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Fünfter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Als ich am nächsten Morgen aufbrach, theilte mir der Hausknecht, dem ich ein Extra-Sixpencestück gegeben, damit er mich bei Zeit wecken möge, und dessen Herz ich dadurch gewonnen hatte, gutmüthig mit, daß ich eine halbe Stunde Wegs ersparen und noch dazu einen sehr angenehmen Spaziergang gewinnen könne, wenn ich den Fußpfad durch den einem vornehmen Gentleman gehörenden Park einschlüge, dessen Pförtnerhäuschen ich ungefähr drei Stunden vor der Stadt erblicken werde.

»Man zeigt Euch auch den Park,« sagte der Hausknecht, »wenn Ihr Lust habt zu verweilen und ihn zu sehen. Geht aber nicht zu dem Gärtner, dem müßtet Ihr eine halbe Krone geben. Im Pförtnerhäuschen wohnt eine alte Frau, die Euch alles Sehenswürdige, die Laubgänge und den großen Wasserfall, für einen Sixpence zeigen wird. Ihr könnt Euch auf mich berufen,« setzte er stolz hinzu – »Bob, Hausknecht im Löwen. Sie ist eine Tante von mir und nimmt sich Derjenigen, die ich sende, ganz besonders an.«

Ich zweifelte nicht, daß diese Rathschläge der reinsten Menschenliebe entsprängen, dankte daher meinem krausköpfigen Freunde und frug ihn nachlässig, wem der Park gehöre.

»Mr. Trevanion, dem großen Parlamentsmann,« erwiederte der Hausknecht. »Vermuthe, Ihr habt wohl schon von ihm gehört?«

Ich schüttelte den Kopf, von Stunde zu Stunde mehr erstaunt über die Entdeckung, wie wenig ich wisse.

»Im Lamm hält man den ›Gemäßigten‹, und in der Schenkstube dort sagen sie, er gehöre zu den Gescheidtesten im Unterhaus,« fuhr der Hausknecht in vertraulichem Flüstern fort. »Bei uns im Löwen aber liest man den ›Volksdonnerkeil‹, und wir kennen diesen Mr. Trevanion besser. Er ist ein Wetterhahn – hängt den Mantel nach dem Wind – kein Redner – nicht von der rechten Sorte – Ihr versteht?«

Vollkommen überzeugt, daß ich nichts davon verstand, lächelte ich, sagte: »O ja!« warf meinen Tornister über und trat meine weiteren Abenteuer an, während mir der Hausknecht nachrief: »Vergeßt nicht, meiner Tante zu sagen, daß ich Euch geschickt habe.«

Die Stadt begann, langsam die ersten Merkmale des wiederkehrenden Lebens von sich zu geben, als ich durch ihre Straßen schritt. Ein blasser, kränklicher Zug auf Phöbus' schläfrigem Antlitz war der hektischen Fieberaufregung der vergangenen Nacht gefolgt. Die Handwerksleute, denen ich begegnete, glitten verstört und niedergeschlagen an mir vorüber; nur wenige Läden waren geöffnet; ein oder zwei Betrunkene tauchten aus den Seitengassen auf, mit zerbrochenen Pfeifen im Munde heimwärts eilend, und in dem frostigen Sonnenaufgang, welcher keinerlei Illusion begünstigte, starrten unterschiedliche Zettel von den Mauern unbewohnter, baufälliger Häuser hernieder, die Aufmerksamkeit des Publikums auf den »Besten Thee, das Pfund zu 4 Schillingen«; die »Ankunft von Mr. Slomann's großer Menagerie«, und » Dr. Do'em's paracelsische Unsterblichkeitspillen« lenkend. Ich war froh, als ich die Stadt hinter mir hatte, die Schnitter in den Kornfeldern sah und die Vögel ihre Liedchen singen hörte. Endlich erreichte ich das Pförtnerhaus, von dem mir der Hausknecht gesagt hatte – ein hübsches, ländliches Gebäude, halb versteckt hinter Bäumen und Gebüschen, mit zwei großen, eisernen Thoren für die Freunde des Eigenthümers und einem kleinen Nebenpförtchen für das Publikum, welches in Folge einer seltsamen Nachlässigkeit des Besitzers oder eines beklagenswerthen Mangels an Einfluß von Seiten des benachbarten Magistrats noch immer das Recht beibehielt, den Grund und Boden des reichen Mannes zu betreten und all' seine Schönheiten zu betrachten – eine Freiheit, die vermittelst einer Tafel nur durch das mild ausgedrückte und sehr vernünftige Ersuchen, »die Pfade einzuhalten,« beschränkt wurde. Da es noch nicht acht Uhr war, so hatte ich hinreichend Zeit, von dem Parke Einsicht zu nehmen, und trat, eingedenk des ökonomischen Winkes, den mir der Hausknecht gegeben, in das Pförtnerhaus, um nach der alten Frau, nach Bob's Tante, zu fragen. Eine junge Person, welche eben mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt war, nickte mir, nachdem ich mein Anliegen vorgebracht, mit großer Höflichkeit zu, eilte nach einem Kleiderbündel hin, den ich jetzt in der Ecke bemerkte, und rief: »Großmutter, hier ist ein Herr, der den Wasserfall sehen will.«

