserem geistigen und leiblichen Befinden sagen wir zu uns selbst: ›Grün und gelb! es wird gut sein, wenn ich mehr diät lebe!‹ oder: ›Ei, ich hätte halb und halb Lust, der hübschen Jane einen Antrag zu machen; ich bin kein so übler Bursche, wie ich glaubte!‹ Was wir auch in dem Spiegel erblicken mögen, wir zweifeln nie, daß es unser Bild ist, was wir sahen, und Jeder sagt zu dem gespenstischen Wiederschein: ›das bin ich,‹ obgleich das Stück Möbel, welches den Wiederschein zurückwirft, einem Andern gehört. Es ist mein Bild, wenn auch das Glas sein ist. Und eine Erzählung, welche die Wechselbilder des Lebens treu zeichnet, ist Jedermanns Novelle, gleichviel, von welchen Küsten, aus welchen Flüssen, aus welchen Buchten, aus welchen Schachten der Sand und der Kiesel, die Pottasche, der Salpeter und das Quecksilber, welche deren Bestandteile bilden, genommen sind, gleichviel, welcher Arbeiter die Form herstellte, gleichviel, welcher Verkäufer sie feil bot, oder welcher Käufer sie ihm abnahm – wenn ich nur einen einzigen Zug von mir darin erkenne, so ist es mein Abbild, welches sie zu ›Meiner Novelle‹ macht.«

Mr. Squills (verdutzt und deßhalb voll Bewunderung). – »Fein, Sir – sehr fein. Ein prächtiges Vergleichungsorgan in Mr. Caxton's Kopf, und heute Abend viel in Anspruch genommen.«

Mr. Caxton (wohlwollend). – »Endlich erspart der Verfasser mit diesem höchst bewunderungswürdigen und sehr bezeichnenden Titel jede Vorrede. Er braucht auf keine Verdienste hinzudeuten – keine Fehler zu mildern; denn indem er sein Werk kurzweg ›Meine Novelle‹ nennt, gibt er zart zu verstehen, daß ein müssiges Geschwätz über Fehler und Verdienste zu nichts führen würde.

Pisistratus (erstaunt). – »Wie meinst du das?«

Mr. Caxton. – »Was ist klarer? du gibst zu verstehen, daß, wenn auch Andere bessere Novellen geschrieben haben mögen, doch du keine zu schreiben erwartest, welcher, als Novelle betrachtet, du mit größerer Bestimmtheit und mit besserem Gewissen das Gepräge der persönlichen Autorschaft und Identität aufdrücken konntest, wie dies durch das einzige Wort › Meiner‹ geschieht. Und wenn du nach bestem Wissen geschrieben hast, mag es noch so schlecht sein, was kann dann ein redlicher und billiger Mann mehr von dir verlangen?Vielleicht wirst du sagen, wenn du zweitausend Jahre früher gelebt hättest, so würdest du sie › Die Novelle‹ oder ›die Goldene Novelle‹ genannt haben, wie Lucius seine Geschichte ›Den Esel‹, und Apulejus, um seinen ausgefeilteren Esel von allen vorhergehenden Eseln zu unterscheiden, seine Erzählung den ›Goldenen Esel‹ nannte. Allein heut zu Tage wäre eine derartige Bezeichnung, welche ein Verdienst im Allgemeinen, nicht das theilweise und beschränkte, nur deinen individuellen Fähigkeiten entsprechenden Verdienst in sich schließt, anmaßend und anstößig. Es ist ganz richtig – und ich komme damit einer Einwendung zuvor, die, wie ich sehe, Squills zu machen im Begriffe steht.«

Squills. – »Ich, Sir?«

Mr. Caxton. – »Sie wollten bemerken, daß, so gut Scarron Paul Scarron (1610-1660), französischer Schriftsteller; Le Roman comique (2 Bde, 1651 und 1657) ist ein unvollendet gebliebener burlesker Roman. seinen Roman die ›Komische Novelle‹ nannte, ebensogut Pisistratus den seinigen ›die Ernste Novelle‹ oder die ›Tragische Novelle‹ hätte nennen können. Aber, Squills, dieser Titel wäre weder einladend, noch passend und einer Vergleichung mit Scarron ausgesetzt gewesen, der, weil todt, unnachahmlich ist. Mithin, um die Frage auf die nicht umzustoßende Grundlage der Mathematik zurückzuführen – mithin, da a b ›Meine Novelle‹ nicht gleich b c der ›Goldenen Novelle‹, und ebensowenig gleich d e der ›Ernsten Novelle‹ oder ›Tragischen Novelle‹ ist, so folgt hieraus, daß a b ›Meine Novelle‹ gleich P C ›Pisistratus Caxton‹ ist, und also muß P C ›Pisistratus Caxton‹ sein gleich – nicht mehr und nicht weniger, als a b ›Meine Novelle‹, quod erat demonstrandum

Mein Vater sah sich triumphirend um; und als er bemerkte, daß er Squills verstummen und auch seine übrige Zuhörerschaft um eine Erwiderung verlegen gemacht hatte, fügte er mild hinzu:

»Und so, non quieta movere, gehe zu deinem Schlußkapitel über und sage uns zuerst: was wurde aus diesem jungen Giles Overreach Hauptfigur und Schurke in dem äußerst populären englischen Drama A New Way to Pay Old Debts (1625) von Philip Massinger. Jack Marall ist in dem Stück der Anwalt., welcher sein eigener Marrall war?«

»Ja,« sagte der Kapitän, »was wurde aus Randal Leslie? Hat er bereut und sich gebessert?«

»Nein,« bemerkte mein Vater mit einem kummervollen Kopfschütteln. »Man kann die warme Fluth wilder Leidenschaft regeln – man kann dunkle Verirrungen der Unwissenheit in die lichte Bahn der Tugend lenken; aber wo die Gewaltigkeit des Gehirns nur ein Hemmschuh ist für die unbeengte Thätigkeit des Herzens – wo man es nicht mit irre geleiteter Unwissenheit, sondern mit einem verdorbenen Verstande zu thun hat, da ist wenig Hoffnung auf Besserung; denn zur Besserung bedarf es in diesem Falle einer völligen Umwandlung. Ich habe irgendwo gelesen (vielleicht in einer hebräischen Tradition), daß von den beiden Klassen gefallener Engel – den Engeln der Liebe und den Engeln des Wissens – die Ersteren die verlorenen Sterne vermißten und einer um den anderen durch das Dunkel hindurch in den Himmel zurückwanderten, die Letzteren dagegen, von ihrem eigenen düsteren Glanze beleuchtet, sagten: ›Wohin wir gehen, da ist der Himmel!‹ und, immer tiefer und tiefer herabsteigend, ihre Gestalt und ihr Wesen verloren, bis sie, entstellt und unzüchtig, von dem bodenlosen Abgrund verschlungen wurden.«

Mr. Squills. – »Ich hätte nicht gedacht, Mr. Caxton, daß ein Büchermann, wie Sie, gegen das Wissen so strenge wäre.«

Mr. Caxton (aufbrausend). – »Strenge gegen das Wissen! O Squills – Squills – Squills! Begehrtes Wissen ist kein Wissen mehr. Der Essig, der, an die Sonne gesetzte kleine Schlangen, oder im besten Falle, schleimige ungenießbare Aale erzeugt, war einstmals Wein. Wenn ich zu meinen Enkeln sage: ›Trinkt nicht dieses saure Zeug, welches sogar durch die Sonne mit Gewürm angefüllt wird,‹ beweist dies, daß ich ein Feind von gesundem Sherry bin? Squills, wenn Sie eine gehörige Schulbildung genossen hätten, so würden Sie die weise Lehre kennen, ›daß die schlechtesten Dinge nur verdorbene Exemplare von solchen sind, die ursprünglich bestimmt waren, die besten zu werden.‹ Hat nicht Freiheit die Anarchie, Religion den Fanatismus geboren? Und wenn ich Marat Siehe Anm. 118. wegen seines Blutdurstes oder Dominikus wegen der Folterung von Ketzern tadle, heißt dies strenge sein gegen die Religion, welche einen Franz von Sales heilig sprach, oder gegen die Freiheit, welche einen Thrasybul Thrasybulos (um 440-388 v.u.Z.), ein attischer Stratege, der im Peloponnesischen Krieg gegen Sparta für die Wiederherstellung der Demokratie kämpfte. unsterblich machte?«

Mr. Squills, der eine Aufzählung sämmtlicher Kalenderheiligen und einen Auszug aus der alten Geschichte fürchtet, ruft hastig: »Genug, Sir – Sie haben mich überzeugt.«

Mr. Caxton. – »Ueberdies erschien es mir als ein charakteristisch künstlerischer Zug von Pisistratus, daß er Randal Leslie auf seinem Wege zu vollständiger Fäulniß eines ungesund ausgebildeten Verstandes keinem jener heilsamen Einflüsse begegnen läßt, welche einer egoistischen Richtung des Ehrgeizes vorbeugen. Weder in der ungeordneten Wirtschaft seines heimatlichen Hauses, noch von dem Lehrer der klassischen Fächer an seiner Vorbereitungsschule hat er, wie es scheint, irgend welche religiöse oder sittliche Wahrheiten gelernt, die neuen Schößlingen Saft geben könnten, nachdem der erste üppige Wuchs unter dem Messer gefallen war. Namentlich habe ich – und es dient dies wesentlich zum Verständnisse Egerton's und Randal's – bemerkt, daß zwar die Rathschläge, welche der Staatsmann seinem protégé mittelst gelegentlicher Winke ertheilte, in ihrer Art Weltklugheit enthielten und die Ehre als das passendste Glaubensbekenntniß eines Gentleman bezeichneten, daß sie aber nicht geeignet waren, auf einen so schlauen Denker, wie Randal, viel Eindruck zu machen, da ihn nicht einmal der Spielplatz in Eton von seiner trockenen Selbstsucht, welcher als Ziel des Wissens nur die Macht vorschwebte, geheilt hatte. Männern wie Audley und Randal – der eine von Leidenschaften heimgesucht, der andere durch seinen kalten, spitzfindigen Geist zum Betruge verlockt – gewährt der schöne Spruch: ›Vergiß nie, als ein Gentleman zu handeln!‹ einen ärmlichen Schutz. Solche moralische Verbrämungen geben eine hübsche Schürze zu einer Rüstung; allein sie sind nicht die Rüstung selbst! Zehn Uhr – so wahr ich lebe – spute dich, Pisistratus! Und beende das Kapitel.«

Mrs. Caxton (wohlwollend). »Aber nicht gar zu rasch. Beginne, da es dein Vater wünscht, mit diesem verhaßten Randal Leslie; allein es sind noch Andere da, von welchen Blanche und ich lieber hören möchten.«

Pisistratus bringt jetzt, da er keinen anderen Ausweg sieht, ein Ergänzungsmanuscript zum Vorschein – ein Beweis, daß er, worin auch seine Zweifel hinsichtlich der künstlerischen Wirkung eines Schlußkapitels bestehen mögen, vorausgesehen hat, seine Zuhörerschaft werde sich ohne ein solches nicht zufrieden geben.


