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Siebentes Buch.


Einleitungs-Kapitel.

Im englischen Original folgt hier der Untertitel: »Mr. Caxton upon Courage and patience.« (Mr. Caxton über Mut und Geduld.)

» Was ist Muth?« sagte mein Onkel Roland, indem er sich aus dem träumerischen Zustande emporraffte, in welchem er versunken war, nachdem ich das sechste Buch dieser Geschichte in unserem Familienkreise vorgelesen hatte. »Was ist Muth?« wiederholte er noch ernster. Ist es Unempfindlichkeit gegen Furcht? Eine solche kann lediglich von der zufälligen Constitution des Körpers abhängen; und wenn dies der Fall ist, so ist das Verdienst, muthig zu sein, gerade so groß, wie das Verdienst, dieser Tisch hier zu sein.«

»Ich freue mich sehr, dich so sprechen zu hören,« bemerkte Mr. Caxton; »denn ich möchte mich nicht selbst für einen Feigling halten, und doch bin ich zur Furcht sehr geneigt in allen körperlichen und moralischen Gefahren.«

»Ach, Austin, wie kannst du so sprechen?« rief meine Mutter mit großer Wärme. »Hast du dich nicht erst vergangene Woche dem großen Stier entgegen gestellt, als derselbe Blanche und den Kindern nachstürzte?«

Bei der Erinnerung daran schlich sich Blanche zum Stuhle meines Vaters hin und küßte, indem sie sich über seine Schulter beugte, seine Stirne.

Mr. Caxton (ohne sich im Geringsten um diese Schmeichelei zu kümmern). – »Ich leugne nicht, daß ich mich dem Stier entgegenstellte, aber ich versichere, daß ich entsetzliche Furcht empfand.«

Roland. – »Das Ehrgefühl, welches die Furcht besiegt, ist der wahre ritterliche Muth. Du konntest nicht davon laufen, während Andere zusahen – kein Gentleman könnte das.«

Mr. Caxton. – »Pah! Ich that es nicht, weil ich ein Gentleman bin, Kapitän. Ich würde rasch genug gelaufen sein, wenn es etwas genützt hätte. Ich that es, weil mein Verstand mir befahl, es so zu machen. Da der Stier rascher laufen konnte, als ich, so war der einzige Ausweg, ihm zu entrinnen, der, ihm eine ebenso große Furcht einzujagen, wie ich sie empfand.«

Blanche. »Ach, du dachtest nicht daran; dein einziger Gedanke war der, mich und die Kinder zu retten.«

Mr. Caxton – »Das ist möglich, meine Liebe – das ist sehr leicht möglich, daß ich auch Euretwegen in Angst war; – aber ich war jedenfalls auch meinetwegen sehr in Angst. Ich hatte indessen glücklicher Weise einen Schirm bei mir, spannte denselben auf und hielt ihn gerade vor die Augen des dummen Thieres, während ich zu gleicher Zeit die hochtrabendsten Verse, die mir aus dem ersten Chor der, ›Sieben gegen Theben‹ einfielen, ihm entgegenschleuderte. Ich begann mit ἘLEΔEMNᾺS PEDIOPLΌKTΥPΌS Vers 83: »Dröhnend erbebt das Feld; Hufschlag dumpf und schwer / Dringt mit ins Ohr hinein«, lautet die Stelle im Zusammenhang (nach der Übersetzung von Gustav Droysen, 1832)., und als ich an das großartige Heulen ›Ἰὼ, ἰὼ, ἰὼ, ἰὼ‹ kam, erschrack das Thier, wie bei dem Brüllen eines Löwen. Ich werde es nie vergessen, wie er entsetzt über das Griechische schnaubte. Dann schlug er mit den Füßen hinten aus und stürzte sich durch eine Oeffnung in der Hecke. So blieb ich mit Aeschylus und einem Regenschirm bewaffnet, Herr des Schlachtfeldes; aber,« fuhr Mr. Caxton offenherzig fort, »ich möchte jene halbe Minute nicht noch einmal durchmachen.«

»Das möchte wohl Keiner,« sagte der Kapitän freundlich. »Ich würde mich sehr fürchten, mich einem Stier entgegenzustellen, selbst wenn ich einen größeren Regenschirm hätte, als der deinige, und Aeschylus und Homer an meinen Fingerspitzen hersagen könnte.«

Mr. Caxton. – »Du würdest dir nichts daraus gemacht haben, wenn es ein Franzose mit seinem Schwert in der Hand gewesen wäre?«

Kapitän. – »Natürlich nicht. Das wäre mir lieber, als das Gegentheil,« fügte er grimmig hinzu.

Mr. Caxton. – »Und doch würde mancher spanische Matador, der sich aus einem Stiere gar nichts macht, bei dem ersten Quarthieb eines Franzosen die Flucht ergreifen. Darum ist der Muth, wenn er von der körperlichen Constitution abhängt, in der That auch von der Gewohnheit abhängig. Wir treten ruhig denjenigen Gefahren entgegen, an welche wir gewöhnt sind, und schrecken vor denen zurück, hinsichtlich welcher wir keine besondere Erfahrung besitzen. Ich bezweifle, daß Marschall Turenne Henri de La Tour d'Auvergne, vicomte de Turenne (1611-1675), französischer Heerführer und Marschall von Frankreich; gilt neben Condé als der bedeutendste französische Feldherr seiner Zeit und in Frankreich als der bedeutendste Feldherr zeitlich vor und in der Hierarchie nach Napoleon. sich auf einem gespannten Seile besonders wohl gefühlt haben würde, und glaube, daß ein Seiltänzer, der sich in der Stimmung befindet, mit titanischer Verwegenheit nach dem Himmel aufzusteigen, möglicher Weise sich weigern würde, eine Kanone loszubrennen.«

Kapitän Roland. – »Dies ist dann entweder nicht derjenige Muth, den ich meine, oder es ist eine andere Art desselben. Ich verstehe unter Muth die besondere Kraft und Würde des menschlichen Charakters, ohne welche es keinen Verlaß auf Grundsätze, keine Standhaftigkeit in der Tugend gibt – ein Etwas,« fuhr mein Onkel in galanter Weise und sich leicht gegen meine Mutter verbeugend fort, »welches dein Geschlecht mit dem unserigen gemein hat. Wenn der Liebhaber z. B. die Hand seiner Geliebten ergreift und sagt: ›Willst du mir treu bleiben trotz Abwesenheit und Zeit, in Glück und Unglück, wenn auch meine Feinde mich verläumden und deine Freunde dir abrathen und unser Lebensloos rauh und hart werden mag?‹ und wenn die Braut antwortet: ›Ich will dir treu bleiben‹, verläßt sich dann der Liebhaber nicht eben so sehr auf ihren Muth, wie auf ihre Liebe?«

»Das hast du vortrefflich aus einander gesetzt, Roland,« sagte mein Vater. »Aber in welchem Zusammenhang kamst du eigentlich auf diese verwirrenden Fragen über den Muth?«

Kapitän Roland (leicht erröthend). – »Ich kam darauf (obgleich es vielleicht lächerlich erscheinen mag, sich so viele Gedanken über das zu machen, was ohne Zweifel Pisistratus so wenig kostet) durch die letzten Kapitel in der Geschichte meines Neffen. Ich sehe diesen armen jungen Menschen Leonard allein mit seinen zertrümmerten Hoffnungen (mögen sie auch noch so unvernünftig gewesen sein) und mit seinem Gefühle der Schande. Und ich wage zu behaupten, daß ich in seinem Herzen besser lese, als Pisistratus, denn ich könnte gerade so fühlen, wie dieser junge Mensch, wenn ich in derselben Lage wäre; und als ich mir vorstellte, was er und Tausende gleich ihm durchmachen müssen, da frug ich mich selbst: ›Was kann ihn und sie retten?‹ Ich antwortete, wie ein Soldat antworten würde: ›Muth!‹ Ja. Aber bitte, Austin, was ist Muth?«

Mr. Caxton (einer Antwort klüglich ausweichend). – » Papae! Siehe Anm. 4. Bruder, da du soeben den Damen in Betreff jener Eigenschaft ein Compliment gemacht hast, so würdest du besser thun, deine Frage an sie zu richten.«

Bei diesen Worten stützte Blanche beide Hände auf den Stuhl meines Vaters und sagte, erst verschämt zu Boden blickend, dann aber durch den Gegenstand zur Wärme fortgerissen:

»Glaubst du nicht, daß die kleine Helene bereits so ziemlich errathen hat, wenn auch nicht gerade, was Muth, so doch, wenigstens, was das eigentliche Wesen des Muthes ist, welcher ausdauert und siegt, welcher veredelt, heiligt und erlöst? Ist es nicht die Geduld, Vater? – und dies ist der Grund, warum wir Frauen unsere eigene Art von Muth besitzen. Die Geduld gibt sich nicht den Anschein, als wäre sie über die Furcht erhaben; aber sie läßt wenigstens keine Verzweiflung aufkommen.«

Pisistratus. – »Küsse mich, meine Blanche Denn du bist der Wahrheit nahe gekommen, welche den Soldaten in Verwirrung brachte und den Weisen verlegen machte.«

Mr. Caxton (spitzig). – »Wenn du unter dem Weisen mich verstehst, so erkläre ich, daß ich durchaus nicht in Verlegenheit war. Der Himmel weiß, daß du Recht hast, den Leuten Geduld einzuschärfen – es ist dies eine Tugend, deren deine Leser sehr bedürfen. Nichtsdestoweniger,« fügte mein Vater hinzu, indem er aus Freude über seinen eigenen Scherz weicher gestimmt wurde – »nichtsdestoweniger haben Blanche und Helene ganz Recht. Die Geduld ist der Muth des Siegers; sie ist die Tugend par excellence beim Kampfe des Mannes gegen das Schicksal – dem Kampfe des Einen gegen die Welt, der Seele gegen die Materie. Darum ist dies der Muth des Evangeliums; und die Wichtigkeit desselben kann vom socialen Gesichtspunkte aus für Völkerstämme sowohl, wie für die bürgerlichen Einrichtungen, nicht genug eingeschärft werden. Was ist es, das den Angelsachsen von allen übrigen Zweigen der menschlichen Familie unterscheidet, Einöden mit seinen Kindern bevölkert und ihm die Erbschaft aufblühender Welten übergibt? – was Anderes, als die Fähigkeit, Trotz zu bieten, zu leiden, auszudauern – d. h. die Geduld, welche festen Widerstand leistet und sich langsam auf Neuerungen einläßt. Vergleiche ihn mit dem Franzosen. Der Franzose besitzt Tapferkeit genug – das kann nicht geleugnet werden; was aber die Standhaftigkeit und Ausdauer betrifft, so besitzt er hievon nicht so viel, daß man eine Nadelspitze damit bedecken könnte. Er ist bereit, aus der Welt herauszustürzen, wenn er von einem Floh gebissen wird.«

Kapitän Roland. – »Vor einigen Tagen, Austin, wurde in den Zeitungen ein Fall erzählt von einem Franzosen, welcher sich wirklich selbst umbrachte, weil er von den kleinen Geschöpfen, von denen du sprichst, so sehr gequält wurde. Er hinterließ auf seinem Tische einen Streifen Papier, auf welchem geschrieben stand, daß es sich nicht der Mühe lohne, um den Preis solcher Qualen zu leben« Thatsache. In einem Werk von M. Gibert, einem berühmten französischen Arzt, über Hautkrankheiten wird angeführt, daß der unter dem Namen Prurigo bekannte juckende Ausschlag, obgleich an sich nicht gefährlich, doch oft Personen, welche davon geplagt wurden, zum Selbstmord getrieben habe.Obgleich ich nun glaube, daß unsere sehr wechselnden heimatlichen Verhältnisse, sowie unsere heißeren Getränke und Nahrungsmittel eine solche Hautkrankheit öfter in England, als in Frankreich auftreten lassen, so bezweifle ich doch, daß irgend ein englischer Arzt einen Fall anführen könnte, in welchem einer von seinen englischen Patienten dadurch zum Selbstmord getrieben worden wäre. [ Anm.d.Verf.].

Mr. Caxton (im feierlichen Tone). – »Sir, ihre ganze politische Geschichte ist diejenige von Menschen gewesen, die lieber zum Teufel gehen, als sich von einem Floh beißen lassen wollen. Sie ist die Geschichte menschlicher Ungeduld, welche die Zeit zu überholen sucht, – und erwartet, daß Wälder auf dem Samen eines Pilzes emporschießen sollen. Daher kömmt es, daß sie, während sie alle Extreme der constitutionellen Experimente durchlaufen und sich der Demokratie am meisten nähern, sich doch unmittelbar vor der Thüre eines Despoten befinden, und daß sie in der That alles gethan haben, um das zu zerstören, was die Grundlage jeder leidlichen Regierung ist. Eine constitutionelle Monarchie kann nicht ohne Aristokratie existiren, so wenig wie eine gesunde Republik fortdauern kann, wenn die Sitten verdorben werden. Das Geschrei nach Gleichheit ist unverträglich mit der Civilisation; denn diese stellt nothwendigerweise die Armuth dem Reichthum gegenüber – kurz, es ist, mag nun ein Kaiser oder der Pöbel regieren, die Gewalt die einzige Hoffnung, auf welche sich die Ordnung stützt, und die Regierung ist nur eine Armee.

Präge, Pisistratus! präge den Werth der Geduld ein, welche der Mensch gegen den Menschen beobachten muß. Du berührst damit den Kern des socialen Systems – dasjenige Geheimniß, welches das Individuum kräftigt und Millionen in Ordnung hält. Ich meines Theils kümmere mich nicht darum, wenn du auch ermüdest, so lange du ernst bleibst. Sei ausführlich und gehe auf die Einzelheiten ein. Lasse das wirkliche menschliche Leben in seinem Kampfe mit den Verhältnissen uns in die Augen springen. Es thut nichts, wenn man dich nur langsam lesen kann – du hast dann bessere Aussicht, nicht so rasch vergessen zu werden. Geduld, Geduld! Bei dem Geiste des Epiktetus Siehe Anm. 78., deine Leser werden dir ein Beispiel von derselben geben!«


Zweites Kapitel.

Leonard hatte zwei Mal an Mrs. Fairfield, zwei Mal an Riccabocca und ein Mal an Mr. Dale geschrieben; aber der arme stolze Knabe konnte es nicht über das Herz bringen, seine Demüthigung zu verrathen. Er schrieb, als wäre er in der heitersten Stimmung und mit seinen Aussichten vollständig zufrieden. Er erzählte ihnen, daß er eine gute Stelle bekommen, sich mitten unter Büchern befinde und gütige Freunde gefunden habe. Dann lenkte er von seinen eigenen Angelegenheiten ab und schrieb über Dinge und Interessen jener ruhigen Welt, in welcher Diejenigen lebten, an welche er seine Briefe richtete. Er gab nicht seine eigene, sondern Mr. Prickett's Adresse an. Seine Briefe datirte er aus einem kleinen Kaffeehause in der Nähe des Buchhändlers, welches er gelegentlich besuchte, um sein einfaches Mahl einzunehmen. Er hatte seine Gründe dazu. Er wünschte nicht, daß man ihn ausfindig mache.

Mr. Dale antwortete für sich selbst und für Mrs. Fairfield auf die Briefe, welche an die Beiden gerichtet waren. Riccabocca schrieb ebenfalls. Nichts konnte freundlicher sein, als diese Antworten. Sie trafen Leonard in einer sehr düsteren Periode seines Lebens und stärkten ihn in seinem stillen Kampfe mit der Verzweiflung.

Wie viel Gutes kann man nicht wirken ohne es zu wissen und ohne die Wirkung zu ahnen, welche es auf die menschliche Seele ausübe – wenn man einem jungen Manne auf seinen ersten schweren Schritten den Berg des Lebens hinan Freundlichkeit beweist.

Auf Leonard's Antlitz kehrte in seinem Umgang mit seinem Arbeitgeber die frühere Heiterkeit zurück; aber sein kindlich offenes und freimüthiges Benehmen erlangte er nicht wieder. Die unteren Strömungen flossen wieder rein aus dem trüben Bette und aus den dem Abgrunde entrissenen Trümmern; aber sie waren noch zu stark und zu ungestüm, um die Oberfläche durchsichtig erscheinen zu lassen.

Und jetzt stand er mitten in der erhabenen Welt der Bücher, still und ernst wie ein Seher, der die Todten beschwört. So entdeckte er Angesichts des Wissens stündlich mehr und mehr, wie wenig er selbst noch wisse. Mr. Prickett lieh ihm diejenigen Werke, welche er auswählte und mit nach Hause zu nehmen wünschte. Er verwendete ganze Nächte auf das Lesen und las nicht mehr planlos. Er las keine Poesie, keine Lebensbeschreibungen von Dichtern mehr. Er las, was Dichter lesen müssen, wenn sie groß zu werden wünschen – Sapere principium et fons Nach Horaz, De arte poetica, V. 309; vollständig lautet die Zeile: Scribendi recte sapere est et principium et fons. (Anfang und Quelle des richtigen Schreibens ist die Weisheit.) – strenge Betrachtungen über den menschlichen Verstand, und die Beziehungen zwischen Motiv und Ausführung, zwischen Gedanken und That; ferner die ernsten und erhabenen Wahrheiten der Vergangenheit; die Alterthumskunde, die Geschichte und die Philosophie.

Er trat aus sich selbst heraus und ließ sich auf dem Ocean des Universums forttreiben. In diesem Ocean, junger Forscher, studire die Gesetze der Strömungen der Zeit, und wenn du siehst, daß nirgends der Zufall, sondern überall der Gedanke waltet, dann wird das schreckliche Phantom, das wir Fatum nennen, aus der Schöpfung verschwinden und die Vorsehung allein im Himmel und auf Erden dir sichtbar sein!


Drittes Kapitel.

In einem Landhause, eine Tagereise von London entfernt, sollte eine bedeutende Bücherversteigerung stattfinden. Mr. Prickett hatte sowohl in seinem eigenen, wie auch in dem Interesse verschiedener Herren, die ihm Aufträge zu Ankäufen gegeben hatten, die Absicht, derselben beizuwohnen. An dem Morgen jedoch, an welchem er abreisen sollte, bekam er einen Anfall seines alten Gichtleidens und ersuchte daher Leonard, statt seiner hinzugehen.

Leonard reiste ab und war die drei Tage abwesend, welche der Verkauf dauerte. Er kehrte spät Abends zurück und begab sich sofort nach Mr. Prickett's Hause. Der Laden war geschlossen; er klopfte bei dem Haupteingang an, eine fremde Person öffnete die Thüre und antwortete auf seine Frage, ob Mr. Prickett zu Hause sei, mit einem Leichenbittergesicht: »Junger Mann, Mr. Prickett senior ist nach seiner ewigen Heimath gegangen, aber Mr. Richard Prickett will Sie empfangen.«

In diesem Augenblick erschien ein sehr ernst aussehender Mann mit schlichten Haaren in der Seitenthüre, welche den Laden mit dem Hausgange in Verbindung setzte, trat dann hervor und sagte: »Kommen Sie herein, Sir; Sie sind wohl Mr. Fairfield, der Gehülfe, meines verstorbenen Onkels?«

»Ihres verstorbenen Onkels! Gütiger Himmel, Sir, verstehe ich Sie recht – kann Mr. Prickett gestorben sein, seit ich London verlassen habe?«

»Er ist diese Nacht plötzlich verschieden, Sir. Es war eine Herzkrankheit; der Doktor glaubt, die Gicht habe sich auf dieses Organ geworfen. Er hatte wenig Zeit, sich auf sein Hinscheiden vorzubereiten, und seine Rechnungsbücher scheinen sich in einer schlimmen Unordnung zu befinden. Ich bin sein Neffe und Testamentsvollstrecker.«

Leonard folgte jetzt dem Neffen in den Laden. Dort brannte noch die Gaslampe. Das Lokal schien noch schmutziger und höhlenartiger auszusehen, als vorher. Der Tod macht immer seine Gegenwart in dem Hause, in welchem er erscheint, bemerkbar.

Leonard war in hohem Grade bewegt, und das vielleicht um so mehr, weil der Neffe auch nicht das geringste Gefühl an den Tag legte. Der Verstorbene hatte in der That mit diesem seinem nächsten Verwandten und gesetzlichen Erben, der ebenfalls Buchhändler war, nicht auf dem freundschaftlichsten Fuße gelebt.

»Wie ich aus den Papieren meines verstorbenen Onkels sehe, waren Sie, junger Mann, nur Wochenweise angestellt. Er bezahlte Ihnen ein Pfund die Woche – eine übertriebene Summe! Ich werde Ihre Dienste nicht weiter bedürfen. Diese Bücher hier will ich nach meinem eigenen Hause bringen lassen; Sie werden so gut sein, mir ein Verzeichniß von denjenigen, die Sie in der Auktion gekauft haben, sowie auch eine Rechnung über Ihre Reisekosten &c. zuzustellen. Was Sie zu fordern haben, wird Ihnen unter Ihrer Adresse zugeschickt werden. Guten Abend.«

Leonard ging nach Hause, erschüttert und betrübt über den plötzlichen Tod seines freundlichen Principals. In jener Nacht dachte er nicht viel an sich salbst; als er aber am nächsten Morgen aufstand, fühlte er, daß die kalte grausame Welt von London vor ihm liege, ohne daß er einen Freund, einen Beruf oder eine Beschäftigung hatte, wovon er leben konnte.

Dieses Mal war es kein eingebildeter Kummer, kein poetischer Traum, der ihn getäuscht hatte. Vor ihm stand, hager und in deutlicher Gestalt, der Hunger.

Entrinnen! – Ja, zurück nach dem Dorfe, nach der Hütte seiner Mutter, nach dem Garten des Verbannten, zu den Rettigen und dem Springbrunnen. Warum konnte er nicht entrinnen? Frage, warum die Civilisation ihren Uebeln nicht entrinnen und in die Wildniß und zu dem Wigwam zurückkehren kann!

Leonard hätte selbst dann nicht die Hütte wieder aufsuchen können, wenn der Hunger, der ihm in's Gesicht schaute, ihn schon mit seiner Knochenhand erfaßt haben würde. London läßt seine ihm von dem Schicksal überantworteten Stiefsöhne nicht so leicht los.


Viertes Kapitel.

In einem Durchgang, der von Oxford-Street nach Tottenham-Curt-Road führt, standen eines Tages drei Personen vor einer Bude mit alten Büchern. Zwei davon waren Gentlemen, und der dritte schien zu derjenigen Klasse von Leuten zu gehören, welche gewöhnlich vor Buden mit alten Büchern Halt machen.

»Sehen Sie einmal,« sagte einer der Gentlemen; »hier habe ich etwas entdeckt, wonach ich seit zehn Jahren vergebens suchte – den Horaz von 1580, den Horaz der Vierzig Kommentatoren Bei Henricopetri in Basel erschienen; die Edition gilt unter Kennern als interessant im Hinblick auf die Geschichte der Altphilologie. – einen wahren Schatz der Gelehrsamkeit – und nur mit vierzehn Schillingen ausgezeichnet!«

»Still, Norrey,« sagte der Andere, »und betrachten Sie etwas, das Ihres Studiums noch würdiger ist;« und damit deutete er auf den jungen Mann, welcher neben ihnen stand, und dessen scharfes, abgezehrtes Gesicht mit einer Art hungriger Aufmerksamkeit über einen wurmstichigen Band gebeugt war.

»Was für ein Buch ist es, Mylord?« flüsterte Mr. Norreys.

Sein Begleiter lächelte und antwortete mit einer andern Frage: »Was ist der Mann, der das Buch liest?«

Mr. Norreys trat ein Paar Schritte seitwärts und blickte über die Schulter des Lesenden. »Preston's Uebersetzung des Boethius, die Tröstungen der PhilosophieAnicius Manlius Severinus Boethius (um 480/485-524/526), spätantiker römischer Gelehrter, Politiker, neuplatonischer Philosoph und Theologe. Seine Tätigkeit fiel in die Zeit der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich, unter dem er hohe Ämter bekleidete. Er geriet in den Verdacht, eine gegen die Ostgotenherrschaft gerichtete Verschwörung von Anhängern des oströmischen Kaisers zu begünstigen. Daher wurde er verhaftet, als Hochverräter verurteilt und hingerichtet. Während der Haftzeit entstand die Schrift Consolatio philosophiae (»Der Trost der Philosophie«), in der er seine Vorstellungen zur Ethik und Metaphysik darlegte. – Richard Graham, 1st Viscount Preston (1648-1695), ein englischer Diplomat und Politiker, schuf seine englische Übersetzung im Jahre 1680; das Werk erschien Posthum 1695/96. sagte er und kehrte zu seinem Freunde zurück.

»Der arme Junge sieht aus, als ob er alle Tröstungen nöthig hätte, welche die Philosophie ihm bieten kann.«

In diesem Augenblick blieb ein anderer Vorübergehender an der Bücherbude stehen, legte, als er den blassen Studenten erkannte, seine Hand auf dessen Schulter und sagte: »Aha, junger Sir, da treffen wir uns ja wieder. Der arme Prickett ist also todt. Aber bei Ihnen spuken noch immer die alten Erinnerungen. Bücher – Bücher – das sind die Magnete, zu welchen alle eisernen Geister sich unbewußt hingezogen fühlen. Was ist das für ein Buch? Boethius! Ah, ein Buch, das im Gefängnisse und nur kurze Zeit vor dem Erscheinen des einzigen Philosophen geschrieben wurde, welcher selbst dem einfachsten Verstande jedes Räthsel des Lebens löst.«

»Und dieser Philosoph?«

»Ist der Tod!« sagte Mr. Burley. »Wie können Sie nur fragen! Armer Boethius – reich, von Stand, ein Konsul, seine Söhne Konsuln – und die ganze Welt nur Ein Lächeln für den letzten Philosophen Rom's. Dann stand plötzlich diesem Typus der scheidenden Weisheit der alten Welt der zürnende und grimmige Geist der neuen Welt, die Gewalt, gegenüber – Theodorich der Ostgothe verurteilte Boethius, den Schulgelehrten, und Boethius hielt in seinem Gefängnisse zu Pavia ein Zwiegespräch mit dem Schatten der atheniensischen Philosophie. Es ist das schönste Gemälde, auf welchem noch der Schimmer der goldenen Tage des Westens schwebt, bevor die Nacht über jene Zeit hereinbricht.«

»Und,« fiel Norreys hier ein, »Boethius kommt mit dem ersten schwachen Schimmer des wiederkehrenden Lichtes zu uns zurück, von Alfred dem Großen übersetzt. Und dann wieder – als die Sonne des Wissens in ihrem vollen Glanze die Wolken durchbricht – durch die Königin Elisabeth. Alfred der Große (849-899, König von Wessex 871-899) hinterließ neben drei anderen Übersetzungswerken auch eine wohl nach 878 entstandene altenglische Fassung der Consolatio philosophiae. – Elisabeth I. arbeitete im Oktober/November 1593 zu ihrem eigenen Vergnügen an ihrer Übersetzung. Boethius übt seinen Einfluß auf uns, die wir in diesem Gäßchen stehen, und das ist das Beste von allen Tröstungen der Philosophie – nicht wahr, Mr. Burley?«

Mr. Burley wendete sich um und verbeugte sich. Die beiden Männer blickten sich an; man konnte keinen größeren Gegensatz sehen. Auf der einen Seite Mr. Burley in seinem grünen Rock, der schon etwas abgeschaben und schmutzig war, und mit einem Gesicht, das seine gewöhnlichen nächtlichen Gelage verrieth. Auf der andern Seite Mr. Norreys, hübsch und pünktlich in seinem Anzuge, mit einer festen, mageren Figur, mit dem Ausdruck einer ruhigen, besonnenen und kräftigen Energie in seinen Augen und seiner ganzen Erscheinung.

»Wenn,«‹ antwortete Mr. Burley, »ein armer Teufel, wie ich, mit einem Gentleman streiten darf, der bei den Buchhändlern selbst sein Honorar bestimmen kann, so möchte ich sagen, daß es gar kein Trost ist, Mr. Norreys. Und ich möchte irgend einen vernünftigen Mann sehen, der die Lage des Boethius in seinem Gefängnisse mit einem hinter der Thüre wachenden Henker oder Scharfrichter annehmen würde, wenn man ihm als Bedingung verspräche, daß er Jahrhunderte darauf von Königen und Königinnen übersetzt worden und indirekt einen Einfluß auf nordische Barbaren üben würde, die in einem Gäßchen über ihn plaudern und von Vorübergehenden gestoßen werden, welche nie den Namen Boethius gehört haben und sich keinen Pfifferling um Philosophie kümmern. Ihr Diener, Sir – junger Mann, kommen Sie, und lassen Sie uns zusammen reden.«

Burley legte seinen Arm in den Leonard's und führte den Knaben willenlos hinweg.

»Das ist ein gescheidter Mann,« sagte Harley L'Estrange. »Aber es thut mir leid, diesen jungen Studenten mit den glänzenden, ernsten Augen und einer Lippe, auf welcher ein Zug von Leidenschaft und Begeisterung schwebt, Arm in Arm mit einem Führer zu sehen, für welchen alles, was der Gelehrsamkeit einen bestimmten Zweck verleiht und die Philosophie mit dem praktischen Leben verbindet, jeden Zauber verloren hat. Wer und was ist dieser gescheidte Mensch, den Sie Burley nennen?«

»Ein Mann, der berühmt hätte werden können, wenn er sich dazu herbeigelassen hätte, ehrenhaft zu sein! Der Jüngling, welcher uns so aufmerksam zuhörte, interessirte auch mich – ich möchte ihn zum Schüler haben. Aber ich muß diesen Horaz kaufen.«

Jetzt wurde der Besitzer des Ladens, der wie eine Spinne, die auf Fliegen lauert, in seiner Höhle saß, herausgerufen. Und als Mr. Norreys den Horaz gekauft und die Adresse angegeben hatte, an welche er geschickt werden sollte, frug Harley den Antiquar, ob er den jungen Mann kenne, der in dem Boethius gelesen.

»Nur von Ansehen. Seit einer Woche kömmt er jeden Tag hierher und bringt ganze Stunden an meinem Laden zu. Wenn er einmal ein Buch in der Hand hat, so liest er es durch.«

»Und er kauft nie eins?« sagte Mr. Norreys.

»Sir,« versetzte der Antiquar mit einem gutmüthigen Lächeln, »Diejenigen, welche Bücher kaufen, lesen selten. Der arme junge Mensch bezahlt mir täglich zwei Pence, um so lange zu lesen, als er Lust hat. Ich wollte nichts von ihm nehmen, aber er ist stolz.«

»Ich habe Männer gekannt, die sich auf diese Weise eine große Gelehrsamkeit aneigneten,« sagte Mr. Norreys. »Ja, ich möchte den jungen Menschen unter meinen Händen haben. Und jetzt, Mylord, stehe ich zu Ihren Diensten, um in das Atelier Ihres Künstlers zu gehen.«

Die beiden Gentlemen gingen auf eine der Straßen zu, welche auf Fitzroy-Square herausführen.