Der Kleiderbündel drehte sich um und zeigte ein menschliches Antlitz, welches hell aufleuchtete, als die Enkelin gegen mich gewendet einfach bemerkte: »Sie ist alt, das ehrliche Geschöpf, liebt es aber noch immer, ein Sixpencestück zu verdienen.« Die Alte nahm einen Krückenstock in die Hand, während ihr die Enkelin einen Hut aufsetzte, und trat nun mit einer Geschwindigkeit, die mich staunen machte, ihre Wanderung an.

Ich versuchte, ein Gespräch mit meiner Führerin anzuknüpfen; sie schien jedoch nicht sehr mittheilsam zu sein, und die Schönheit des mit freien Maßen abwechselnden Lustwaldes, welcher sich jetzt vor meinen Augen ausbreitete, versöhnte mich leicht mit ihrem Schweigen.

Ich habe seitdem viele schöne Besitzungen gesehen, kann mich aber keiner Landschaft erinnern, die in ihrem eigenthümlich englischen Charakter so lieblich gewesen wäre, als die, welche ich jetzt erblickte. Sie hatte nichts von den Feudalabzeichen der alten Parke, keine riesigen Eichen, keine phantastisch gekappten Bäume, keine mit Farnkräutern bedeckte Schluchten, an deren Abhängen Hirsche und Rehe spielten; sie machte im Gegentheil, ungeachtet einiger schönen Bäume, hauptsächlich Buchen, entschieden den Eindruck einer neuen, einer künstlichen Schöpfung. Auf dem Rasen ließen sich deutlich die Spuren beseitigter Hecken erkennen; die Weiden waren mittelst neuer Drahtzäune abgetheilt; junge Pflanzungen, mit dem gewähltesten Geschmack angelegt, aber ohne die ehrwürdige Förmlichkeit der Alleen und Kreuzgehölze, an welchen man die Parke aus der Zeit der Königin Elisabeth und König Jakobs erkennt, wechselten mit reichen Wiesengründen ab, und statt des Wildes weidete dort Hornvieh von der schönsten Zucht und Schaafe, die bei jeder landwirtschaftlichen Ausstellung den Preis davongetragen haben würden. Alles bekundete Verbesserungen – kräftigen Betrieb – Kapital; aber nicht Kapital, bloß um des Ertrages willen angelegt, das Schöne herrschte vor dem Nützlichen zu sehr vor, als daß man nicht mit Recht hätte sagen können – »Der Besitzer sucht möglichst viel aus seinem Lande, aber nicht aus seinem Gelde zu machen.«

Die offenbare Ungeduld der Alten, sechs Pence zu verdienen, hatte mir jedoch eine unvortheilhafte Meinung von dem Charakter ihres Herrn beigebracht. »Alles,« dachte ich, »zeugt hier von Reichthum, und doch muß sich diese arme alte Frau, die an der Schwelle des Ueberflusses lebt, um einige elende Pence abmühen.«

Diese Vermuthungen, bei welchen ich mir nicht wenig auf meinen Scharfsinn zu gute that, kräftigten sich zur Ueberzeugung durch die wenigen Sätze, die ich endlich der Alten zu entlocken vermochte.

»Mr. Trevanion muß ein reicher Mann sein,« sagte ich.

»O ja, reich genug!« brummte meine Führerin.

Ich überschaute die Ausdehnung des Gehölzes oder angebauten Bodens, durch welchen unser Weg sich wand, indem er bald zwischen Wiesen und Weideplätzen auftauchte, bald zu beiden Seiten mit seltenen Gartenbäumen bepflanzt war, hier sich in ein kleines Thälchen senkte (jede Unebenheit des Grundes war zum Vortheil der Landschaft benützt worden), dort die Abhänge hinanführte und wieder an einer andern Stelle die Aussicht auf irgend einen durch Natur oder Kunst entzückenden Gegenstand beschränkte.