In später Mittagsstunde den Tag, nachdem er Lansmere Park verlassen hatte, kam Randal Leslie zu Fuß in seines Vaters Hause an. Er war den ganzen Weg gegangen, selbst in der Einsamkeit der Mitternacht, aber er fühlte keine Ermüdung, bis ihn die trübselige Heimath mit ihrer hoffnungslosen, erniedrigenden Armuth umfing; und dann sank er zu Boden – eine Ruine unter Ruinen. Er theilte seinen Angehörigen nicht mit, was vorgefallen war. Niemand war da, dem der Unglückliche hätte vertrauen, oder von dem er die Wahrheiten, welche in der Reue Trost bieten, hätte vernehmen können.

Nachdem er einige Wochen in beinahe unausgesetztem, verdrossenem Stillschweigen zugebracht hatte, entfernte er sich eben so plötzlich, wie er erschienen war, und ging nach London zurück.

Der jähe Tod eines Mannes, wie Egerton, hatte sogar in diesen aufgeregten Zeiten bedeutendes, obwohl kurzes Aufsehen erregt. Die in den Provinzialblättern gegebenen ausführlichen Beschreibungen der Wahl waren in Londoner Zeitungen übergegangen; darunter eine Beleuchtung von Randal Leslie's Benehmen in dem Comitezimmer, und es fehlte nicht an manchem entrüsteten Kommentare über Selbstsucht und Undankbarkeit.

Die politische Welt aller Parteien fällte über den armen Untergebenen des großen Mannes eines jener Urtheile, welche dem Charakter eines ehrgeizigen jungen Mannes einen Mackel aufdrücken und dessen Laufbahn einen Riegel vorschieben. Einflußreiche Peinlichkeiten, die Randal früher um Audley's willen beachtet hatten und, als sie bald darauf wieder zur Macht gelangten, ihm günstige Aussichten hätten eröffnen können, gingen auf der Straße ohne ein Kopfnicken an ihm vorüber. Er wagte es nicht, Avenel an sein Versprechen zu erinnern und ihn um seine Hülfe bei einer zweiten Wahl für Lansmere zu bitten; eben so wenig dachte er daran, in die durch Egerton's Tod erledigte Stelle einzurücken. Er war zu schlau, um nicht einzusehen, daß in diesem Wahlbezirke für ihn keine Hoffnung mehr war. Er wäre in den Straßen ausgepfiffen und von den Wahltribünen herunter geworfen worden.

Ausgestoßen, wie einst Leonard, von der ungeheuern Metropole lehnte er jetzt gleichfalls an jener Brücke und starrte in den erbarmungslosen Fluß. Er hatte weder Geld, noch Verbindungen – nichts, als Talente und Kenntnisse, um sich den Eintritt in jene glänzende Welt wieder zu erzwingen, in der ihm einst alles gelächelt hatte; und Talente und Kenntnisse, welche zur Benachtheiligung eines Wohlthäters gedient hatten, machten ihn nur noch verachteter.

Aber das Glück, welches dem armen Erben von Rood so zahlreiche und bleibende Vorzüge, um die er sich selbst betrog, verliehen hatte, wollte ihm selbst jetzt noch wohl, indem es ihm, für den Augenblick wenigstens, Unabhängigkeit und die Möglichkeit sicherte, mittelst ausdauernder, harter Arbeit, wenn auch nicht die höchsten Aemter, doch jedenfalls eine Stellung zu erringen, in welcher er die Welt hätte zwingen können, auf seine Erklärungen zu hören und vielleicht seine Entschuldigungen anzunehmen. Die von Audley für ihn bestimmten fünf tausend Pfund, deren Rettung aus den Krallen des Gesetzes der Staatsmann in einem besonderen Briefe Harley an das Herz gelegt hatte, wurden ihm durch den Anwalt des Letzteren eingehändigt; diese Summe erschien ihm aber nach dem Verluste solch' glänzender Hoffnungen so klein und der Weg bergan nach solchen Sprüngen zur Macht so langsam, daß er das unerwartete Vermächtniß einfach zum Vorwande nahm, um gar keinen Beruf zu wählen.

Auf das Schmerzlichste berührt durch den Gegensatz zwischen einst und jetzt eilte er in das Ausland, wo der den gewöhnlichen Vergnügungen der Jugend sonst so abgestorbene Randal Leslie – sei es, um sich zu zerstreuen, oder weil sein rastloser Verstand neugierig war, den Werth von bis jetzt nicht versuchten Dingen zu erforschen – sich in die Gesellschaft von heruntergekommenen Spielern und Roués dritter Klasse begab. In dieser Kameradschaft arteten seine Talente nach und nach aus, und deren Benützung zu niedrigen Intriguen und erbärmlichen Anschlägen würdigten auch seinen sozialen Charakter herab, bis er, Stufe um Stufe zugleich mit dem Abnehmen seiner Mittel sinkend, zuletzt aus jener Sphäre verschwand, in welcher selbst das Lasterhafte sich an die Gewohnheiten und an die Kaste der Gentlemen klammert.

Sein Vater starb. Das vernachlässigte Rood'sche Eigenthum ging auf Randal über; allein aus den spärlichen Einkünften desselben hatte er die Erbtheile seines Bruders und seiner Schwester, sowie das Witthum seiner Mutter zu bestreiten; der Ueberschuß war auf der Rechnung des Testamentsvollstreckers kaum sichtbar. Er hatte längst die Hoffnung, das Haus und das Vermögen seiner Vorfahren wieder herzustellen, aufgegeben. Was war die zerfallene Halle mit ihren öden, frostigen Gründen ohne diese Hoffnung, welche bisher den Trümmern und der Einöde Würde verliehen hatte?

Er ordnete von Petersburg aus den Verkauf seines Eigenthums an. Ein größerer Gutsbesitzer meldete sich nicht zu der wenig versprechenden Erwerbung; und so geschah der Verkauf an kleine Freisassen und an Gewerbsleute, die sich von ihrem Geschäfte zurückgezogen hatten. Ein Baumeister kaufte die Halle auf den Abbruch. Halle, Ländereien und Name waren aus der Karte und der Geschichte der Grafschaft gestrichen.

Die Wittwe, Oliver und Juliet zogen in die Provinzialstadt eines anderen Bezirkes. Juliet heirathete einen Fähnrich in einem Regiment, welches auf dem Marsche war, und starb an den Folgen eines vernachlässigten Wochenbettes. Mrs. Leslie überlebte sie nicht lange. Oliver vermehrte sein kleines Vermögen durch die Heirath mit der Tochter eines Kleinhändlers, der einige tausend Pfund aufgehäuft hatte. Er errichtete eine Brauerei und brachte es so weit, daß er schuldenfrei leben konnte, obgleich sein Geschäft bei seiner zahlreichen Familie und angeborenen Trägheit nur wenig Gewinn und gar keine Ersparnisse abwarf.

Von Randal hatte man seit Jahren nichts weiter gehört, als, daß er sich in Australien oder in den Vereinigten Staaten aufhalte; in welchem der beiden Länder wußte man nicht, allein man glaubte, in letzterem. Oliver, dem von Jugend auf eine hohe Verehrung für die Talente seines Bruders eingeimpft worden war, gab sich allen Ernstes dem Glauben hin, Randal werde eines Tages reich und mächtig, wie der Onkel in der Komödie, vor ihm stehen, die gesunkene Familie wieder in die Höhe bringen und die plumpen kleinen Jungen und verwilderten kleinen Mädchen, die sich jetzt mit einem, in Anbetracht der Größe des Bratens ganz unverhältnißmäßigem Appetite um Oliver's Mittagstisch schaarten, zu anmuthigen Ladies und zu vollendeten Gentlemen heranbilden lassen.

An einem Wintertage, als sich Frau und Kinder von besagtem Mittagstische zurückgezogen hatten und Oliver, sein Glas schlechten Porter schlürfend, mit wenig Befriedigung seine Rechnungen durchsah, sprang ein magerer Dachshund, der auf einer fadenscheinigen Decke bei dem spärlichen Feuer lag, auf und bellte heftig. Oliver erhob matt seine blauen Augen und sah an dem Fenster ihm gegenüber ein menschliches Antlitz; dasselbe drückte sich fest an die Scheiben; diese waren aber in Folge des kalten Reifes, der sich auf dem Glase gesammelt hatte, durch den Hauch der Lippen so sehr getrübt, daß man nur die allgemeinen Umrisse bemerken konnte.

Oliver, beunruhigt und entrüstet über dieses Auskundschaften seines Privatlebens durch einen, wie er glaubte, frechen, aufdringlichen Landstreicher, trat aus dem Zimmer, öffnete die Hausthüre und ersuchte den Fremden, seines Weges zu gehen, während der Dachshund noch ungastlicher kläffte und nach den Fersen des Fremden schnappte.

Da sprach eine heisere Stimme: »Kennst du mich nicht, Oliver? ich bin dein Bruder Randal! Ruf' deinen Hund zurück und laß mich herein.«

Oliver stierte ihn entsetzt an – er traute seinen langsamen Sinnen nicht, er konnte in der hageren, verwitterten Erscheinung vor ihm seinen Bruder nicht wieder erkennen. Zuletzt näherte er sich ihm, blickte in Randal's Gesicht, faßte, noch immer vor Erstaunen sprachlos, seine Hand und führte ihn in das kleine Wohnzimmer.