Nach einigen Minuten befand sich Harley L'Estrange in seinem Element, indem er, nachlässig auf einem tannenen Tische sitzend, seine Cigarre rauchte und über Kunst sprach mit dem Geschmacke eines Mannes, der sie ehrlich liebt und gründlich versteht. Der junge Künstler in seinem Hausrocke, welcher langsam einen Pinselstrich nach dem andern machte, hielt oft inne um besser hören zu können. Und Henry Norreys, der sich der kurzen Erholung von einem Leben voll anstrengender Arbeit rückhaltlos hingab, erinnerte sich mit Freuden der müssigen Stunden unter einem rosigen Himmel: denn diese drei Männer hatten ihre Freundschaft in Italien geschlossen, wo die Bande der Freundschaft von den Händen der Grazien gewoben werden.


Fünftes Kapitel.

Leonard und Mr. Burley wanderten weiter nach den Vorstädten zu, welche an der nördlichen Landstraße aus London hinaus führen, und Mr. Burley erbot sich, Leonard literarische Beschäftigung zu verschaffen – ein Anerbieten, welches dieser begierig annahm.

Hierauf traten sie in ein am Wege liegendes Wirthshaus. Burley bestellte ein besonderes Zimmer und ließ sich Feder, Tinte und Papier geben; hierauf legte er diese Werkzeuge vor Leonard hin und sagte:

»Schreiben Sie in Prosa, was Ihnen gefällt; fünf Bogen Briefpapier, zweiundzwanzig Zeilen auf jeder Seite – nicht mehr und nicht weniger.«

»So kann ich nicht schreiben.«

»Pah, es ist für's Brod.«

Das Gesicht des Jünglings überzog sich mit einer dunkeln Röthe. »Das muß ich vergessen,« sagte er.

»Da unten im Garten ist eine Laube unter einer Traueresche,« antwortete Burley. »Gehen Sie dahin, und bilden Sie sich ein, Sie seien in Arkadien.«

Leonard freute sich sehr, dieser Aufforderung entsprechen zu dürfen. Er fand die kleine Laube am Ende eines einsamen Rasenplatzes. Alles war still; die Hecke verdeckte das Wirthshaus. Die Sonnenstrahlen brannten warm auf das Gras und schimmerten angenehm durch die Blätter der Esche. Hier schrieb Leonard seinen ersten Aufsatz als Schriftsteller von Profession. Was war es, das er schrieb? seine träumerischen Eindrücke von London? einen Fluch über die steinernen Herzen der großen Stadt? eine düstere Elegie über das Schicksal?

O nein! Du kennst das wahre Genie wenig, wenn du solche Fragen stellst oder glaubst, er sei sich dort unter der Traueresche bewußt gewesen, daß er für seinen Unterhalt arbeite, oder daß die Sonnenstrahlen nur auf die praktische Welt, welche gemein und schmutzig ringsum lag, herabschienen. Leonard schrieb ein Zaubermährchen, das lieblichste, das man sich denken kann, mit einem zarten Anstrich von scherzhaftem Humor und in einem Styl, der blühend und voll glücklicher Bilder war. Er lächelte, als er das letzte Wort schrieb; er war glücklich. Nach etwas mehr, als einer Stunde, kam Burley zu ihm und fand ihn mit jenem Lächeln auf den Lippen.

Mr. Burley hatte ein Glas Cognac und Wasser in der Hand; es war sein drittes. Auch er lächelte: auch er sah glücklich aus. Er las das Geschriebene laut und gut vor und spendete Leonard reichliches Lob.

»Aus Ihnen wird etwas werden!« sagte er und klopfte Leonard auf die Schulter. »Vielleicht fangen Sie noch einst meinen einäugigen Barsch.«

Hierauf legte er das Manuskript zusammen, kritzelte ein Billet und steckte das Ganze in ein Briefcouvert, worauf sie nach London zurückkehrten.

Mr. Burley verschwand in einem schmutzigen Büreau in der Nähe von Fleet-Street, auf welchem geschrieben stand – »Büreau des Bienenkorbs«. Bald darauf kam er mir einem goldenen Sovereign in der Hand, Leonard's Erstlingsfrucht, zurück. Leonard wähnte, ganz Peru liege vor ihm. Er begleitete Mr. Burley nach dessen Wohnung in Maida Hill. Sie hatten einen sehr langen Spaziergang gemacht; aber Leonard war nicht ermüdet, er hörte mit lebhafterer Aufmerksamkeit auf Burley's Rede, als zuvor. Und als sie in den Zimmern des letzteren ankamen, und Mr. Burley in ein Speisehaus schickte und sie ihr gemeinschaftliches Abendessen mit einem Theil des goldenen Sovereign bestritten, fühlte sich Leonard stolz und lachte zum ersten Male seit Wochen aus vollem Herzen.

Die beiden Schriftsteller wurden mehr und mehr vertraut und herzlich gegen einander. Und es lag in Burley außerordentlich viel, was einen jungen Menschen klüger machen konnte. Die Zimmer hatten keinen Anschein von Armuth, sie waren reinlich, neu und gut möblirt, aber alles darin befand sich im entsetzlichsten Durcheinander; alles deutete auf die in höchstem Grade unordentlichen Gewohnheiten des Bewohners derselben.

Einige Tage lebte Leonard beinahe nur in diesen Zimmern. Er schrieb fortwährend, ausgenommen wenn Burley's Unterhaltung ihn zum Müssiggehen hinriß. Und doch war auch dies kein Müssiggehen – seine Kenntnisse erweiterten sich durch das Zuhören; aber der Cynismus des Redenden begann bald durchzuschlagen; derjenige Cynismus nämlich, welcher keinen Glauben, keine Hoffnung, keinen belebenden Athem in dem Ruhme und in der Religion anerkennt. Es war der Cynismus des Epicuräers, der in seinem Schweinestall sich tiefer erniedrigte, als es je Diogenes in seiner Tonne gethan; und doch wurde dieser Cynismus mit solcher Behaglichkeit, Beredsamkeit, Kunst und Lust vorgetragen und mit Bildern und Anekdoten in einer Weise ausgestattet, daß sich der Vortragende seiner Erniedrigung nicht bewußt zu sein schien.

Eine seltsame und schreckliche Philosophie, welche es sich zum Grundsatze macht, die Gaben des Geistes lediglich auf die Sorge für das Materielle zu verschwenden und die Seele unter dem verächtlichen Rufe »Unsterblichkeit und Loorbeeren sind Tand!« nur von einem Tag zum andern leben zu lassen. Ein Schriftsteller, der nur für das Brod schreibt! O, welch ein jämmerlicher Beruf! Selbst in Chatterton's Verzweiflung lag zuletzt noch etwas Großartiges und Heiliges!


Sechstes Kapitel.

Der gemeine Bienenkorb! Allerdings verdiente man Brod dabei, aber gewiß nicht Ruf und Hoffnung für die Zukunft. Milton's Verlorenes Paradies würde unbeachtet zu Grunde gegangen sein, wenn es in dem Bienenkorb erschienen wäre.

Er enthielt hübsche Sachen in einem bruchstückartigen, rohen Zustande, die von Burley selbst geschrieben wurden. Beim Schluß der Woche waren sie todt und vergessen und wurden nie von Männern von Bildung und Geschmack gelesen; mit seichter Politik und elenden Abhandlungen untermischt, wurden sie dessenungeachtet in der ungeheuren Auflage von zwanzig bis dreißigtausend Exemplaren verkauft – und nichts kam dabei heraus, als Brod und Cognac!

»Was wollen Sie denn mehr?« rief John Burley. »Hat nicht der strenge alte Sam Johnson gesagt, er könne nie schreiben, als wenn er in Noth sei?«

»Er mag das gesagt haben,« antwortete Leonard; »aber es war nicht seine Absicht, daß die Nachwelt ihm glauben sollte. Und er würde, denke ich, lieber aus Noth gestorben sein, als seinen Rasselas The History of Rasselas, Prince of Abissinia, ursprünglich betitelt The Prince of Abissinia: A Tale (1759), eine Apologie des Glücks. Samuel Johnsons schrieb das Buch in einer Woche herunter, um die Kosten für die Beerdigung seiner Mutter bestreiten zu können. Es brachte ihm 75 Pfund ein. für den Bienenkorb geschrieben haben! Die Noth ist etwas Großes,« fuhr der junge Mann nachdenklich fort. »Sie ist die Mutter großer Dinge. Sie ist stark und sollte uns ihre eigene Stärke verleihen; aber mit ihren krampfhaften Zuckungen sollte sie die Mauern unseres Gefängnisses auseinander sprengen und sich nicht begnügen mit der schmalen Kost, die der Kerker uns für unsere Arbeit gibt.«

»Für den Mann, der dem Bacchus huldigt, gibt es keinen Kerker. Warten Sie, ich werde Ihnen Schillers Dithyrambe übersetzen –

›Kaum daß ich Bacchus, den lustigen, habe,
Kommt auch schon Amor, der lächelnde Knabe,
Phöbus, der Herrliche, findet sich ein.
Sie nahen, sie kommen –
Die Himmlischen Alle.
Mit Göttern erfüllt sich
Die irdische Halle.‹«

Und nun trug Burley, indem er nachlässige Reime improvisirte, eine rohe, aber geistreiche Uebersetzung jenes göttlichen Gedichtes vor.

»O Materialist!« rief der Jüngling, während seine klaren Augen feucht wurden. »Schiller ruft die Götter an, daß sie ihn zu sich in ihren Himmel nehmen, und Sie wollen die Götter in eine Branntweinschenke herabziehen!«

»Oho!« rief Burley mit seinem lauten Lachen. »Trinken Sie und Sie werden die Dithyrambe verstehen.«


Siebentes Kapitel.

Eines Morgens, als Leonard bei Burley war, hielt ein modernes Cabriolet mit einem sehr hübschen Pferd vor der Thür. Man hörte ein lautes Klopfen, dann rasche Tritte auf der Treppe, und Randal Leslie trat ein. Leonard erkannte ihn und fuhr zusammen.

Randal blickte ihn verwundert an, näherte sich, nachdem er Burley die Hand geschüttelt, Leonard mit jenem feinen Takte, der bewies, daß er bereits von dem Londoner Leben etwas gelernt hatte, und sagte mit einem Anstrich von Unbefangenheit:

»Wenn ich mich nicht täusche, Sir, so haben wir uns früher schon getroffen. Sollten Sie sich meiner erinnern, so hoffe ich, daß alle knabenhaften Streitereien vergessen sind.«

Leonard verbeugte sich und sein Herz war noch weich genug, um mild und versöhnlich gestimmt zu werden.

»Wo können Sie Beide sich je getroffen haben,« frug Burley.

»Auf der Wiese eines Dorfes und im Zweikampfe,« antwortete Randal lächelnd; und dann erzählte er die Geschichte von der Schlacht bei dem Stocke und scherzte dabei über sich selbst.

Burley lachte über die Geschichte. »Aber,« sagte er alsdann, »mein junger Freund hätte besser gethan, Aufseher des Stockes zu bleiben als nach London zu kommen, um ein Glück zu suchen, das auf dem Boden eines Tintenfasses ruht.«

»Ah,« sagte Randal im Tone jener geheimen Verachtung, welche sorgfältig gebildete Leute gegen Andere zu empfinden geneigt sind, die sich selbst zu erziehen suchen – »Ah, Sie machen die Schriftstellerei zu ihrem Berufe, Sir? In welcher Schule haben Sie Geschmack an den Wissenschaften gewonnen? In unseren großen öffentlichen Anstalten trifft man ihn nicht sehr häufig.«

»Ich mache jetzt meine erste Schule durch,« antwortete Leonard trocken.

»Die Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin,« sagte Burley; »und dies war auch der Grundsatz Göthe's, der wahrlich Büchergelehrsamkeit genug besaß.«

Randal zuckte leicht die Achseln, und – ohne an Leonard, den sich selbst unterrichtenden Bauernsohn, einen weiteren Gedanken zu verschwenden – setzte er sich und begann mit Burley ein Gespräch über eine politische Frage, welche zu jener Zeit das Feldgeschrei zwischen den beiden großen Parteien des Parlaments bildete. Sie betraf einen Gegenstand, über den Burley sehr viel allgemeine Kenntniß an den Tag legte; und Randal, welcher anderer Meinung zu sein schien, bewies ebenfalls, daß er wohl unterrichtet sei und Gewandtheit im Beweisführen besitze. Die Unterhaltung dauerte über eine Stunde.

»Ich kann Ihnen nicht ganz beistimmen,« sagte Randal, indem er sich verabschiedete; »aber Sie müssen mir erlauben, daß ich Sie wieder besuche. Wird Ihnen morgen dieselbe Stunde genehm sein?«

»Ja,« sagte Burley.

Hierauf fuhr der junge Mann in seinem Cabriolet davon. Leonard beobachtete ihn vom Fenster aus.

An den darauffolgenden fünf Tagen kam Randal jedes Mal um dieselbe Stunde wieder und besprach die genannte Frage nach allen Richtungen hin; Burley gewann schon nach dem zweiten Tage Interesse für die Sache, schlug seine Autoritäten nach, frischte so sein Gedächtniß auf und brachte sogar ein paar Stunden in der Bibliothek des brittischen Museums zu. Am fünften Tage hatte Burley in der That alles erschöpft, was er seinerseits über die Frage sagen konnte.

Leonard hatte während dieser Gespräche abseits gesessen, scheinbar in Lesen vertieft, fühlte sich aber im Geheimen dadurch verletzt, daß Randal seine Gegenwart gar nicht beachtete.

Der junge Mann empfand in der That in seinem stolzen Selbstbewußtsein und ausschließlich von seinen ehrgeizigen Plänen in Anspruch genommen kaum irgend eine Neugierde in Beziehung auf die Art und Weise, wie sich Leonard über seinen früheren Stand erhoben hatte; er betrachtete ihn nur als einen gewöhnlichen Arbeiter Burley's. Aber Diejenigen, welche ihr Wissen sich selbst verdanken, sind scharfe und rasche Beobachter. Und Leonard hatte bemerkt, daß Randal mehr eine Rolle zu irgend einem Privatzweck spielte, als daß er die Frage im Ernst discutirte, und als er endlich aufstand und sagte: »Mr. Burley, Sie haben mich überzeugt,« geschah dies nicht mit der Bescheidenheit eines aufrichtigen Kämpfers, sondern mit dem Triumphe eines Solchen, der seinen Zweck erreicht hat.

Indessen war unser unbeachteter und schweigender Zuhörer über die Fähigkeit Burley's, eine Frage erschöpfend zu erörtern, und über das weite Gebiet, welches seine Kenntnisse umfaßten, so überrascht, daß er, als Randal das Zimmer verließ, den heruntergekommenen und zwecklos dahin lebenden Mann anblickte und laut sagte: »Nein; Wissen ist nicht Macht.«

»Gewiß nicht,« sagte Burley trocken – »es ist das schwächste Ding auf der Welt.«

»Wissen ist Macht,« murmelte Randal Leslie mit einem Lächeln auf den Lippen, als er wegfuhr.

Wenig Tage nach dieser letzten Zusammenkunft erschien eine kurze Broschüre; sie war zwar anonym, machte aber großes Aufsehen in der Stadt – und betraf den Gegenstand, welcher zwischen Randal und Burley verhandelt worden war. Sie wurde sehr weitläufig in den Zeitungen besprochen.

Burley fuhr eines Morgens auf und rief: »Meine eigenen Gedanken! Meine eigenen Worte! Wer zum Teufel ist der Verfasser dieser Broschüre?«

Leonard nahm die Zeitung aus Burley's Hand. Die schmeichelhaftesten Lobpreisungen leiteten die Auszüge ein, und diese Auszüge waren wie Stereotypen von Burley's Reden.

»Können Sie über den Verfasser im Zweifel sein?« rief Leonard mit tiefem Ekel und aufrichtiger Verachtung. »Der junge Mann, welcher Sie besuchte, um Ihre Gedanken zu stehlen und Ihr Wissen –«

»In Macht zu verwandeln!« unterbrach ihn Burley lachend; es war aber ein schmerzliches Lachen. »Das war sehr gemein; ich werde es ihm sagen, wenn er wiederkommt.«

»Er wird nicht wiederkommen,« sagte Leonard.

Und Randal kam auch nicht wieder. Aber er schickte Mr. Burley ein Exemplar der Broschüre mit einem höflichen Billet, in welchem er offen und unbekümmert anerkannte, daß »er aus Mr. Burley's Winken und Bemerkungen viel Nutzen gezogen habe.«

Und jetzt kam in alle Zeitungen, die Broschüre, die so großen Lärm gemacht, habe einen sehr jungen Mann, einen Verwandten Mr. Audley Egerton's zum Verfasser. Und große Hoffnungen wurden hinsichtlich der zukünftigen Laufbahn Mr. Randal Leslie's ausgesprochen.

Burley versuchte noch immer zu lachen und noch immer sah man ihm seinen Schmerz an. Leonard verachtete und haßte Randal Leslie von ganzem Herzen, und ein edles, aber gefährliches Mitleid zog sein Herz zu Burley hin. Von dem Wunsche beseelt, den Mann, der nach seiner Ansicht um seinen Ruhm betrogen war, zu besänftigen und zu trösten, vergaß er die Vorsicht, die er sich bisher auferlegt hatte, und gab sich immer mehr und mehr dem Zauber dieses wüsten Geistes hin. Er begleitete Burley jetzt in die Lokale, in welchen er seine Abende zubrachte, und immer mehr und mehr schlich sich, obgleich nur stufenweise und unter vielfachem Widerstreben und Selbstvorwürfen, die Verachtung des Cynikers gegen den Ruhm und eine philosophische Zufriedenheit niedriger Natur in sein Herz ein.

Randal war durch die Macht der Kenntnisse Burley's in großen Ruf gekommen. Hätte aber Burley die Broschüre geschrieben, würde er in denselben Ruf gekommen sein? Gewiß nicht. Randal vereinigte mit jenen Kenntnissen ihm eigentümliche Vorzüge – einen einfachen und kräftigen logischen Styl; einen gewissen Ton, wie derselbe in der guten Gesellschaft gebräuchlich ist, und Anspielungen auf Männer und Parteien, welche zeigten, daß er mit einem Kabinetsminister in Verbindung stand, und bewiesen, daß er nicht weniger aus Egerton's, als aus Burley's Gesprächen Nutzen gezogen hatte.

Wenn Burley die Broschüre geschrieben hätte, so würde mehr Genialität, mehr Humor und Witz darin gewesen sein; aber sie würde auch eine solche Menge launenhafte Einfälle, Sticheleien und Verstöße gegen den guten Geschmack und den nöthigen Ernst enthalten haben, daß sie kein nachhaltiges Aufsehen hätte erregen können. Hier also war neben dem Wissen noch etwas Anderes, wodurch das Wissen Macht wurde. Wissen darf nicht nach der Branntweinflasche riechen.

Randal Leslie mochte bei seinem literarischen Diebstahl gemein gehandelt haben, aber er verwandelte das Nutzlose in etwas Nützliches. So weit war er originell.

Aber Bewunderung zollt man am Ende doch nur Demjenigen, dem auch Leonard sie zollte – dem armen, schäbigen, schwelgerischen, gesetzlosen, großen gefallenen Manne!

Burley begab sich an den Brent und angelte wieder nach seinem einäugigen Barsch. Leonard begleitete ihn. Seine Gefühle waren in der That sehr verschieden von denen, die ihn damals beseelten, als er unter dem alten Baum gesessen und mit Helene von der Zukunft gesprochen hatte.

Es war aber beinahe rührend, zu sehen, wie Burley's Natur sich zu verwandeln schien, wenn er längs dem Ufer des Flüßchens umherstreifte und von seiner Knabenzeit erzählte. Es schien, als ob sich dann bei dem Manne wieder etwas von der Unschuld des Kindes einstellte. Er kümmerte sich in der That wenig um den Barsch, der sich noch immer nicht fangen lassen wollte, sondern er empfand Genuß an der Luft, am Himmel, an dem Säuseln des Grases und an dem Murmeln des Wassers. Diese Ausflüge nach den Orten, an welchen er sich in seiner Jugend aufgehalten, schienen für ihn eine zweite Taufe, und seine Beredsamkeit nahm einen so pastoralen Charakter an, daß Isaac Walton Izaak Walton (1593-1683), veröffentlichte Lebensbeschreibungen und war begeisterter Angler. selbst ihm gerne zugehört haben würde.

Wenn er aber wieder in den Rauch der Hauptstadt zurückkehrte und die Gaslampen ihn den Glanz des Sonnenunterganges und den milden Abendstern vergessen machten, dann überwältigten ihn von Neuem die rohen Gewohnheiten, und er schlenderte wieder mit polternden, nachlässigen Schritten zu den wüsten Gelagen, bei welchen sein geschändeter Geist aufloderte, um dann wieder erlöschend und strahlenlos zu Boden zu sinken.


Achtes Kapitel.

Helene fühlte sich von einer tiefen und ängstlichen Trauer ergriffen. Leonard hatte sie drei oder vier Mal besucht, und jedes Mal bemerkte sie eine Veränderung an ihm, die endlich schwere Befürchtungen in ihr rege machte. Er schien freilich schlauer, weltkluger und mehr geeignet für das grobe Alltagsleben; aber auf der andern Seite schwand langsam die Frische und der Glanz seiner Jugend dahin. Seine Wünsche senkten sich der Erde zu. Er war des Praktischen nicht Meister geworden und formte dessen Bedürfnisse mit der starken Hand eines geistigen Architekten, eines idealen Baumeisters; das Praktische überwältigte ihn.

Die arme kleine Helene erblaßte, wenn er von Burley sprach, und schauderte, als sie erfuhr, daß er jeden Tag, ja beinahe Tag und Nacht in einer Gesellschaft zubrachte, die sie mit ihrer angeborenen ehrlichen Klugheit nicht dazu angethan erachtete, ihn in seinen Kämpfen zu stärken und ihm Hülfe gegen die Versuchung zu gewähren. Sie seufzte, als sie ihn über seine pekuniäre Mittel ausforschte und fand, daß seine alte Angst vor Schuldenmachen im Begriffe schien, zu verschwinden, und daß sich die soliden, gesunden Grundsätze, welche er aus seinem Dorfe mitgebracht hatte, rasch lockerten.

Es lag allerdings unter der Oberfläche von alle Dem etwas, das eine ältere und klügere Person, als Helene, wie ein erlösendes Versprechen begrüßt haben würde. Dieses Etwas war der Kummer – ein erhabener Kummer in dem eigenen Gefühle, daß er im Fallen begriffen sei, in der eigenen Unmacht gegen das Schicksal, das er herausgefordert und selbst begehrt hatte. Die Erhabenheit dieses Kummers konnte Helene nicht entdecken; sie sah nur, daß es Kummer war, sie trauerte mit ihm, indem sie diesen Kummer eine Entschuldigung für jeden Fehler sein ließ, und wurde nur noch eifriger in ihrem Bestreben, ihn zu trösten, um ihn retten zu können.

Schon damals, als Leonard ausgerufen: »Ach, Helene, warum hast du mich verlassen?« hatte sie den Plan gefaßt, zu ihm zurückzukehren; und als ihr der Jüngling bei seinem letzten Besuch erzählte, daß Burley, von seinen Gläubigern verfolgt, im Begriffe sei, sich aus seiner jetzigen Wohnung zu flüchten und sich bei Leonard in dem Zimmer einzurichten, welches sie verlassen hatte, da hörte aller Zweifel auf. Sie beschloß, die Sicherheit und den Schutz der Heimath, die sie gefunden, zu opfern – sie beschloß, zurückzugehen, mit Leonard Armuth und Kämpfe zu theilen und das alte Zimmer, in welchem sie für ihn gebetet hatte, vor der gefährlichen Gegenwart des Versuchers zu bewahren.

Würde sie ihm zur Last fallen? Nein; sie hatte ja ihren Vater durch manche kleine Handarbeiten unterstützt – sie hatte sich während ihres Aufenthalts bei Miß Starke in denselben vervollkommnet – sie konnte ihren Theil zu der gemeinschaftlichen Kasse beitragen. Von dieser Idee eingenommen, beschloß sie, dieselbe aufzuführen, ehe der Tag kam, an welchem nach Leonard's Mittheilung Burley bei ihm einziehen wollte.

In Folge dessen erhob sie sich eines Morgens sehr früh, schrieb ein dankbares Billet an Miß Starke, welche noch fest schlief, ließ es auf dem Tische zurück und schlich sich, bevor noch Jemand aufgestanden, mit ihrem kleinen Bündel unter dem Arm aus dem Hause. An der Gartenthüre zögerte sie einen Augenblick mit einem Gefühl der Reue – mit dem Gefühl, daß sie den kalten und förmlichen Schutz, den Miß Starke ihr gewährt, schlecht vergolten habe. Allein ihre Schwesterliebe beseitigte alle Bedenken, sie schloß die Gartenthüre mit einem Seufzer und ging weiter.

Sie traf in Leonard's Wohnung ein, ehe dieser aufgestanden war, nahm Besitz von ihrem alten Stübchen, stellte sich dann, als Leonard im Begriffe war, auszugehen, ihm in den Weg und sagte (die kleine Lügnerin): »Ich bin fortgeschickt worden, mein Bruder, und bin hieher gekommen, damit du für mich sorgest. Laß uns nicht wieder getrennt werden. Du mußt aber sehr fröhlich und sehr glücklich sein; sonst muß ich glauben, daß ich dir zur Last falle.«

Anfangs sah Leonard heiter und auch glücklich aus; dann dachte er aber an Burley, und dann, in wie weit seine eigenen Mittel zu ihrem Unterhalt hinreichen würden, und er gerieth in Verlegenheit und begann Helene über die Möglichkeit einer Aussöhnung mit Miß Starke zu befragen.

Helene antwortete ernst: »Unmöglich – verlange das nicht und gehe nicht in ihre Nähe.«

Leonard dachte, sie sei gedemüthigt und beleidigt worden – sie, das Kind eines Gentlemans! Und er hatte Mitgefühl mit ihrem verwundeten Stolz – er war ja selbst so stolz!

»Soll ich wieder die Kasse führen, Leonard?« sagte Helene schmeichelnd.

»Ach!« antwortete Leonard, »die Börse ist leer.«

»Das ist sehr schlecht von der Börse,« sagte Helene, »da du so viel hineinthust.«

»Ich?«

»Hast du mir nicht gesagt, daß an wenigstens eine Guinee wöchentlich verdienst?«

»Ja, aber Burley nimmt das Geld, und da ich dem armen Barschen alles verdanke, so bringe ich es nicht über das Herz, ihn zu hindern, daß er es nach Gutdünken verwendet.

»Bitte, seien Sie so gut und bezahlen Sie die monatliche Miethe,« sagte jetzt die Hauswirthin, welche plötzlich zum Vorschein kam. Sie sagte es in einem höflichen, aber entschiedenen Tone.

Leonard erröthete. »Sie sollen sie heute noch erhalten.«

Dann drückte er seinen Hut auf den Kopf, schob Helene sanft bei Seite und ging fort.

»Wenden Sie sich künftig an mich, meine gute Mrs. Smedley,« sagte Helene mit der Miene einer Hausfrau. »Er studirt immer und darf nicht gestört werden.«

Die Hauswirthin, die eine gute Frau war, obgleich sie sich ihre Miethe gerne pünktlich bezahlen ließ, lächelte freundlich. Sie hatte Helene, die sie von früher kannte, schon damals lieb gewonnen.

»Es freut mich, daß Sie wieder zurückgekehrt sind; vielleicht wird der junge Mann nun nicht mehr so spät Abends nach Hause kommen. Ich hatte die Absicht, ihm zu kündigen, aber –«

»Aber er wird ein großer Mann werden und Sie müssen jetzt Nachsicht mit ihm haben.« Und Helene küßte Mrs. Smedley und schickte sie fort – dem Weinen näher als dem Lachen.

Hierauf machte sich Helene in den Zimmern zu schaffen. Sie fand den Koffer ihres Vaters, welcher richtig an seine Adresse geschickt worden war. Sie untersuchte den Inhalt desselben und weinte bei jeder geringen und ihr so theuern Reliquie, die sie berührte. Aber das Andenken an ihren Vater schien auf diese Weise die Wohnung in eine Art Heiligthum zu verwandeln; sie stand ruhig auf und begann mechanisch die Sachen zu ordnen. Sie seufzte, als sie bemerkte, wie alles in Leonard's Zimmer vernachlässigt war, bis sie an den Rosenstock kam und fand, daß dieser allein sorgfältig gepflegt aussah.

»Mein lieber Leonard!« murmelte sie, und das Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück.


Neuntes Kapitel.

Nichts hätte vielleicht Leonard von Burley trennen können, als die Rückkehr Helenen's unter seinen Schutz. Selbst wenn ein anderes Zimmer im Hause frei gewesen wäre (was nicht der Fall war), so hätte er doch unmöglich diesen lärmenden, unruhigen Sohn der bacchanalischen Muse, der in's Blaue hinein redete und nach geistigen Getränken roch, in Einer und derselben Wohnung mit einem unschuldigen, zarten, schüchternen jungen Mädchen beherbergen können. Und ebenso wenig konnte er sie den ganzen Tag allein lassen. Sie bereitete ihm wieder eine Heimath und legte ihm aber auch die Pflichten derselben auf.

Er theilte deßhalb Mr. Burley mit, daß er künftig in seinem eigenen Zimmer schreiben und studiren würde. Auch deutete er, verlegen erröthend und so zart als möglich an, daß nach seiner Ansicht die Hälfte von dem, was er durch seine Feder verdiene, Burley gehöre, dessen Interesse für ihn er seine Beschäftigung verdanke, und aus dessen Büchern oder Kenntnissen er die Mittel schöpfe, jene Beschäftigung fortzusetzen; daß er aber die andere Hälfte, wenn sie ihm gehöre, nicht länger auf Vergnügungen und Schwelgereien verwenden könne, da er noch für Jemanden zu sorgen habe.

Burley schlug das Anerbieten, die Hälfte des Honorars seines Mitarbeiters anzunehmen, mit vieler Würde aus, sprach aber in einem sehr gereizten Tone von der nüchternen Anwendung, welche Leonard von der andern Hälfte zu machen beabsichtigte; und obgleich von Natur gutmüthig und mit einem warmen Herzen begabt, war er doch über die plötzliche Dazwischenkunft der armen Helene in hohem Grade entrüstet.