»Es müssen hier wohl viele Hände beschäftigt sein,« begann ich wieder. »Arbeit genug, nicht wahr?«

»Ja, ja – ich will nicht sagen, daß, wer arbeiten will, nicht auch Arbeit findet. Aber 's ist nicht mehr hier, wie's zu meiner Zeit war.«

»Könnt Ihr Euch des Besitzthums erinnern, als es noch in andern Händen sich befand?«

»O ja! Als es die Hogtons hatten – ehrenwerthe Leute! Mein seliger Mann war der Gärtner – aber keiner von jenen aufgeblasenen, seinen Herren, die nicht einmal einen Spaten in die Hand nehmen können.«

Gute, treue Alte!

Ich begann, den unbekannten Eigenthümer zu hassen. Offenbar hatte hier ein anmaßender Glückspilz der alten, einfachen, gastfreundlichen Familie ihr Besitzthum abgehandelt, vernachlässigte nun die alten Diener derselben und ließ sie die Fremden an die Wasserfälle führen, um einige Pence zu verdienen, während er seinen Reichthum vor ihren beleidigten Augen entfaltete.

»Hier ist das Wasser – zu meiner Zeit war es anders,« sagte meine Führerin.

Ein Bächlein, dessen Gemurmel ich längst gehört hatte, wurde nun plötzlich sichtbar und verlieh der Scene ihren krönenden Zauber. Als wir sein waldiges Bette unter schattigen Linden und Kastanienbäumen schweigend verfolgten, tauchte das Haus selbst auf der entgegengesetzten Seite auf – ein moderner Bau von weißem Gestein mit dem edelsten korinthischen Portikus, den ich je in England gesehen.

»In der That ein schönes Gebäude,« bemerkte ich, »Hält sich Mr. Trevanion viel hier auf?«

»Ja, ja – ich will nicht sagen, daß er immer fort ist, aber zu meiner Zeit war's anders, als die Hogtons das ganze Jahr in ihrem warmen Hause wohnten – nicht in jenem dort.«

Gute Alte! Und jene armen, verbannten Hogtons! dachte ich. Verhaßter Emporkömmling! Ich war froh, als eine Wendung des Weges mir den Anblick des Hauses entzog, obgleich wir in Wirklichkeit demselben immer näher kamen. Endlich hatten wir den gerühmten Wasserfall erreicht, dessen Rauschen ich schon einige Zeit vernommen.

In einer Alpenlandschaft würde der Anblick sehr unbedeutend gewesen sein, hier aber, wo keine andern kühnen Züge dem Auge sich darboten, konnte man die Wirkung schlagend, ja großartig nennen. Die Ufer waren eng zusammengedrängt und erhielten durch zum Theil natürliche, zum Theil ohne Zweifel künstliche Felsen einen wilden Charakter; der Wasserfall selbst stürzte aus einer beträchtlichen Höhe in ein Strombett hernieder, welches meine Begleiterin für »tödtlich tief« erklärte.

»An der Stelle, wo Ihr steht,« sagte sie, »sprang ein Wahnsinniger hinüber; im letzten Juni waren es zwei Jahre.«

»Ein Wahnsinniger?« wiederholte ich, mit einem Auge, das auf dem Turnplatz des Philhellenischen Instituts geübt worden war, den schmalen Raum zwischen den über der Tiefe befindlichen Ufern messend. »Ei, meine gute Frau, zu diesem Sprung braucht man nicht eben ein Wahnsinniger zu sein.«

So sprechend und unter einem plötzlichen Antriebe, welchen man mit Unrecht der edlen Eigenschaft des Muthes zuschreiben würde, trat ich einige Schritte zurück und setzte alsdann über den Abgrund. Als ich jedoch jenseits auf meine Heldenthat zurückblickte und sah, daß ein Mißlingen des Sprunges unfehlbarer Tod gewesen wäre, bemächtigte sich meiner eine große Zaghaftigkeit, und ich fühlte, daß ich nicht einmal um den Preis, Herr des ganzen Besitzthums zu werden, den Sprung noch einmal hätte wagen mögen.