Der feine Anstand, durch welchen sich Randal früher ausgezeichnet hatte, war spurlos verschwunden. Seine Kleidung befand sich in dem letzten Stadium grünlichen Zerfalles, welches man so bezeichnend »schäbige Gentilität« nennt. Seine Miene war die eines schleichenden, ängstlichen, ausgehungerten Vagabunden. Als er seinen abgerissenen, zerrissenen Hut abnahm, verrieth er, obwohl den Jahren nach noch jung, die Merkmale eines frühzeitigen Alters. Sein Haar, einst weich wie Seide, war struppig und grau und an vielen Stellen ausgegangen; in Stirne und Gesicht waren tiefe Furchen eingegraben; noch immer lag Verstand darin, aber ein Verstand, der unwillkürlich zur Vorsicht mahnte – finster – unheimlich – drohend.

Randal schnitt alle Fragen kurz ab. Er griff nach dem Restchen Bier, welches auf dem Tische stand, und leerte es mit Einem Zuge.

»Pah,« sagte er, »hast du nichts, was einen Menschen besser wärmt, als dies?«

Oliver, der wie in einem schrecklichen Traume wandelte, ging an den Schrank und nahm eine noch dreiviertel volle Flasche Branntwein heraus. Randal streckte begierig die Hand darnach aus und setzte seine Lippen an den Rand der Flasche.

»Ah,« sagte er absetzend, »dies thut gut, jetzt gib mir etwas zu essen.«

Oliver eilte, seinen Bruder zu bedienen; er schämte sich, auch nur der schlappschuhigen Magd seinen Besuch zu zeigen. Als er mit den Vorräthen, welche die Speisekummer enthielt, zurück kam, saß Randal vor dem Feuer und hielt seine abgezehrten, knöchernen Hände, die mit den Krallen eines Geiers Aehnlichkeit hatten, über die Kohlen.

Er verschlang die ihm vorgesetzten kalten Speisen mit fürchterlicher Gefräßigkeit und trank den Inhalt der Flasche nahezu aus, aber auf sein düsteres Wesen übte dies keinen mildernden Einfluß. Oliver sah ihm ängstlich zu – der Dachshund ließ noch immer ein leises, mißtrauisches Knurren hören.

»Du möchtest meine Geschichte erfahren?« sagte Randal endlich in rauhem Tone. »Sie ist kurz. Ich habe versucht, mein Glück zu machen, und der Versuch ist fehlgeschlagen – ich bin ohne einen rothen Heller und ohne irgend welche Aussichten. Du scheinst arm – wirst mir wohl schwerlich unter die Arme greifen können. Laß mich wenigstens eine Zeitlang bei dir bleiben – ich weiß nicht, wo ich sonst ein Stückchen Brod und ein Obdach finden soll.«

Oliver brach in Thränen aus und hieß seinen Bruder herzlich willkommen. Randal blieb einige Wochen bei ihm, ohne die Schwelle je zu überschreiten und scheinbar ohne von den neuen Kleidern, welche ihm Oliver besorgt und fertig in sein Zimmer gelegt hatte, Notiz zu nehmen, obwohl er sich ihrer bediente.

Aber bald wurde seine Gegenwart der Herrin des Hauses unerträglich und sogar dem Hausherrn lästig. Randal, früher so enthaltsam, daß ihm selbst der mäßigste Genuß von Wein mit einem klaren Urtheil und aufmerksamer Beobachtung unverträglich erschien, hatte die Gewohnheit angenommen, zu jeder Zeit des Tages geistige Getränke zu genießen; aber obgleich ihn diese zuweilen bis zur Betäubung berauschten, so hatten sie doch nie die Wirkung, daß sie sein Herz aufschlossen oder seine Verdrossenheit zerstreuten. Wenn er auch weniger scharf, als in früheren Zeiten, beobachtete, so besaß er doch noch in gleichem Maße die Kraft, seine Gedanken zu verheimlichen.

Mrs. Oliver Leslie, Anfangs scheu und wortkarg, wurde kühl und zurückstoßend, dann unartig und sarkastisch und ließ zuletzt ihrer gemeinen, rohen Natur freien Lauf. Randal erwiderte nichts; aber sein Hohn war so tief einschneidend, daß die Frau augenblicklich zu ihrem Gatten sprang und ihm erklärte, entweder müsse sie oder sein Bruder das Haus verlassen.

Oliver suchte sie zu besänftigen und die Sache auszugleichen – theilweise mit Erfolg; und einige Tage nachher kam er zu Randal und sagte schüchtern:

»Siehst du, beinahe alles, was ich besitze, hat mir meine Frau zugebracht, und du willst dich nicht herablassen, Freundschaft mit ihr zu schließen. Dein Aufenthalt hier im Hause muß dir ebenso peinlich sein, wie mir. Aber ich wünsche dich versorgt zu sehen; und ich könnte dir etwas anbieten, nur scheint es auf den ersten Blick so sehr unter –«

»Unter was?« unterbrach ihn Randal bitter. »Unter dem, was ich war, oder unter dem, was ich bin? – Heraus mit der Sprache!«

»Du bist ja ein Gelehrter; und ich habe dich so schön über das Wissen u. s. f sprechen hören; und du wirst Bücher in Menge zu deiner Verfügung haben, ohne Zweifel; und du bist noch jung und kannst steigen – und –«

»Hölle und Teufel! mach' rasch – mag es schlimm oder gut sein!« rief Randal ungestüm.

»Gut denn,« sagte der arme Oliver, fortwährend bemüht, den beabsichtigten Vorschlag im besten Lichte zu zeigen, »du mußt wissen, daß der Mann unserer Schwester ein Neffe Doctor Felpem's war, der eine sehr achtbare Schule hält. Er selbst hat nicht studirt und gibt hauptsächlich im Rechnen, Buchführen und dergleichen Unterricht, aber er braucht einen Hülfslehrer für die klassischen Fächer, denn einige der Knaben sollen die Universität beziehen. Und ich habe an ihn geschrieben, nur um ihn auszuholen; ich habe deinen Namen nicht genannt, weil ich nicht wußte, ob es dir recht sei; freie Station und fünfzig Pfund jährlich; kurz, die Stelle ist dein, wenn du sie willst.«

Ein Schauder durchrieselte Randal, und es dauerte lange, bevor er antwortete.

»Gut, es sei; dahin ist es mit mir gekommen. Ha, ha! Ja, Wissen ist Macht!« Er hielt einige Minuten inne. »Die alte Halle ist dem Boden gleich gemacht – du bist ein Gewerbsmann in einer kleinen Provinzialstadt – meine Schwester ist todt – und ich bin künftig – John Smith! Du sagst, du habest dem Schulmeister meinen Namen nicht genannt – halte ihn auch künftighin geheim; vergiß, daß ich einst ein Leslie war. Unser geschwisterliches Band ist zerrissen, wenn ich deinen Herd verlasse. Schreibe also deinem Schulmeister, der im Rechnen unterrichtet, und besorge die Stelle eines Hülfslehrers im Lateinischen und Griechischen für – John Smith.«

Wenige Tage nachher trat der Schützling von Audley Egerton sein Amt als Hülfslehrer in einer jener wohlfeilen Schulen an, deren Zöglinge hin und wieder aus Söhnen von Honoratioren und Geistlichen, die studiren wollen, zum weit größeren Theile aber aus Söhnen von Gewerbsleuten bestehen, die für den Schreibtisch oder für das Ladengeschäft bestimmt sind. Hier lebt unter dem Namen John Smith bis auf den heutigen Tag Randal Leslie.

Vermuthlich war es nicht Stolz allein, was ihn veranlaßte, den von seinen Vorfahren auf ihn übergegangenen Namen, an welchen er nicht seinen hochstrebenden Ehrgeiz geknüpft hatte, für immer gegen einen anderen zu vertauschen, denn kurz nach dem Weggange seines Bruders fand Oliver in einer Wochenzeitung, aus welcher er seine Kenntniß der Tagesereignisse zog, einen Aufsatz aus einem amerikanischen Journal, worin eines englischen Abenteurers Erwähnung geschah, der unter anderen auch den Namen Leslie angenommen hatte. Beim Lesen dieses Artikels fuhr Oliver in die Höhe, erbleichte, sah sich um und warf das Papier in das Feuer. Von dieser Zeit an machte er nie mehr einen Versuch, die ihm von Randal auferlegte Bedingung zu verletzen – er gab es auf, den Verkehr mit ihm zu erneuern; der Bruder war für ihn todt.

Wenn Oliver in dem dort beschriebenen Abenteurer den richtigen Mann vermuthete, so war dasjenige, was Randal zur Last gelegt wurde und die Wange seines Bruders erblassen machte, allerdings kein schwereres Verbrechen, gegen welches das Gesetz unerbittlich ist, sondern mehr eine jener Handlungen der Unehrenhaftigkeit, die, sobald die Noth drängt, gewöhnlich der Undankbarkeit und Doppelzüngigkeit auf dem Fuße folgen und, wenn sie auch der Strafe des Gesetzes entgehen, den Namen unwiderbringlich zu Grunde richten.

Wie dem sein mag, in der von Randal gegenwärtig eingehaltenen Lebensweise liegt nichts, was einen tiefern Fall befürchten ließe. Er hat erfahren, was es heißt, das tägliche Brod zu entbehren, und seine frühere Rastlosigkeit ist einer cynischen Gleichgültigkeit gewichen.

Er wohnt in dem Städtchen nahe bei der Schule, seine schlimmen, ungeselligen Gewohnheiten bleiben deßhalb den Blicken seines Vorgesetzten verborgen. Der Branntwein ist der einzige Luxus, den er sich erlaubt, und es ist dies in den Augen Solcher, welche davon wissen, sein einziges Laster. Er ertheilt seinen regelmäßigen Unterricht so ziemlich zur Zufriedenheit; sein Geist der Intrigue zeigt sich gelegentlich in Versuchen, sich die Gunst von Söhnen reicher Eltern, die eine höhere Stellung einnehmen, zu gewinnen, und er macht verwickelte Pläne, um eine Einladung für die Ferien herauszuschlagen. Sobald aber die Pläne gelingen und die Einladung kömmt, zieht er sich scheu zurück – er wagt es nicht, die Grenzen der vornehmen Welt zu betreten, in welcher er früher zu herrschen hoffte. Er fürchtet, man möchte in ihm einen Leslie entdecken! An solchen Tagen schließt er sich nach Beendigung seines Tagewerks in sein Zimmer ein und ergibt sich dem Trunke bis zur Besinnungslosigkeit.