Leonard blieb indessen fest; Burley wurde mürrisch und so trennten sie sich. Noch war jedoch die Miethe zu bezahlen. Wie aber? Zum elften Mal dachte Leonard an den Pfandleiher. Er hatte Kleider übrig, und dann besaß er auch noch Riccabocca's Uhr. Nein – vor dem Gedanken, die letztere für einen so gemeinen Zweck zu verwenden, schrack er zurück.

Gegen Mittag kam er nach Hause und traf Helene an der Hausthüre. Auch sie war ausgewesen, und ein zartes Roth bedeckte ihre Wangen in Folge der ungewohnten Bewegung und freudiger Gefühle. Sie hatte die wenigen Goldstücke aufbewahrt, die ihr Leonard bei seinem ersten Besuche in Miß Starke's Haus zurückgebracht. Jetzt war sie ausgegangen und hatte Wolle und was sie sonst zu ihrer Arbeit bedurfte, gekauft – und inzwischen auch die Miethe bezahlt.

Leonard hatte nichts gegen die Arbeit einzuwenden, erröthete jedoch, als er erfuhr, daß die Miethe bezahlt sei. Er war sehr ärgerlich und ersetzte ihr an demselben Abend, was sie ausgelegt hatte; Helene weinte im Stillen über seinen Stolz, noch mehr aber, als sie am nächsten Tage eine traurige Lücke in seiner Garderobe entdeckte.

Allein Leonard arbeitete jetzt zu Hause und zwar standhaft. Helene saß an seiner Seite und arbeitete ebenfalls. So verstrich der folgende Tag und der nächste in friedlicher Weise; und am Abend des zweiten Tages lud er sie ein, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Sie sprang fröhlich von ihrem Stuhle empor – als die Thüre aufgerissen wurde und John Burley in betrunkenem Zustande hereintaumelte – und wie betrunken!


Zehntes Kapitel.

Mit Burley taumelte noch ein anderer Mann herein – ein Freund von ihm, ein Kaufmann, der früher wohlhabend und in guten Umständen gewesen war, der aber unglücklicher Weise an der Literatur Geschmack gefunden hatte und es liebte, Burley sprechen zu hören. So war, seit er die Bekanntschaft des Witzbold's gemacht, sein Geschäft in Verfall gerathen und er selbst Banquerott geworden Er sah aus, wie ein schäbiger Hund, und seine Nase war noch röther als die Burley's.

In seiner Trunkenheit stieß John die arme Helene an. »Sie sind also der Pentheus in der Schürze, der dem Bacchus Trotz bietet,« rief er und brüllte dann einen Vers aus Euripides.

Helene wich zurück, und Leonard suchte sich in das Mittel zu legen.

»Schämen Sie sich, Burley!«

»Er ist betrunken,« sagte Mr. Douce, der banquerotte Kaufmann »sehr betrunken – kümmern Sie sich nicht – um ihn. Was ich sagen wollte, Sir – ich hoffe nicht, daß wir ungelegen kommen. Sitzen Sie stille Burley, sitzen Sie still und reden Sie, ich bitte – seien Sie ordentlich. Sie sollten ihn spre– spre– sprechen hören, Sir.«

Leonard hatte unterdessen Helene aus dem Zimmer entfernt, in das ihrige gebracht; er bat sie, sich nicht zu ängstigen und die Thüre zu verschließen. Dann kehrte er zu Burley zurück, der sich auf sein Bett gesetzt hatte und die größten Anstrengungen machte, sich aufrecht zu halten, während Mr. Douce sich bemühte, eine kurze Pfeife, die er im Knopfloche trug, anzuzünden; da sie aber nicht gestopft war, so gelang ihm dies natürlich nicht, und er fing deßhalb zu weinen an.

Leonard war Helenen's wegen in hohem Grade ärgerlich und empört; es wäre aber ein hoffnungsloses Beginnen gewesen, Burley zur Vernunft bringen zu wollen. Und wie konnte der arme Mensch den Mann aus seinem Zimmer weisen, dem er Befindlichkeiten schuldig war?

Unterdessen drangen an das widerstrebende Ohr Helenen's laute mißtönende Reden, häßliches Gelächter und mißlungene Versuche, lustige Lieder zu singen. Hierauf hörte sie, wie Mrs. Smedley in Leonard's Zimmer trat und Vorstellungen machte, und wie dann Burley noch lauter lachte als zuvor, während Mrs. Smedley, die eine sanfte Frau war, sich offenbar aus Furcht rasch zurückzog.

Nun begann wieder ein langes und lautes Gespräch, bei welchem Burley's starke Stimme heraustönte, während Mr. Douce in einem schluchzenden, gebrochenen Sopran mit einstimmte. So ging es Stunden lang fort, weil es an Getränken fehlte, die dem Lärmen ein rasches Ende gemacht haben würden. Burley begann allmälig, sich einigermaßen nüchtern zu reden. Darauf hörte man, wie Mr. Douce die Treppe hinunter ging; dann wurde es still. Mit der Morgendämmerung klopfte Leonard an Helenen's Thüre. Sie öffnete dieselbe sofort, denn sie war nicht zu Bette gewesen.

»Helene,« sagte er sehr traurig, »du kannst nicht länger hier bleiben. Ich muß irgend eine passende Wohnung für dich ausfindig machen. Dieser Mann hat mir Dienste geleistet, als ich in ganz London keinen einzigen Freund hatte, und er sagt mir, er könne sonst nirgends hingehen – die Häscher verfolgen ihn. Er ist jetzt eingeschlafen. Ich will fort und für dich irgend eine Wohnung in der Nähe suchen – denn ich kann nicht denjenigen aus meinem Zimmer weisen, der mich beschützt hat; und doch kannst du nicht mit ihm unter dem gleichen Dache bleiben. Mein guter Engel, ich muß dich verlieren!«

Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern eilte die Treppe hinunter. Der Morgen blickte durch die Fenster in Leonards Dachstübchen, und die Vögel begannen in der Ulme zu zwitschern, als Burley sich erhob, sich schüttelte und seine Augen im Zimmer herum laufen ließ. Er konnte nicht recht klug daraus werden, wo er sei. Dann ergriff er den Wasserkrug und leerte ihn in drei Zügen, worauf er sich sehr erfrischt fühlte. Sodann begann er das Zimmer zu untersuchen – sah nach Leonards Manuscripten – steckte seine Nase in die Schubladen – wunderte sich darüber, wo zum Teufel Leonard selbst hingegangen sein könnte – und belustigte sich endlich damit, daß er die Feuerzange und die Schaufel auf den Boden warf, die Klingel zog und möglichst viel Lärmen machte, in der Hoffnung, daß dadurch irgend Jemand aufmerksam werde, und er sich seinen Morgenschnaps verschaffen könnte.

Mitten in diesem Charivari wurde die Thüre sanft, aber entschlossen geöffnet, und die kleine, ruhige Gestalt Helenens stand auf der Schwelle. Burley drehte sich um, und Beide blickten sich einige Momente schweigend und forschend an.

Burley (seinem Gesichte einen möglichst freundlichen Ausdruck gebend). – »Kommen Sie hierher, mein liebes Kind. Sie sind also das kleine Mädchen, welches ich an den Ufern des Brent in Gesellschaft Leonards gesehen habe, und Sie sind zurückgekehrt, um bei ihm zu wohnen – auch ich bin gekommen, um hier zu bleiben. Sie sollen unsere kleine Haushälterin sein, und ich werde Ihnen die Geschichte von Prinz Schönmann Anspielung auf eine 1784 gedruckte satirische Karikatur The adventure of Prince pretty man. Darin geht es um die (fiktive) Verwicklung des Prinz von Wales in den Diebstahl des Großen Siegels. und viele andere Geschichten erzählen, die nicht in › MuttergansDie Sammlung von acht Märchen in französischer Sprache, die Charles Perrault 1697 veröffentlichte, wurde unter ihrem Untertitel »Contes de ma mère l'Oye« (Geschichten von meiner Mutter Gans) bekannt. 1729 erschien die erste Übersetzung ins Englische. stehen. Unterdessen mein liebes, kleines Mädchen, nehmen Sie diese Sixpence und holen Sie mir Rum dafür.«

Helene (langsam auf Mr. Burley zugehend und ihm noch immer ernst in's Gesicht blickend). – »Ah, Sir! Leonard sagt, daß Sie ein gutes Herz besitzen, und daß Sie ihm Dienste geleistet haben – er kann Sie nicht bitten, das Haus zu verlassen; und so muß ich, die ich ihm nie einen Dienst erwiesen habe, fort von hier und allein leben.«

Burley (gerührt). – »Sie wollen gehen, meine kleine Lady? – Und warum? – Können wir nicht Alle zusammen hier wohnen?«

Helene. – »Nein, Sir. Ich habe Alles verlassen, um zu Leonard zu kommen; denn wir trafen uns zum ersten Male am Grabe meines Vaters. Aber Sie rauben mir ihn, und ich habe keinen andern Freund auf der Erde.«

Burley (verwirrt). – »Erklären Sie sich. Warum müssen Sie ihn deßhalb verlassen, weil ich komme?«

Helene blickt wieder Burley lange und mit aufmerksamem Ernste an, gibt aber keine Antwort.

Burley (mit einem Schlucken). – »Meint er vielleicht, ich sei keine passende Gesellschaft für Sie?«

Helene neigte ihr Haupt.

Burley stampfte mit dem Fuße und sagte, nachdem er einen Moment geschwiegen – »Er hat Recht.«

Helene (springt, dem Drange ihres Herzens folgend, zu Burley hin und ergreift seine Hand). – »Ah, Sir, ehe er Sie kennen lernte, war er ganz anders – er war heiter und glücklich! Und als er sich das erste Mal in seinen Hoffnungen getäuscht sah, da trauerte und weinte ich zwar, aber ich hatte dabei das Gefühl, daß er doch zuletzt siegen würde – denn sein Herz war so gut und rein. O Sir, glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Vorwürfe mache; aber was soll aus ihm werden, wenn – wenn –Nein, ich spreche nicht für mich. Ich weiß, daß, wenn ich hier bliebe, wenn er für mich zu sorgen hätte, er früh nach Hause kommen und geduldig arbeiten – und – und – ich ihn retten würde. Aber jetzt, wenn ich fort bin, und Sie bei ihm sind – Sie, gegen den er Dankbarkeit fühlt, Sie, dem er gegen sein eigenes Gewissen folgen würde (Sie müssen das einsehen, Sir!) – was soll da aus ihm werden?« Helene's Stimme wurde von Schluchzen erstickt.

Burley machte drei oder vier Schritte durch das Zimmer – er war im hohen Grade bewegt. »Ich bin ein Teufel,« murmelte er; »ich habe es vorher eingesehen – aber es ist wahr – ich würde der Ruin dieses jungen Mannes werden.« Thränen standen in seinen Augen; er hielt plötzlich inne, griff nach seinem Hut und wandte sich nach der Thüre.

Helene trat ihm in den Weg, berührte sanft seinen Arm und sagte: »O Sir, verzeihen Sie mir – ich habe Ihnen weh gethan!« Dann blickte sie zu ihm auf mit einem Ausdruck der Theilnahme, welcher das liebliche Antlitz des Kindes dem eines Engels ähnlich machte.

Burley beugte sich zu ihr nieder, als ob er sie küssen wollte – that es aber nicht; vielleicht hatte er das Gefühl, daß seine Lippen nicht würdig seien, jene reine Stirne zu berühren.

»Wenn ich eine Schwester gehabt hätte – ein Kind, wie Sie, meine Kleine,« murmelte er vor sich hin, »vielleicht würde auch ich noch zu rechter Zeit gerettet worden sein. Jetzt –«.

»Ach, jetzt können Sie bleiben, Sir; ich fürchte mich nicht mehr vor Ihnen.«

»Nein, nein; Sie würden mich wieder fürchten, bevor es Abend wird, und ich möchte nicht immer in der richtigen Laune sein, um auf eine Stimme, wie die Ihrige, mein Kind, zu hören. Ihr Leonard hat ein edles Herz und seltene Anlagen; er muß sich noch emporbringen, und er wird es auch. Ich werde ihn nicht in den Koth hinabziehen. Leben Sie wohl – Sie werden mich nicht wieder sehen.«

Er verließ Helene, war mit einem Satz die Treppe hinunter und verschwand aus dem Hause.

Als Leonard zurückkehrte, war er erstaunt seinen unwillkommenen Gast nicht mehr zu finden. Helene wagte es aber nicht, ihm von ihrem Dazwischentreten etwas zu sagen. Sie wußte instinctmäßig, daß ein solcher Diensteifer den Stolz eines Mannes demüthigen und beleidigen müßte – sie sprach aber nie wieder in unfreundlicher Weise von dem armen Burley. Leonard erwartete, den Humoristen im Laufe des Tages zu sehen oder von ihm zu hören. Als dies aber nicht der Fall war, suchte er ihn in seinen gewohnten Wirthshäusern, ohne jedoch eine Spur von ihm zu entdecken. Er frug auf dem Bureau des Bienenkorbs, ob man dort seine neue Adresse kenne; aber auch hier waren keine Nachrichten über Burley zu bekommen.

Als er übelgelaunt und ängstlich – denn es war ihm bei dem Verschwinden seines wilden Freundes nicht ganz wohl zu Muthe – nach Hause kam, begegnete ihm Mrs. Smedley an der Thüre.

»Haben Sie die Güte, Sir, sich eine andere Wohnung zu suchen,« sagte sie. »Ich kann ein solches Singen und Lärmen Abends in meinem Hause nicht dulden. Und dazu noch das arme kleine Mädchen! Sie sollten sich schämen.«

Leonardo runzelte die Stirne und ging an ihr vorüber.


Elftes Kapitel.

Unterdessen schritt Burley, nachdem er Helene verlassen hatten weiter und schlug, wie von einem besseren Instinct geleitet (denn er war sich seiner eigenen Schritte nicht bewußt), den Weg nach den stillen, grünen Schauplätzen seiner Jugend ein. Als er endlich stehen blieb, befand er sich vor der Thüre einer ländlichen Hütte, welche nebst einem kleinen Bauernhofe mitten auf dem Felde stand; in der Ferne erblickte man durch die davor befindlichen Bäume den sich dahinwindenden Brent.

In dieser Hütte war Burley bekannt; sie wurde von einem gutmüthigen alten Ehepaar bewohnt, welches ihn von seiner Knabenzeit her kannte. Dort pflegte er seine Angelruthen und Fischgeräthschaften aufzubewahren, dort hatte er sich in den Zwischenräumen seines unruhigen und schwelgerischen Lebens gewöhnlich zwei oder drei Tage aufgehalten und sich am ersten Tage eingebildet, das Land sei ein Himmel, noch vor dem dritten aber sich überzeugt, daß es ein Fegefeuer sei.

Eine alte Frau von reinlichem, nettem Aussehen trat heraus, um ihn zu begrüßen.

»Ah, Master John,« sagte sie und faßte seine kraftlose Hand – »das Land ist jetzt angenehm – ich hoffe, daß Sie gekommen sind, um ein wenig hier zu verweilen? Thun Sie das; es wird Sie erfrischen; Sie haben ganz die gute Gesichtsfarbe verloren, die Sie früher hatten«

»Ich werde bei Ihnen bleiben, meine liebe Freundin,« sagte Burley mit ungewöhnlicher Milde, – »ich kann also das alte Zimmer haben?«

»O ja, kommen Sie und sehen Sie es an. Ich gebe es Niemand, außer Ihnen – ich habe es nie mehr vermiethet, seit die liebe, schöne Dame mit dem Engelsgesicht fort ist. Das arme Ding, was mag aus ihr geworden sein?«

Während sie so sprach, ohne daß Burley auf sie hörte, zog ihn die alte Frau in die Hütte hinein und führte ihn die Treppe hinauf in ein Zimmer, welches auch einem besseren Hause wohl angestanden haben würde, denn es war mit Geschmack und sogar mit Eleganz meublirt. Dem Kamin gegenüber stand ein kleines Piano, und das Fenster ging auf heitere Wiesen, dichte Hecken und auf die engen Windungen des kleinen, blauen Flüßchens hinaus. Burley sank erschöpft auf einen Stuhl und blickte ernst aus dem Fenster.

»Sie haben nicht gefrühstückt?« sagte die Wirthin besorgt.

»Nein.«

»Nun, die Eier sind frisch, und Sie mögen wohl auch eine Schnitte Speck, Master John? und wenn Sie Brandy zu Ihrem Thee haben wollen – ich besitze noch welchen, den Sie vor langer Zeit in Ihrer eigenen Flasche zurückgelassen haben.«

Burley schüttelte den Kopf. »Ich will keinen Brandy, Mrs. Goodyer, nur frische Milch. Ich will sehen, ob ich nicht die Natur beschwatzen kann.«

Mrs. Goodyer wußte nicht, was er unter dem Beschwatzen der Natur verstand, sagte aber, »ja, thun Sie das, Master John,« und verschwand.

An jenem Tage ging Burley mit seiner Angelruthe fort und fischte eifrig nach dem einäugigen Barsch, aber vergeblich. Dann schlenderte er pfeifend und die Hände in den Taschen dem Flüßchen entlang. Mit Sonnenuntergang kehrte er nach der Hütte zurück, nahm die für ihn bereitete Mahlzeit ein, enthielt sich des Brandy und fühlte sich sehr unbehaglich. Er verlangte Feder, Tinte und Papier und versuchte zu schreiben, konnte aber nicht zwei Zeilen fertig bringen. Er beschied Mrs. Goodyer zu sich und sagte zu ihr: »Schicken Sie Ihren Mann zu mir herauf, wir wollen plaudern.«

Der alte Jakob Goodyer kam, und der große Witzbold hieß ihn alle Neuigkeiten des Dorfes erzählen. Jakob gehorchte willig, und Burley schlief zuletzt ein. Am nächsten Morgen ging es beinahe ebenso; nur stand beim Mittagstisch die Brandyflasche vor ihm, und er leerte sie; Jakob ließ er nicht hinaufkommen; es gelang ihm aber, zu schreiben.

Am dritten Tage regnete es unaufhörlich. »Haben Sie keine Bücher, Mrs. Goodyer?« fragte der arme John Burley.

»O ja, einige, welche die liebe Dame zurückgelassen hat; und vielleicht möchten Sie auch einige von ihrer eigenen Hand beschriebene Papiere ansehen?«

»Nein, die Papiere nicht – alle Frauenzimmer kritzeln, und alle kritzeln dasselbe. Bringen Sie mir die Bücher.«

Die Bücher wurden herauf gebracht; sie enthielten Gedichte und Abhandlungen – John wußte sie auswendig. Er blickte hinaus nach dem Regen; Abends hörte her Regen auf. Er nahm eiligst seinen Hut und entfloh.

»Natur, Natur!« rief er, als er draußen in der freien Luft war und an den triefenden Hecken vorüber eilte, »du kannst durch mich nicht beschwatzt werden! Ich habe dich schmachvoll hintergangen, ich gestehe es; du bist ein Weib, und ein Weib verzeiht nie. Ich klage nicht. Du magst sehr hübsch sein, aber du bist die dümmste und langweiligste Gesellschafterin, die mir je vorgekommen ist. Dem Himmel sei Dank, daß ich nicht mit dir verheirathet bin!«

So wanderte Burley in die Stadt hinein und machte bei dem ersten Wirthshause Halt. Mit vergnügter Miene trat er aus demselben wieder heraus und näherte sich rasch dem Herzen Londons. Jetzt ist er in Leicester Square und betrachtet die Fremden, welche in jener Gegend herumschlendern, und brummt eine Melodie vor sich hin; da tauchen aus einem Gäßchen zwei Gestalten hervor und folgen seinen nachlässigen Schritten; dann wandert er durch den Knäuel von Durchgängen St. Martin zu und klimpert, als er sich seinen Lieblingswirthshäusern nähert, mit dem Silbergelde in seiner Tasche; jetzt sind ihm aber die zwei Gestalten dicht auf den Fersen.

»Heil dir, o Freiheit!« murmelte John Burley, »dein Wohnsitz ist in den Städten und dein Palast in der Kneipe.«

»Im Namen des Königs!« rief eine rauhe Stimme, und John Burley fühlte den schrecklichen und ihm wohlbekannten Schlag auf die Schulter.

Die zwei Häscher, welche nach ihm spürten, hatten ihre Beute ergriffen.

»Auf wessen Klage?« fragte John Burley stotternd.

»Des Weinhändlers Mr. Cox.«

»Cox, dem ich vor drei Monaten eine Anweisung auf meinen Banquier gegeben!«

»Die aber nicht bezahlt wurde.«

»Was thut das? Die Absicht war so wie so dieselbe. Ein gutes Herz nimmt den Willen für die That. Cox ist ein Ungeheuer von Dankbarkeit, und ich werde ihm meine Kundschaft entziehen.«

»Das geschieht ihm recht. Wünschen Euer Ehren nicht einen Wagen?«

»Ich möchte lieber das Geld auf etwas Anderes verwenden‹ sagte John Burley. »Geben Sie mir Ihren Arm, ich bin nicht stolz. Und wenigstens werde ich, dem Himmel sei Dank, die Nacht nicht auf dem Lande schlafen.«

Und John Burley brachte die Nacht in dem Schuldgefängnisse zu.


Zwölftes Kapitel.

Miß Starke war eine jener Damen, welche ihr Leben im schrecklichsten aller Bürgerkriege – im Kriege mit ihren Dienstboten zubringen. Sie betrachtete die Mitglieder jener Klasse als die unversöhnlichsten, immer wachsamen Feinde der Herrschaften, welche dazu verdammt sind, sie zu beschäftigen. Sie war der Meinung, daß sie bis zum abscheulichsten Uebermaß essen und trinken, nur um ihre Wohlthäter zu Grunde zu richten und daß sie eine beständige Beschwörung unter sich und mit den Geschäftsleuten unterhalten, deren Zweck sei, zu betrügen und zu stehlen.

Miß Starke war eine unglückliche Dame. Da sie keine Verwandten oder Freunde besaß, welche sich genug um sie kümmerten, um ihr in dem einsamen Kampfe gegen ihre häuslichen Feinde beizustehen – da ferner ihr Einkommen, obgleich hinreichend, in einer Jahresrente bestand, die mit ihrem Tode wegfiel und deßhalb verschiedene Neffen, Nichten und Vettern auf die strengen Grenzen einer natürlichen Zuneigung, die nicht einmal existirte, zurückführte – und da sie endlich das Bedürfniß empfand, mitten in dieser Welt voll Mißtrauen und Haß irgend ein freundliches Gesicht zu sehen, so hatte sie versucht ihre Zuflucht zu bezahlten Gesellschafterinnen zu nehmen. Aber die bezahlten Gesellschafterinnen blieben nie lange – entweder war Miß Starke ihnen, oder waren sie Miß Starke zuwider.

Darum beschloß das arme Fräulein, irgend ein kleines Mädchen aufzuziehen, dessen Herz, wie sie zu sich selbst sagte, frisch und unverdorben wäre, und von welchem sie Dankbarkeit erwarten dürfte. Sie war im Ganzen mit Helene zufrieden gewesen und hatte die Absicht gehabt, das Kind so lange im Hause zu behalten, als sie (Miß Starke) auf der Erde verweilen würde – vielleicht noch einige dreißig Jahre – und dann, nachdem sie dieselbe sorgfältig von jeder Heirath und jedem Freundschaftsbündniß abgehalten, ihr nichts zu hinterlassen, als den Kummer über den Verlust einer so großen Wohltäterin.

Uebereinstimmend mit dieser Idee, und um sich die Zuneigung des Kindes zu sichern, hatte Miß Starke das kalte, strenge Wesen, welches ihrem Charakter und ihrer Denkweise so natürlich war, gemildert und sich in ihrer ehernen Weise gütig gegen Helene gezeigt. Sie hatte sie nie geschlagen, noch gekneipt und sie auch nicht Hunger leiden lassen. Sie hatte, der mit Doctor Morgan gelassenen Uebereinkunft gemäß, ihr erlaubt, Leonard zu sehen, und hatte zehn Pence für Kuchen ausgelegt neben dem, was sie von Obst aus ihrem Garten für den ersten Besuch hergegeben – eine Gastlichkeit, deren Erneuerung bei den folgenden Gelegenheiten sie nicht für passend hielt.

Dafür glaubte sie nun ein Recht auf Helenens Geist und Körper erworben zu haben, und ihre Entrüstung kannte keine Grenzen, als eines Morgens das Kind verschwunden war. Da sie nie nach Leonards Adresse gefragt hatte und doch vermuthete, Helene werde zu ihm gegangen sein, so wußte sie nicht, was sie thun sollte, und brachte vierundzwanzig Stunden in dumpfer Niedergeschlagenheit zu. Dann fing sie aber an, das Kind so sehr zu vermissen, daß ihre Thatkraft erwachte und sie sich selbst überredete, sie werde durch das reinste Wohlwollen dazu getrieben, jenes arme Geschöpf wieder von der Welt zurückzufordern,in welche sich Helene so unüberlegt hineingestürzt hatte.

Demgemäß setzte sie folgende Anzeigern die Times, welche sie ganz nach dem Muster derjenigen abfaßte, durch welche sie in früheren Jahren ihren Lieblingswachtelhund zurückerhalten hatte.

Zwei Guineen Belohnung.

Von Ivy Cottage, Highgate, hat sich ein kleines Mädchen, welches den Namen Helene führt, verlaufen; es hat blaue Augen und braune Haare und trägt ein weißes Mousselinekleid und einen Strohhut mit blauen Bändern. Wer dasselbe nach Ivy Cottage bringt, erhält die obige Belohnung.

NB. Mehr wird nicht gegeben.

Nun traf es sich, daß Mrs. Smedley ihrerseits eine Anzeige in die Times hatte setzen lassen, die eine von ihren Nichten betraf, welche vom Lande hereinkommen sollte, und für die sie eine Stelle zu finden wünschte. Deßhalb schickte sie gegen ihre Gewohnheit nach der Zeitung und erblickte dicht bei ihrer eigenen Anzeige diejenige Mrs. Starke's.

Sie konnte sich bei der Beschreibung Helenens unmöglich irren, und da gerade am Tage vorher das ganze Haus durch Burley's lärmenden Besuch gestört und verunglimpft worden war, und sie beschlossen hatte, sich eines Miethsmannes zu entledigen, der solche Freunde empfing – so freute sich die gutherzige Frau bei dem Gedanken, Helene wieder in einem sicheren Hause unterbringen zu können. Während sie hierüber nachdachte, trat Helene selbst in die Küche, wo Mrs. Smedley saß, und die Hauswirthin beging die Unvorsichtigkeit, sie die Anzeige lesen zu lassen, sowie auch »ernstlich«, wie sie es nannte, mit dem kleinen Mädchen zu reden.

Helene bat sie vergebens und unter Thränen, auf diese Anzeige hin keine Schritte zu thun. Mrs. Smedley fühlte, daß es eine Sache der Pflicht sei, war deßhalb nicht zu erweichen, sondern setzte kurz darauf ihren Hut auf und verließ das Haus. Helene vermuthete, sie werde sich nach Miß Starke's Wohnung begeben, und alle ihre Gedanken waren auf Flucht gerichtet.

Leonard hatte sich mit seinen Manuscripten nach dem Bureau des Bienenkorbs begeben; sie packte ihre gemeinschaftlichen Sachen zusammen und war gerade damit fertig, als er zurückkam. Sie theilte ihm die Neuigkeit von der Anzeige mit und sagte, wie unglücklich sie sein würde, wenn sie zu Miß Starke zurückkehren müßte, und beschwor ihn auf eine so rührende Weise, sie vor einem solchen Kummer zu bewahren, daß er sofort sich mit dem Vorschlage zur Flucht einverstanden erklärte. Glücklicher Weise war man der Hauswirthin nur wenig schuldig; dieses Wenige wurde dem Dienstmädchen übergeben, und so entkamen sie, indem sie Mrs. Smedley's Abwesenheit benützten, ohne irgend einen Austritt oder Streit.

Ihre Sachen trug Leonard nach einer Miethwagenstation und ließ sie in dem Bureau derselben, während sie fortgingen, um eine Wohnung zu suchen. Es schien klug, eine ganz neue und entfernte Gegend zu wählen; ehe der Abend kam, hatten sie sich in einem Dachstübchen in Lambeth eingemiethet.


Dreizehntes Kapitel.

Wie der Leser erwarten wird, konnte Leonard keine Spur von Burley finden; der Humorist hatte aufgehört, mit dem Bienenkorb in Verbindung zu stehen. Leonard aber trauerte um Burley's willen, und er vermißte in der That den Umgang mit jenem großen verdorbenen Genie.

Allmälig fühlte er sich aber in der einfachen, liebenden Gesellschaft seiner kindlichen Gefährtin zufrieden und wurde in ihrer Gegenwart ruhiger. Diejenigen Stunden des Tages, in welchen er nicht arbeitete, verwandte er wie früher darauf, in den Buchläden Kenntnisse zu sammeln; und in der Dämmerung pflegte er mit Helene auszugehen und bisweilen der langen Vorstadt zu entfliehen und in die frische Landluft hinauszuwandeln; noch öfter aber gingen sie auf der Brücke, welche zu Londons klassischem Boden, dem berühmten Westminster führt, auf und ab und betrachteten den flimmernden Schein der Lampen, wie er im Flusse sich spiegelte.

Dieser Ort sagte dem in Gedanken versunkenen, melancholischen Jüngling zu. Er konnte lange und in ernstem Schweigen an dem Brückengeländer stehen, während sich Helene darauf setzte, um gleichfalls in die dunkle, traurige Fluth hinabschauen zu können, welche, so dunkel sie auch war, um ihrer geheimnißvollen Ruhe willen dennoch ihren eigenen Reiz besaß.

Wie der Fluß zwischen einer Welt von Dächern dahin floß, während auf beiden Seiten die menschlichen Leidenschaften tobten, so strömte der Gedanke durch jene zwei Herzen – und alles, was sie von London kannten, war dessen Schatten.


Vierzehntes Kapitel.

Im Bienenkorb erschienen gewisse sehr rohe politische Aufsätze – Aufsätze, die mit dem Inhalt der Broschüren in dem Sack des Kesselflickers viel Aehnlichkeit hatten. Leonard schenkte ihnen keine besondere Aufmerksamkeit, aber sie machten bei dem Publikum, welches den Bienenkorb las, weit mehr Aufsehen, als Leonards Arbeiten, so viel verheißend die letzteren auch waren. Sie verschafften dieser periodischen Schrift in den Fabrikstädten einen bedeutend größeren Absatz und begannen endlich, die schläfrige Wachsamkeit des Ministeriums des Innern auf sich zu ziehen. Plötzlich schritt man gegen den Bienenkorb ein und nahm alle Papiere und Druckschriften weg. Der Redakteur sah sich mit einem Kriminalprozeß und zweijähriger Einsperrung bedroht; diese Aussicht gefiel ihm nicht, und er verschwand.