»Und wie soll ich wieder hinüber kommen?« sagte ich mit kleinmüthiger Stimme zu der Alten, welche mich von der andern Seite her mit großen Augen anstarrte. »Ah, dort unten sehe ich eine Brücke.«

»Aber Ihr könnt nicht über die Brücke; es ist ein Thor daran, zu dem der Herr selbst den Schlüssel hat. Ihr seid jetzt im Privatgarten. Gütiger Himmel! Der Squire würde so böse werden, wenn er es wüßte! Ihr müßt wieder zurück – und sie werden Euch vom Hause aus sehen! O Himmel, Himmel! was soll ich anfangen? Könnt Ihr denn nicht wieder herüberspringen?«

Diese kläglichen Ausrufe rührten mich, und da ich nicht wünschte, die arme alte Frau dem Zorne eines Gebieters auszusetzen, der augenscheinlich ein gefühlloser Tyrann war, beschloß ich, meinen Muth zusammen zu nehmen und über den gefährlichen Abgrund zurück zu springen.

»O ja – seid unbesorgt,« rief ich ihr daher zu. »Was einmal geschah, muß, wenn es nöthig ist, auch zum zweiten Mal geschehen. Seid nur so gut und geht mir aus dem Wege.«

Ich holte einige Schritte aus auf einem Boden, der viel zu weich war, um einen Anlauf zu begünstigen. Das Herz schlug mir gegen die Rippen. Ich fühlte, daß ein plötzlicher Entschluß Wunder thun könne, wo jegliche Vorbereitung ohne Wirkung bleibt.

»So macht nur schnell!« drängte die alte Frau.

Schreckliche Alte! sie begann, sehr in meiner Achtung zu sinken. Ich preßte meine Zähne zusammen und war eben im Begriff, vorwärts zu stürzen, als eine Stimme dicht neben mir sagte:

»Halt, junger Mann; ich will Euch das Thor aufschließen.«

Ich wandte mich rasch um und bemerkte dicht an meiner Seite – so, daß ich nicht begriff, ihn nicht vorher schon gesehen zu haben – einen Mann, dessen einfacher Anzug, welcher jedoch nicht auf einen gewöhnlichen Arbeiter deutete, mich vermuthen ließ, daß ich den Obergärtner, von dem meine Führerin gesprochen, vor mir habe. Er saß unter einem Kastanienbaum auf einem Steine und hatte einen häßlichen Köter zu seinen Füßen, der mich mit Knurren begrüßte.

»Ich danke Euch, guter Mann!« rief ich freudig. »Offen gestanden, es war mir vor diesem Sprung nicht wenig bange.«

»O ho! Ihr sagtet doch, was einmal geschah, könne auch zweimal geschehen.«

»Ich sagte nicht, es könne, sondern es müsse auch zweimal geschehen.«

»Hm! Das ist besser ausgedrückt.«

Der Mann erhob sich jetzt – der Hund kam näher zu mir heran, beroch meine Beine und begann alsdann, nachdem er sich, wie es schien, von meiner Achtbarkeit überzeugt hatte, mit seinem Stumpfschwanz zu wedeln.

Ich sah mich nach meiner Führerin um und bemerkte zu meiner Ueberraschung, daß die Alte, so schnell sie konnte, heimwärts humpelte.

»Ah,« sagte ich lachend, »das arme alte Geschöpf fürchtet. Ihr möchtet sie ihrem Herrn verrathen – denn Ihr seid doch wohl der Obergärtner? Ich trage jedoch ganz allein die Schuld. Bitte, sagt das, wenn Ihr des Vorfalls überhaupt erwähnt.« Und dabei zog ich eine halbe Krone heraus, die ich meinem neuen Führer anbot.

Er wies das Geld mit einem leisen »Hm!« zurück und fuhr dann lauter fort: »Nicht nöthig, mich zu bestechen, junger Mann. Ich habe alles selbst mit angesehen.«

»Ich fürchte, Euer Gebieter ist ziemlich hart gegen die alten Diener der armen Hogtons.«

»Wirklich? Hm – mein Gebieter. Mr. Trevanion meint Ihr?«

»Ja.«

»Nun, ich kann mir schon denken, daß man ihm dies nachsagt. Hier ist der Weg,« setzte er hinzu, in dem er mich vom Wasserfall weg in ein kleines Thal hinab führte.