Einst fand er einen abgerissenen Band, der unter den entzückten Schulknaben die Runde machte; er nahm ihn und erkannte Leonard's erstes populäres Werk, welches ihn vor Jahren mit angenehmen Gedanken und edeln Regungen erfüllt hatte. Er trug das Buch nach Hause und las es wieder; und als er es seinem jungen Eigentümer zurückgab, zeigten einige Blätter Thränenspuren. Vielleicht rührten die Thränen nur von zerrütteten Nerven her, nicht von einem erwachten Gewissen; denn die Blätter rochen stark nach Whisky.

Doch begann er gleich darauf, tiefere Studien zu machen, als seine tagtäglichen Plackereien durchaus erforderten. Er vermehrte die ihm von früheren Zeiten noch gebliebenen und neu aufgefrischten Kenntnisse; er legte ein Werk von großer Gelehrsamkeit an, das seinem scharfen Verstande ein reiches Feld zu eingehender, wissenschaftlicher Kritik eröffnete.

Dieses Werk ist aber nie weit vorgeschritten. Wenn er sich von Zeit zu Zeit zu einer krampfhaften Anstrengung entschließt, dann entfällt die Feder seiner Hand, und er murmelt: »Welchen Zweck hat es? Kein Name ist jetzt mehr empor zu bringen. Wozu Ruhm erndten für – John Smith!«

So schleppt er sein Leben hin; und wenn er stirbt, werden vielleicht die Bruchstücke seines gelehrten Werkes in dem Pulte des Hülfslehrers entdeckt und dienen irgend einem verschmitzten Studenten als Winke, der Gedanken und Ruf dem todten Leslie stiehlt, wie sie Leslie dem lebenden Burley gestohlen hatte.

Während sich so an Randal Leslie für sein Ränkeschmieden, womit er eine seltene Urtheilskraft vergeudet und sein eigenes Glück verscherzt hat, eine gewisse poetische Gerechtigkeit vollzieht, hat die strafende Vorsehung kein äußeres Zeichen von Mißgeschick über das Haupt des schwereren Verbrechers, Baron Levy's, gebracht. Kein Fallen der Fonds hat das kostbare, aus den zertrümmerten Häusern seiner Mitmenschen errichtete Gebäude erschüttert. Baron Levy ist noch immer Baron Levy der Millionär, aber ich zweifle, ob er nicht im Herzen weit elender ist, als Randal Leslie, der Hülfslehrer. Denn Levy hat den wilderen Leidenschaften Zutritt in die Philosophie seines Lebens gestattet; er besitzt nicht das kühle Blut und starre Herz der verwundeten Natter, womit sie das Gefühl des Schmerzes wegschläft.

Als den fashionablen Wucherer das höhere Alter heimzusuchen begann, verliebte er sich in eine junge Operntänzerin, deren leichte Beine die noch leichteren Herzen der Hälfte aller Löwen von Paris und London verdreht hatte. Die Schlauheit der Tänzerin erwies sich jedem geringeren Versprechen, als dem der Ehe, unzugänglich und Levy heirathete sie. Von diesem Augenblicke an war sein Haus Louis Quinze mehr als je von den hochgeborenen Dandies besucht, um deren Gesellschaft er so lange eifrig geworben hatte. Diese Gesellschaft wurde sein Fluch.

Baronin Levy war eine vollendete Kokette; und ihr Gatte, dessen vorherrschende Leidenschaft, wie wir gesehen haben, in der Eifersucht bestand, lag auf einer ewigen Folterbank. Die geringe Meinung, welche er von der Menschennatur hatte, und der Umstand, daß er an die Existenz der Tugend nicht zu glauben vermochte, verstärkten die Qualen des Argwohns und forderten eben die Gefahren, die er fürchtete, heraus. Seine einzige Beschäftigung war, durch Auskundschaften des eigenen Herdes sich selbst zu martern. Seine Gelage wurden von einem Gespenste verfolgt; die Beigaben zu seinem Reichthume wurden zu der Geisel und dem Stachel der Nemesis. Sein heiteres cynisches Lächeln verwandelte sich in finstere Verdrossenheit – sein Haar bleichte – seine Augen wurden hohl unter Einer verzehrend den Sorge.

Plötzlich verließ er sein kostspieliges Haus und London – verschwor alle Gesellschaft, die mit Golde sich zu erkaufen, seine Freude gewesen war – begrub sich und seine Frau in einem abgelegenen Winkel des Landes, wo er noch lebt. Vergebens sucht er seine Zeit mit landwirtschaftlichen Unternehmungen auszufüllen, er, für den die Aufregungen einer Hauptstadt mit all' ihrer Verdorbenheit und ihren Lastern die einzige Quelle des trüben Flusses bildete, den er »Vergnügen« nannte!

Auch hier läßt ihm der Dämon der Eifersucht keine Ruhe; mit verstörtem Auge und leisen Tritten wie ein Dieb umkreist er seine Wohnung; er hütet seine Frau wie eine Gefangene, denn sie droht ihm jeden Tag zu entlaufen. Das Leben des Mannes, der so Vielen die Thüre zu dem Gefängnisse geöffnet hat, ist das Leben eines Kerkermeisters. Seine Gattin verabscheut ihn und verhehlt dies nicht; dennoch hängt er mit einer sklavischen Liebe an ihr. An die ungebundenste Freiheit gewöhnt, Beifall und Bewunderung als ihr Recht fordernd, ohne alle Erziehung, ungebildeten Geistes, in ihren Reden gemein, von heftigem Temperament macht die schöne Furie, mit welcher er seine Häuslichkeit theilte, diese Häuslichkeit zu einer Hölle.

So ist das, was dem oberflächlichen Beobachter beneidenswert erscheint, dem Besitzer desselben verhaßt. Er wagt es nicht, irgend einen Menschen sehen zu lassen, wie er sein Gold ausgibt; in seinem Aufwande leitet ihn schmutziger Geiz, und er beklagt sich über Mißgeschick und Armuth, um seiner Frau unter diesem Vorwande die Vergnügungen zu entziehen, welche sie sich von den Geldsäcken, die sie heirathete, versprochen hatte.

Das unbestimmte Bewußtsein einer Wiedervergeltung verursacht ihm Gewissensbisse und erhöht seine innere Pein. Und die Gewissensbisse sind durch Aberglauben hervorgerufen, nicht durch die Religion – von unten, nicht von oben stammend – ohne die Tröstungen, welche aufrichtige Reue bringt. Er denkt nicht an Buße, nicht an Sühnung durch gute Werke. Seine Schätze wachsen rings um ihn her an, dehnen sich weiter und weiter aus und entgleiten aus seinem Bereiche.

Graf di Peschiera hatte sich in seiner Hoffnung nicht getäuscht, als er sich entschloß, Reue zu heucheln und sich dadurch Ansprüche an seinen Verwandten zu erwirken. Die Großmuth des Herzogs von Serrano sicherte ihm einen seinem Range entsprechenden Jahresgehalt, und kein Kabinetsbefehl verbot ihm die Rückkehr nach Wien. Allein in dem auf seinen Besuch in Lansmere folgenden Sommer erreichte seine Laufbahn unvermuthet ihr Ende. In Baden-Baden huldigte er einer reichen und vornehmen polnischen Wittwe, und sein schönes Aeußere, sowie sein schrecklicher Ruf, verscheuchte alle Nebenbuhler mit Ausnahme eines jungen Franzosen, der so unternehmend, wie er, und dessen Liebe noch viel glühender war. Es erging an ihn eine Herausforderung, welche er annahm. Mit gewohnter Kaltblütigkeit eine Opernarie summend erschien er auf dem verhängnißvollen Platze und zeigte eine solch dämonische Heiterkeit, daß die Nerven des Franzosen ungeachtet seines Muthes ergriffen wurden. Der Drücker ging los, ehe er nur gezielt hatte, und zu seinem eigenen unbeschreiblichen Erstaunen traf der Schuß den Grafen mitten in das Herz.

Beatrice di Negra lebte nach ihres Bruders Tode einige Jahre in tiefster Zurückgezogenheit in einem Kloster, obwohl sie nicht, wie sie Anfangs beabsichtigt hatte, den Schleier nahm; denn je näher sie die Schwesterschaft kennen lernte, desto mehr fand sie, daß menschlicher Kummer und menschliche Leidenschaften nur für ausnahmsweise bevorzugte Naturen durch vergitterte Fenster und hohe Mauern ausgeschlossen werden. Zuletzt siedelte sie nach Rom über, wo sie wegen ihres streng sittlichen Lebens und ihrer Wohlthätigkeit allgemeine Achtung genießt. Sie läßt sich nicht bestimmen, von dem Herzoge mehr, als den vierten Theil des ihrem Bruder ausgesetzten Jahresgehalts, anzunehmen; aber sie hat wenig Bedürfnisse, soweit sie nicht mit ihrem mildthätigen Wirken zusammenhängen, und wo die Mildthätigkeit mit Verstand geübt wird, da kann mit wenig Mitteln viel ausgeführt werden! In den lebenslustigen Cirkeln der Stadt ist sie nicht bekannt; aber sie sammelt um sich einen kleinen Kreis, hauptsächlich von Künstlern und Gelehrten, und ist nie glücklicher, als wenn sie irgend einem Kinde des Genius helfen kann – besonders, wenn England dessen Heimath ist.

Der Squire und seine Gattin erfreuen sich zu Hazeldean noch immer ihres Lebens, und Kapitän Barnabas Higginbotham hat bei ihnen seinen bleibenden Wohnsitz genommen. Der Kapitän ist ein vollständiger Hypochonder; nur hie und da, wenn Gerüchte von Krankheiten in der Familie Mr. Sharpe Currie's zu ihm dringen, klären sich seine Züge auf, und man hört ihn dann vor sich hin murmeln: »Wenn diese sieben kranke Kinder mit Tode abgehen würden, so hätte ich vielleicht immer noch große – Aussichten.« Dafür bekömmt er von dem Squire jedes Mal tüchtige Scheltworte und von dem Pfarrer eine ernste Predigt.

Indessen nimmt er an Beiden drei Mal wöchentlich eine hübsche, gentlemanische Rache beim Whisttische; denn der Pfarrer hat den Kapitän nicht länger zu seinem beständigen Partner, soferne jetzt gewöhnlich ein Fünfter von der Partie ist – in der Person jenes alten Feindes und Nachbarn Mr. Sticktorights. Der Pfarrer, der seine Schlachten ohne den Kapitän als Verbündeten ausfechten muß, bemerkt mit melancholischer Verwunderung, daß das Glück fortwährend gegen ihn ist, und daß er nicht mehr so viel, wie sonst, gewinnt. Glücklicher Weise ist dies, mit Ausnahme von Mrs. Dale's kleinen Launen, an die er sich gewöhnt hat, die einzige Sorge, welche den heiteren Lauf seines Lebens stört.