Als Leonard eines Abends, ohne etwas von diesen Vorgängen zu wissen, an der Thüre des Bureaus erschien, fand er dieselbe geschlossen. Ein aufgereizter Pöbelhaufen war vor derselben versammelt, und eine Stimme, die seinen Ohren nicht fremd klang, bearbeitete die Zuhörer mit einer Menge Verwünschungen gegen die »Tyrannen«. Er blickte hin und erkannte zu seinem Erstaunen in dem Redner Mr. Sprott, den Kesselflicker. Zahlreiche Polizei erschien, um die Menge auseinander zu treiben, und Mr. Sprott verschwand kluger Weise. Leonard erfuhr nun, was vorgefallen war, und sah sich abermals ohne Beschäftigung und ohne Mittel, das Leben zu fristen.

Er wanderte langsam zurück. »Wissen, Wissen! – Du bist in der That machtlos!« murmelte er.

Während er so sprach, fiel ihm ein Plakat, in großen Buchstaben gedruckt, in die Augen – »Gesucht werden einige tüchtige junge Leute für Indien«.

Ein Werber trat an ihn heran und sprach: »Sie würden einen hübschen Soldaten abgeben, mein junger Mann. Sie haben starke Glieder«.

Leonard ging weiter.

»So weit ist es also gekommen. Nur die rohe physische Kraft gilt etwas! Geist, verzweifle! Bauer, werde wieder eine Maschine.«

Er betrat geräuschlos sein Dachstübchen und blickte nach Helene, wie sie dasaß und arbeitete, indem sie am offenen Fenster ihre Augen anstrengte. Er betrachtete sie mit tiefer Theilnahme. Sie hatte ihn nicht eintreten gehört und bemerkte auch jetzt seine Anwesenheit nicht. Sie saß da geduldig und still, und die kleinen Finger bewegten sich emsig. Er blickte sie aufmerksamer an und bemerkte, daß ihre Wange blaß und eingefallen war, und daß ihre Hände mager aussahen! Sein Herz war tief gerührt, und in jenem Augenblick hatte er keinen egoistischen Gedanken, keine Erinnerung an den getäuschten Hier folgt Winterfeld der Übersetzung von Carl Kolb nur unvollständig; dieser übersetzt »baffled« vertretbar mit »in seinen Hoffnungen getäuscht«. Dichter mehr!

Er näherte sich ihr sanft, legte seine Hand auf ihre Schulter und sprach: »Helene, ziehe deinen Shawl an und setze deinen Hut auf; laß uns ausgehen – ich habe dir so viel zu sagen.«

In wenigen Augenblicken war sie bereit, und sie nahmen ihren Weg nach ihrem Lieblingsplatze auf der Brücke. Als sie in einer der Vertiefungen oder Ecken Halt machten, begann Leonard: »Helene, wir müssen scheiden!«

»Scheiden? – O Bruder!«

»Höre mich an. Alle Arbeit, bei welcher der Geist thätig sein kann, ist für mich vorüber; es bleibt mir nichts mehr übrig, als die Arbeit mit Muskeln und Sehnen. Ich kann nicht nach meinem Dorfe zurückkehren und Allen dort sagen: ›Meine Hoffnungen beruhten auf Selbsttäuschung, und mein Verstand war ein Blendwerk!‹ Ich kann nicht. Auch kann ich in dieser schmutzigen Stadt nicht Diener oder Packträger werden. Mag sein, daß ich zu einer solchen Sklaverei geboren bin, aber mein Geist hat mich, was vielleicht ein Unglück ist, über meine Geburt erhoben. Was soll ich beginnen? Ich weiß es noch nicht – Soldatendienste nehmen, oder mir vielleicht als Auswanderer in irgend einer fernen Wildniß einen Weg bahnen. Wie ich aber auch meine Wahl treffe, so muß ich von jetzt an allein sein; ich habe keine Heimat mehr. Aber für dich, Helene, gibt es eine Heimat, zwar eine sehr geringe für dich, die du von so guter Familie bist – aber eine sichere Heimat – das Dach meiner Mutter, die eine Bäuerin ist. Sie wird dich um meinetwillen lieben, und –«.

Helene klammerte sich zitternd an ihn und schluchzte: »Alles, alles, was du willst. Aber ich kann arbeiten; ich kann Geld verdienen, Leonard. Ich verdiene in der That Geld – du weißt nicht, wie viel – aber genug für uns Beide, bis für dich bessere Zeiten kommen. Laß uns nicht scheiden.«

»Und ich – ein Mann, und zur Arbeit geboren, sollte mich durch die Arbeit eines Kindes erhalten lassen! Nein, Helene, würdige mich nicht so weit herab.«

Als sie bemerkte, wie seine Stirne glühte, zog sie sich zurück, senkte ihr Haupt unterwürfig und murmelte: »Verzeihung!«

»Ach,« begann Helene nach einer Pause wieder, »wenn wir doch jetzt nur den Freund meines armen Vaters finden könnten! Früher lag mir nie so viel daran.«

»Ja, er würde gewiß für dich sorgen.«

»Für mich!« wiederholte Helene im Tone eines milden, aber schmerzlichen Vorwurfs, und sie wandte ihren Kopf ab, um ihre Thränen zu verbergen.

»Bist du gewiß, daß du dich seiner erinnern würdest, wenn wir ihm zufällig begegnen sollten?«

»O ja. Er war so verschieden von Allen, die wir in dieser schrecklichen Stadt sehen, und seine Augen glichen jenen hellen, glänzenden Sternen; der Glanz schien jedoch aus der Ferne zu kommen, wie es auch bei den deinigen der Fall ist, wenn deine Gedanken von den Dingen rings um dich her entfernt sind. Und dann seinen Hund, den er Nero nannte – auch diesen würde ich wieder erkennen.«

»Aber sein Hund ist vielleicht nicht immer bei ihm.«

»Aber seine hellen, glänzenden Augen sind es! Ach, jetzt blickst du nach dem Himmel hinauf und die deinigen scheinen zu träumen, wie die seinigen.«

Leonard antwortete nicht; denn seine Gedanken waren in der That nicht auf der Erde, sondern strebten, jenen fernen, geheimnißvollen Himmel zu ergründen.

Beide schwiegen lange; die Menge eilte an ihnen vorüber, ohne sie zu beachten. Die Nacht senkte sich tiefer auf den Fluß herab, aber der Wiederschein der Lampenlichter in den Wellen war deutlicher zu sehen, als der der Sterne. Die Strahlen zeigten die Dunkelheit der starken Strömung, und die kleinen Schiffe, welche östlich im Strome lagen mit gespenstischen Masten ohne Segel und schwarzem, traurigem Rumpfe, sahen in ihrer Stille todtenartig aus.

Leonard schaute hinab, und der Gedanke an Chattertons schrecklichen Selbstmord stieg wieder in seiner Seele auf, und ein bleiches, höhnisches Antlitz mit leuchtenden, gespensterhaften Augen schien aus dem Strome aufzublicken und mit seinen blassen Lippen zu murmeln: »Kämpfe nicht mehr gegen die Strömungen auf der Oberfläche – alles ist ruhig und still in der Tiefe.«

Als er aus seiner düsteren Träumerei entsetzt auffuhr, begann er schnell mit Helene zu sprechen und versuchte, sie durch Beschreibungen der freundlichen Heimat, die er ihr angeboten, zu beschwichtigen.

Er sprach von den leichten Sorgen, die sie mit seiner Mutter zu theilen haben würde – denn so nannte er noch immer die Wittwe – und verweilte mit einer Beredsamkeit, welcher der Gegensatz zu der Umgebung wirklichen, kräftigen Nachdruck verlieh, bei dem glücklichen, ländlichen Leben, bei den schattigen Wäldern, bei den wogenden Kornfeldern und dem feierlichen, einsam stehenden Kirchthurme, der sich über die ruhige Landschaft erhob. In schmeichelnder Weise schilderte er die blumigen Terrassen des italienischen Verbannten und den sprudelnden Springbrunnen, dessen Wasserstrahlen, während er jetzt sprach, gen Himmel emporstiegen durch die reine Luft, die nicht getrübt war durch den Rauch der Städte und nicht befleckt durch die sündigen Seufzer der Menschen. Er versprach ihr die Liebe und den Schutz guter Menschen, deren Herzen mit der glücklichen, sie umgebenden Natur übereinstimmten – die einfache, liebevolle Mutter, der sanftmüthige Pfarrer – der weise und gütige Verbannte – Violante mit ihren dunkeln Augen, reich an geheimnißvollen Gedanken, wie sie die Einsamkeit im kindlichen Alter hervorruft – Violante sollte ihre Gefährtin sein!

»O!« rief Helene, »wenn das Leben dort so glücklich ist, so kehre mit mir zurück – kehre zurück!«

»Ah!« murmelte der Jüngling, »wenn der Hammer einmal den Funken auf dem Ambos geschlagen, so muß der Funke in die Höhe fliegen; er kann nicht wieder auf die Erde zurückfallen, bis das Licht ihn verlassen hat. – Aufwärts, Helene, laß mich aufwärts steigen!«


Fünfzehntes Kapitel.

Am folgenden Morgen war Helene unwohl – so unwohl, daß sie, kurz nachdem sie aufgestanden, sich gezwungen sah, in das Bett zurückzukriechen. Es fröstelte sie am ganzen Körper – ihre Augen waren trübe – ihre Haut brannte wie Feuer. Es war Fieber eingetreten.Vielleicht hatte sie sich auf der Brücke erkältet – vielleicht war die Aufregung zu viel für sie gewesen. Leonard rief in großer Unruhe den nächsten Apotheker. Dieser machte ein bedenkliches Gesicht und sagte, es sei Gefahr vorhanden. Und die Gefahr wurde bald offenkundig – Helene begann zu phantasiren. Mehrere Tage schwebte sie zwischen Leben und Tod. Da fühlte Leonard, daß aller Kummer der Erde leicht sei im Vergleich mit der Furcht, das zu verlieren, was wir lieben. Wie werthlos schienen ihm jetzt die beneidenswerten Lorbeeren der sterbenden Rose. Endlich kam sie wieder zu sich, was vielleicht mehr seiner Aufmerksamkeit und Pflege, als der ärztlichen Geschicklichkeit zu verdanken war; die unmittelbare Gefahr schien vorüber, aber sie war sehr schwach und hinfällig – ihre vollständige Genesung war zweifelhaft – im besten Falle würde sie sich nur langsam erholen.

Als sie aber erfuhr, wie lange sie krank gewesen, blickte sie Leonard ängstlich in's Gesicht, während er sich über sie beugte.

»Gib mir meine Arbeit,« stammelte sie; »ich bin jetzt kräftig genug dazu – es würde mich unterhalten.«

Leonard brach in Thränen aus.

Ach, er hatte selbst keine Arbeit; all ihr gemeinschaftliches Geld war dahin geschwunden. Der Apotheker glich nicht dem guten Doctor Morgan; die Arznei und die Miethe sollten bezahlt werden. Zwei Tage vorher hatte Leonard Riccabocca's Uhr in das Pfandhaus getragen; und wenn der letzte Schilling, den er sich auf diese Weise verschaffte, ausgegeben war, wie sollte er dann Helene erhalten. Dennoch stillte er seine Thränen und versicherte sie, daß er Beschäftigung habe – und das in einem so ernsten Tone, daß sie ihm glaubte und in einen sanften Schlaf sank. Er lauschte ihren Athemzügen, küßte ihre Stirne und verließ das Zimmer. Hierauf begab er sich in sein eigenes Stübchen nebenan und suchte, das Gesicht auf die Hand gestützt, alle seine Gedanken zu sammeln.

Er mußte endlich zum Bettler werden. Er mußte an Mr. Dale um Geld schreiben – an Mr. Dale, der das Geheimniß seiner Geburt kannte! Er hätte lieber bei einem Fremden gebettelt – denn es kam ihm vor, als ob das Kind dem Andenken seiner Mutter eine neue Unehre zufüge, wenn er bei Jemandem bettelte, dem ihre Schande bekannt war. Wenn er der Einzige gewesen wäre, der Noth und Hunger leiden mußte, so wäre er lieber Zoll für Zoll in das Grab des Hungers hinabgesunken, als seinen Stolz auf eine solche Weise zu demüthigen. Aber Helene, die dort auf dem Bette lag – Helene, die vielleicht noch wochenlang Beistand bedurfte, und deren Krankheit selbst Luxusartikel zu einer Nothwendigkeit machte! Er mußte betteln.

Und hättest du, mein Leser, das stolze, zuckende Herz sehen können, welches er in dieser Stunde bezwang, du würdest gesagt haben – »das, was ihm Herabwürdigung dünkt, ist Heldenmuth.« O seltsames, menschliches Herz! Kein Epos, das je geschrieben wurde, erreicht das Erhabene und Schöne, welches ungelesen von irgend einem menschlichen Auge auf deinen geheimen Blättern eingegraben ist. Von wem sonst sollte erbetteln? Seine Mutter hatte nichts, Riccabocca war arm, und die majestätische Violante, die ausgerufen hatte: »Ich wollte, ich wäre ein Mann!« – er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie ihn bemitleiden, ihn verachten sollte. Die Avenels? Nein – drei Mal nein! Er nahm rasch Tinte und Papier und schrieb eiligst einige Zeilen, die ihm abgerungen wurden, wie von den blutenden Sehnen seines Lebens.

Aber die Poststunde war vorüber. Der Brief mußte warten bis zum nächsten Tag, und wenigstens drei Tage würden verstreichen, ehe er Antwort erhalten konnte. Er ließ das Schreiben auf dem Tische liegen und ging fort, vor Beklemmung nach Luft schnappend. Er schritt mechanisch über die Brücke und wurde durch eine Menschenmenge bis vor die Thüre des Parlaments hingedrückt. Für jenen Abend war eine Debatte angesetzt, welche das Interesse des Publikums erregte, und auf der Straße hatten sich viele Leute angesammelt, die ab- und zugehende Parlamentsmitglieder sehen oder erfahren wollten, welche Redner sich schon erhoben hatten, um an der Debatte Theil zu nehmen. Manche versuchten auch, Karten für die Gallerie zu bekommen.

Er blieb unter jenen Müßiggängern stehen, allerdings ohne ein gemeinschaftliches Interesse mit ihnen zu haben, und blickte zerstreut über ihre Köpfe weg nach der hohen Begräbniß-Abtei Westminster Abbey; neben den englischen Monarchen fanden auch viele Persönlichkeiten dort ihre letzte Ruhestätte, unter anderem Isaac Newton, Charles Darwin oder auch Georg Friedrich Händel. – nach dem Golgatha der Dichter, Heerführer und Könige.

Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit durch den Klang eines Namens, der ihm in unangenehmer Erinnerung war, auf die Umstehenden gelenkt. »Wie befinden Sie sich, Randal Leslie? Kommen Sie, um die Debatte mit anzuhören?« sagte ein Parlamentsmitglied, welches die Straße passirte.

»Ja; Mr. Egerton versprach, mir einen Platz unter der Gallerie zu verschaffen. Er wird heute Abend selbst sprechen, und ich habe ihn nie gehört. Da Sie gerade in das Haus hineingehen, möchten sie ihn nicht daran erinnern?«

»Ich kann es jetzt nicht, denn er spricht schon – und gut. Ich eilte von dem Athenäum, wo ich zu Mittag speiste, fort, um noch zu rechter Zeit zu kommen; denn ich hörten daß seine Rede große Wirkung mache.«

»Das trifft sich sehr unglücklich,« sagte Randal. »Ich hatte keine Idee davon, daß er so früh sprechen würde.«

»M*** veranlaßte ihn dazu durch einen direkten persönlichen Angriff. Aber folgen Sie mir; vielleicht kann ich Sie in das Haus hinein bringen, denn ein Mann, wie Sie, Leslie, von dem wir dereinst Großes erwarten, sollte keine solche Gelegenheit versäumen, um zu erfahren, was unser Haus an einem Schlachtabend ist. Kommen Sie!«

Das Mitglied eilte der Thüre zu; als Randal ihm folgte, rief einer der Umstehenden – »Das ist der junge Mann, der die berühmte Broschüre geschrieben hat – ein Verwandter Mr. Egerton's.«

»O, wirklich!« sagte ein Anderer. »Ein geschickter Mann, dieser Egerton – ich warte auf ihn.«

»Das thue ich auch.«

»Sie sind aber kein Wähler, wie ich es bin?«

»Nein; aber er ist sehr gütig gegen meinen Neffen gewesen, und ich muß ihm dafür danken. Sie sind einer seiner Wähler – er ist eine Ehre für Ihre Stadt!«

»Das ist er – ein aufgeklärter Mann!«

»Und so edelmüthig!«

»Er befördert wirklich gute Maßregeln,« bemerkte der Politiker.

»Und gescheidte, junge Leute,« sagte der Onkel.

Noch ein oder zwei Andere stimmten in das Lob Audley Egerton's ein, viele Anekdoten wurden von seiner Freigebigkeit erzählt.

Leonard hörte anfangs nachlässig, zuletzt aber mit nachdenklicher Aufmerksamkeit zu. Er hatte schon Burley in sehr rühmenden Ausdrücken von diesem edelmüthigen Staatsmanne reden hören, der, ohne selbst auf Genie Anspruch zu machen, dasselbe bei Andern schätzte. Plötzlich erinnerte er sich auch, daß Egerton der Halbbruder des Squires war. Die unbestimmte Idee, an diesen ausgezeichneten Mann ein Gesuch, nicht um eine Gabe, sondern um eine geistige Beschäftigung zu richten, fuhr ihm durch den Kopf, unerfahrener Jüngling, der er noch war!

Und während er darüber nachdachte, öffnete sich die Thüre des Hauses, und heraus trat Audley Egerton selbst. Ein theilweiser Beifallsruf, begleitet von einem allgemeinen Murmeln, benachrichtigte Leonard von der Gegenwart des beliebten Ministers. Fünf oder sechs Personen hielten nach einander Egerton an; ein Händedruck, ein Kopfnicken, ein paar kurze geflüsterte Worte genügten für das geübte Parlamentsmitglied, um sich auf freundliche Weise los zu machen; und sobald ihm dies gelungen war, schritt er weiter und wandte sich der Brücke zu. Er blieb an der Ecke stehen, nahm seine Uhr heraus und blickte beim Lampenschein darauf.

»Harley wird bald hier sein,« murmelte er – »er ist immer pünktlich; und da ich jetzt gesprochen habe, so kann ich ihm eine Stunde widmen. Das ist gut.«

Als er seine Uhr wieder in die Tasche steckte und den Rock über seiner breiten Brust zuknöpfte, erhob er seine Augen und bemerkte einen jungen Mann, der vor ihm stand.

»Wünschen Sie etwas von mir?« frug der Staatsmann mit der schlichten Kürze seines praktischen Charakters.

»Mr. Egerton,« sagte der junge Mann mit einer Stimme, die eines leichten Bebens ungeachtet, männlich klang – »Sie haben einen großen Namen und eine große Macht – ich stehe hier in den Straßen Londons ohne Freund und ohne Beschäftigung. Ich glaube, daß ich die Fähigkeit besitze, eine edlere Arbeit zu verrichten, als blos körperliche – wenn ich nur einen Freund, einen Wirkungskreis für meine Gedanken hätte. Und nun ich dies gesagt habe – ich weiß kaum, wie oder warum, wenn nicht aus Verzweiflung und in dem plötzlichen Antriebe, den die Verzweiflung aus dem Lobe schöpfte, das Ihren Erfolg begleitete – habe ich nichts mehr hinzuzufügen.«

Audley Egerton schwieg einen Augenblick, überrascht durch den Ton und die Anrede des Fremden; aber der vollendete und vorsichtige Weltmann, der an alle Arten seltsamer Gesuche und an alle Arten des Betrugs gewöhnt war, erholte sich bald von dem leichten Eindruck, den Leonard's Worte vorübergehend auf ihn gemacht hatten.

»Sind Sie in – geboren?« (Hier nannte er die Stadt, welche er im Parlamente vertrat).

»Nein, Sir.

»Junger Mann, es thut mir sehr leid um Sie; aber der Verstand, den Sie besitzen (denn ich beurtheile denselben nach der Erziehung, die Sie offenbar erhalten haben), muß Ihnen sagen, daß eine öffentliche Persönlichkeit, welchen Einfluß Sie auch haben mag, durch berechtigte Bittsteller zu sehr in Anspruch genommen wird, um Fremden Gehör schenken zu können.«

Er hielt einen Augenblick inne; als aber Leonard schweigend stehen blieb, fügte er mit mehr Güte, als die meisten öffentlichen Persönlichkeiten in einem solchen Fall gezeigt haben würden, hinzu: »Sie sagen, daß Sie ohne Freunde sind – armer junger Mensch! In der Jugend geht es Manchem so, der Freunde genug findet, bevor er sein Leben beschließt. Seien Sie redlich und betragen Sie sich gut; verlassen Sie sich auf sich selbst und nicht auf Fremde; verrichten Sie körperliche Arbeit, wenn es mit der geistigen nicht glücken will; und glauben Sie mir, daß dieser Rath alles ist, was ich Ihnen geben kann, ausgenommen diese Kleinigkeit« – und der Minister bot ihm eine Krone an.

Leonard verbeugte sich, schüttelte traurig den Kopf und verschwand unter der Menge. Egerton blickte ihm mit einem gewissen Gefühl der Unbehaglichkeit nach.

»Pah!« sagte er vor sich hin, »in diesen Straßen Londons muß es Tausende geben, die in derselben Lage sind. Ich kann die nothwendigen Folgen der Civilisation nicht abändern. Gut erzogen! Nicht an der Unwissenheit wird fortan die Gesellschaft leiden – es ist eine Folge der Ueberbildung, daß Tausende von hungrigen Leuten, welche dadurch zur Handarbeit unfähig geworden sind und auf dem geistigen Gebiete kein Fortkommen finden, eines Tages gleich diesem jungen Manne in unseren Straßen stehen und klügere Minister, als ich einer bin, in Verlegenheit setzen.«

Während Egerton auf diese Weise nachsann und der Brücke zuschritt, klang ein Jagdhorn luftig von dem Sitze eines hübschen Vierspänners herab. Ein Herrschaftswagen mit prächtigen Vollblutpferden bespannt, rasselte über den Weg, und Egerton erkannte in dem Pferdelenker seinen Neffen – Frank Hazeldean.

Der junge Gardeoffizier kehrte mit einer lustigen Gesellschaft von einem Diner in Greenwich zurück; und das unbekümmerte Lachen dieser Kinder des Vergnügens schallte weit über den stillen Fluß hinüber.

Es klang störend für das Ohr des von Mühen und Sorgen heimgesuchten Staatsmannes – der sich vielleicht in all seiner Größe und unter der großen Menge seiner Freunde einsam und unbefriedigt fühlte. Es erinnerte ihn vielleicht an seine eigene Jugend, da er auch an solchen Ausflügen und Belustigungen Theil genommen, dabei aber immer sich eine ehrgeizige und emporstrebende Seele bewahrt hatte. » Le jeu, vaut-il la chandelleIst es das wert? sagte er und zuckte die Achseln.

Der Wagen rollte rasch an Leonard vorüber und bespritzte ihn mit dem Schmutz der Straße. Das Gelächter schlug an sein Ohr in noch mißtönenderer Weise, als an das des Ministers – allein es erregte keinen Neid in ihm.

»Das Leben ist ein dunkles Räthsel,« sagte er und legte die Hand auf die Brust. Hierauf wanderte er langsam weiter, bis er die Stelle erreichte, wo er einige Abende vorher mit Helene gestanden hatte, und sank dann, schwindelig, weil er nichts gegessen, und müde, weil er nicht geschlafen hatte, in dem finsteren Winkel zu Boden, während der Strom, der unter dem steinernen Bogen dahinrollte, gleichsam ein Trauerlied in sein Ohr murmelte – wie unter dem gesellschaftschaftlichen Schlußstein das Geheimniß der menschlichen Unzufriedenheit fortwährend klagt und dahinrollt.

Tröste dich, o Denker, mit dem Strome! Es ist der Fluß, der die Stadt gegründet und ihr Glanz gegeben hat; und ohne Unzufriedenheit – wo wäre der Fortschritt? was wäre der Mensch? Tröste dich, Denker! Wenn auch der Fluß, über den du dich beugst, oder an dessen Ufer du müde und trostlos niedersinkst, an dem Bogen nagt, auf welchem du stehst – so lasse dir doch nie träumen, daß du durch Zerstörung der Brücke das Wehklagen der Wogen zum Schweigen bringen könntest!


Sechzehntes Kapitel.

In einem der Zimmer, welche ihm im Hause seines Vaters zu Knightsbridge angewiesen war, saß Lord L'Estrange und ordnete und vernichtete Briefe und Papiere – das gewöhnliche Zeichen, daß man seinen Wohnplatz ändern will.

Es gibt gewisse Kleinigkeiten, nach welchen ein geübter Beobachter den Charakter eines Menschen beurtheilen kann. So waren verschiedene kleine Andenken aus früheren Tagen, welche durch Erinnerung geheiligt, oder durch Gewohnheit dem Eigenthümer lieb geworden waren, auf dem Tische mit einer gewissen Eleganz, aber soldatenmäßiger Genauigkeit geordnet; dieselben bildeten immer einen Theil der Einrichtung in Harley's Zimmer, mochte er nun in Egypten, Italien oder in England sein. Selbst das kleine, altmodische und etwas unbequeme Tintenfaß, in welches er seine Feder tauchte, um die Briefe, die er bei Seite legte, mit einer Aufschrift zu versehen, gehörte zu dem kleinen Schreibpult, der als Schulknabe sein Stolz gewesen war. Auch die Bücher, welche zerstreut umher lagen, waren nicht neue Werke, nicht solche, zu welchen wir uns wenden, um für eine Stunde die Neugierde zu befriedigen oder unsere ernsteren Gedanken zu zerstreuen; es waren hauptsächlich entweder lateinische oder italienische Dichter mit vielen Bleistiftnotizen am Rande, oder Bücher, welche an die Denkkraft ernste Anforderungen stellen, langsames und häufiges Durchstudiren verlangen und uns zuletzt liebe Gefährten werden.

Wenn man so bemerkte, daß dieser Mann sogar in stummen leblosen Dingen der Veränderung abhold war und allem, was mit alten Erinnerungen in Verbindung stand, treue Anhänglichkeit bewahrte, so konnte man nicht nur hieraus schließen, daß er an wichtigeren Neigungen mit Beharrlichkeit festhalten würde, sondern auch die Jugendfrische in seiner Freundschaft für Audley Egerton, dessen Charakter und Lebenszwecke von den seinigen so verschieden waren, eher begreifen. Wenn das Herz Harley L'Estrange's einmal eine Neigung gefaßt hatte, so konnte dieselbe nie in Frage gezogen oder zum Gegenstand einer Verstandesbetrachtung gemacht werden; sie wurde stillschweigend seiner innersten Natur einverleibt, und nichts, als eine Umwälzung seines ganzen Systems, konnte sie wieder ausreißen oder eine Störung hinein bringen.

Lord L'Estrange's Blick ruhte jetzt auf einem Briefe, der mit steifer, deutlicher, italienischer Handschrift geschrieben war; und statt denselben sofort wegzulegen, wie er es mit den übrigen gethan, faltete er ihn auseinander und las dessen Inhalt von Neuem durch. Es war ein Brief von Riccabocca, den er vor einigen Wochen empfangen hatte, und der folgendermaßen lautete:

Brief von Signor Riccabocca an Lord L'Estrange.

»Ich danke Ihnen, mein edler Freund, daß Sie Ihrem Urtheil über mich Glauben an meine Ehre und Achtung vor meinen widrigen Schicksalen zu Grunde legten.

Nein und drei Mal nein allen Concessionen und allen Verhandlungen mit Giulio Franzini gegenüber. Ich schreibe diesen Namen, und meine Aufregung droht mich zu ersticken. Ich muß inne halten und mich abkühlen, bis das Gefühl der Verachtung wiederkehrt. Es ist vorüber. Lassen wir diesen Gegenstand. Aber Sie haben mich beunruhigt. Diese Schwester – ich habe sie seit ihrer Kindheit nicht gesehen; aber sie wurde unter seinem Einfluß erzogen – sie kann nur in seinem Interesse thätig sein. Sie wünscht meinen Aufenthaltsort zu erfahren! Zuverlässig nur zu irgend einem feindlichen oder boshaften Zwecke. Ich kann Ihnen vertrauen – ich weiß das. Sie sagen, ich könnte ebenso der Vorsicht Ihres Freundes vertrauen. Verzeihen Sie mir – mein Vertrauen ist nicht so dehnbar. Ein einziges Wort kann den Schlüssel zu meinem Zufluchtsorte geben. Aber, wenn ich auch entdeckt würde, was könnte mir das schaden? Ein englisches Dach beschützt mich gegen östreichischen Despotismus; das ist wahr, aber nicht der eherne Thurm der Danaë könnte mich gegen italienische List beschützen, und wenn es auch nichts Schlimmeres sein sollte, so würde es mir doch unerträglich, unter den Augen eines erbarmungslosen Spähers zu leben. Sehr wahr sagt unser Sprüchwort: ›Derjenige schläft schlecht, für welchen der Feind wacht‹.

Sehen Sie, mein Freund, ich habe mit meinem alten Leben abgeschlossen – ich wünsche, es von mir zu werfen, wie die Schlange ihre Haut abstreift. Ich habe mir selbst alles versagt, was Verbannte als einen Trost ansehen; kein Mitleid mit dem Unglück, keine Botschaften von theilnehmenden Freunden, keine Nachrichten von einem verlorenen und ausgeplünderten Vaterlande folgen mir an meinen Heerd unter einem fremden Himmel. Ich habe mich selbst freiwillig von all' diesem abgeschnitten. Ich bin für das Leben, welches ich einst lebte, so todt, als wenn der Styx zwischen jenem und mir dahin strömte. Mit jener Strenge, welche nur für Unglückliche paßt, habe ich mir sogar den Trost Ihres Besuchs versagt. Ich habe Ihnen offen und einfach mitgetheilt, daß Ihre Gegenwart meine erzwungene, auf schwachen Füßen stehende Philosophie erschüttern und mich nur an die Vergangenheit erinnern würde, die ich aus meinem Gedächtnisse auszulöschen suche. Sie haben sich damit unter der Bedingung einverstanden erklärt, daß ich, wenn ich wirklich Ihrer Hülfe bedarf, dieselbe verlangen werde; und Sie haben unterdessen in edelmüthiger Weise durch die Kabinete der Minister und an den Höfen der Könige Gerechtigkeit für mich zu erlangen gestrebt. Ich habe Ihrem Herzen diese Wollust nicht verwehrt – um meines Kindes willen! (Ach, ich habe dasselbe bereits gelehrt, Ihren Namen zu verehren, und er wird in ihren Gebeten nicht vergessen!) Aber jetzt, da Sie überzeugt sind, daß selbst Ihr Eifer nichts ausrichtet, so bitte ich Sie, von diesen Versuchen, welche dazu dienen könnten, den Spion auf meine Fährte zu bringen und mich in neue Mißgeschicke zu verwickeln, abzustehen.