Doch wir müssen jetzt erklären, wie Mr. Sticktorights zu einem Platze an dem Whisttische in Hazeldean gekommen ist. Frank hat sich auf dem Casino niedergelassen mit einer Gattin, die vortrefflich für ihn paßt; und diese Gattin war Miß Sticktorights. Beatricen's Verlust hatte Frank gemächlich angegriffen, und es dauerte zwei Jahre, ehe er sich von seiner Enttäuschung erholte; dieselbe hatte ihn aber nüchterner und besonnener gemacht. Eine ehrlich gemeinte und tief empfundene Neigung – wenn sie auch eine falsche Richtung genommen und keine Erwiederung gefunden hat – verfehlt selten, die Selbsterziehung eines Mannes zu fördern. Frank wurde ernst und ruhig.

Bei Gelegenheit eines Besuches in Hazeldean traf er Miß Sticktorights auf einem Grafschaftsballe, und die beiden jungen Leutchen fühlten sich sofort gegenseitig angezogen, vielleicht eben wegen der Fehde, die so lange zwischen beiden Häusern bestanden hatte. Noch im letzten Momente war die Heirath nahe daran, zurückzugehen – in Folge eines Wortwechsels, der sich zwischen den beiderseitigen Vätern über das Wegrecht entspann. Aber der Streit wurde durch Mr. Dale glücklich beigelegt, indem der Pfarrer darauf hinwies, daß, da das Eigenthum beider Theile sich in den einst zu erwartenden Kindern des Brautpaares vereinigen werde, jeder Grund zum Prozessiren von selbst wegfalle.

Mr. Sticktorights und Mr. Hazeldean fügten jedoch vorsichtshalber dem Heirathsvertrage eine Klausel bei, vermöge deren (obwohl alle Advokaten erklärten, dieselbe habe keinen gesetzlichen Werth), wenn in Ermanglung von Nachkommen aus besagter Ehe die Sticktorights'schen Güter auf einen entfernten Zweig der Sticktorights'schen Familie übergehen würden, das Recht auf Benützung des Weges von dem Gehölze über die Haide in dem gleichen, lieblichen, strittigen Stadium verbleiben sollte, in welchem es bisher gewesen war.

Indessen scheint wenig Aussicht auf einen Rechtsstreit, der auf diese Weise vorsorglich künftigen Generationen zu ihrem Elend vermacht wurde; denn zwei Söhne und zwei Töchter spielen bereits Versteckens auf der Terrasse, wo Jackeymo einst die Orangebäume begoß, und auf dem Belvedere, wo Riccabocca seinen Macchiavel studirte.

Es verstrich geraume Zeit, bis sich Riccabocca mit dem Punkte aussöhnte, der sich an seine Fürstenthümer und an seinen Herzogstitel knüpfte. Jemima fand sich viel leichter in ihre neue Größe; aber sie erhielt sich ihre angeborene Hazeldean'sche Herzenseinfalt und wird von ihren Unterthanen, besonders von den jungen Mädchen und Burschen, die sie stets zu verheirathen und auszusteuern bereit ist, angebetet.

Daß das männliche Geschlecht Eigenschaften besitze, die noch einer Veredelung fähig sind, davon hat sie längst ihre Verehrung für den Herzog überzeugt, welcher fortfährt, über Weiber und Ehe zu spotten und sich selbst, Dank seiner tiefen Kenntniß der Ersteren und seiner philosophischen Ergebung in die Letztere, für den einzigen glücklichen Gatten auf der Welt zu halten. Seine Hauptbeschäftigung besteht in der Erziehung seines Sohnes, mit welchem ihn Jemima, der Prophezeihung der Wissenschaft getreu, kurz nach der Rückkehr in sein Heimathland beschenkte.

Der Weise begann frühe mit seinen italienischen Sprüchwörtern voll hartherziger Weltweisheit, und der Junge hatte kaum das ABC-Buch hinter sich, als er in den Macchiavel eingeweiht wurde. Aber die einfache Güte, die den Lebensweg des Philosophen bezeichnet, und sein hochherziger, patrizischer Sinn für Biederkeit und Ehre wirken dem theoretischen Unterricht dermaßen entgegen, daß der Erbe von Serrano weder durch die Sprüchwörter weiser, noch durch den Mavchiavel schlimmer zu werden verspricht, als diese Studien in Wirklichkeit seinen Erzeuger gemacht haben, dessen Ansichten seine Landsleute noch immer durch den Titel »Alphonso der Gute« Lügen strafen.

Der Herzog hegte lange den Wunsch, zu erfahren, was aus Randal geworden war. Er konnte aber die Spur des Abenteurers nicht bis zu dem Schlußacte verfolgen. Einmal jedoch (viele Jahre, ehe sich Randal in sein gegenwärtiges Obdach verkrochen) hatte Alphonso bei einem Besuche in dem Hospital zu Genua mit der ihm, sobald es sich nicht um seine eigene Person handelte, eigenthümlichen Schärfe der Beobachtung gegen den Dienst thuenden Wärter bemerkt, »daß nach seinen Erfahrungen auf einen einzigen ehrlichen Schwachkopf, welchen die Verhältnisse in das Spital oder Gefängniß brachten, immer drei durchtriebene Spitzbuben kommen, welche sich selbst dahin geliefert haben« – als sein Auge in einem der Krankenzimmer auf einen Schlafenden fiel. Er glaubte die Züge, welche damals noch nicht so verändert waren, wie später, als Oliver sie sah, zu erkennen, ging auf den Kranken zu und stand vor Randal Leslie.

»Ein Engländer,« sagte der Wärter. »Er wurde besinnungslos mit einer schweren Wunde am Kopfe hierher gebracht. Wie wir erfuhren, ist er mit einem bekannten Industrieritter zusammengerathen, der von dem Engländer überlistet und betrogen worden zu sein behauptete. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, denn seine ganze Baarschaft bestand in einigen wenigen Goldstücken, und Schulden hatten ihn gezwungen, seine Wohnung zu verlassen. Er erholt sich nach und nach – hat aber noch immer Fieber.«

Der Herzog betrachtete stumm den Schlafenden, der sich unruhig und vor sich hinmurmelnd auf seinem Lager herumwarf; dann legte er seine Börse in die Hand des Wärters.

»Geben Sie dies dem Engländer,« sagte er; »aber verschweigen Sie meinen Namen. Es ist wahr – es ist wahr – das Sprüchwort ist sehr wahr –« fuhr der Herzog fort, während er die Treppe hinab stieg – » Più pelli di volpi che di asini vanno in Pellicciaria.« (Zu den Gerbern wandern mehr Fuchs- als Eselshäute.)

Dr. Morgan fährt fort, Kügelchen gegen Kummer zu verschreiben und ein krankes Gemüth mit unendlich kleinen Dosen zu behandeln. Seine eigenen Recepte befolgend verschluckt er ein Kügelchen › Causticum‹, sobald ihn der Anblick eines unglücklichen Nebenmenschen zu Mitleid rührt – eine mit seiner körperlichen Organisation zusammenhängende Schwäche, die, wie er sich zuletzt überzeugt hat, eine gründliche Heilung nicht zuläßt. Im Uebrigen hat sich sein Patientenkreis bedeutend vergrößert, und unter seiner weisen Fürsorge leben seine Patienten unbestreitbar gerade so lange – als es der Vorsehung gefällt. Keine Allopathe kann mehr von sich sagen.

Der Tod des armen John Burley fand in der Liste abgeschiedener literarischen Persönlichkeiten den ihm zukommenden Platz. Bewunderer, von denen man bisher nichts gewußt hatte, kamen und unterzeichneten zu einem schönen Denkmal für ihn zu Kensall Green. Sie hätten auch zu Gunsten seiner Wittwe und Kinder unterzeichnet, wenn solche da gewesen wären. Korrespondenten für Journale zehrten Monate lang von Zusammenstellungen seiner launigen Reden, von Anekdoten über seine Sonderbarkeiten und von Proben seiner Beredsamkeit, welche durch den Tabaksqualm von Schenken und Clubs ihre Blitze geschlendert hatte.

Leonard veranstaltete später eine auserlesene Sammlung seiner zerstreuten Schriften, welcher ein Platz in einer Musterbibliothek angewiesen wurde, obgleich die darin behandelten Gegenstände entweder wegen des zu flüchtigen Interesses, das sie erregten, oder wegen der gar zu wunderlichen Darstellungsweise den Werth nur anzudeuten vermochten, welchen das Erz gehabt hätte, wenn es von der Schlacke gereinigt worden und unter den Prägstock gekommen wäre. Diese Probestücke hatten keinen Kurs auf dem Weltmarkte der Gedanken; aber sie wurden von Sammlern als seltene Merkwürdigkeiten hochgehalten. Ach, armer Burley!

Die Pompley's erlitten durch den Bankerott einer Eisenbahngesellschaft, bei welcher der Oberst mit verschiedenen Aktien. betheiligt war, pekuniäre Verluste. Er hatte sich zu diesem Geschäfte durch einen der gepriesenen Anverwandten seiner Gattin bestimmen lassen, über dessen Güter besagte Eisenbahn gehen sollte, und der in jenem goldenen Zeitalter, in welchem die Eisenbahngesellschaften das Eigenthumsrecht achteten, für den Morgen vierhundert Pfund erhalten sollte.

Der Oberst war nicht länger im Stande, das ganze Jahr hindurch auf englischem Boden mit seinem Einkommen auszureichen. Er müht sich jetzt in Boulogne ab, dieses Kunststück zu vollbringen, und ist durch die Anstrengung im Gesichte so roth geworden, daß Die, welche ihm begegnen, wenn er bei seinem Morgenspaziergang auf dem Damme um Fische marktet, ihre Köpfe schütteln und sagen:

»Der alte Pompley wird das Opfer eines Schlaganfalls werden; ein großer Verlust für unsere Gesellschaft; gentile Leute, die Pompley's, und haben hohe ›Verbindungen.‹«

Den durch Audley Egerton's Tod erledigten Sitz für Lansmere bekam unser alter Bekannter Haveril Dashmore, der bei der ersten Wahl Egerton's vergeblich um diese Ehre gestritten hatte. Der Flottenoffizier war jetzt Admiral und mit der Konstitution und ihrem aristokratischen Zusatze vollständig ausgesöhnt.

Dick Avenel zog sich auf dem Parlamente nicht so bald zurück, wie er sich Anfangs vorgenommen hatte. Es gelang ihm nicht, Leonard, dessen kurzer Durst nach politischer Auszeichnung jetzt in der ruhigen Quelle der Muse gelöscht war, zu überreden, daß er seinen Platz im Senate einnehme; und er fühlte, daß das Haus Avenel einen Vertreter brauche. Indessen machte er es doch möglich, in den ersten zwei Jahren viel mehr Zeit seinen Interessen in Screwstown, als denjenigen seines Vaterlandes zu widmen, und die übergroße Konkurrenz, welche ihm lästig geworden war, dadurch abzuschneiden, daß er den Konkurrenten zum Associé nahm.

Nachdem er sich so in Screwstown ein Monopol gesichert hatte, wandte sich Dick natürlich wieder mit erneutem Eifer seinen alten, erleuchteten Ansichten über die Vorzüge des Freihandels zu. Er blieb einige Jahre im Parlamente. Sich als Redner aus seinen Tiefen herauszuwagen, verbot ihm seine Schlauheit; dagegen machte er sich durch die Bloßstellung des Schwindels, welchen ein wichtiges Comite trieb, als Geschäftsmann berühmt, und die Nachfrage nach ihm war unter allen Parlamentsmitgliedern, welche auf »auserlesene Comites« drangen, so groß, daß er zu einer Art Wichtigkeit gelangte; und Mrs. Avenel, gegen welche man mehr seinetwegen, als um ihrer selbst willen, höflich war, erreichte den Wunsch ihres Herzens und wurde als anerkannte habitué in die fashionablen Cirkel aufgenommen.

In diesen Cirkeln ging aber, wie Dick fand, seine Häuslichkeit gänzlich unter; und wenn er todtmüde Morgens zwei Uhr aus den Sitzungen nach Hause kam und immer wieder hören mußte, Mrs. Avenel sei von irgend einem vornehmen Balle noch nicht zurückgekehrt, bereitete ihm dies jedes Mal solchen Verdruß, daß er sich plötzlich entschloß, Parlament, fashionablem Wesen und London den Rücken zu kehren. Er zog sein jetzt sehr bedeutendes Kapital aus seinem Geschäfte heraus, kaufte die Ueberreste von Squire Thornhill's Besitzungen, und den einzigen Gegenstand seines Ehrgeizes bildet nun das Bestreben, alle kleinen Freifassen um ihn her, welche das Erbe Randal Leslie's nach Morgen und Ruthen unter sich vertheilt hatten, im Wege der Güte oder der Einschüchterung aus ihrem Eigenthum zu verdrängen.

Er ist ein vortrefflicher Friedensrichter, obwohl strenger, als solche Grundbesitzer, welche alten Familien angehören, ein thätiger Landwirth, stets bereit, dauernde Verbesserungen in der Bodencultur, wenn sie gehörig rentiren, zu ermuthigen und selbst einzuführen, aber furchtbar, wenn der Pachtzins nicht zur Zeit bezahlt wird oder der Inhaber einer Meierei, welche er theurer verpachten kann, sich unbesonnener Weise den geringsten Vertragsbruch zu Schulden kommen läßt. Er beschäftigt eine große Anzahl Hände in fruchtbarer Arbeit, verlangt aber von Jedem die äußerste Anspannung seiner Kräfte um den kleinsten Lohn, den Konkurrenz und Armensteuer gestatten. Für junge und starke Leute in seiner Nachbarschaft gibt es immer etwas zu thun, die Bejahrten und Schwachen werden als unnützes Gerümpel in dem Armenhause aufgehoben. Richard Avenel hält sich für das Muster eines Landwirths der alten Race und ist im Ganzen genommen kein übles Exemplar jener ländlichen Civilisirer, welche sich durch verständige Anlegung ihres Kapitals in der neuen Welt emporschwingen.

Harley vermochte, selbst mit Hülfe der Geschäftserfahrung seines Vaters, aus den Trümmern von Egerton's Vermögen für dessen einzigen Sohn und Erben nicht mehr, als einige wenige tausend Pfund, zu retten; und hätte er nicht die zur Ausführung seines Racheplans von Levy gekauften Wechsel und Beschreibungen später in das Feuer geworfen (ein theurer Preis für seinen abscheulichen Vorsatz!), so hätte sich nicht einmal dieser Ueberschuß ergeben.

Die von Egerton für Leslie bestimmten fünf tausend Pfund bezahlte Harley in der Stille aus seinem eigenen Vermögen. Vielleicht war er froh, jetzt, nachdem er der strengen Pflicht, das falsche Spiel des Ränkeschmieds aufzudecken, Genüge gethan, sogar dem Opfer, welches sein Schicksal so reichlich verdient hatte, einige Entschädigung zu gewähren; auch mochte es ihm Freude machen, die feierliche Bitte des Freundes, dessen Beleidigung in der reuevollen Erinnerung an den Rachedurst seines eigenen Herzens vergessen war, zu erfüllen.

Leonard's Geburt und Identität ließen sich leicht beweisen, und Niemand schien Widerspruch dagegen zu erheben. Das ihm gebührende Erbe seines Vaters in Verbindung mit der ihm für sein Erfindungspatent von Avenel in letzter Zeit entrichteten Summe und der Morgengabe, welche Harley aller Einwendungen ungeachtet Helenen schenkte, sicherten ihm jenes glückliche Auskommen, welches die Sorgen der Armuth sowohl, als auch, was bei einem zurückgezogenen und nach Innen gekehrten Leben noch lästiger ist, die Entfaltungen von Reichthum mit allen seinen Verantwortlichkeiten ferne hält.

Der Tod seines Vaters machte auf Leonard's Gemüth tiefen Eindruck; aber die Entdeckung, daß er seine Geburt einem Staatsmanne von so bedeutendem Rufe und so hervorragender gesellschaftlicher Stellung verdanke, trug viel mehr zur Dämpfung, als zur Erhöhung des Ehrgeizes bei, welcher ihn eine kurze Zeit von seinem ruhigeren Streben abgewendet hatte. Er brauchte sich nicht länger um einen Rang zu bemühen, welcher mit dem Helenen's auf gleicher Stufe stünde. Er hatte keinen Vater mehr, dessen Leben vielleicht durch Stolz bedingt wäre.

Die Erinnerung an seine Kinderzeit auf dem Dorfe und seine, durch die Gewohnheit noch verstärkte Hinneigung zur Abgeschiedenheit bewirkten, daß ihm die, nach der Ansicht weltlicher gesinnter Naturen ohne Zweifel beneidenswerthen Vortheile eines Mannes, der ihm die höchsten Kreise der gesellschaftlichen Welt erschlossen hätte, Scheue einflößten. Er bedurfte dieses Namens nicht, um sich den Pfad zu einem Range zu ebnen, welcher den von. Königen verliehenen weit überdauert.

Noch immer behielt er den selbst erfundenen, mit dem Andenken an seine niedrig geborene Mutter verwobenen Namen in den Werken, die er veröffentlicht hatte, bei und gedachte ihn auch anderen, ehrgeizigeren Werken vorzusetzen, welche er, nun ihm Zeit und Mittel zu Gebot standen, mit Sorgfalt entwerfen und mit Geduld vollenden wollte.

In den Gesellschaften und Clubs herrschte Anfangs, als man von Egerton's erster, nicht anerkannter Vermählung erfuhr, eine gewisse Neugierde, was wohl der Sohn dieser Ehe thun werde; und bedeutende Männer schickten sich an, den Erben des Ruhmes des großen Staatsmannes zu bewillkommnen und vornehme Damen bereiteten sich vor, ihn zu sich zu bitten und in die Welt einzuführen. Aber bald erlosch die Neugierde; der Ruhm kam aus der Mode, und der Erbe desselben ward vergessen. Gefeierte Politiker gleichen den Schauspielern: unbegrenzter Beifall, so lange sie auf der Bühne sind – vollständige Vergessenheit, wenn der Vorhang nach dem letzten Lebewohl gefallen ist.

Leonard sah über Nora's Grabe einen schönen Stein sich erheben, und auf dem Steine war das Wart Gattin eingegraben, ihrem geliebten Andenken zur Sühne. Er fühlte den warmen Kuß von Nora's Mutter, die sich nicht länger schämte, ihren Enkel anzuerkennen. Und selbst dem alten John wurde verständlich, daß ein geheimer, schwerer Kummer von dem strengen, stummen Herzen seiner Frau genommen war. Auf Leonard's Arm gelehnt, betrachtete der alte Mann aufmerksam Nora's Grabstein und murmelte:

»Egerton! Egerton! ›Leonora, die erste Gattin des sehr Ehrenwerthen Audley Egerton!‹ Hah! Ich stimmte für ihn. Sie heirathete die richtige Farbe. Ist dies das Datum? Ist es so lange her, daß sie starb? So? so? Ich vermisse sie schmerzlich. Aber meine Alte sagt, wir Beide werden sie jetzt bald sehen; und meine Alte glaubte einst, wir würden sie nie, nie mehr sehen, aber ich wußte es immer besser. Danke Ihnen, Sir. Ich bin ein hülfloses Geschöpf, aber diese Thränen thun mir durchaus nicht wehe – ganz im Gegentheil. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin so glücklich. Wo ist meine Alte? Sie wird jetzt nicht böse werden, wenn ich von Nora spreche. Ah, da ist sie! Danke Ihnen, Sir, gehorsamst; aber ich möchte mich lieber auf meine Alte stützen – ich bin es mehr gewöhnt; und – Frau, wann gehen wir zu Nora?«

Leonard hatte Mrs. Fairfield zu ihren Eltern gebracht, und Mrs. Avenel begrüßte sie mit unerwarteter Freundlichkeit. Der Name auf Nora's Grabstein hatte das Herz der Mutter gegen ihre überlebende Tochter erweicht. Wie der arme John bemerkt hatte, konnte sie jetzt über Nora reden. Und hiebei entdeckte sie und das von ihr so lange vernachlässigte Kind, wie viel Vereinigungspunkte zwischen ihnen bestanden; und als Leonhard kurz nach seiner Verheirathung mit Helene in das Ausland ging, blieb Jane Fairfield bei dem alten Paare zurück. Nachdem der Tod ihre beiden Eltern innerhalb zwei Tagen weggerafft hatte, weigerte sie sich, vielleicht aus Stolz, bei Leonard ihren Aufenthalt zu nehmen, sondern zog in die Nähe des Hauses, welches er später in England für sich wählte.