Glauben Sie mir, mein theurer Freund, daß ich mit meinem Loose zufrieden bin. Ich bin überzeugt, daß es nicht mein Glück wäre, wenn eine Veränderung desselben stattfände. › Chi non ha provato il male non conos ce il bene.‹ (›Man weiß das Gute, das man hat, nicht zu schätzen, wenn man das Unglück nicht kennen gelernt hat.‹)

Sie fragen mich, wie ich lebe – ich antworte alla giornata – für den heutigen Tag – nicht für morgen, wie ich sonst gethan. Ich habe mich an das ruhige Leben in einem Dorfe gewöhnt. Ich interessire mich für die Einzelheiten desselben. Mir gegenüber sitzt meine Frau, das gute Geschöpf, und frägt mich nie, was oder an wen ich schreibe, ist aber immer bereit, ihre Arbeit bei Seite zu legen und mit mir zu plaudern, sobald ich die Feder weggeworfen habe. Plaudern – worüber? der Himmel weiß es! Aber ich will lieber dieses Geplauder hören, obgleich es nur die Angelegenheiten eines Dörfchens betrifft, als wieder mit feigen Edelleuten und einfältigen Professoren über Staatseinrichtungen und Staatsverfassungen sprechen. Wenn ich zu erfahren wünsche, wie wenig diese Letzteren auf das Glück weiser Männer Einfluß üben, habe ich dann nicht meinen Macchiavel und Thucydides? Dann kömmt hin und wieder der Pfarrer zu mir, und wir disputiren mit einander. Er weiß nie, wann er geschlagen ist, und so dauert denn die Discussion ewig fort. An schönen Tagen wandere ich mit meiner Violante längs einem sich dahin schlängelnden Bache hin, oder ich schlendere zu meinem Freunde, dem Squire und sehe, welch' ein gesundes Ding das wahre Vergnügen ist; und an nassen Tagen schließe ich mich ein und träume vielleicht, bis, horch! ein sanftes Klopfen an der Thüre ertönt, und herein tritt Violante mit ihren dunkeln Augen, die durch vorwurfsvolle Thränen glänzen – vorwurfsvoll, weil ich trauern konnte, während sie unter meinem Dache sich befindet – dann schlingt sie ihre Arme um mich, und in fünf Minuten ist alles Sonnenschein im Hause. Was kümmern wir uns um Eure englischen grauen Wolken da draußen?

Lassen Sie mich, mein theurer Lord, auf diese ruhige glückliche Weise dem Alter entgegenschreiten, das heiterer ist, als die Jugend, die ich auf eine so wilde Weise vergeudete; und bewahren Sie das Geheimniß, von welchem mein Glück abhängt.

Jetzt zu Ihnen selbst, bevor ich schließe. Von diesem Ihrem Selbst sprechen Sie zu wenig, wie von mir zu viel. Aber ich begreife zu gut die tiefe Melancholie, die unter dem wilden und phantasiereichen Humor verborgen liegt, womit Sie Dasjenige verblümt andeuten, was Sie so ernstlich fühlen. Die geschäftige Einsamkeit der Städte drückt Sie. Sie flüchten sich zu dem dolce far niente »Süßes Nichtstun« (im Sinne von »Muße«). zurück – zu wenigen aber vertrauten Freunden, zu einem einförmigen, aber uneingezwängten Leben; und selbst da wird das Gefühl der Einsamkeit sich Ihrer von Neuem bemächtigen, denn Sie streben nicht so, wie ich, die Erinnerung zu vernichten; Ihre todten Leidenschaften haben sich in Gespenster verwandelt, welche Ihnen erscheinen und Sie für die lebende Welt untauglich machen. Ich sehe alles – Ich sehe es noch in Ihren flüchtigen phantastischen Zeilen, wie ich es damals sah, als wir unter den Fichten saßen und den blauen See betrachteten, der vor unseren Augen ausgebreitet lag. Ich fühle mich beunruhigt von dem Schatten der Zukunft, während sie durch den der Vergangenheit gequält wurden.

Allerdings sagen Sie halb im Ernst und halb im Scherz: ›Ich will aus dem Gefängniß der Erinnerung entfliehen; ich will neue Bande knüpfen, wie andere Männer, und das, ehe es zu spät ist; ich will heirathen – ja, aber ich muß lieben – da steckt die Schwierigkeit‹ – ja, und dem Himmel sei Dank, daß dem so ist.

Rufen Sie sich alle die unglücklichen Ehen, welche zu Ihrer Kenntniß gelangten, in das Gedächtniß zurück – sind nicht von zwanzig Heirathen achtzehn aus Liebe geschlossen worden. So ist es immer gewesen, und so wird es immer sein. Der Grund ist der, daß wir, wenn wir innig lieben, so viel fordern und so wenig verzeihen. Begnügen Sie sich damit, ein Wesen zu finden, bei welchem Ihr Heerd und Ihre Ehre sicher sind. Sie werden nach und nach Dies lieben, was Ihr Herz nie verwundete – Sie werden bald die Liebe zu Dem verlieren, was Ihre Einbildung immer täuschen muß. Cospetto! Ich wollte, meine Jemima hätte eine jüngere Schwester für Sie. Und doch geschah es mit tiefem Stöhnen, daß ich mich an eine – Jemima band.

Ich habe Ihnen einen langen Brief geschrieben, um Ihnen zu beweisen, wie wenig ich Ihr Mitleid und Ihren Eifer nöthig habe. Lassen Sie nun wieder ein langes Schweigen zwischen uns eintreten. Es ist nicht leicht für mich, mit einem Manne von Ihrem Range zu korrespondiren, ohne mich dem neugierigen Geschwatze meines stillen kleinen Teiches von einer Welt auszusetzen, welchen das Plätschern eines Kieselsteines in Aufregung zu versetzen vermag. Ich muß diesen Brief nach einer Poststation, zehn Meilen von hier, bringen und ihn dort heimlich in einen Briefkasten werfen.

Leben Sie wohl, theurer und edler Freund, gütigstes Herz und zarteste Phantasie, der ich je auf meiner Wanderung durch die Welt begegnet bin. Leben Sie wohl – schreiben Sie mir zwei Zeilen, wenn Sie einen Tagestraum aufgegeben und eine Jemima gefunden haben.

Alphonso.

»P. S. – Ich bitte Sie dringend, warnen Sie wiederholt Ihren Freund, den Minister, kein Wort, das meinen Versteck verrathen könnte, gegen jene Frau fallen zu lassen.«

»Ist er wirklich glücklich?« murmelte Harley, als er den Brief zusammen legte, und versank dann in eine kurze Träumerei.

»Dieses Leben in einem Dorfe – die Gattin, welche ihre Arbeit bei Seite legt, um über die Dorfbewohner zu plaudern – welch' ein Gegensatz zu Audley's vollwichtigem Dasein. Und keinen von Beiden kann ich beneiden, noch begreifen – und doch – was ist denn mein eigenes Dasein?«

Er stand auf und näherte sich dem Fenster, von welchem eine Treppe zu einem grünen Rasenplatze hinabführte, der mit größeren Bäumen besetzt war, als man sonst gewöhnlich in den Anpflanzungen einer Vorstadtwohnung findet. Es lag Ruhe und Kühle in diesem Anblick und man hätte kaum vermuthen sollen, daß London so nahe sei.

Die Thüre öffnete sich leise und eine Dame, welche über das mittlere Alter hinaus war, trat ein; sie näherte sich Harley, der noch immer sinnend am Fenster stand, und legte ihre Hand auf seine Schulter. Wie viel Charakter liegt nicht in einer Hand! Diejenige dieser Dame würde Titian mit fleißiger Sorgfalt gemalt haben! Fein, weiß und zart – mit blauen, auf der Oberfläche sichtbaren Adern. Es drückte sich indessen in der Form und in dem Bau etwas mehr, als bloße patrizische Eleganz aus. Ein Physiologe würde sofort gesagt haben: »Es liegt Verstand und Stolz in jener Hand, welche da, wo sie ruht, einen festen Anhaltspunkt zu gewinnen scheint und wenn ihr Druck auch noch so sanft ist, doch nicht so leicht sich abschütteln läßt.«

»Harley,« sagte die Lady – und Harley wendete sich um. »Du täuschest mich nicht durch jenes Lächeln,« fuhr sie traurig fort; »du lächeltest nicht, als ich eintrat.«

»Es geschieht selten, meine liebe Mutter, daß wir lächeln, wenn wir allein sind; und ich habe in der letzten Zeit keine solche Thorheit begangen, daß ich veranlaßt wäre, über mich selbst zu lächeln.«

»Mein Sohn,« sagte Lady Lansmere etwas rasch, aber mit großem Ernste, »du stammst von einer Reihe berühmter Vorfahren ab, und es däucht mir, als ob sie von ihren Gräbern aus frügen, warum der Letzte ihres Geschlechtes kein Ziel, keinen Zweck – kein Interesse – keine Heimath in dem Lande hat, welchem sie dienten, und welches sie mit seinen Ehren belohnte.«

»Mutter,« erwiderte der Soldat einfach, »als das Land in Gefahr war, diente ich ihm, wie es meine Vorfahren gethan – und meine Antwort würden die Narben auf meiner Brust sein.«

»Kann man einem Lande nur in Zeiten der Gefahr dienen – nur im Kriege seine Pflicht erfüllen? Glaubst du, daß dein Vater in seinem einfachen Leben als Landedelmann nicht, wenn auch im Stillen, den Zwecken diente, für welche die Aristokratie geschaffen und derselben Reichthum verliehen worden ist?«

»Ohne Zweifel thut er das, Mutter – und besser, als sein unstäter Sohn es je thun kann.«

»Und doch hat sein unstäter Sohn so große Gaben von der Natur erhalten – seine Jugend war so viel versprechend – seine Jünglingszeit glühte in einem solchen Traume von Ruhm!«

»Ja,« sagte Harley, sehr leise, »das ist möglich – und alles in einem einzigen Grabe begraben!«

Die Gräfin fuhr zusammen und zog ihre Hand von Harley's Schulter zurück.

Lady Lansmere's Züge gehörten nicht zu denjenigen, welche den Ausdruck oft wechseln. Sie hatte hierin, wie in dem Schnitt ihres Gesichtes, wenig Aehnlichkeit mit ihrem Sohne.

Ihre Züge hatten etwas Adlerartiges – die Augenbrauen waren so gewölbt, daß sie dem Antlitz eine gewisse Majestät verliehen. Die Linien um den Mund waren gewöhnlich starr und zusammengedrückt. Ihr Antlitz trug die Spuren großer und unterdrückter Kämpfe und Aufopferungen. Es lag etwas Förmliches, und selbst etwas Ascetisches in dem Charakter ihrer immer noch bedeutenden Schönheit, sowie in ihrer ganzen Erscheinung und in ihrem Anzuge. Man hätte glauben können, irgend eine gothische Edelfrau aus alten Zeiten, halb Herrin eines Schlosses, halb Aebtissin vor sich zu haben; mit einem Blicke konnte man sehen, daß sie nicht in der gedankenlosen Welt lebte, die sie umgab und daß sie die Moden und die Denkweise derselben verachtete; allein dieses Antlitz war bei all' seiner Starrheit das Antlitz einer Frau, welche menschliche Bande und menschliche Neigung gekannt hat; und als sie jetzt lange die ruhige traurige Stirne Harley's betrachtete, waren es die Gefühle einer Mutter, welche sich in demselben aussprachen.

»Ein einziges Grab –« sagte sie nach einer langen Pause. »Und du warst damals noch ein Knabe! Kann eine solche Erinnerung bis zu dem heutigen Tage Einfluß auf dich üben? Es scheint mir kaum möglich, wenigstens nicht bei einem Manne –; obgleich es bei einem Weibe nicht zur Unmöglichkeit gehören dürfte.«

»Ich glaube,« sagte Harley, halb mit sich selbstsprechend, »daß ich ziemlich viel von einem Weibe in mir habe.Vielleicht, daß Männer, die viel allein leben und sich nicht um die Zwecke der Menschen kümmern, die Eindrücke, welche sie empfangen, beharrlicher festhalten, gerade wie es bei Eurem Geschlechte der Fall ist. Aber ach,« rief er laut und mit einem plötzlich veränderten Ausdruck seiner Züge – »ach, der härteste und kaltblütigste Mann würde gefühlt haben, wie ich, wenn er sie gekannt – wenn er sie geliebt hätte! Sie glich keinem andern Weibe, dem ich je begegnet bin. Ein strahlendes und glorreiches Wesen aus einer andern Sphäre, sie stieg herab zur Erde und verdunkelte sie, als sie dieselbe verließ. Es nützt nichts, darüber zu streiten. Mutter, ich habe so viel Muth, wie unsere in Stahl gekleideten Vorfahren je gehabt. Ich habe ihn bewiesen in Schlachten und in Wüsten – ich habe gekämpft gegen Menschen und wilde Thiere – gegen den Sturm und den Ocean – gegen die rohen Kräfte der Natur, ich habe Gefahren bestanden, so groß, wie nur je ein Pilger oder Kreuzfahrer zu bestehen Gelegenheit hatte. Aber jener Erinnerung gegenüber – nein, da habe ich keinen Muth!«

»Harley, Harley, du brichst mir das Herz!« rief die Gräfin und schlug ihre Hände zusammen.

»Es ist wunderbar,« fuhr ihr Sohn fort, der in seine eigene Gedanken so sehr versunken war, daß er vielleicht ihren Ausruf nicht hörte – »ja, es ist in der That wunderbar, daß, wenn ich die Tausende von Frauen, die ich gesehen und gesprochen habe, an mir vorüber gehen lasse, ich niemals ein Antlitz gleich dem ihrigen erblicke und niemals eine so liebliche Stimme vernehme. Und dieses ganze Universum des Lebens kann mir nicht einen Blick, nicht einen Ton verschaffen, der mir das Vorrecht des Menschen – die Liebe – wiedergibt. Gut, gut, gut, das Leben besitzt noch andere Dinge – die Poesie und die Kunst leben noch – noch lächelt der Himmel, und noch wogen die Bäume. Ueberlasse mich dem Glücke nach meiner eigenen Weise.«

Die Gräfin war im Begriffe zu antworten, als die Thüre rasch geöffnet wurde, und Lord Lansmere eintrat. Der Graf war einige Jahre älter, als die Gräfin; aber sein mildes Antlitz zeigte nicht jene Spuren verborgener Kämpfe. Es war ein wohlwollendes, freundliches Antlitz – ohne irgend ein Zeichen von gebieterischem Geiste, aber auch nicht ohne Verstand in den angenehmen Zügen. Seine Gestalt war nicht groß, aber aufrecht und stattlich: in seinem ganzen Auftreten lag eine gewisse Wichtigkeit und Feierlichkeit – die Feierlichkeit des Grand Seigneur, der viel in der Provinz gelebt hat, dessen Willen selten Widerstand geleistet und dessen Wichtigkeit so allgemein gefühlt und anerkannt worden ist, daß sie unmerklich auf ihn selbst zurückwirkte; – ein vortrefflicher Mann, wenn man aber die hohe Stirne und die dunkeln Augen der Gräfin betrachtete, dann mußte man sich wundern, wie sich diese Beiden zusammenfinden und – nach allgemeiner Versicherung – so glücklich mit einander leben konnten.

»Ho, ho! mein lieber Harley!« rief Lord Lansmere und rieb seine Hände mit anscheinend großer Befriedigung, »ich habe gerade der Herzogin einen Besuch abgestattet.«

»Welcher Herzogin, mein lieber Vater?«

»Nun, der Cousine deiner Mutter, natürlich – der Herzogin von Knaresborough, die du mir zu Gefallen dich herabgelassen hast, zu besuchen; und es freut mich sehr, zu hören, daß du ein Bewunderer bist von Lady Mary.«

»Sie ist sehr angenehm erzogen – und trägt die Nase ziemlich hoch,« antwortete Harley. Als er aber bemerkte, daß seine Mutter verletzt und sein Vater etwas verstimmt aussah, fügte er in ernsthaftem Tone hinzu: »Aber sie ist in der That recht hübsch.«

»Wohlan, Harley,« sagte der Graf, sich wieder fassend, »die Herzogin hat mir, unsere Verwandtschaft zu einer offenen Mittheilung benützend, mitgetheilt, daß du keinen geringen Eindruck auf Lady Mary gemacht hast; und, um zur Sache zu kommen, da du zugeben wirst, daß es für dich Zeit ist, an das Heirathen zu denken, so wüßte ich keine wünschenswertere Verbindung. Was meinst du, Katharine?«

»Der Herzog gehört zu einer Familie, die vor dem Kriege der beiden Rosen in der Geschichte aufgeführt wird,« sagte Lady Lansmere, sich ehrerbietig gegen ihren Gemahl wendend, »und es hat in den Annalen derselben nie einen Skandal und auf ihrem Wappen nie einen Flecken gegeben. Ich bin aber überzeugt, mein theurer Lord ist der Ansicht, daß die Herzogin nicht die erste Eröffnung hätte machen sollen, selbst nicht gegen einen Freund und Verwandten.«

»Nun, wir sind altmodische Leute,« versetzte der Graf etwas verlegen, »und die Herzogin ist eine Weltdame.«

»Wir wollen hoffen,« sagte die Gräfin in mildem Tone, »daß ihre Tochter es nicht ist.«

»Ich würde Lady Mary nicht heirathen, und wenn außer ihr das ganze weibliche Geschlecht in Affen verwandelt würde,« sagte Lord L'Estrange in entschiedenem und etwas heftigem Tone.

»Guter Gott!« rief der Graf, »welch' eine seltsame Sprache ist dies, darf ich bitten, warum, Sir?«

Harley. – »Ich kann es nicht sagen – es gibt kein Warum in solchen Fällen. Aber, mein lieber Vater, Sie halten mir nicht Wort.«

Lord Lansmere. – »In wiefern?«

Harley. – »Sie und meine Mutter bitten mich, zu heirathen – ich verspreche Ihnen, mein Bestes zu thun, um Ihrem Wunsche nachzukommen; aber unter Einer Bedingung – daß ich selbst meine Wahl treffe und mir Zeit dazu nehme. Beide Theile waren damit einverstanden. Hierauf geht Eure Herrlichkeit – noch vor Mittag, zu einer Stunde, wo keine Dame ohne Schauder an Blonden und Orangeblüthen denken kann – da geht, sage ich, Eure Herrlichkeit hin und überliefert die arme Lady Mary und Ihren unwürdigen Sohn einer gegenseitigen Bewunderung, welche Keines von Beiden je empfunden hat. Verzeihen Sie mir, mein Vater – allein die Sache ist ernst. Gestatten Sie mir, mich noch einmal auf Ihr Versprechen zu berufen – vollständig freie Wahl für mich selbst, und ohne Bezug auf den Krieg der beiden Rosen. Welcher Rosenkrieg gleicht demjenigen zwischen Bescheidenheit und Liebe auf der Wange einer Jungfrau!«

Lady Lansmere. – »Vollkommen freie Wahl für dich selbst, Harley! – so sei es. Aber auch wir nannten eine Bedingung – nicht wahr, Lansmere?«

Der Graf (verlegen). – »Nun – ja – gewiß thaten wir das.«

Harley. ›»Welche Bedingung?«

Lady Lansmere. – Der Sohn Lord Lansmere's kann nur die Tochter eines Gentleman heirathen.«

Der Graf. »Natürlich – natürlich.«

Das Blut strömte nach Harley's Wangen; allein eben so rasch erbleichten sie wieder. Er trat an das Fenster – seine Mutter folgte ihm und legte wieder ihre Hand auf seine Schulter.

»Du warst grausam,« sagte er sanft und flüsternd, als er unter der Berührung ihrer Hand zusammenfuhr. Dann wendete er sich gegen den Grafen, welcher ihn mit offenbarer Verwunderung anblickte – der Gedanke war Lord Lansmere gar nie gekommen, daß sein Sohn unter dem Stande, den die Gräfin bescheiden bezeichnet hatte, heirathen könnte. Harley streckte seine Hand aus und sagte in seinem sanften gewinnenden Tone: »Sie sind immer höchst gütig und nachsichtig gegen mich gewesen; es ist deßhalb nicht mehr als billig daß ich egoistische Gewohnheiten opfere, um einem Wunsche zu willfahren, den Sie mit einer solchen Wärme befürworten. Auch ich stimme mit Ihnen darin überein, daß unser Stamm nicht mit mir erlöschen sollte – Noblesse oblige Adel verpflichtet.. Aber Sie wissen, daß ich immer romantischer Natur war, und wenn ich heirathe, so muß ich lieben – oder, wenn ich auch nicht liebe, so muß ich wenigstens fühlen, daß meine Frau all' der Liebe werth ist, die ich einst hatte gewähren können. Was nun das unbestimmte Wort ›Gentleman‹ betrifft, dessen sich meine Mutter bediente, und das auf verschiedenen Lippen eine so verschiedene Bedeutung hat, so gestehe ich, daß ich ein Vorurtheil gegen junge Damen habe, welche in der Ziererei der großen Welt erzogen worden sind, wie dies bei den Töchtern von Gentlemen unseres Ranges meistens der Fall ist. Ich fordere deßhalb die liberalste Auslegung des Wortes ›Gentleman‹. Und sobald nichts Gemeines oder Schmutziges an der Geburt, den Gewohnheiten und der Erziehung des Vaters der künftigen Braut haftet, dann, hoffe ich, werden Sie beide zugeben, daß nichts mehr verlangt werden darf, weder Titel noch Stammbaum.«

»Titel, nein – gewiß nicht,« entgegnete Lady Lansmere, »diese machen nicht den Gentleman aus.«

»Durchaus nicht,« sagte der Graf. »Viele unserer besten Familien sind ohne Titel.«

»Titel – nein,« wiederholte Lady Lansmere; »aber Ahnen – ja.«

»Ach, meine Mutter,« sagte Harley mit seinem traurigen aber ruhigen Lächeln, »das Schicksal will, daß wir nie mit einander übereinstimmen. Der erste unseres Stammes ist immer derjenige, auf den wir am meisten stolz sind, und sage mir, ich bitte dich, welche Ahnen hatte denn er?Schönheit, Tugend, Bescheidenheit, Verstand – wenn diese Eigenschaften nicht Adel genug sind für einen Mann, so ist er ein Sklave der Todten.«

Mit diesen Worten nahm Harley seinen Hut und ging der Thüre zu.

»Du sagtest selbst, Noblesse oblige,« sprach die Gräfin und folgte ihm bis an die Schwelle; »wir haben nichts weiter hinzuzufügen.«

Harley zuckte leicht die Achseln, küßte die Hand seiner Mutter, pfiff Nero, der sich von einem Schläfchen am Fenster erhob, und verließ das Zimmer.

»Geht er wirklich nächste Woche in das Ausland?« frug der Graf.

»So sagt er.«

»Ich fürchte, es ist keine Aussicht für Lady Mary vorhanden,« fuhr Lord Lansmere mit einem leichten, aber melancholischen Lächeln fort.

»Sie hat nicht Verstand genug, um ihn zu fesseln. Sie ist Harley's nicht würdig,« erwiderte die stolze Mutter.

»Unter uns gesagt,« versetzte der Graf etwas schüchtern, »ich sehe nicht ein, was er von seinem Verstande hat. Er könnte nicht unsteter und unnützer sein, wenn er der größte Dummkopf in den drei Königreichen wäre. Und wie ehrgeizig war er nicht als Knabe. Katharine, bisweilen meine ich, du müßtest wissen, was ihn so verändert hat.«

»Ich! Mein lieber Lord, eine solche Veränderung ist bei jungen Leuten seines Standes gewöhnlich genug; sie finden, wenn sie in das Leben eintreten, daß es in der That für sie wenig zu erringen gibt. Wäre Harley der Sohn eines armen Mannes gewesen, so würde sich die Sache vielleicht anders gestaltet haben.«

»Ich wurde unter eben so glücklichen Verhältnissen geboren, wie Harley,« sagte der Graf schlau, »und dennoch schmeichle ich mir, für Altengland von einigem Nutzen zu sein.«

Die Gräfin benützte die Gelegenheit, um ihrem Gemahl ein Kompliment zu machen, und lenkte dann das Gespräch auf andere Dinge.


Siebzehntes Kapitel.

Harley trieb sich den Tag über, wie gewöhnlich, müßig herum und aß in seiner ruhigen Ecke in seinem Lieblingsclub, während Nero, der keinen Zutritt in den Club hatte, geduldig draußen vor der Thüre auf ihn wartete. Als das Mittagessen vorüber war, schlenderten Herr und Hund jene Straße hinab, die für die Wenigen, welche die Poesie von London zu begreifen vermögen, so erhabene Erinnerungen an Ruhm und Leiden enthält, wie sie irgend eine Ruine der todten älteren Welt aufzuweisen vermag – die Straße nämlich, die den Platz durchschneidet, der einst den Schloßhof von Whitehall Der Palace of Whitehall war ab 1530 die Hauptresidenz der britischen Monarchen in London. Im Jahr 1698 zerstörte ein Großbrand den gesamten Palast, mit Ausnahme des Banqueting House. bildete und links von welchem der Palast stand, den die königliche Familie von Schottland bewohnte. Von da führt diese Straße durch einen engen Durchgang nach der Insel Thorney, auf welcher Eduard der Bekenner den verhängnißvollen Besuch Wilhelms des Eroberers empfing Eduard der Bekenner (um 1004-1066) war von 1042 bis 1066 der vorletzte angelsächsische König von England; er wird als Heiliger verehrt. Bei dem besagten Treffen mit dem Herzog der Normandie Wilhelm (1027/28-1087) soll der kinderlose König diesen zum Nachfolger bestimmt haben. Durch die Schlacht von Hastings (1066) wurde Wilhelm der Eroberer zum König Wilhelm I., und verliert sich dann, nachdem sie sich noch einmal bei der Abtei und der Halle von Westminster erweitert hat, gleich allen Erinnerungen irdischer Größe, unter bescheidenen Gäßchen und gemeinen Durchgängen.

So dachte Harley L'Estrange, der stets weniger in der ihn umgebenden wirklichen Welt, als in den von seiner eigenen einsamen Seele heraufbeschworenen Bildern lebte – als er die Brücke erreichte und dort die stillen, leblosen Schiffe auf der »stummen Heerstraße« schlafen sah, welche einst von den vergoldeten Barken der alten Signoria Bezeichnung für die Aristokratie wie auch die Regierung und das Herrschaftsgebiet italienischer Stadtstaaten wie z.B. Venedig, auf das hier angespielt wird. Englands erglänzt hatte.

Ans dieser Brücke hatte Audley Egerton mit L'Estrange verabredet zu einer Stunde zusammenzutreffen, wo er nach seiner Berechnung am besten auf kurze Zeit von der Debatte loskommen konnte; denn Harley war in seiner an Verachtung gränzenden Abneigung gegen alle Orte, die Seinesgleichen zu besuchen pflegten, nicht zu bewegen gewesen, seinen Freund in den lebhaften Gegenden von Bellamy Bellamy's im ›feinen‹ Stadtteil Mayfair ist bis heute das Lieblingslokal der Aristokratie wie auch der englischen Königin. aufzusuchen.

Als Harley über die Brücke schritt, wurde sein Auge durch eine regungslose Gestalt gefesselt, welche, das Gesicht mit den Händen bedeckt, auf den Steinen in einer der Nischen saß.

»Wäre ich ein Bildhauer,« sagte er vor sich hin, »so würde ich mich dieser Gestalt erinnern, wenn ich die Idee der Verzagtheit darzustellen hätte!«

Er blickte auf und sah vor sich mitten auf dem Wege die feste, aufrechte Gestalt Audley Egerton's. Die Strahlen des Mondes fielen voll auf das eherne Antlitz des Staatsmannes mit den denkenden, sorgenvollen Zügen und dem kräftigen, aber kalten Ausdruck vollkommener Selbstbeherrschung.

»Und blicke ich dorthin,« fuhr Harley in seinem Selbstgespräch fort, »so würde ich mich dieser Gestalt erinnern, wenn ich die Idee der Beharrlichkeit in Granit auszuhauen wünschte.«

»Da bist du ja, und pünktlich,« sagte Egerton und schlang seinen Arm in den Harley's.