Leonard blieb etwa ein Jahr auf Reisen. Ein ruhiger Beobachter der verschiedenen Menschenracen und deren intellektueller Entwicklung – ein entzückter und denkender Erforscher der Momente, welche uns die Todten wieder vorführen, erweiterte er im Stillen seine Erfahrungen über die Menschheit und gab seinen Anschauungen von dem Erhabenen und Schönen unter dessen heimathlichem Himmel eine künstlerische Gestaltung.

Nach seiner Rückkehr kaufte er sich in der schönsten Gegend von Devonshire ein kleines Haus und begann dort geduldig ein Werk, in welchem er seinem Vaterlande seine edelsten Gedanken in ihren schönsten Formen zu vermachen beabsichtigte.

Bei manchen Menschen entwickeln sich ihre Ideen am besten durch fortwährende Uebung; ihre Gedanken springen in voller Richtung aus ihrem Gehirne hervor und suchen, wie die sagenhafte Göttin, an den Kämpfen der Menschen beständig Theil zu nehmen. Vielleicht sind dies die kraftvollsten und gediegensten Schriftsteller; aber Leonhard gehörte nicht zu dieser Classe. Sanftmuth und Heiterkeit, auf tiefen Sinn für häusliches Glück sich gründend, waren die charakteristischen Merkmale seines Genius. Allein mit Helene an den Ufern des murmelnden Flusses zu wandeln, mit ihr in die stille See zu blicken, zu fühlen, daß seine innersten Gedanken, von den Anschauungen der Liebe erfaßt, sich in jener klaren Sympathie spiegelten, nach welcher sich die Dichter so oft vergeblich sehnen – dies waren die Sabbathe seiner Seele, die ihn zu seinen Arbeiten befähigen mußten; denn der Schriftsteller hat vor Anderen den Vorzug, daß seine Ruhe keine Unthätigkeit ist. Die richtige Erfüllung stiller Pflichten gegen die Welt und die Menschen setzt andere Fähigkeiten voraus, als die des Handelns. Während Andere handeln, bringt er geräuschlos den Einfluß zur Reife, womit er die rastlosen Menschen leitet und erleuchtet, veredelt und erhebt, deren würdigste Thaten nur die dienstwillige Ausführung der Gedanken der Schriftsteller sind.

Deßhalb nenne man den Dichter, welchem wir unter den Wechselformen des Lebens einen Platz einräumen, nicht den Sybariten literarischer Gemächlichkeit, wenn er an Sommerabenden, die leicht dahin schreitende Helene an der Seite, sinnend zurückkehrt und sein zwischen Blumengewinden verstecktes, aus den einsamen Klippen, in welche es gebettet ist, hervorlächelndes Häuschen begrüßt – wenn sie, obgleich schon lange verheirathet, noch immer ein Liebespaar, sich zu einander wenden, die innigste Freude in ihren sprechenden Augen, dankbar, daß die Welt mit ihren verschiedenen Zerstreuungen und lärmenden Mißtönen ihrem Dasein so ferne liegt, und sie mit derselben nur durch das selige Band verflochten sind, welches der Schriftsteller unsichtbar um die Herzen webt, die er rührt, und um die Seelen, die er begeistert.

Nein! Charakter und Umstände machten Leonard unfähig, in den Streit der dicht gedrängten literarischen Demokratie einzutreten; sie führten zu der Entwicklung der sanfteren und reineren und zu allmäliger Unterdrückung der ungestümeren Regungen seiner Natur. Der Einfluß des glücklichen Lichtes, unter welchem sein Genius stille und ruhig sich kräftigte, zeigte sich mehr in der zarten Harmonie seiner Farben, als in der prächtigen Mannigfaltigkeit seiner Glut.

Seine nur auf Gegenstände von friedlicher Schönheit gerichtete, durch keine rauhen Sorgen und heftige Leidenschaften gestörte Beobachtung ließ auch aus seiner lebenden Feder verwandte Schöpfungen erstehen, so daß der ganze Mann nicht nur ein Dichter, sondern selbst ein Gedicht war – eine lebendige Idylle, die jenes Schilfrohr, welches auf dem Flusse des Lebens seufzte und zitterte, zum Hirtengesange rief.

Und Helene paßte so gut zu einer solchen Natur; sie bewahrte das ideale Dasein, in welcher dieselbe athmet! Alle die kleinen Widerwärtigkeiten des praktischen Alltagslebens überwand sie, da sie die stärkere war in den notwendigen Haushaltungstugenden der Klugheit und der Vorsorge, wie es der Frau eines Dichters zukömmt. Während so der Genius des Mannes die Heimath zu einem Tempel machte, gab die Weisheit der Frau dem Tempel die Sicherheit einer Festung.

Sie haben ein einziges Kind – ein Mädchen; es heißt Nora. Es hat das seelenvolle Auge des Vaters und das warme, menschenfreundliche Lächeln der Mutter. Es hilft Morgens Helenen bei ihren häuslichen Pflichten und sitzt Abends zu Leonard's Füßen, während er liest oder schreibt. In jedem kindlichen Kummer stiehlt sie sich an der Mutter Knie; aber bei jedem Ausbruch jugendlichen Entzückens, bei jedem helleren Aufleuchten des fortschreitenden Verstandes springt sie an die Brust des Vaters. Liebliche Helene, du hast sie dies gelehrt, wie du die Schatten deines eigenen Kinderlebens für dich genommen und nur dessen rosiges Licht den Augen deines Gefährten gezeigt hast!

Aber noch ist das Bild Helene's nicht abgeschlossen. Selbst das Ideale kann seinen Zweck nur durch die Vereinigung mit dem Realen erfüllen. Selbst in der Einsamkeit muß der Schriftsteller von der Menschheit abhängen.

Leonard hatte das Werk vollendet, welches die Freude und die Arbeit so vieler Jahre gewesen war – das Werk, welches er als die Krone seines geistigen Wirkens betrachtet, und auf welches er alle die Hoffnungen gestützt hat, die den heutigen Menschen mit der künftigen Generation verbinden. Das Werk ist unter der Presse gewesen, auf jeder Linie hatte die unermüdliche Geduld des Künstlers verweilt, welcher sich von dem in eine sichtbare Form ausgemeißelten Gedanken nicht zu trennen vermochte, so lange noch eine Verbesserung anzubringen war.

Er hat eine Einladung von Norreys angenommen. In seiner rastlosen Aufregung, wie er sie seit jener ersten glücklichen jungfräulichen Schöpfung nicht mehr empfand, ist er nach London gegangen. Unerkannt in der mächtigen Metropole, wollte er sehen, ob die Welt das neue Band annehme, welches er zwischen ihrem geschäftigen Treiben und seiner abgeschiedenen Thätigkeit gewoben hatte.

Und das Werk erschien in einer ungünstigen Stunde; das Publikum wendete seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu; die Welt hatte keine Zeit, auf ihn zu achten, und das Buch drang nicht in den größeren Leserkreis. Aber eine grimmige Kritik fiel darüber her und zerriß und verdrehte und entstellte es, indem sie Mängel und Schönheiten in buntem Durcheinander lächerlichem Spotte Preis gab; und die Schönheiten haben noch keinen Vertreter und die Mängel noch keinen Vertheidiger gefunden; und der Verleger schüttelt den Kopf, deutet auf die ächzenden Bücherbretter und gibt zarte Winke, daß das Werk, welches der Inbegriff des geheiligten Lebens im Leben sein sollte, den gegenwärtigen Geschmack nicht errathen habe.

Leonard gedenkt der Jahre, welche ihn seine Arbeit gekostet, und sagt sich, daß er die reichsten Minen seines Wissens erschöpft hat, und daß viele Jahre verstreichen werden, bis er sein Kapital von Ideen soweit ergänzen kann, um neue Schachte zu graben und neues Erz zu Tage zu fördern; und tiefe Verzagtheit eines in seinen höchsten Bestrebungen getäuschten Verstandes hat ihn ergriffen, und alle seine bisherigen Leistungen sind in das Mißlingen dieses Einen, nach dem Höchsten ringenden Versuches mit hineingezogen. Verfehlt, vollständig verfehlt erscheint ihm sein ganzer Ehrgeiz als Schriftsteller. Seine ganze Anschauung des Idealen erscheint ihm wie ein werthloser Traum, und das Antlitz des Ideals selbst ist verschleiert.

Und sogar Norreys gibt ihm freundlich aber offen zu verstehen, daß nur durch das Leben in der Hauptstadt der Schriftsteller einen gefunden Begriff von den geistigen Bedürfnissen seines Zeitalters erhalte. Denn jeder große Schriftsteller füllt ein Bedürfniß seiner Generation aus – bald durch Erweckung einer neuen Empfindung, bald durch Enthüllung einer neuen Wahrheit; und da die Richtigkeit dieser Maxime durch den Umstand, daß die meisten großen Schriftsteller in Hauptstädten gelebt haben, bestätigt wird, so ist Leonard nicht befugt, eine Ausnahme für sich in Anspruch zu nehmen. Nur der Erfolg rechtfertigt ein Abweichen von der allgemeinen Regel; und mit der derben Mannhaftigkeit seines Wesens, welche der Dichter nicht besitzt, faßt Norreys seinen Ausspruch in den Worten zusammen: »Was thut's? Ein Experiment ist mißlungen; richten Sie Ihr Leben nach Ihrem Genius ein, und versuchen Sie es noch einmal.«

Noch einmal versuchen! Ein leicht zu befolgender Rath für einen Mann, welchem jeder Zeit Hülfsquellen und ein lebhafter, kampfbereiter Geist zu Gebote stehen; aber wie hart und rauh für Leonard! »Sein Leben nach jenem Genius einrichten!« – Die Natur und deren Studium mit dem Gewühle in Oxfordstreet vertauschen! Würde ein solches Leben den Genius nicht auf immer verscheuchen?

Verwirrt und zaghaft, obwohl nach Standhaftigkeit ringend, kehrte er nach Hause zurück, und hier an seinem Herde wartet seiner die Trösterin, und ihre Stimme wiederholt ihm die geliebtesten Stellen aus seinem Werke und prophezeit voll Zuversicht künftigen Ruhm; und allmälig trägt alles um ihn her das Lächeln Helenen's. Und die erste Ueberzeugung, daß der Himmel menschliche Seligkeit nicht von der Verachtung oder dem Lobe der Welt abhängig mache, durchströmt seine Adern und verleiht ihm wieder seine heitere Ruhe.

Und er fühlt, daß es Pflicht des Verstandes ist, möglichste Vervollkommnung anzustreben – die Töne zu einer Harmonie zu vereinigen, welche im Himmel gehört wird, auch wenn sie auf der Erde kein Echo weckt. Die Einen erreichen dieses Ziel am ehesten unter Lärmen und Streit, Andere, wie er, in stummem Schweigen.

Und der nächste Tag sieht ihn mit Helene an der Seeküste, die Augen ruhig wie früher auf den endlosen, sonnenbestrahlten Ocean geheftet; und Helene, in sein Antlitz schauend, erblickt dort die gleiche sonnenbestrahlte Tiefe. Seine Hand stiehlt sich voll innigsten Dankes in die ihrige, und er murmelt leise: »Gesegnet sei das Weib, welches tröstet!«

Das Werk fand endlich seinen Weg zum Ruhme, und die Stimmen des Ruhmes pochten laut an die Pforten der Dichterheimath. Aber der Beifall der Welt hatte für sein Ohr keinen so süßen Klang, wie Helenen's geflüsterte Worte: »Hoffe und glaube!« als Zweifel, Demüthigung und Betrübniß über ihn gekommen war.

Unmittelbar an diese Skizze des tröstenden Weibes möge sich die der Gefährtin anreihen.

Unmittelbar nach seiner Verheirathung mit Violante hatte Harley L'Estrange, sei es nun auf Zureden seiner Gattin, sei es, um den Schatten, welchen Egerton's Tod noch immer auf sein eheliches Glück warf, zu bannen, den Entschluß gefaßt, eine vorübergehende, halb militärische, halb staatsmännische Sendung nach einer der Kolonien anzunehmen. Er hatte dieselbe mit so viel Geschicklichkeit und mit solch entschiedenem Erfolge ausgeführt, daß er bei seiner Rückkehr nach England die Peerswürde erhielt, und sein Vater die Freude erlebte, die höhere Würde, in welcher ihm sein Sohn einst nachfolgen sollte, auf Letzteren nicht durch Erbgang, sondern durch eigenes Verdienst übertragen zu sehen.

Große Erwartungen hegte man von Harley's parlamentarischem Auftreten; allein er wußte recht wohl, daß ein nachhaltiger Erfolg ermüdendes Detailstudium und Kenntniß der Geschäftsordnung voraussetzte; und dies sagte seinem Geschmacke nicht zu. Harley war Jahre lang unthätig gewesen, und eine solche Unthätigkeit hat so viel Verlockendes für einen Mann, dessen Stellung gesichert ist, der von dem Glücke nichts mehr zu fordern hat und zu Hause keine Sorgen findet, gegen die er Zerstreuung sucht. Deßwegen lachte er voll köstlichen Humor's dem Ehrgeize in's Gesicht; und die Hoffnungen auf diplomatischen Triumph starben dahin.

Aber dann trat eine jener politischen Krisen ein, worin auch Männer, die sonst gegen Politik gleichgültig sind, sich zu dem Bewußtsein aufraffen, daß die Versuche in der Gesetzgebung nicht einer todten Materie, sondern der lebendigen Form eines edeln Landes gelten. Und in beiden Häusern des Parlaments sammelten die Parteien alle ihre Kräfte.

Es war ein lieblicher Frühlingstag und Harley saß an dem Fenster seines alten Zimmers in Knightsbridge, bald das frische Grün der knospenden Bäume betrachtend, bald mit Nero spielend, der, obwohl in hohem Hundealter, sich wie sein Herr der Sonne erfreut, bald, während er die Blätter seines Lieblings Horaz umdreht, einige jener Strophen wiederholend, welche in der Kürze des Lebens eine Entschuldigung für den Genuß seiner Freuden und für die Umgehung seiner Mühen suchen und damit die ständige Moral des verfeinerten Epikuräers aussprechen – als sich die Thüre öffnet und Violante (zu welch' herrlicher Schönheit ist ihre jungfräuliche Blüthe herangereift!) leise in das Zimmer tritt, sich auf einen niederen Stuhl neben ihn setzt, ihr Gesicht an seine Hände lehnt und mit ihrem dunkeln, klaren, geistvollen Auge zu ihm aufblickt.

Und während sie zu ihm redet, kommt allmälig ein Wechsel über Harley's Züge – die Stirne wird nachdenklich, und die Lippen verlieren ihr tändelndes Lächeln. Da ist keine Spur von der Anmaßung eines sich überlegen dünkenden Weibes – keine regelrechten Vorlesungen, Ermahnungen und Predigten, welche den Stolz des Mannes verletzen, sondern die Wichtigkeit des Gegenstandes und die beredten Worte sind es, welche unwillkürlich seinen Gedanken einen höheren Schwung verleihen; der Horaz ist bei Seite gelegt und auf dessen Platz durch irgend ein Wunder ein parlamentarisches Blaubuch hingezaubert. Jetzt will sich Violante eben so leise, wie sie eingetreten, wieder entfernen; Harley's Hand hält sie zurück.

»Nicht so. Wir theilen uns in das Geschäft, oder ich lasse es im Stiche. Von diesem Auszuge hier verurtheile ich dich, eine Abschrift zu fertigen. Glaubst du, ich würde mich dieser Arbeit unterziehen, wenn nicht die Hälfte des Erfolges dir zukäme? – Nimm also auch die Hälfte der Mühe auf dich!«

Und Violante küßt überglücklich den Vorwurf weg und setzt sich neben ihn zur Arbeit hin – so ernst und so stolz! Ich weiß nicht, ob Harley an jenem Morgen in dem Blaubuche besondere Fortschritte machte; aber kurze Zeit nachher sprach er in dem Hause der Lords und übertraf die kühnsten Hoffnungen, welche man auf seine Talente gesetzt hatte.

Nachdem einmal Harley die Süßigkeit des Ruhmes und das Bewußtsein, sich nützlich zu machen, gehörig gekostet hatte, konnte man sicher sein, daß er seine Bestimmung erfüllen werde. Ein Jahr später, und seine Stimme war in England eine der einflußreichsten. Seine Liebe zum Ruhm kehrte wieder, nicht länger unbestimmt und träumerisch, sondern zu Patriotismus veredelt und durch einen Zweck gekräftigt. Und eines Abends, als er nach einem entscheidenden Triumphe mit seinem Vater nach Hause kam, eilte ihm Violante entgegen, die während der Abwesenheit ihres Gebieters nie ausging, um die Würde des Namens, den zu erheben sie bestrebt war, unter Gecken und Schmeichlern zu erniedrigen. Harley's Erstgeborener, ein der Kinderstube noch nicht entwachsener Knabe, hatte länger, als gewöhnlich, aufbleiben dürfen; vielleicht hatte Violante den Triumph ihres Gatten geahnt und wünschte, daß der Sohn ihn theile.

Der alte Graf winkte dem Kinde zu sich, legte die Hand auf sein Lockenhaupt und sprach mit ungewöhnlichem Ernste:

»Mein Junge, du wirst vielleicht unruhige Zeiten in England erleben, ehe diese Haare so grau sind, wie die meinigen, und dein Einsatz für Englands Ehre und Friede wird groß sein. Beachte diesen Wink eines alten Mannes, der keine Talente besaß, um in der Welt Lärm zu machen, der aber doch seiner Generation von einigem Nutzen gewesen ist. Weder hochklingende Titel, noch weitläufige Besitzungen, noch glänzende Fähigkeiten werden dir wirkliche Freude gewähren, wenn du dich nicht für alles dies deinem Gotte und deinem Vaterlande verantwortlich fühlst; und wenn du versucht bist, zu wähnen, daß die Gaben, welche du beiden verdankst, keine Pflichten auferlegen, oder daß die Pflichten mit dem wahren Vergnügen im Widerspruche stehen, dann erinnere dich, wie ich dich in deines Vaters Arme legte und sagte: ›Laß ihn eines Tages auf dich so stolz werden, wie ich es in dieser Stunde auf ihn bin.‹«

Der Knabe klammerte sich an die Brust des Vaters an und sagte mannhaft: »Ich will es versuchen!«

Harley beugte seine schöne, glatte Stirne über das jugendliche, ernste Gesicht und sagte weich: »deine Mutter spricht aus dir!«

Die alte Gräfin, die schweigend in ihrem Lehnstuhle zugehört hatte, erhob sich und küßte ehrerbietig die Hand des Grafen. Vielleicht lag in diesem Kusse das reuevolle Bewußtsein, daß die werkthätige, von ihr oft heimlich unterschätzte Güte weit bessere Früchte getragen hatte, als ihre eigene kalte, unfruchtbare Willens- und Geistesstärke. Dann trat sie mit erhobenem Haupte und stolzem Blicke auf Harley zu.

»Endlich,« sagte sie, indem sie die kleine, feste Hand, vor welcher er nicht länger zurückschrak, auf seine Schulter legte, »endlich, mein edler Sohn, hast du alle Verheißungen deiner Jugend erfüllt!«

»Wenn dem so ist,« antwortete Harley, »so liegt der Grund darin, daß ich gefunden habe, was ich damals vergeblich suchte.«

Er schlang seinen Arm um Violante und setzte mit halb zärtlichem, halb feierlichem Lächeln hinzu: »Gesegnet sei das Weib, welches begeistert!«


So sind diese schönen Zwillingsblüthen das Sinnbild dessen, was Eva für die Erde aus dem Paradiese gerettet hat. Beide bergen unter den Blättern, welche ihren Duft in die Lüfte senden, einen reichen Schatz von Heilkräften, womit sie bald das Herz beruhigen, wenn die Welt Trübsal bringt, bald die Seele verjüngen, wenn Trägheit und Sinnlichkeit sie geschwächt hat; und wir verlassen das Weib da, wo ihr der Himmel unter den vielgestalteten »Wechselformen des Lebens« ihren Platz anweist.

Ein Lebewohl dir, freundlicher Leser; und du, gehe hinaus in die Welt, o meine Novelle!

 

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Druck von C. Hoffmann in Stuttgart.

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