Harley. – »Pünktlich, natürlich; denn deine Zeit ist kostbar. Ich werde dich nicht lange aufhalten. Du wirst wohl heute Abend sprechen?«

Egerton. – »Ich habe schon gesprochen.«

Harley (mit Interesse). – »Und gut, wie ich hoffe?«

Egerton – »Mit Erfolg wenigstens, denke ich, denn man hat mir lauten Beifall gespendet, dessen ich mich nicht immer rühmen kann.«

Harley. – »Und das freute dich?«

Egerton (sich einen Augenblick besinnend). – »Nein, nicht im Geringsten.«

Harley. – »Was fesselt dich denn so sehr an dieses Leben – an diese knechtische Arbeit – an diesen fortwährenden Kampf, bei welchem die angenehmeren Eigenschaften schlafen, und alle unfreundlichen in Bewegung gesetzt werden – wenn die Belohnung (und die beste ist nach meiner Ansicht der Beifall) dir keine Freude macht?«

Egerton. – »Was mich daran fesselt? die Gewohnheit!«

Harley. – »Märtyrer!«

Egerton – »Du hast Recht. Aber sprechen wir von dir; du bist also entschlossen, England in der nächsten Woche zu verlassen.«

Harley (mißmuthig). – »Ja. Dieses Leben in einer Hauptstadt, wo alle so thätig sind, und nur ich ohne jedweden Zweck dahin lebe, verzehrt mich, wie ein langsames Fieber. Nichts hier unterhält mich, nichts interessirt mich, nichts erquickt mich, nichts tröstet mich. Aber ich bin entschlossen, ehe es zu spät wird, eine große Schlacht zu schlagen, um aus der Vergangenheit in die wirkliche Welt der Menschen zu gelangen. Mit Einem Wort, ich habe mich entschlossen, zu heirathen.«

Egerton. – »Wen?«

Harley (ernst). – »So wahr ich lebe, mein lieber Freund, du bist ein großer Philosoph. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du begreifst, daß ich kein Traumbild heirathen kann; und wo soll ich, außer in meinen Träumen, dieses ›Wen‹ finden?«

Egerton. – »Du suchst nicht darnach.«

Harley. – »Suchen wir je die Liebe? Fährt sie nicht wie ein Blitz auf uns, wenn wir es am Wenigsten erwarten? Ist sie nicht gleich der Begeisterung der Muse? Welcher Dichter setzt sich hin und sagt: ›Ich will ein Gedicht schreiben?‹ Welcher Mensch blickt um sich und sagt: ›Ich will mich verlieben?‹Nein! Das Glück, wie der große Deutsche sagt, fällt plötzlich aus dem Schooße der Götter; und so ist es auch mit der Liebe.«

Egerton. – »Du erinnerst dich des alten Verses aus Horaz: ›Der Strom des Lebens fließt vorüber, während der Landmann am Ufer sitzt und auf die Furt wartet‹.«

Harley. – »Eine Idee, welche dir vor einigen Wochen zufällig entfiel, und über die ich vorher schon halb und halb nachgedacht hatte, verfolgt mich seitdem. Wenn ich mir irgend ein Kind von zarten Anlagen und offenem, noch nicht ausgebildetem Verstande finden könnte, um es nach meinem Ideal zu erziehen! Ich bin noch jung genug, um ein Paar Jahre zu warten. Und unterdessen hätte ich das erlangt, was mir so sehr gebricht – einen Lebenszweck.«

Egerton. – »Du bleibst immer ein Kind der Romantik. Aber was–«

Hier wurde der Minister durch einen Boten aus dem Hause der Gemeinen unterbrochen, welchem Audley den Auftrag gegeben hatte, ihn auf der Brücke aufzusuchen, falls seine Anwesenheit nothwendig werden sollte. »Sir, die Opposition benützt die Leere des Hauses, um eine Abstimmung zu verlangen. Mr. *** ist veranlaßt worden, zu sprechen, um Zeit zu gewinnen; aber man will ihn nicht hören.«

Egerton wandte sich schnell an Lord L'Estrange: »Du siehst, daß du mich jetzt entschuldigen mußt. Morgen gehe ich auf zwei Tage nach Windsor; aber wir treffen uns bei meiner Rückkehr.«

»Hat nichts zu sagen,« antwortete Harley; »ich stehe außer dem Bereiche deines Rathes, o praktischer Verstandesmensch! Und,« fügte er mit wehmüthiger und liebevoller Sanftmuth hinzu, »wenn ich dich mit Klagen behellige, die du nicht verstehen kannst, so ist dies noch eine alte Schulknabengewohnheit. Ich kann keinen Kummer haben, den ich dir nicht anvertraue.«

Egerton's Hand zitterte, als sie die des Freundes drückte, und, ohne ein Wort zu sagen, eilte er plötzlich von dannen. Harley stand einige Sekunden unbeweglich in tiefe und stille Träumereien versunken; dann rief er seinen Hund und schlug wieder den Weg nach Westminster ein.

Er ging an der Nische vorbei, in welcher die regungslose Gestalt der Verzagtheit gesessen hatte. Aber die Gestalt hatte sich jetzt aufgerichtet und stützte sich auf das Brückengeländer. Der Hund, der seinem Herrn vorauslief, blieb vor derselben stehen und beschnüffelte sie mißtrauisch.

»Hierher, Nero,« rief Harley.

Nero! Das war der Name, bei welchem, wie Helene gesagt hatte, der Freund ihres Vaters seinen Hund gerufen. Und bei dem Klange dieses Namens fuhr Leonard, der mit krankem Herzen an den Stein gelehnt dastand, plötzlich auf. Er erhob sein Haupt und blickte Harley ernst und scharf in's Gesicht. Jene glanzvollen, hellen und doch so seltsam tiefen und zerstreut blickenden Augen, welche Helene beschrieben hatte, begegneten den seinigen und fesselten sie. Auch L'Estrange blieb stehen; die Züge des Jünglings schienen ihm nicht unbekannt. Er erwiderte den forschenden Blick, der auf ihn gerichtet war, und erkannte den Studenten vor der Bücherbude.

»Der Hund thut Niemand etwas zu Leide, Sir,« sagte L'Estrange mit einem Lächeln.

»Und Sie nannten ihn Nero?« versetzte Leonard, den Fremden noch immer anblickend.

Harley mißverstand den Sinn der Frage.

»Nero, Sir; aber er hat nicht die blutigen Neigungen seines römischen Namensvetters.« Harley war im Begriff, weiter zu gehen, als Leonard stotternd fortfuhr:

»Entschuldigen Sie, aber wäre es nicht möglich, daß Sie Derjenige sind, den ich schon so lange vergebens suche – wegen des Kindes Kapitän Digby's?«

Harley blieb stehen. »Digby!« rief er. »Wo ist er? Er hätte mich leicht finden können. Ich gab ihm meine Adresse.«

»Ah, dem Himmel sei Dank!« rief Leonard. »Helene ist gerettet, sie wird nicht sterben!« und er brach in Thränen aus.

Wenige Augenblicke und wenige Worte genügten, um Harley die Lage der Waise seines alten Kriegskameraden aus einander zu setzen. Und bald stand Harley selbst in dem Zimmer der jungen Dulderin, stützte ihre brennende Schläfe an seine Brust und flüsterte in ihre Ohren Worte, die sie wie in einem glücklichen Traume vernahm: »Tröste dich, tröste dich; dein Vater lebt noch in mir.«

Und als Helene ihre Augen aufschlug, sagte sie: »Aber Leonard ist mein Bruder – mehr als Bruder – und er bedarf der Fürsorge eines Vaters mehr als ich.«

»Still, still, Helene. Ich brauche Niemand – ich brauche jetzt gar nichts!« rief Leonard, und seine Thränen strömten über die kleine Hand, welche die seinige umfaßte.


Achtzehntes Kapitel.

Alles, was zur romantischen und poetischen Seite des menschlichen Lebens gehört, machte einen tiefen Eindruck auf Harley L'Estrange. Als er erfuhr, welche Bande diese beiden Kinder der Natur verknüpfte, die Seite an Seite allein in den Stürmen des Schicksals standen, wurde sein Herz tiefer bewegt, als dies seit vielen Jahren der Fall gewesen war.

In jenen trüben Dachkammern – eingehüllt in den Rauch und Dampf der bescheidenen Vorstadt und umgeben von der Werktagswelt in ihrer rauhesten und trübsten Gestalt – erkannte er jene göttliche Poesie, welche ihren Ursprung in jeder Verbindung des Geistes mit dem Herzen hat. Hier auf dem rohen tannenen Tische lagen – die Tinte kaum trocken – die Schriften des jungen Kämpfers um Ruhm und Brod; und dort auf der andern Seite der bretternen Scheidewand, auf jener elenden Pritsche des Jünglings einziger Trost – Alles, was sein Herz mit lebendiger, menschlicher Liebe erwärmte. Hier die Welt der Phantasie, dort die Welt des Kummers und der Liede. Und in beiden ein gleich erhabener Geist uneigennütziger Hingebung – »das Etwas, welches fern liegt von der Sphäre unseres Kummers. Zeile aus dem Gedicht »To ––« von Percy Bysshe Shelley.«

Harley blickte sich um in dem Zimmer, wohin er Leonard gefolgt war, nachdem er Helene verlassen, und bemerkte die Manuscripte auf dem Tische. Auf dieselben deutend, sagte er in freundlichem Tone:

»Und dies sind die Arbeiten, mit welchen Sie die Waise des Soldaten ernährt haben? Sie waren selbst ein Soldat in einer heißen Schlacht!«

»Die Schlacht war verloren – ich konnte sie nicht ernähren,« antwortete Leonard kummervoll.

»Aber Sie verließen sie nicht. Man sagt, daß, als sich Pandora's Büchse Auf Weisung des Zeus hatte nach der griechischen Mythologie Hephaistos aus Lehm die erste Frau geschaffen, Pandora. Sie war ein Teil der Strafe für die Menschheit wegen des durch Prometheus gestohlenen Feuers. Prometheus' Bruder Epimetheus und Pandora heirateten. Zeus wies Pandora an, den Menschen die Büchse zu schenken und ihnen mitzuteilen, dass sie unter keinen Umständen geöffnet werden dürfe. Doch sogleich nach ihrer Heirat öffnete Pandora die Büchse. Daraufhin entwichen aus ihr alle Laster und Untugenden. Von diesem Zeitpunkt an eroberte das Schlechte die Welt. Zuvor hatte die Menschheit keine Übel, Mühen oder Krankheiten und auch den Tod nicht gekannt. Als einzig Positives enthielt die Büchse die Hoffnung. Bevor diese auch entweichen konnte, wurde die Büchse wieder geschlossen. öffnete, die Hoffnung zuletzt darin blieb.«

»Falsch, falsch,« sagte Leonard; »das ist eine heidnische Vorstellung. Es gibt Gottheiten, welche noch nach der Hoffnung zurück bleiben – Dankbarkeit, Liebe und Pflicht.«

»Ihr Gemüth ist kein gewöhnliches,« rief Harley bewundernd, »ich muß es später tiefer erforschen; jetzt eile ich nach einem Arzte; ich werde mit ihm zurückkehren. Wir müssen das arme Kind sobald als möglich aus dieser dumpfen Luft entfernen. Nur noch ein Wort zur Rechtfertigung der alten Fabel, welche Sie verwerfen. Ueberall, wo Dankbarkeit, Liebe und Pflicht bei dem Menschen zurückbleiben, da, glauben Sie mir, bleibt auch die Hoffnung, obgleich sie oft unsichtbar und unter den schützenden Flügeln der edleren Gottheiten versorgen sein mag.«

Harley sagte dies mit einem wunderbaren Lächeln, welches über das ganze Zimmer eine Helle verbreitete, und entfernte sich dann.

Leonard schlich leise zu dem schmutzigen Fenster hin, blickte hinauf zu den Sternen, die blaß über den Dächern schienen, und murmelte:

»O, du allwissendes und allgütiges Wesen! Wie tröstet mich jetzt der Gedanke, daß ich, wiewohl mir meine Träume von Wissen bisweilen den Himmel verdunkelten, doch niemals an deinem Dasein zweifelte, lichtvoll und ewig, wenn auch hinter Wolken verborgen!«

So betete er einige Minuten schweigend – dann ging er hinein in Helenen's Zimmer und saß bewegungslos neben ihrem Bette, denn sie schlief. Sie erwachte gerade, als Harley mit dem Arzte zurückkehrte. Leonard trat wieder in sein Zimmer und erblickte unter seinen Papieren den Brief, welchen er an Mr. Dale geschrieben hatte.

»Ich brauche nun meinen Beruf nicht zu beschimpfen,« murmelte er – »ich brauche jetzt kein Bettler zu werden!« und mit diesen Worten hielt er den Brief an die Flamme des Lichtes.

Während aber die glimmenden Papierreste auf den Boden fielen, begann der Hunger, den er während seiner letzten ängstlichen Aufregung nicht gefühlt hatte, an seinen Eingeweiden zu nagen. Doch selbst der Hunger konnte den edlen Stolz nicht dämpfen, der nur einem noch edleren Gefühle gewichen war – und er lächelte, als er wiederholte

»Kein Bettler! Das Leben, welches ich zu schützen beschworen hatte, ist gerettet. Mit männlicher Stirne kann ich wieder dem Schicksal entgegen treten.«


Neunzehntes Kapitel.

Einige Tage darauf befand sich Helene, welche man in eine reinere Luft gebracht und der Behandlung eines der ersten Aerzte übergeben hatte, außer Gefahr.

Es war ein hübsches, abgesondert stehendes Landhäuschen, dessen Fenster auf die wilden Haiden von Norwood sahen, wohin Harley täglich ritt, um die Genesung seiner jungen Schutzbefohlenen zu überwachen – er hatte bereits einen Lebenszweck gefunden! Als sie besser und kräftiger wurde, gelang es ihm leicht, sie zum Plaudern zu veranlassen, und er hörte ihr mit freudiger Verwunderung zu. Ihr kindliches Herz und ihr weibliches Gefühl setzten ihn um so mehr in Erstaunen, weil man diese beiden Gegensätze so selten vereinigt findet. Er hatte darauf bestanden, daß Leonard auch nachdem Landhäuschen ziehen solle; und Letzterer blieb daselbst ohne Widerrede, bis Helenen's Genesung außer allem Zweifel war. Nun aber trat er auf Lord L'Estrange zu, als dieser eines Tages im Begriffe war, das Landhäuschen zu verlassen, und sagte ruhig:

»Jetzt, mein Lord, da Helene außer Gefahr ist und meiner nicht mehr bedarf, kann ich nicht länger von Ihrer Großmuth Gebrauch machen. Ich kehre nach London zurück.«

»Sie sind mein Gast, närrischer Junge,« sagte Harley, den Stolz bemerkend, welcher dieses Lebewohl diktirte; »kommen Sie in den Garten und lassen Sie uns zusammen sprechen.«

Harley setzte sich auf eine Bank auf dem kleinen Rasenplatze; Nero legte sich zu seinen Füßen, und Leonard stand neben ihm.

»So,« sagte Lord L'Estrange, »Sie wollen nach London zurückkehren! Und was wollen Sie da thun?«

»Mein Schicksal erfüllen.«

»Und das wäre?«

»Ich weiß es nicht. Das Schicksal ist die Isis Das verschleierte Bild zu Saïs ist ein klassischer Topos seit der Antike und frühen Aufklärung. Dabei handelt es sich um die angeblich verhüllte Götterstatue der Isis bzw. der Göttin von Saïs, die schon in der Antike als die göttliche Verkörperung der Natur angesehen wurde. Über dem Eingang ihres Tempels soll sich eine Inschrift befunden haben, welche je nach Autor etwa so lautete: »Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.« (Friedrich Schiller, Vom Erhabenen, 1793). Diesem Thema widmete Schiller auch seine Ballade aus dem Jahr 1795., deren Schleier kein Sterblicher zu lüften vermag.«

»Sie dürften für große Dinge geboren sein,« sagte Harley plötzlich. »Ich bin überzeugt, daß Sie gut schreiben. Ich habe Sie leidenschaftlich studiren sehen. Und, was besser ist, als schreiben und studiren, Sie haben ein gutes Herz und eine stolze Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Lassen Sie mich einige Ihrer Manuscripte oder eine Ihrer gedruckten Sachen sehen. Zögern Sie nicht – ich verlange nur, ein Leser zu sein. Ich mache keinen Anspruch auf Gönnerschaft; ich hasse dieses Wort.«

Leonard's Augen strahlten in einem feuchten Glanze. Er brachte seine Mappe, legte sie auf die Bank neben Harley und ging dann leise nach einem entfernteren Theile des Gartens. Nero blickte ihm nach, stand dann auf und folgte ihm langsam. Der Jüngling setzte sich auf den Rasen, und Nero ließ seinen trägen Kopf an dem laut klopfenden Herzen des Dichters ruhen.

Harley nahm verschiedene Manuscripte heraus und las sie langsam durch. Er war gewiß kein Kritiker. Er war nicht gewohnt, das, was ihm gefiel oder nicht gefiel, zu analysiren; aber er besaß eine rasche Auffassung und einen sehr feinen Geschmack. Während des Lesens zeigte sich in seinen immer so ausdrucksvollen Zügen bald Zweifel, bald Bewunderung. Der Gegensatz in den Arbeiten des jungen Mannes fiel ihm bald auf – der Gegensatz nämlich zwischen den Stellen, in welchen die Phantasie spielte, und denjenigen, in welchen der Gedanke kämpfte. In den ersteren schien der junge Dichter sich seiner Individualität vollständig unbewußt zu sein. Seine Einbildungskraft erhob sich hoch und weit über die Schauplätze seiner Leiden und bewegte sich in einem Paradiese voll glücklicher, goldener Schöpfungen. Aber in den letzteren stand der Denker einsam und trauernd da und richtete in seiner Unruhe und in seinem Kummer Fragen an die harte Welt, die vor seinen Blicken lag. In dem Bereich des Gedankens war alles unstet und stürmisch: in dem der Phantasie alles heiter und friedlich. Der Genius schien in zwei Zwillingsgestalten getheilt, von welchen die eine ihre Flügel in dem Sternenthau des Himmels badete, während die andere melancholisch und langsam in öden, endlosen Sandwüsten herumirrte.

Harley legte die Papiere leise hin und sann eine Weile nach. Dann stand er auf, näherte sich Leonard und betrachtete das Antlitz des Jünglings mit einem neuen und tieferen Interesse.

»Ich habe Ihre Aufsätze gelesen,« sagte er, »und ich finde in denselben zwei Menschen, die zwei abgesonderten Welten angehören und wesentlich von einander verschieden sind.«

Leonard war überrascht und murmelte: »Wahr, wahr!«

»Ich fürchte,« fuhr Harley fort, »daß der eine den anderen aufreiben wird, wenn nicht beide zu einem einzigen Dasein verschmolzen und mit einander in Einklang gebracht werden können. Nehmen Sie Ihren Hut, besteigen Sie das Pferd meines Reitknechts und kommen Sie mit mir nach London; unterwegs können wir weiter reden. Ich glaube, wir sind darüber einig, daß das erste Ziel jedes edleren Geistes Unabhängigkeit ist. Nur in dem Streben nach dieser Unabhängigkeit möchte ich Ihnen Beistand leisten; und das ist ein Dienst, den der stolzeste Mann ohne Erröthen annehmen kann.«

Leonard erhob den Blick zu Harley, und in seinen Augen schwammen dankbare Thränen; sein Herz war aber zu voll, er konnte nicht antworten.

Als sie sich auf der Landstraße befanden, fuhr Harley fort: »Ich gehöre nicht zu Denen, welche glauben, daß ein junger Mann deßhalb, weil er Gedichte schreibt, zu nichts Anderem tauge, und daß er entweder ein Dichter oder ein armer Teufel sein müsse. Ich habe bereits gesagt, daß zwei Wesenheiten in Ihnen thätig zu sein scheinen, der Mensch der idealen Welt und der Mensch der wirklichen Welt. Jedem von diesen kann ich eine besondere Laufbahn anbieten. Die erstere ist vielleicht die verlockendere. Es liegt im Interesse des Staats, so viel Talent und Fleiß als er bekommen kann, in seine Dienste zu ziehen; und in seinem Vaterlande sollte jeder Bürger eines freien Landes stolz sein, Dienste zu nehmen. Ich besitze einen Freund, der Minister und dafür bekannt ist, daß er das Talent aufmuntert – Mr. Audley Egerton. Ich brauche ihm nur zu sagen: ›Hier ist ein junger Mann, welcher der Regierung gut lohnen wird, was sie auf ihn verwendet,‹ und Sie haben morgen hinreichende Mittel, um unabhängig leben zu können, und die beste Gelegenheit, Vermögen und Auszeichnung zu erlangen. Das ist das eine Anerbieten. Was sagen Sie dazu?«

Mit bitteren Gefühlen dachte Leonard an sein Zusammentreffen mit Egerton und an die Krone, welche er ihm angeboten hatte. Er schüttelte den Kopf und erwiderte:

»O, mein Lord, womit habe ich solche Güte verdient? Thun Sie mit mir, was Sie wollen; aber wenn ich die Wahl hätte, so würde ich lieber meinem eigenen Berufe folgen. Es ist nicht jener Ehrgeiz, der mich beseelt.«

»So hören Sie das andere Anerbieten. Ich habe noch einen Freund, mit welchem ich zwar auf einem weniger vertrauten Fuße stehe, als mit Egerton, und der über keine Mittel zu gebieten hat. Ich spreche von einem Manne der Wissenschaft – Henry Norreys – dessen Name Ihnen ohne Zweifel bekannt ist, und der, wie ich Ihnen sagen muß, ein Interesse für Sie gewann, als er Sie an der Bücherbude lesen sah. Ich habe ihn oft sagen hören, daß die Literatur als Profession mißverstanden werde und daß, wenn man sie recht betreibe und dieselbe Mühe und Klugheit auf sie verwende, wie auf andere Professionen, man jedenfalls schließlich sein Auskommen dabei finden könne. Aber der Weg ist oft lang und beschwerlich und führt zu keiner Macht, als zu der über die Gedanken. Reichthum wird nur selten erlangt; und wenn auch ein gewisser Ruf sicher ist, so dürfte doch jener Ruhm, von welchem die Dichter träumen, nur das Loos von Wenigen sein. Was sagen Sie zu dieser Laufbahn?«

»Mein Lord, ich bin entschlossen,« sagte Leonard fest, und das Antlitz des jungen Mannes glänzte von Begeisterung, als er ausrief: »Ja, wenn es, wie Sie sagen, zwei Menschen in mir gibt, so fühle ich, daß allerdings der eine den andern vernichten müßte, wenn ich dazu verurtheilt würde, mich gänzlich der mechanischen und praktischen Welt hinzugeben. Und der Sieger wäre dann der rohere und gröbere. Lassen Sie mich diejenigen Ideen verfolgen, die, wenn sie auch nur unbestimmt und gestaltlos vor mir aufzuckten, doch immer dem Sonnenlichte zustrebten. Es ist mir gleichgültig, ob sie zu Vermögen und Ruhm führen, oder nicht – wenigstens werden sie mich aufwärts leiten! Ich sehne mich nach dem Wissen um dessen selbst willen – was kümmert es mich, wenn es auch keine Macht ist!«

»Genug,« sagte Harley mit einem freundlichen Lächeln über den begeisterten Ausbruch seines jungen Begleiters.

»Bei Ihrer Entscheidung soll es bleiben und jetzt erlauben Sie mir, ohne zudringlich sein zu wollen, einige Fragen. Ihr Name ist Leonard Fairfield?«

Eine tiefe Röthe überzog die Wange des Jünglings, und er neigte sein Haupt wie beistimmend.

»Helene sagt, Sie hätten, was Sie wissen, durch sich selbst gelernt: im Uebrigen verweist sie mich an Sie, indem sie vielleicht glaubt, daß ich Sie weniger – statt noch höher – achten würde, wenn sie mir mittheilte, daß Sie, wie ich vermuthe, von niedrigem Stande sind.«

»Ich bin,« sagte Leonard langsam, »von sehr – sehr – niedriger Geburt.«

»Der Name Fairfield ist mir nicht unbekannt. Einer dieses Namens heirathete in eine Familie in Lansmere – heirathete eine Avenel« – fuhr Harley fort, und seine Stimme bebte. »Sie wechseln die Farbe. O, sollte der Name Ihrer Mutter Avenel gewesen sein?«

»Ja,« sprach Leonard zwischen den Zähnen.

Harley legte seine Hand auf die Schulter des Jünglings und sagte: »Dann habe ich in der That einen Anspruch auf Sie – dann sind wir in der That Freunde. Ich habe ein Recht, jedem Glied dieser Familie zu dienen.«

Leonard blickte ihn mit Verwunderung an.

»Denn,« fuhr Harley, nachdem er sich gefaßt hatte, fort, »sie waren meiner Familie immer treu ergeben, und meine Erinnerungen an Lansmere sind, obwohl aus der Knabenzeit stammend, unauslöschlich.«

Als er geredet, gab er seinem Pferde die Sporen, und es entstand wieder eine lange Pause; aber von diesem Augenblicke an sprach Harley nur mit ungewöhnlich weicher Stimme zu Leonard und ließ oft seine ernsten und doch zugleich freundlichen Augen ihm ruhen.

Sie erreichten ein Hans, welches mitten in der Stadt, wenn auch in keiner vornehmen Straße, gelegen war. Ein Diener von seltsam ernstem und ehrwürdigen Aussehen öffnete die Thüre; der Mann hatte sein ganzes Leben bei Schriftstellern zugebracht, und so war der arme Teufel vor der Zeit alt geworden! Diese Sorge auf den Lippen und diese Feierlichkeit auf der Stirne – keines Sterblichen Feder vermöchte sie zu beschreiben!

»Ist Mr. Norreys zu Hause?« fragte Harley.

»Er ist zu Hause – für seine Freunde, mein Lord,« antwortete der Mann majestätisch und bewegte sich durch die Halle mit den Schritten eines Dangeau, der einen Montmorency bei Louis le Grand Philippe de Courcillon, Marquis de Dangeau (1638-1720) war der Adjutant Ludwigs XIV. bei all seinen Feldzügen; Francois Henri de Montmorency-Bouteville, Herzog von Luxemburg-Piney (1628-1695), der »Marschall von Luxemburg«, war einer der berühmtesten Feldherrn des 17. Jh. und einer der wichtigsten Generale Ludwigs XIV. anmeldet.

»Halt – führen Sie diesen Herrn in ein anderes Zimmer. Ich will zuerst in die Bibliothek gehen. Warten Sie auf mich, Leonard.«

Der Mann nickte und führte Leonard in das Speisezimmer. Dann blieb er vor der Thüre des Bibliothekzimmers stehen, horchte einen Augenblick, als fürchtete er, irgend eine inspirirte Stimmung zu stören, und öffnete dann sehr leise. Zu seinem unaussprechlichen Verdruß schob ihn Harley bei Seite und trat rasch ein. Es war ein großes Zimmer, dessen Wände vom Fußboden bis zu der Decke mit Büchern bedeckt waren. Bücher lagen auf allen Tischen, Bücher lagen auf allen Stühlen. Harley setzte sich auf einen Folioband von Raleigh's Weltgeschichte Sir Walther Raleigh (siehe Anm. 151) betätigte sich auch als Schriftsteller; er ist Autor des ersten Bandes von History of the World (1614). und rief:

»Ich habe Ihnen einen Schatz gebracht.«

»Was für einen?« fragte Norrey's gutgelaunt und blickte von seinem Schreibtische auf.

»Einen Geist!«

»Einen Geist!« wiederholte Norreys zerstreut. »Ihren eigenen?«

»Pah – ich habe keinen – ich habe nur ein Herz und eine Phantasie. Hören Sie mich an. Sie erinnern sich des Jünglings, den wir an der Bücherbude lesen sahen. Ich habe ihn für Sie eingefangen und Sie sollen ihn zu einem Manne heranbilden. Ich hege das wärmste Interesse für seine Zukunft; denn ich kannte seine Familie, und ein Mitglied derselben war mir sehr theuer. Was den Geldpunkt betrifft, so hat er keinen Schilling und würde sich weder von Ihnen, noch von mir einen solchen schenken lassen. Aber er bringt ein muthiges Herz zur Arbeit – und Arbeit müssen Sie für ihn finden.«

Sodann erzählte Harley seinem Freunde mit wenigen Worten, welche Anerbietungen er Leonard gemacht und welche Wahl dieser getroffen hatte.

»Das verspricht viel Gutes, denn für die gelehrten Wissenschaften muß ein Mann einen ebenso starken Beruf in sich fühlen, wie für die Laufbahn eines Advokaten. Ich will alles thun, was Sie wünschen.«

Harley stand rasch auf, schüttelte Norreys herzlich die Hand, eilte aus dem Zimmer und kehrte mit Leonard zurück.

Mr. Norreys betrachtete den jungen Mann mit Aufmerksamkeit. Er war von Natur in seinem Benehmen gegen Fremde eher streng als herzlich, und unterschied sich hierin, wie in den meisten Dingen, von dem armen herumstreichenden Burley. Aber er verstand es gut, in den Zügen der Menschen zu lesen, und Leonard's Züge gefielen ihm. Nach einer Pause streckte er ihm seine Hand entgegen.

»Sir,« begann er, »Lord L'Estrange sagt mir, daß Sie die Literatur zu Ihrem Beruf machen und sie ohne Zweifel auch als eine Kunst studiren wollen. Ich will Ihnen dabei behülflich sein und zugleich können Sie mir helfen. Ich brauche einen Amanuensis Sekretär oder Schreibgehilfe eines Gelehrten. (Wörtlich: Jemand, der einem anderen zur Hand geht, »Handlanger«) und biete Ihnen diese Stelle an. Der Gehalt wird zu den Diensten in Verhältniß stehen, die Sie mir leisten. Ich habe ein Zimmer in meinem Hause zu Ihrer Verfügung. Als ich zuerst nach London kam, traf ich dieselbe Wahl, die, wie ich höre, Sie getroffen haben, und ich finde, selbst vom materiellen Standpunkt aus, keinen Grund, sie zu bereuen. Sie hat mir ein Einkommen verschafft, welches größer ist als meine Bedürfnisse. Daß ich mein Glück machte, schreibe ich folgenden Grundsätzen zu, welche auf alle Berufsarten anwendbar sind: Erstens nie Dasjenige, was man durch Arbeit erlangen kann, dem Genie zu überlassen; zweitens nie etwas lehren zu wollen, auf dessen Verständniß man nicht ein Studium verwendet hat; drittens nie ein Versprechen zu geben, dessen Erfüllung man sich nicht angelegen sein läßt. Wenn ein Mann, vorausgesetzt, daß er sich in seiner Befähigung nicht täuscht, diesen Regeln folgt und unter passender Anleitung seine natürlichen Kräfte eine gute Schule durchmachen läßt, so ist die Literatur ein ebenso guter Beruf, wie irgend ein anderer. Ohne sie ist der eines Schuhputzers unendlich besser.«

»Möglich,« murmelte Harley; »aber es hat große Schriftsteller gegeben, welche keine von Ihren Regeln beobachteten.«

»Große Schriftsteller vielleicht, aber keine sehr beneidenswerte Männer. Mein Lord, mein Lord, verderben Sie mir nicht den Zögling, den Sie mir bringen.«

Harley lächelte, nahm Abschied und ließ das Genie in der Schule beim gesunden Menschenverstande und bei der Erfahrung zurück.


Zwanzigstes Kapitel.

Während Leonard Fairfield in der Dunkelheit gegen Armuth, Vernachlässigung, Hunger und Verzweiflung gerungen hatte, war für Randal Leslie der Tag hell und glänzend aufgegangen, und sein Pfad lag glatt und eben vor ihm. Gewiß konnte kein ehrgeiziger und fähiger junger Mann unter günstigeren Auspizien in das Leben eintreten; der Verwandte und anerkannte Günstling eines populären und energischen Staatsmannes, der geistreiche Verfasser einer politischen Schrift, welche ihn mit Einem Mal zu einer eigenen Stellung empor gehoben hatte – aufgenommen und beliebt in jenen höchsten Kreisen, in welchen Rang oder Vermögen allein noch nicht als Paßkarte behufs vertraulichen Umganges gelten – in den Kreisen, welche sogar über der Modewelt stehen – in den Kreisen der Macht – mit aller Art günstiger Gelegenheiten, seine Kenntnisse zu vermehren und die Welt aus den Reden ihrer anerkannten Lenker frühzeitig kennen zu lernen – unter solchen Auspizien brauchte Randal nur geradeaus zu gehen, und der Erfolg war ihm sicher.

Aber sein Schlangengeist gefiel sich in Planmachereien und Ränken um ihrer selbst willen. In solchen Ränken und Intriguen erblickte er kürzere Wege zum Reichthum, wenn nicht zum Ruhme. Seine Hauptsünde war auch seine Hauptschwäche. Er kannte kein thatkräftiges Streben – er suchte mit lüsterner Begierde. Obgleich in einer weit höheren socialen Stellung, als Frank Hazeldean ungeachtet seiner günstigeren weltlichen Verhältnisse einnahm, begehrte er doch gerade diejenigen Dinge, welche seinen alten Schulkameraden unter ihn stellten – es gelüstete ihn nach seinen müssigen Lustbarkeiten, nach seinen leichtsinnigen Vergnügungen. Ebenso war es nicht der Ruf Audley Egerton's, dem er nachzueifern trachtete, sondern er begehrte nach Egerton's Vermögen und Pracht, nach seinem fürstlichen Aufwande und seinem Palast Rackrent in Grosvener Square. Es war das Unglück seiner Geburt, daß er diesen beiden Vermögen so nahe stand – nahe dem Leslie'schen als künftiges Haupt des gefallenen Hauses, und nahe dem Hazeldean'schen, da, wie wir früher gesehen haben, falls der Squire keinen Sohn gehabt hätte, auf Randal vermöge seiner Abstammung von einer Hazeldean jene großen Ländereien übergegangen sein würden.

Die meisten jungen Männer, welche in vertrauliche Berührung mit Audley Egerton gekommen wären, würden eine gewisse loyale und bewundernde, wenn auch nicht gerade liebevolle Achtung für ihn gefühlt haben. Denn es lag in Egerton's ganzem Auftreten etwas, das der Jugend gebietend und fesselnd erscheint. Sein entschlossener Muth, sein energischer Wille, seine fast königliche Freigebigkeit, im Gegensatze zu der strengen Einfachheit in seinen persönlichen Neigungen und Gewohnheiten – seine seltene und scheinbar ihm unbewußte Macht, selbst diejenigen Frauen zu fesseln, welche aller Huldigungen müde, und sogar solche Männer zu überreden, die für Rathschläge am unzugänglichsten waren – alles das diente dazu, den praktischen Mann mit jenem Zauber zu umgeben, welcher sich gewöhnlich nur auf das Ideale beschränkt.

Aber Audley Egerton war in der That ein Ideal – das Ideal des Praktischen. Nicht die blose gemeine, mühsam arbeitende Comptoirmaschine eines kleinen Geschäftes, sondern der Mann von starkem Verstande, der durch unbeugsame Energie getrieben wird und sein Augenmerk auf bestimmte Zwecke gerichtet hat. Unter einer schlechten und verdorbenen Regierung, in einer heruntergekommenen Monarchie oder in einer lasterhaften Republik möchte Audley Egerton ein gefährlicher Bürger geworden sein, so entschiedener Natur war sein Ehrgeiz und so klar sein Blick für die Zwecke desselben. Allein das öffentliche Leben in England bringt es mit sich, daß der wirklich ehrgeizige Mann auch ehrenhaft ist, wenn nicht seine Augen so gelbsüchtig und schielend sind, wie die Randal Leslie's. In England ist es so durchaus nothwendig, ein Gentleman zu sein. Und Egerton war im höchsten Sinne des Worts ein Gentleman. Ohne den geringsten Stolz in anderen Dingen, mit anscheinend sehr wenig Empfindlichkeit, war er doch, sobald man den Punkt der gentleman'schen Ehrenhaftigkeit berührte, empfindlicher und stolzer, als irgend ein Anderer.

Als Randal ihn näher kennen lernte und seine verschiedenen Stimmungen mit den Luchsaugen eines Hausspions überwachte, bemerkte er, daß dieser strenge, mechanische Mann Anfällen von Melancholie und sogar von düsterem Trübsinne unterworfen war; obgleich dieselben nicht lange dauerten, so zeigte doch eben sein gewöhnlich kaltes Wesen, daß irgend ein unterdrücktes, schlummerndes, schmerzliches Gefühl tief in seinem Gedächtnisse verborgen sei.

Dies würde in einem dankbaren Herzen Interesse und theilnehmende Gefühle erregt haben. Aber Randal entdeckte und überwachte es nur als den Schlüssel zu irgend einem Geheimniß, das ihm Vortheil bringen könnte; denn Randal Leslie haßte Egerton, und haßte ihn um so mehr, weil er bei all' seinem Bücherwissen und seiner hohen Meinung von seinen eigenen Talenten seinen Gönner nicht gering schätzen konnte – weil es ihm noch nicht gelungen war, diesen Gönner zu einem bloßen Werkzeug, zu einer Leiter für seine eigene Erhöhung zu machen – weil er endlich glaubte, daß Egerton's scharfes Auge seinen verschmitzten Charakter durchschaue, selbst während der Minister, wie es ihm schien, mit tiefer Geringschätzung seinem Schützlinge Beistand gewährte.

Dieser letztere Verdacht war jedoch unbegründet. Egerton hatte den verdorbenen und verrätherischen Charakter Leslie's nicht durchschaut. Er mochte andere Gründe gehabt haben, ihn in einer gewissen Entfernung von sich zu halten, aber er forschte zu wenig nach den Gefühlen Randal's gegen seine Person, um die Anhänglichkeit eines Mannes, der ihm so viel verdankte, in Frage zu stellen, oder die Aufrichtigkeit desselben zu bezweifeln.

Was aber mehr, als alles Andere, Randal's Gefühle gegen Egerton erbitterte, war die sorgfältig überlegte Offenheit, womit Letzterer ihm mehr, als Ein Mal, die unangenehme Mittheilung wiederholt, und nachdrücklich wiederholt hatte, daß Randal von dem Testament des Ministers nichts zu erwarten habe und in keiner Weise auf den Reichthum rechnen dürfe, welcher dem armen Erben der Leslie's von Rood in die hungrigen Augen stach. Wem könnte Egerton sein Vermögen zu hinterlassen beabsichtigen? Wem sonst, als Frank Hazeldean! Audley nahm indessen von seinem Neffen so wenig Notiz und schien so gleichgiltig gegen ihn, daß diese Vermuthung, so natürlich sie auch war, einer sicheren Begründung zu entbehren schien. Die Schlauheit Randal's konnte sich nicht zurechtfinden.

Je weniger er indessen auf das Vermögen Egerton's rechnen konnte, um so mehr überlegte er die Möglichkeit, Frank, wenn auch nicht gänzlich, doch wenigstens zum Theil um die Erbschaft von Hazeldean zu bringen. Jedem anderen weniger hinterlistigen, ränkesüchtigen und gewissenlosen Menschen, als Randal Leslie es mit jedem Tag mehr und mehr wurde, wäre ein solcher Plan als eine wahnsinnige, auf Selbsttäuschung beruhende Idee vorgekommen. Aber es lag etwas Furchtbares in der Art und Weise, wie dieser junge Mann Wissen in Macht zu verwandeln und das Studium der Schwächen Anderer seinen Zwecken dienstbar zu machen suchte. Er wußte sich gänzlich in Frank' s Vertrauen einzuschleichen und lernte durch ihn alle Eigenthümlichkeiten in der Denkweise und dem Temperament des Squires kennen; er sann sicher jedes Wort in den Briefen des Vaters nach, welche der Sohn den verrätherischen Augen seines Freundes zu zeigen sich angewöhnt hatte.

Randal sah, daß der Squire zwei Eigentümlichkeiten besaß, welche man bei Gutsbesitzern sehr häufig trifft, und die sich in diesem Fall vielleicht als Gegengewichte gegen die Wärme der väterlichen Liebe benützen ließen. Erstens lag dem Squire sein Eigenthum wie ein lebendes Wesen, wie ein Theil seines eigenen Fleisches und Blutes am Herzen; und in den Vorlesungen, welche er Frank über die Sünde der Verschwendung hielt, ließ er immer folgende schwache Seite durchblicken: »Was würde aus dem Gute werden, wenn es in die Hände eines Verschwenders fiele? Kein Mensch sollte mit Hazeldean Kinderspiel treiben; davor möge sich Frank in Acht nehmen,« &c.

Zweitens liebte der Squire nicht allein seine Güter, sondern er war auch eifersüchtig auf dieselben – eine Eifersucht, welche die zärtlichsten Väter bisweilen ihren natürlichen Erben gegenüber empfinden. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Frank auf seinen Tod rechnen möchte, und er schloß selten einen ermahnenden Brief ohne die Bemerkung, daß Hazeldean kein Fideicommiß sei, und daß er unter Lebenden und von Todes wegen damit thun könne, was ihm beliebe. Indirecte Drohungen von dieser Beschaffenheit verletzten und erbitterten Frank mehr, als daß sie ihn einschüchterten; denn der junge Mann war von Natur außerordentlich großmüthig und lebenslustig; ja, nach solchen Ermahnungen, sein eigenes Interesse im Auge zu behalten, war er zu irgend einer Unbesonnenheit nur noch mehr aufgelegt, wie um zu zeigen, daß diese Art von Warnung die letzte sei, die ihn beeinflussen könne.

Mit Hilfe solcher Einblicke in den Charakter des Vaters und des Sohnes glaubte Randal einige Strahlen des Tageslichtes zu erblicken, welches seine Aussicht auf die Güter von Hazeldean beleuchtete. Jedenfalls schien es ihm klar, daß, komme, was da wolle, seine eigenen Interessen nichts einbüßen und höchst wahrscheinlich nur gewinnen, wenn der natürliche Erbe dem Squire entfremdet würde.

In Folge dessen reizte er, und zwar mit ausgesuchtem Takte, Frank gerade zu solchen Ausschweifungen, welche am geeignetsten waren, den Squire zu erbittern, während er sich dabei den Anschein gab, als rathe er von denselben ab, und niemals an den tollen Streichen Theil nahm, zu welchen er seinen leichtsinnigen Freund verleitete. In dieser Beziehung wirkte er hauptsächlich durch Dritte, indem er Frank mit Leuten bekannt machte, welche für die Jugend dadurch die gefährlichste Gesellschaft sind, daß sie entweder über die Klugheit Witze machen oder behaglich von Wechseln leben, die von Freunden mit »großen Aussichten« indossirt Engl. endorse: hier: »mit einem Indossament versehen«, d.h. mit einem Vermerk, durch den bestimmte Rechte auf einen neuen Begünstigten übertragen werden; bei einem ›Wechsel‹ bedeutet dies, dass der Indossierende für den Betreffenden bürgt. werden.

Der Minister und sein Schützling saßen beim Frühstück, während der Erstere die Zeitungen las und Letzterer seine Briefe durchsah; denn Randal war zu der Würde gelangt, viele Briefe, ja sogar dreieckige und phantastisch verzierte Billette zu empfangen. Egerton stieß einen Ruf der Ueberraschung aus und legte die Zeitung hin. Randal blickte von seiner Correspondenz auf. Der Minister war in eine seiner Träumereien versunken.

Als Randal nach langem Schweigen bemerkte, daß Egerton die Zeitung nicht wieder in die Hand nahm, sagte er:

»Sir, ich habe ein Billet von Frank Hazeldean erhalten, der mich dringend zu sprechen wünscht; sein Vater ist unerwartet angekommen.«

»Was führt ihn hierher?« frug Egerton zerstreut.

»Er scheint einige unbestimmte Nachrichten über die Verschwendung des armen Frank erhalten zu haben, und Frank fürchtet sich oder schämt sich gewissermaßen, mit ihm zusammen zu treffen.«

»Ja – Verschwendung ist ein sehr großer Fehler an jungen Leuten – sie vernichtet die Unabhängigkeit und zerstört die Zukunft oder macht uns zu deren Sclaven. Ein großer Fehler – ein sehr großer! Und was fehlt denn der Jugend, daß sie verschwenderisch zu sein nöthig hätte? Hat sie nicht alles in sich selbst, eben weil sie die Jugend ist? Jugend ist Jugend – was braucht sie mehr?«

Während er so sprach, stand Egerton auf, zog sich nach seinem Schreibtisch zurück und öffnete seine Briefe. Randal nahm die Zeitung und versuchte umsonst, zu errathen, was den Ausruf des Ministers und die daraus folgende Träumerei veranlaßt haben könnte.

Egerton wandte sich plötzlich und beinahe heftig auf seinem Stuhle um und sagte:

»Wenn Sie mit der Times fertig sind, haben Sie die Güte, Sie hierher auf den Tisch zu legen.«

Randal war eben dieser Aufforderung nachgekommen, als die Glocke der Hausthüre ertönte und gleich darauf Lord L'Estrange rascher und heiterer als gewöhnlich in das Zimmer trat.

Audley legte wie mechanisch seine Hand auf die Zeitung, und zwar auf denjenigen Theil der Spalten, welcher Geburten, Todesfällen und Trauungen gewidmet war.

Randal stand daneben und bemerkte es; dann verließ er mit einer Verbeugung gegen Lord L'Estrange das Zimmer.

»Audley,« sagte Harley, »ich habe ein Abenteuer gehabt, seit wir uns zuletzt gesehen – ein Abenteuer, welches mir die Vergangenheit wieder aufschloß und auf meine Zukunft Einfluß haben kann.«

»Wieso?«

»Erstens bin ich einem Verwandten – von – von den Avenels begegnet.«

»Wirklich! wem – Richard Avenel?«

»Richard – Richard – wer ist er? O, ich erinnere mich – der wilde Bursche, der nach Amerika durchging; aber damals war ich noch ein Kind.«

»Jener Richard Avenel ist jetzt ein reicher Kaufmann mit einem blühenden Geschäfte, und seine Verehelichung steht in dieser Zeitung, er hat eine Ehrenwerthe Mrs. M'Catchley geheirathet. Wahrhaftig – wer kann sich noch in diesem Lande auf seine Geburt etwas zu Gute thun?«

»Du hast nicht immer so gesprochen, Egerton,« erwiderte Harley in einem Tone schmerzlichen Vorwurfes.

»Und jetzt spreche ich so mit Bezug auf eine Mrs. M'Catchley, nicht mit Bezug auf den Erben der L'Estranges. Aber nichts mehr von diesen – diesen Avenel's.«

»Doch, doch. Ich sage dir, daß ich mit einem Verwandten derselben zusammen getroffen bin – mit einem Neffen von – von –«

»Von Richard Avenel?« unterbrach ihn Egerton; und dann fügte er in jenem langsamen, bündigen Tone, in welchem er öffentlich zu reden gewohnt war, hinzu: »Richard Avenel, der Kaufmann! Ich habe ihn einmal gesehen – ein anmaßender, unausstehlicher Mensch!«

»Der Neffe hat keinen dieser Fehler. Er ist zwar stolz, aber dabei voll Bescheidenheit und mit den herrlichsten Anlagen ausgestattet. Und seine Züge – o Egerton, er hat ihre Augen.«

Egerton erwiderte nichts, und Harley fuhr fort:

»Ich hatte daran gedacht, ihn unter deine Obhut zu stellen. Ich wußte, daß du für ihn sorgen würdest.«

»Das will ich. Bringe ihn hieher,« rief Egerton eifrig. »Alles, was ich thun kann, soll geschehen, um zu beweisen, daß ich deine Wünsche berücksichtige.«

Harley drückte die Hand seines Freundes mit Wärme.

»Ich danke dir von Herzen; der Audley aus meiner Knabenzeit spricht jetzt. Aber der junge Mann hat sich anders entschlossen, und ich tadle ihn nicht; ja, ich freue mich, daß er eine Laufbahn wählt, auf welcher er, wenn er auch Mühseligkeiten findet, doch der Abhängigkeit entgeht.«

»Und diese Laufbahn ist –.«

»Die Literatur.«

»Die Literatur, die Literatur!« rief der Staatsmann. »Bettlerarmuth! Nein, nein, Harley, das ist deine abgeschmackte Romantik.«

»Es wird keine Bettlerarmuth sein; und es ist nicht meine Romantik, es ist die des jungen Mannes. Laß' ihn gewähren; er ist von jetzt an unter meinem Schutz und meiner Obhut. Er stammt von ihrem Blute, und ich sagte dir, daß er ihre Augen habe.«

»Aber du gehst ja in das Ausland; sage mir nur, wo er sich befindet; ich werde ihn überwachen.«

»Und einen ächten Ehrgeiz zerstören, damit an dessen Stelle ein verkehrter trete? Nein – du wirst nichts von ihm erfahren, bis er sich selbst bekannt machen kann. Ich denke, dieser Tag wird kommen.«

Audley sann einen Augenblick nach und sprach dann:

»Nun, vielleicht hast du Recht. Ueberhaupt ist, wie du sagst, Unabhängigkeit ein großer Segen, und mein Ehrgeiz hat mich weder besser, noch glücklicher gemacht.«

»Und doch verlangst du, armer Audley, daß ich ehrgeizig sein soll!«

»Ich wünsche nur, dich getröstet zu sehen,« rief Egerton leidenschaftlich.

»Ich will einen Versuch machen und dabei ein milderes Mittel, als das deinige, zu Hilfe nehmen. Ich sagte dir, daß mein Abenteuer auf meine Zukunft Einfluß haben könnte; dasselbe hat mich nicht allein mit dem jungen Manne, von dem ich sprach, sondern auch mit dem anziehendsten, liebevollsten Kinde – mit einem Mädchen bekannt gemacht.«

»Ist dieses Kind auch eine Avenel?«

»Nein, sie ist von edler Abkunft – sie ist die Tochter eines Soldaten, die Tochter des Kapitäns Digby, für welchen ich deine Verwendung nachsuchte. Er ist gestorben und sterbend schwebte mein Name auf seinen Lippen. Er wollte damit ohne Zweifel den Wunsch ausdrücken, daß ich der Vormund seiner Waise werden möchte. Ich habe endlich einen Lebenszweck gefunden!«

»Aber denkst du im Ernste daran, dieses Kind mit dir in das Ausland zu nehmen?«

»In allem Ernste.«

»Und ihr dein eigenes Haus als Heimath anzuweisen?«

»Für ein Jahr oder so – so lange sie Kind ist; wenn sie sich alsdann dem Jungfernalter nähert, werde ich sie anderswo unterbringen.«

»Du wirst sie am Ende lieben. Ist es auch gewiß, daß sie dich lieben – nicht Dankbarkeit für Liebe halten wird? Das ist ein sehr gewagter Versuch.«

»Das war auch derjenige Wilhelm's des Normannen – und doch war er Wilhelm der Eroberer. Du verlangst, ich solle mir die Vergangenheit aus dem Sinne schlagen und mich trösten, und doch machst du mich mit deinen verwünschten Einreden zu jedem Schritte vorwärts so unfähig, wie das Maulthier in dem Mährchen des Slawkenbergius Hafen Slawkenbergius ist eine Figur aus Laurence Sterne's Tristram Shandy (1759-69); Slawkenbergius' Erzählung eröffnet Band IV des Werkes, daraus auch das folgende Zitat., welches ›bei St. Nicholas, mit jedem Schritte stolperte und auf diese Weise die ganze Nacht brauchte, um zum‹ – Glücke zu gelangen,« vervollständigte Harley das Citat, indem er seinem phantastischen, wunderlichen Humor vollen Lauf ließ. »Höre, als einer der Söhne der Propheten in Israel in einem Walde nahe bei dem Jordanflusse Holz fällte, fuhr ihm das Beil aus dem Stiele heraus, fiel in das Wasser und sank zu Boden; er betete, um dasselbe wieder zu bekommen (das war, wohl gemerkt, nur eine kleine Bitte), und da er einen starken Glauben hatte, so warf er nicht das Beil dem Stiele, sondern den Stiel dem Beile nach Ein vielzitiertes Bild für »alles verloren geben«, das hier eine bemerkenswerte Umdeutung erfährt.. Alsbald geschahen zwei große Wunder. Das Beil flog vom Grunde des Wassers herauf auf die Oberfläche und befestigte sich von selbst an seinem alten Bekannten, dem Stiele. Hätte er nun gewünscht, in einem feurigen Wagen nach dem Himmel zu fahren, wie Elias; so reich zu werden, wie Hiob; so stark, wie Simson, und so schön, wie Abraham – glaubst du wohl, daß ihm dies gewährt worden wäre? In der That, mein Freund, ich bezweifle es stark.«

»Ich begreife nicht, was du meinst. Du sprichst traurigen Unsinn«

»Ich kann nichts dafür; der Tadel trifft Rabelais. Er ist es, den ich citire, und die Geschichte findet sich in seiner Vorrede zu dem Kapitel über die Mäßigung der Wünsche. Und was die ›mäßigen Wünsche im Punkte des Beiles‹ betrifft, so wünsche ich dies von dir dahin aufgefaßt, daß ich nur wenig vom Himmel verlange. Ich werfe nur den Stiel nach dem Beile, welches in den stillen Strom hinabgesunken ist. Ich wünsche die andere Hälfte der Waffe, die klaftertief begraben liegt, und deren Verlust mir die dichten Wälder rings um mich her an dem heiligen Gestade verdunkelt, so daß ich keinen Blick von den Sternen erhaschen kann.«

»Um deutlich zu reden,« sagte Audley Egerton, »du verlangst« – er hielt verlegen inne.

»Ich verlange meinen Zweck und meinen Willen und meinen alten Charakter und die Natur, welche Gott mir gegeben hat. Ich verlange die Hälfte meiner Seele, welche mir abhanden gekommen ist. Ich verlange eine Liebe, welche mir die entschwundene ersetzen kann. Komme mir mit keinen Gründen – ich werfe den Stiel dem Beile nach.«


Einundzwanzigstes Kapitel.

Randal Leslie begab sich, als er Audley verließ, nach der Wohnung Frank's, wo er sich eine Stande oder darüber mit dem jungen Gardeoffizier in dessen Zimmer einschloß. Hierauf schlug er den Weg nach Limmer's Hotel ein und erkundigte sich, ob Mr. Hazeldean zu sprechen sei. Man wies ihn in das Kaffeezimmer, während der Kellner mit seiner Karte die Treppe hinaufging, um nachzusehen, ob der Squire zu Hause und unbeschäftigt sei.

Die Times lag auf dem Tische ausgebreitet und Randal überblickte, indem er sich über die Zeitung beugte, mit Aufmerksamkeit die Spalten, welche Geburts-, Todes- und Heiratsanzeigen enthielten. Er konnte sich aber durchaus nicht denken, welcher Name in dieser langen Liste Mr. Egerton's Interesse erregt hatte.

»Aergerlich!« murmelte er. »Es gibt keine Kenntniß, die eine nützlichere Macht wäre, als die Kenntniß der Geheimnisse der Menschen.«

Er wandte sich um, als der Kellner mit der Meldung zurückkam, es werde Mr. Hazeldean Vergnügen machen, ihn zu sehen.

Nachdem Randal bei dem Squire eingetreten war, schüttelte ihm dieser die Hand und blickte nach der Thüre, als erwartete er noch Jemand; als sich aber die Thüre schloß, und er sah, daß Randal ohne Begleitung war, nahm sein ehrliches Gesicht den deutlichen Ausdruck getäuschter Erwartung an.

»Nun,« sagte er gerade heraus, »ich dachte, daß Ihr alter Schulkamerad, Frank, mit Ihnen kommen würde.«

»Haben Sie ihn noch nicht gesehen, Sir?«

»Nein, ich kam diesen Morgen an; reiste oben auf dem Postwagen; sandte nach seiner Kaserne, der junge Herr schläft aber nicht dort – er hat eine eigene Wohnung; davon hat er mir nie etwas gesagt. Wir, die Hazeldean's, sind eine einfache Familie – junger Sir, und ich hasse es, von Jemanden, und noch dazu von meinem eigenen Sohne, im Unklaren gelassen zu werden.«

Randal antwortete nicht, sah aber bekümmert aus. Der Squire, welcher seinen Verwandten nie zuvor gesehen, hatte eine unbestimmte Ahnung davon, daß es nicht höflich sei, einen Fremden, auch wenn derselbe ein Verwandter sei, mit Familienverdrießlichkeiten zu unterhalten; er fuhr deßhalb in gutmüthigem Tone fort:

»Es freut mich sehr, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Leslie. Sie wissen hoffentlich, daß Sie gutes Hazeldeanblut in Ihren Adern haben?«

Randal (lächelnd). – »Ich würde dies nicht so leicht vergessen; es ist der Stolz unseres Stammbaumes.«

Squire (herzlich). – »Geben Sie mir darauf noch einmal Ihre Hand, mein Junge. Sie haben keinen Freund nöthig, seit mein vornehmer Halbbruder sich Ihrer angenommen hat; sollte es aber je der Fall sein, so ist Hazeldean nicht weit von Rood. Ich kann mit Ihrem Vater durchaus nicht auskommen, junger Mann – es ist wirklich Schade; denn ich glaube, ich hätte ihm einige Winke geben können in Beziehung auf die Verbesserung seines Grundbesitzes. Wenn er nur seine abscheulichen Haiden anpflanzen wollte – Lerchenbäume und Fichten bringen bald Nutzen, Sir; auch gibt es Um Rood herum einige tief gelegene Ländereien, die eine Entwässerung sehr gut ertragen könnten.«

Randal. – »Mein armer Vater liebt ein so zurückgezogenes Leben, und Sie dürfen sich nicht darüber wundern. Gefallene Bäume liegen still, und ebenso gefallene Familien.«

Squire. – »Gefallene Familien können sich wieder aufrichten, gefallene Bäume aber nicht.«

Randal. »Ach, Sir, es bedarf oft der Energie von Generationen, um die Verschwendung und die Ausschweifungen eines einzigen Besitzers wieder gut zu machen.«

Squire (die Stirne runzelnd). – »Das ist sehr wahr. Frank ist ein vert– Verschwender, und er behandelt mich noch obendrein mit großer Kälte – er kömmt nicht; es ist nächstens drei Uhr. Nebenbei gesagt vermuthe ich, daß er Ihnen mitgetheilt hat, wo ich bin; denn wie hätten Sie mich sonst ausfindig machen können?«

Randal (mit Widerstreben). – »Sir, das that er; und ich bin, um offen zu sprechen, nicht überrascht, daß er sich noch nicht gezeigt hat.«

Squire. – »Ah!«

Randal. – »Wir sind sehr vertraut zusammen geworden.«

Squire. – »Das hat er mir geschrieben – und ich freue mich darüber. Unser Parlamentsmitglied, Sir John, sagte mir, Sie seien ein sehr gescheidter und dazu ein sehr gesetzter junger Mann. Und Frank sagt, daß er nur Ihre Klugheit zu besitzen wünschte, wenn er auch nicht Ihre Talente haben könne. Er hat ein gutes Herz, Frank,« fügte der Vater weicher werdend hinzu. »Aber zum Geier, Sir, Sie sagten, Sie wundern sich nicht darüber, daß er noch nicht gekommen sei, um seinen Vater willkommen zu heißen.«

»Mein theurer Sir,« versetzte Randal, »Sie schrieben Frank, daß Sie durch Sir John und Andere von seiner Lebensweise gehört hätten, und daß Sie sehr unzufrieden mit seinen Antworten auf Ihre Briefe seien.«

»Nun?«

»Und dann kommen Sie plötzlich nach der Stadt.«

»Und was dann?«

»Nun, Frank schämt sich, Ihnen gegenüber zu treten; denn er ist, wie Sie sagen, verschwenderisch gewesen und hat die ihm bewilligte Summe überschritten; da er meine Achtung vor Ihnen und meine große Zuneigung für ihn selbst kennt, so hat er mich gebeten, Sie auf die Entgegennahme seiner Beichte vorzubereiten, und ihm Ihre Verzeihung auszuwirken. Ich weiß, daß ich mir eine große Freiheit herausnehme. Ich habe kein Recht, mich in die Angelegenheiten zwischen Vater und Sohn zu mischen; aber ich bitte Sie inständig, zu glauben, daß es in der besten Absicht geschieht.«

»Hm!« versetzte der Squire, indem er sich sehr langsam faßte und mit Mühe seine peinlichen Gefühle niederkämpfte, »ich wußte ja schon, daß Frank mehr ausgegeben hat, als er sollte; aber ich meine, er hätte nicht durch einen Dritten um meine Nachsicht bitten sollen. (Nehmen Sie es mir nicht übel – ich will Sie nicht beleidigen.) Und wenn er eine dritte Person nöthig hatte, war denn nicht seine Mutter da? Was zum Teufel –« (hitzig werdend) »bin ich ein Tyrann – ein Pascha – daß mein eigener Sohn sich fürchtet, mit mir zu sprechen? Bei Gott, ich werde es ihm heimgeben!«

»Verzeihen Sie mir, Sir,« sagte Randal, indem er plötzlich jene Miene der Autorität annahm, die einem überlegenen Geiste immer zu Gebote steht; »aber ich rathe Ihnen auf das Entschiedenste, keinen Aerger darüber auszudrücken, daß Frank Vertrauen in mich gesetzt hat. Noch besitze ich Einfluß auf ihn. Was Sie auch über seine Verschwendung denken mögen, so habe ich ihn doch vor mancher Unbesonnenheit und mancher Verstrickung in Schulden bewahrt – ein junger Mann ist weit mehr geneigt, auf die Rathschläge eines Altersgenossen zu hören, als auf diejenigen des besten Freundes von reiferen Jahren. Ich spreche Sir, in Ihrem Interesse sowohl, als in dem Frank's. Lassen Sie mich diesen Einfluß auf ihn behalten, und machen Sie ihm wegen des Vertrauens, das er mir geschenkt, keine Vorwürfe. Ja, lassen Sie ihn lieber denken, ich hätte das Mißfallen, welches Sie empfunden haben mögen, gemildert.«

Es schien in dem, was Randal sagte, so viel gesunder Menschenverstand zu liegen, und seine Freundlichkeit schien so uneigennützig zu sein, daß die angeborene Schlauheit des Squire's hinter's Licht geführt wurde.

»Sie sind ein verständiger junger Mann,« sagte er, »und ich bin Ihnen sehr verbunden. Nun, ich vermuthe, man kann nicht alte Köpfe auf junge Schultern setzen, und ich verspreche Ihnen, daß ich Frank kein böses Wort sagen werde. Der arme Junge ist gewiß sehr niedergeschlagen, und ich sehne mich darnach, ihm die Hand zu schütteln. Deßhalb beruhigen Sie ihn.«

»Ah, Sir,« entgegnete Randal in anscheinend großer Bewegung, »Ihr Sohn hat wohl Ursache, Sie zu lieben, und es scheint für ein so gütiges Herz, wie das Ihrige, eine schwere Sache zu sein, ihm gegenüber die gehörige Festigkeit zu bewahren.«

»O, ich kann fest genug sein,« erwiderte der Squire – »besonders wenn ich ihn nicht sehe, hübscher Bursche, der er ist – seiner Mutter sehr ähnlich – meinen Sie nicht?«

»Ich habe seine Mutter nie gesehen, Sir.«

»Was? Sie haben meine Harry nie gesehen? Ja, ja – es ist wahr. Sie müssen uns besuchen. Wir haben auch das Bild Ihrer Großmutter als junges Mädchen – mit einem Schäferstab in der einen, und einem Lilienstrauß in der andern Hand. Mein Halbbruder wird Sie doch fortlassen?«

»Ohne Zweifel, Sir. Wollen Sie ihn nicht besuchen, während Sie in der Stadt sind?«

»Gewiß nicht. Er würde glauben, ich wolle irgend etwas von der Regierung. Sagen Sie ihm, daß die Minister besser wirthschaften müssen, wenn sie meine Stemme für ihr Parlamentsmitglied haben wollen. Aber gehen Sie; ich sehe, Sie sind ungeduldig, Frank mitzutheilen, daß alles vergessen und vergeben ist. Kommen Sie mit ihm um sechs Uhr zum Mittagessen, und lassen Sie ihn seine Rechnungen in der Tasche mitbringen. O, ich werde ihn nicht schelten.«

»Nun, was das anbelangt,« sagte Randal lächelnd, »so meine ich (verzeihen Sie abermals meine Freiheit), daß Sie es auch nicht zu leicht nehmen sollten. Wie ich einerseits der Meinung bin, daß Sie besser thun, ihn wegen seiner natürlichen und lobenswerten Scham, sich Ihnen zu nähern, nicht zu tadeln, so glaube ich andererseits auch, daß Sie nichts thun sollten, was dazu beitragen könnte, jenes Schamgefühl zu vermindern – es hält ihn gewissermaßen im Zaume. Und wenn Sie es deßhalb über sich vermögen, ihm Ihren Unwillen über seine Verschwendung zu zeigen, so wird dies einen heilsamen Eindruck machen.«

»Sie sprechen, wie ein Buch, und ich will versuchen, mein Bestes zu thun.«

»Wenn Sie zum Beispiel die Drohung fallen ließen, ihn von der Armee wegzunehmen und ihn auf das Land zu schicken, so würde dies ganz gewiß eine gute Wirkung hervorbringen.«

»Was! Würde er es als eine so große Strafe betrachten, nach Hause zu kommen und bei seinen Eltern zu leben?«

»Das will ich gerade nicht sagen; aber er liebt das Londoner Leben; in seinem Alter und mit der Aussicht auf ein so großes Erbe ist dies natürlich.«

»Erbe!« wiederholte der Squire unmuthig – »Erbe! Er denkt doch nicht hieran, hoffe ich? Donnerwetter, Sir, ich habe so gut ein Leben, wie er. Erbe! Freilich geht das Casino als Fideicommiß auf ihn über; aber was das Uebrige anbetrifft, so bin ich nicht blos ein Insaße auf Lebenszeit. Ich kann die Hazeldean'sche Güter einem von meinen Pflugknechten hinterlassen, wenn ich will. Erbe – sonst nichts!«

»Mein theurer Sir, ich dachte nicht daran, anzudeuten, daß Frank den unnatürlichen und ungeheuerlichen Gedanken nähre, auf Ihren Tod zu rechnen, und alles, was wir zu thun haben, ist, ihn zu veranlassen, daß er sich so rasch als möglich austobe – heirathe und sich auf dem Lande niederlasse. Denn es wäre Jammerschade, wenn seine großstädtischen Gewohnheiten und Neigungen feste Wurzel in ihm faßten – es würde dem Hazeldean'schen Eigenthum schlecht bekommen. Und,« fügte Randal lachend hinzu, »ich fühle Interesse all dem alten Gute, da meine Großmutter von demselben abstammte. Zwingen Sie sich also, zornig zu scheinen, und brummen Sie ein wenig, wenn Sie die Rechnungen bezahlen«

»Ah, verlassen Sie sich auf mich,« sagte der Squire mürrisch und mit ganz veränderter Miene. »Ich bin Ihnen für diese Winke sehr verbunden, mein junger Vetter;« und seine kräftige Hand zitterte ein wenig, als er sie Randal hinbot.

Nachdem Randal Limmer's Hotel verlassen hatte, eilte er nach Frank's Wohnung in St. James Street.

»Mein lieber Junge,« sagte er, als er eintrat, »es ist ein großes Glück, daß ich dich überredete, die Einleitung der Sache bei deinem Vater mir anzuvertrauen. Du hast richtig bemerkt, er sei etwas leidenschaftlich; aber es ist mir gelungen, ihn zu besänftigen. Du brauchst nicht zu befürchten, daß er deine Schulden nicht bezahlen würde.«

»Das habe ich nie befürchtet,« sagte Frank und wechselte die Farbe; »ich fürchtete nur seinen Zorn; aber ich fürchte noch mehr seine Güte. Welch ein leichtsinniger Strick bin ich nicht gewesen! Das soll mir übrigens eine Lehre sein. Und wenn meine Schulden einmal bezahlt sind, so werde ich ebenso sparsam werden, wie du.«

»Ganz recht, Frank; und ich bin in der That ein wenig besorgt, daß dein Vater, wenn er die Totalsumme erfährt, eine sehr unangenehme Drohung gegen dich zur Ausführung bringen könnte.«

»Welche Drohung?«

»Daß du deine Offiziersstelle verkaufen und London den Rücken kehren sollst.«

»Der Teufel!« rief Frank hitzig und mit Nachdruck, »daß hieße mich ja wie ein Kind behandeln.«

»Allerdings würde es dich deinen Kameraden gegenüber, die nicht besonders ländlicher Natur sind, ziemlich lächerlich machen; und du, der du London so liebst und so sehr en vogue Beliebt, in Mode. bist.«

»Sprich nicht davon,« rief Frank, indem er ganz verstört im Zimmer auf und ab ging.

»Im Grunde wird es wirklich gut sein, nicht alles auf Ein Mal anzugeben, was du schuldig bist. Wenn du nur die Hälfte der Summe nennst, so wird dich dein Vater mit einer Lektion durchschlüpfen fassen, und ich zittere wirklich beim Gedanken an die Wirkung, welche die Angabe der ganzen Summe hervorbringen möchte.«

»Aber wie soll ich die andere Hälfte bezahlen?«

»O, du mußt das Geld an der dir ausgesetzten Summe ersparen; dieselbe ist sehr freigebig bemessen, und die Handwerksleute drängen nicht.«

»Nein – aber die verwünschten Wechselmäckler –«

»Einem jungen Manne von deinen Aussichten prolongiren sie die Wechsel immer; und wenn ich ein Amt erhalte, kann ich dir ja leicht aushelfen, mein lieber Frank.«

»Ah, Randal, ich bin nicht so schlecht, daß ich von deiner Freundschaft Vortheil ziehen möchte,« sagte Frank mit Wärme. »Aber es scheint mir überhaupt nicht ganz ehrenhaft – eine Art von Lüge zu sein, durch welche der wahre Zustand meiner Angelegenheit vertuscht wird. Ich hätte mir einen solchen Rath von keinem Andern gefallen lassen; aber du bist so verständig, so gut und so ehrenhaft.«

»Nach so schmeichelhaften Beiworten schrecke ich davor zurück, die Verantwortlichkeit eines Rathes auf mich zu nehmen; allein abgesehen von deinen eigenen Interessen, würde es mich freuen, deinen Vater des Schmerzes zu überheben, den er empfinden müßte, wenn er alle die Verlegenheiten erführe, in welche du gerathen bist; und wenn du dadurch in die Nothwendigkeit versetzt würdest, dich etwas einzuschränken, das Hazardspiel und das Bürgschaftleisten für Andere aufzugeben, dann wäre dies das Beste, vor dir passiren könnte. Außerdem scheint es in der That hart gegen Mr. Hazeldean, ihn allein darunter leiden zu lassen, und sehr gerecht, daß du die Hälfte deiner Last selbst trägst.«

»Du hast Recht, Randal; das ist mir früher nicht eingefallen. Ich will deinen Rath befolgen und jetzt gleich nach Limmer's Hotel gehen. Mein lieber Vater! Ich hoffe, er sieht gut‹ans?«

»O, sehr gut. Ein wahrer Gegensatz zu den bleichen Londoner Gesichtern. Aber ich glaube, du würdest besser thun, wenn du erst zum Mittagessen hin gingest. Er hat mich gebeten, dich um sechs Uhr mitzubringen. Ich will kurz vor dieser Stunde bei dir vorsprechen, und wir können zusammengehen. Es wird dies manches Drückende und Gezwungene beseitigen. Lebe bis dahin wohl. – Ich würde, nebenbei gesagt, an deiner Stelle die Sache nicht zu ernsthaft nehmen und nicht zerknirscht aussehen. Du weißt, daß die besten Väter es lieben, ihre Söhne unter dem Daumen zu halten, wie man zu sagen pflegt. Und wenn du in deinem Alter deine Unabhängigkeit zu bewahren und nicht auf das Land hinaus gejagt und dort begraben zu werden wünschest, wie ein Schulbube, der sich irgend etwas hat zu Schulden kommen lassen, so wird ein etwas männliches Benehmen nicht am unrechten Platze sein. Du kannst darüber nachdenken.«

Das Mittagessen in Limmer's Hotel lief ganz anders ab, als es hätte ablaufen sollen. Randal's Worte hatten sich in das Gemüth des Squire's lief eingegraben und wucherten dort fort. Dieser Eindruck verlieh seinem Benehmen eine Kälte, welche die herzlichen, versöhnlichen und edelmüthigen Gefühle, mit denen er nach London gekommen war, und die selbst Randal durch seine Einflüsterungen nicht ganz hatte verdrängen können, Lügen strafte. Auf der andern Seite erschien Frank, der sowohl durch das Gefühl, nicht aufrichtig zu sein, als durch den Wunsch, »die Sache nicht so ernst zu nehmen,« in einer gewissen Befangenheit erhalten wurde, dem Squire unfreundlich und undankbar.

Nach Tische begann der Squire verschiedene »Hm, Hm« verlauten zu lassen, Frank dagegen, zu erröthen und verlegen zu werden. Beide fühlten sich durch die Anwesenheit eines Dritten belästigt, bis Randal mit einer Kunst und Gewandtheit, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, das Eis brach und es ihm gelang, die Zurückhaltung, deren Veranlassung er vorher gewesen, auf eine Weise zu beseitigen, daß endlich Beide herzlich froh waren, mit Hülfe seiner Geschicklichkeit und seines Taktes die Sache kurz in's Reine bringen zu können.

Frank's Schulden waren in Wirklichkeit nicht groß; und als er, verschämt zu Boden blickend, die Hälfte derselben angab, wurde der Squire angenehm überrascht und war im Begriffe, sich mit offener Herzlichkeit auszusprechen, die ihm das vortreffliche Herz seines Sohnes auf ein Mal geöffnet haben würden; aber ein warnender Blick Randal's hielt ihn ab, diesem Triebe seines Herzens zu folgen, und es schien ihm geboten, seinem Versprechen gemäß, einen Zorn zu heucheln, den er nicht fühlte, und die unglückliche Drohung fallen zu lassen, »daß es zwar Ein Mal angehen möge, wenn die ausgesetzte Summe überschritten werde; daß aber, wenn Frank künftighin nicht mehr Klugheit an den Tag lege und sich von einer Bande Londoner Gauner und Gecken verführen lasse, er die Armee quittiren, nach Hause kommen und Landwirth werden müsse.«

»O Sir,« rief Frank unvorsichtiger Weise aus, »ich habe keinen Geschmack für die Landwirtschaft; und in meinem Alter würde mir das Landleben, nachdem ich London kennen gelernt, entsetzlich langweilig erscheinen«

»Aha!« erwiderte der Squire sehr grimmig und schob einige Extrabanknoten, die er zwischen den Fingern hielt, um sie den bereits ausbezahlten beizufügen, wieder in sein Taschenbuch. »Das Landleben ist also schrecklich langweilig – so? Man gibt dort freilich das Geld nicht für Thorheiten und Laster aus, sondern wendet es an, um damit ehrliche Arbeiter zu bezahlen und den Wohlstand der Nation zu vergrößern. Es gefällt dir nicht, auf diese Weise das Geld zu verwenden – so wäre es Schade, wenn du je mit solchen Pflichten geplagt würdest.«

»Mein theurer Vater –«

»Sei still, Laffe! O, ich bin überzeugt, wenn du in meinen Schuhen stäckest, du würdest die Eichen umhauen lassen und das Gut verpfänden – vielleicht auch verkaufen, warum nicht? – und alles auf einen Pasch setzen! Aha, Sir – sehr gut, sehr gut – das Landleben ist also schrecklich langweilig, nicht wahr? Da muß ich dich wohl bitten, in der Stadt zu bleiben.«

»Mein theurer Mr. Hazeldean,« begann Randal in einschmeichelndem Tone und anscheinend bemüht, in einen Scherz zu verwandeln, was bittrer Ernst zu werden drohte, »Sie dürfen ein voreiliges Wort nicht so buchstäblich auslegen. Sie wollen doch gewiß nicht Frank ebenso schlimm machen, wie Lord A***, der seinem Verwalter schrieb, er solle mehr Bauholz fällen lassen, und als der Verwalter antwortete, es stünden auf dem ganzen Gute nur noch drei Wegweiser, wieder zurückschrieb:›,Diese werden auf keinen Fall mehr wachsen – nieder mit ihnen.‹ Sie sollten Lord A*** kennen, Sir; er ist sehr witzig und – Frank's spezieller Freund.«

»Dein spezieller Freund, Master Frank? Schöne Freunde!«

Und der Squire knüpfte mit entschlossener Miene die Tasche zu, in welche er sein Notizbuch gesteckt hatte.

»Aber ich bin auch sein Freund, nicht wahr, Frank?« sagte Randal wohlwollend. »Und ich lese ihm gehörig den Text, kann ich Sie versichern.«

Hierauf begann er, wie es schien, aus Zartgefühl, um der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, über die Ernteergebnisse und über die Versuche mit Knochendünger Fragen zu stellen. Er sprach ernst und mit Verstand über die Sache, zugleich aber auch mit der Ehrerbietung eines jungen Mannes, einer großen praktischen Autorität gegenüber.

Randal hatte den Nachmittag damit zugebracht, sich durch die Ackerbaujournale und die parlamentarischen Berichte rasch mit dem Gegenstande bekannt zu machen, und in der That, wie alle geübten Leser, in wenigen Stunden mehr gelernt, als Mancher, der an das Studiren nicht gewöhnt ist, in einem Jahre aus Büchern lernen könnte. Der Squire war über die Kenntnisse und den Geschmack des jungen Gelehrten für solche Dinge überrascht und erfreut.

»Sicherlich haben Sie,« sprach er mit einem zornigen Blick auf den armen Frank, »gutes Hazeldean'sches Blut in ihren Adern und können eine Bohne von einer Rübe unterscheiden.«

»Sir,« sagte Randal freimüthig, »ich bilde mich für das öffentliche Leben aus, und was ist ein Mann der Oeffentlichkeit werth, wenn er nicht den Ackerbau seines Landes studirt?«

»Sie haben Recht – was ist er werth? Legen Sie doch meinem Halbbruder diese Frage vor nebst meinem Compliment. Was für albernes Zeug hat er nicht neulich in der Parlamentssitzung über die Malzsteuer behauptet!«

»Mr. Egerton hat so viele andere Dinge im Kopfe, an welche er denken muß, daß man seinen Mangel an Kenntnissen über diesen allerdings sehr wichtigen Gegenstand entschuldigen muß. Bei seinem scharfen Verstande wird er sich jedoch früher oder später diese Kenntnisse aneignen, denn er ist ein Freund der Macht, und – Wissen ist Macht, Sir!«

»Sehr wahr – sehr treffend gesagt,« entgegnete der arme Squire ohne irgend einen Argwohn, während Randal's Auge auf Mr. Hazeldean's offenem Gesichte ruhte und dann zu Frank hinüberflog, der trübe und niedergeschlagen vor sich hinblickte.

»Ja,« wiederholte Randal, »Wissen ist Macht;« und dabei schüttelte er den Kopf wie ein Weiser, indem er seinem Wirthe die Flasche hin reichte.

Als jedoch der Squire, welcher die Absicht hatte, am nächsten Morgen nach der Halle zurückzukehren, von Frank Abschied nahm, erwarmte sein Herz gegen seinen Sohn, dessen Trauer und Niedergeschlagenheit ihm Mitleid einflößte. Es lag nicht in Randal's Politik, gleich das erste Mal die Entfremdung, und noch dazu in seiner eigenen Gegenwart, zu weit zu treiben.

»Sprechen Sie jetzt freundlich mit dem armen Frank, Sir – thun Sie es;« flüsterte er, als er die feuchten Augen des Squire's bemerkte, und trat an das Fenster.

Der Squire kam freudig dieser Aufforderung nach; er streckte die Hand gegen seinen Sohn aus und sagte: »Mein lieber Junge, mache dir keine Sorgen – pah! es war ja im Grunde nur eine Kleinigkeit. Denke nicht mehr daran.«

Frank ergriff die Hand und schlang plötzlich seine Arme um seines Vaters breite Schultern.

»O Vater, du bist zu gut – zu gut.« Seine Stimme zitterte so sehr, daß Randal unruhig wurde, zu ihm trat und ihn bedeutungsvoll berührte.

Der Squire drückte seinen Sohn an sein Herz – ein Herz, welches so groß war, daß es den ganzen Raum unter seinem weiten Rocke auszufüllen schien.

»Mein lieber Frank,« sagte er mit vor Rührung halb erstickter Stimme, »es ist nicht das Geld; aber siehst du, es macht deine arme Mutter so unruhig – du mußt dich in Zukunft in Acht nehmen, und Donnerwetter, Junge, es wird ja dereinst alles dir gehören; rechne aber nur nicht darauf; das könnte ich nicht ertragen – ich könnte es wahrhaftig nicht.«

»Darauf rechnen!« rief Frank. »O Vater, wie kannst du so etwas glauben?«

*          *
*

»Ich freue mich außerordentlich, daß ich ein klein wenig dazu beitragen konnte, eine vollständige Versöhnung zwischen dir und Mr. Hazeldean herbeizuführen,« sagte Randal, als die beiden jungen Männer das Hotel verließen. »Ich sah, daß du niedergeschlagen warst, und bat ihn deßhalb, freundlich mit dir zu sprechen«

»So, das thatest du? Ah – es thut mir leid, daß es einer solchen Bitte bedurfte.«

»Ich kenne seinen Charakter nun schon so gut,« sagte Randal, »daß ich mir schmeichle, dich immer auf einem guten Fuß mit ihm zu erhalten. Welch' ein vortrefflicher Mann!«

»Der beste Mann von der Welt,« rief Frank herzlich, und dann in weicherem Tone: »Und doch habe ich ihn hintergangen. Ich habe große Lust, zurück zu gehen –«

»Und ihm zu sagen, er solle dir zwei Mal so viel Geld geben, als du verlangt hast! Würde er dann nicht glauben, du habest dich nur deßhalb so liebevoll benommen, um etwas aus ihm heraus zu locken? Nein, nein, Frank – spare – lege etwas zurück – sei haushälterisch; und dann sage ihm, daß du die Hälfte deiner Schulden bezahlt hast. Darin liegt etwas Hochsinniges.«

»Du hast Recht. Dein Herz ist so gut, wie dein Verstand. Gute Nacht.«

»Gehst du so früh nach Hause? Hast du für heute Abend keine Verabredung mit deinen Freunden getroffen?‹

»Keine, die ich enthalten werden.«

»Gute Nacht denn.«

Sie trennten sich, und Randal ging in einen der vornehmen Clubs. Er näherte sich einem Tische, an welchem drei oder vier junge Leute (jüngere Söhne, welche, der Himmel weiß, wovon, auf das Glänzendste lebten) noch bei ihrem Weine saßen.

Leslie hatte mit diesen Gentlemen eigentlich wenig gemein; er zwang sich jedoch, sich ihnen angenehm zu machen, indem er einen vortrefflichen, weltklugen Rath befolgte, den ihm Audley Egerton ertheilt hatte. »Geben Sie den Stutzern nie Grund, Sie einen Pedanten zu nennen,« sagte der Staatsmann. »Manchem gescheidten Manne mißlingt sein Lebenlang alles, weil jene einfältigen Bursche, die er mit einem halben, geschickt angebrachten Worte in seine claqeurs Personen, die bei einem Theaterstück oder einer anderen öffentlichen Aufführung bezahlten Applaus liefern; in Frankreich im 19. Jh. übliche Praxis, um den wichtigen Premierenerfolg zu sichern. hätte umwandeln können, ihn lächerlich machen. Vermeiden Sie immer und unbedingt diesen Fehler der meisten belesenen Leute; mit Einem Worte: Seien Sie kein Pedant!«

»Ich habe soeben Hazeldean verlassen,« sagte Randal – »was er für ein guter Junge ist!«

»Ein vortrefflicher Bursche,« sagte der Ehrenwerthe George Borrowell Engl. »borrow«: leihen.. »Wo ist er?«

»In seiner Wohnung. Er hat einen kleinen Austritt mit seinem Vater gehabt, einem eingefleischten, rohen Landedelmann. Sie würden ihm einen wahren Liebesdienst erweisen, wenn Sie zu ihm gingen und ihm Gesellschaft leisteten, oder ihn zum Ausgehen veranlaßten, damit er sich zerstreue.«

»Was! der alte Gentleman hat ihn gequält? eine greuliche Schmach! Frank ist doch wahrhaftig kein Verschwender und wird einmal sehr reich werden – wie?«

»Ein ungeheures Vermögen,« sagte Randal; »keine einzige Hypothek darauf; und Frank ist der einzige Sohn,« fügte er hinzu und verließ dann den Tisch.

Unter den jungen Gentlemen entstand ein freundliches und äußerst wohlwollendes Flüstern. Gleich darauf erhoben sie sich und begaben sich nach Frank's Wohnung.

»Der Keil sitzt in dem Baume fest,« sprach Randal vor sich hin, »und schon ist zwischen der Rinde und dem Holze eine Oeffnung sichtbar.«


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Harley L'Estrange sitzt neben Helene an dem Fenster in dem Landhause zu Norwood. Die Blüthe der wiederkehrenden Gesundheit strahlt auf dem Antlitz des Kindes, und sie lauscht lächelnd der Unterhaltung Harley's; denn er spricht lobpreisend von Leonard und ist voll Hoffnung hinsichtlich Leonard's Zukunft.

»Und da er,« fuhr Harley fort, »eine Wiederkehr der früheren Prüfungen nicht zu fürchten hat, sich bei seiner Befestigung glücklich fühlt und die Laufbahn verfolgt, welche er selbst gewählt hat, so müssen wir uns darein finden, mein liebes Kind, von ihm zu scheiden«

»Von ihm scheiden!« rief Helene, und die Rosen auf ihren Wangen erbleichten.

Harley mißfiel ihre Bewegung nicht. Er würde sich in ihren Herzen getäuscht haben, wenn es für Liebe und Zärtlichkeit weniger empfänglich gewesen wäre‹

»Es ist hart für Sie, Helene,« sagte er, »sich von Demjenigen trennen zu müssen, der für Sie ein Bruder gewesen ist. Hassen Sie mich darum nicht. Allein ich betrachte mich als Ihren Vormund, und meine Heimath muß vor der Hand auch die Ihrige sein. Wir werden dieses Land der Wolken und des Nebels verlassen und uns in eine Welt voll Sonnenschein begeben. Das tröstet Sie nicht? Sie weinen, mein Kind; Sie trauern über ihren eigenen Freund – vergessen Sie aber nicht den Freund Ihres Vaters. Ich stehe allein und bin oft sehr niedergeschlagen, Helene; wollen Sie mich nicht trösten? Sie drücken meine Hand, aber Sie müssen auch lernen, mir zuzulächeln. Sie sind zu einer Trösterin geboren. Die Menschen, welche uns trösten, sind keine Egoisten: sie sind stets heiter und freundlich, wenn sie uns trösten.«

Die Stimme Harley's klang so lieblich, und seine Worte drangen so tief in das Herz des Kindes, daß sie lächelnd zu ihm aufblickte, als er ihre reine Stirne küßte. Dann dachte sie aber wieder an Leonard und fühlte sich so einsam, so verwaist, daß sie auf's Neue in Thränen ausbrach. Ehe dieselben getrocknet waren, trat Leonard selbst ein, und, einem unwiderstehlichen Gefühle nachgebend, stürzte sie in seine Arme; dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und schluchzte: »Ich gehe fort von dir, mein Bruder – mache dir keinen Kummer – vermisse mich nicht.«

Harley war tief bewegt; er schlug die Arme übereinander und betrachtete die Beiden schweigend – auch seine Augen wurden feucht. »Dieses Herz,« dachte er, »ist es werth, gewonnen werden.«

Er zog Leonard bei Seite und flüsterte: »Beruhigen Sie Helene; sprechen Sie ihr Muth ein, und richten Sie sie auf. Ich lasse Sie allein mit ihr; kommen Sie später zu mir in den Garten.«

Beinahe eine Stunde verging, ehe Leonard Harley wieder aufsuchte.

»Weinte sie nicht, als Sie sich trennten?« frug L'Estrange.

»Nein; sie besitzt mehr Festigkeit, als man denken sollte. Der Himmel weiß, wie mich dieselbe aufrecht erhalten hat. Ich habe versprochen, ihr oft zu schreiben.«

Harley ging einige Male auf dem Rasenplatze auf und ab und sagte dann, als er zu Leonard zurückkehrte: »Halten Sie Ihr Versprechen, und schreiben Sie das erste Jahr oft. Dann möchte ich Sie bitten, die Correspondenz nach und nach aufhören zu lassen.«

»Aufhören! – Ah, mein Lord!«

»Sehen Sie, mein junger Freund, ich wünsche dieses zarte Gemüth von den Schmerzen und Leiden der Vergangenheit gänzlich abzuziehen. Ich wünsche, daß Helene – nicht plötzlich, sondern Schritt für Schritt – in ein neues Leben eintrete. Ihr liebt einander jetzt, wie zwei Kinder – wie Bruder und Schwester. Würde aber später diese Liebe, wenn man sie aufmunterte, dieselbe bleiben? Und ist es nicht besser für Euch Beide, wenn Eure Jugend mit natürlichen, freien und ungefesselten Neigungen in die Welt eintritt?«

»Das ist wahr! Und sie steht so hoch über mir,« sagte Leonard wehmüthig.

»Niemand steht über Demjenigen, welchem es gelingt, auf dem Wege, den Sie betreten, seinem Ehrgeiz Genüge zu leisten. Das ist es nicht, glauben Sie mir!«

Leonard schüttelte den Kopf.

»Viel eher fühle vielleicht ich,« fuhr Harley mit einem Lächeln fort, »daß Sie über mir stehen; denn wer ist dem überlegen, der die Jugend für sich hat? Vielleicht werde ich noch auf Sie eifersüchtig. Helene muß den Mann lieben lernen, der von jetzt an ihr Vormund und Beschützer sein wird. Aber wie kann sie mich lieben, wie sie es sollte, wenn nur Ihr Bild in ihrem Herzen lebt?«

Der Jüngling senkte das Haupt, und Harley beeilte sich, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben und von den Wissenschaften und dem Ruhme zu sprechen. Seine Worte waren beredt und seine Stimme freundlich; denn er hatte sich schon als Jüngling für den Ruhm begeistert, und in Leonard's Jugend schien seine eigene wieder aufzuleben. Das Herz des Dichters gab jedoch kein Echo zurück – Oede und Verlassenheit schien plötzlich in dasselbe eingekehrt zu sein. Und als Leonard beim Mondenscheine zurückwanderte, murmelte er vor sich hin: »Seltsam – seltsam – sie ist ja nur ein Kind; es kann nicht Liebe sein! Und doch, was bleibt mir sonst zu lieben?«

Er blieb auf der Brücke stehen, wo er so oft mit Helene gestanden, und auf welcher er den Beschützer gefunden, der ihr eine Heimath gegeben und ihm eine Laufbahn eröffnet hatte. Und das Leben kam ihm sehr lange vor, und der Ruhm erschien ihm wie ein trauriges Wahnbild. Aber Muth, Leonard! Dies sind die Sorgen des Herzens, aus welchen du bessere Lehren ziehen kannst, als aus allen Sprüchen der Weisen und Kritiker.


Am nächsten Tage hatte Helene mit ihrem phantastischen und träumerischen Vormunde den Küsten Englands Lebewohl gesagt.

Jahre werden dahin schwinden, ehe wir den Faden unserer Erzählung wieder aufnehmen. Das Leben schreitet in allen den Formen, in welchen wir es gesehen haben, vorwärts.

Der Squire treibt Ackerbau und Jagd, und der Pfarrer predigt, ermahnt und besänftigt; Riccabocca liest seinen Machiavell und seufzt und lächelt, wenn er über Menschen und Staaten moralisirt; und Violantens dunkle Augen bekommen einen tieferen und geistigeren Glanz, und ihre einsamen Träume verleihen ihrer Schönheit einen gedankenvollen Ausdruck.

Mr. Richard Avenel hat sein eigenes Haus in London und Mrs. Avenel ihre eigene Loge in der Oper; hart und schwer ist der Kampf, den sie kämpfen müssen, um sich in die vornehme Welt einzuführen, und der Emporkömmling, der die Aristokratie verachtet, muß es sich den Schweiß seines Angesichts kosten lassen, um ein Aristokrat zu werden.

Und Audley Egerton geht von dem Bureau des Ministeriums in das Parlament, und quält sich ab und debattirt und hilft das Reich regieren, in welchem die Sonne niemals untergeht. Die arme Sonne, wie müde muß sie sein – aber doch nicht so müde, wie die Regierung!

Und Randal hat eine vortreffliche Stelle in dem Bureau eines Ministers und sieht der Zeit entgegen, da er auf dieselbe verzichten wird, um in das Parlament einzutreten und auf jenem weiten Felde sein Wissen in Macht zu verwandeln. Unterdessen ist das Verhältniß zwischen ihm und Audley Egerton noch so ziemlich wie früher; dagegen hat er sich mit dem Squire auf einen vertrauten Fuß gestellt, war zwei Mal in Hazeldean, hat das Haus, sowie den Grundriß der Güter untersucht – und ist beinahe zum zweiten Male in den Graben gefallen. Und der Squire glaubt, nur Randal sei im Stande, Frank vor Unheil zu bewahren, und hat sich gegen Harry auf eine scharfe Weise über Frank's fortgesetzte Verschwendung ausgelassen.

Und Frank fährt fort, Vergnügungen nachzujagen, fühlt sich aber dabei sehr unglücklich und steckt tief in Schulden.

Und Madame di Negra ist von London nach Paris gegangen, hat eine Tour nach der Schweiz gemacht und ist wieder nach London zurückgekommen und sehr vertraut mit Randal Leslie geworden; und Randal hat ihr Frank vorgestellt, und Frank hält sie für die liebenswürdigste Frau von der Welt, von bösen Zungen gröblich verleumdet.

Und der Bruder Madame di Negra's wird endlich in England erwartet, und wird ohne Zweifel Sensation machen, da er sehr schön und sehr reich sein soll.

Und Leonard – und Harley – und Helene?

Geduld sie werden alle wieder erscheinen.



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