Jedermann hat wohl schon die Erfahrung gemacht, daß man nach einer überstandenen oder umgangenen Gefahr ganz besonders munter und aufgeräumt ist – man befindet sich in einem Zustande der angenehmsten Aufregung. Ebenso erging es nun mir. Ich sprach zu dem Gärtner à cœur ouvert, wie die Franzosen sagen, und bemerkte nicht, daß seine kurzen, einsilbigen Erwiederungen nur dazu dienten, mir meine kleine Geschichte zu entlocken – das Ziel meiner Reise, meine Studien unter Dr. Herman und meines Vaters großes Werk. Die zwischen uns entstandene Vertraulichkeit fiel mir erst einigermaßen auf, als wir nach einem weiten Schlangenweg den Bach wieder erreichten, und mein Begleiter, vor einem eisernen Thore stehen bleibend, mit großer Einfachheit die Frage an mich richtete: »Und Euer Name, junger Herr? Wie ist Euer Name?«

Ich zögerte einen Augenblick; da ich jedoch gehört hatte, daß solche Fragen gewöhnlich an die Besucher fremder Besitzungen gestellt werden, so erwiederte ich: »O, ein sehr ehrwürdiger Name, den Euer Gebieter wohl kennen mag, wenn er ein Bücherfreund ist – Caxton.«

»Caxton?« rief der Gärtner mit einiger Lebhaftigkeit.»Es gibt in Cumberland eine Familie dieses Namens –«

»Sie ist die meinige, und mein Onkel Roland ist das Haupt derselben.«

»Und Ihr seid der Sohn von Augustin Caxton?«

»Ja. So habt Ihr also schon von meinem lieben Vater gehört?«

»Wir wollen nicht durch das Thor gehen. Folgt mir diesen Weg.«

Und mein Führer wandte sich plötzlich um, betrat einen schmalen Pfad, und, noch ehe ich mich von meiner Ueberraschung erholt hatte, stand das Haus etwa hundert Schritte vor uns.

»Verzeiht,« sagte ich, »aber wohin führt Ihr mich, guter Freund?«

»Guter Freund – guter Freund! Wohlgesprochen, junger Mann. Ihr kommt in der That zu guten Freunden. Ich studirte mit Eurem Vater, und er war mir sehr theuer. Auch Euren Onkel kannte ich ein wenig. Mein Name ist Trevanion.«

Blinder junger Thor, der ich war! So bald mir mein Führer seinen Namen genannt, erschien mir mein unerklärlicher Irrthum ganz unbegreiflich. Die kleine, unscheinbare Figur trug nun in meinen Augen unverkennbar den Stempel hoher Würde an sich, und in dem einfachen Anzug von rauhem, dunkelm Tuche sah ich jetzt nur die natürliche, angemessene Kleidung eines Landedelmannes auf seinen Gütern. Sogar der häßliche Köter ward zu einem schottischen Dachs von der seltensten Zucht.

Mein Führer lächelte freundlich über meine Bestürzung, klopfte mir auf die Schulter und sagte:

»Nicht bei mir, sondern bei meinem Gärtner müßt Ihr Euch entschuldigen. Er ist ein sehr hübscher Mann, wenigstens sechs Fuß hoch.«

Ich hatte meine Sprache noch nicht wieder gefunden, als wir eine breite Treppenflucht unter dem Portikus hinanstiegen, eine geräumige, mit Statuen und duftenden Orangebäumen verzierte Halle durchschritten und in ein kleines, mit Gemälden geschmücktes Zimmer eintraten, in welchem alle Vorbereitungen zu einem Frühstück getroffen waren.

»Meine liebe Ellinor,« redete mein Begleiter eine Dame an, welche sich hinter einer Theeurne erhob – »ich stelle Dir hier den Sohn unseres alten Freundes Augustin Caxton vor. Bewege ihn, so lange bei uns zu bleiben, als er kann. Junger Mann, betrachten Sie Lady Ellinor Trevanion als eine alte Bekannte – Familienfreundschaften sollten sich fortpflanzen.«

Mein Wirth sprach diese letzten Worte in einem nachdrücklichen Tone, ergriff alsdann hastig einen auf dem Tische liegenden Briefbeutel, zog eine Menge Schreiben und Zeitungen aus demselben hervor, warf sich in einen Lehnstuhl und schien meine Anwesenheit bald gänzlich vergessen zu haben.

Die Dame blieb einen Augenblick in stummer Ueberraschung stehen, und ich bemerkte, daß sie mehrmals die Farbe wechselte. Dann aber kam sie mit der bezaubernden Anmuth einer ungekünstelten Freundlichkeit auf mich zu, nahm mich bei der Hand, zog mich auf einen Stuhl nächst dem ihrigen und frug mich so herzlich nach meinem Vater, meinem Onkel und meiner ganzen Familie, daß ich mich in fünf Minuten wie zu Hause fühlte. Lady Ellinor hörte lächelnd und dabei mit nassen Augen, so daß sie dieselben hin und wieder abwischen mußte, meinen naiven Erzählungen zu. Endlich sagte sie:

»Haben Sie Ihren Vater nie von mir sprechen hören – ich meine, von uns – von den Trevanions?«

»Nie«, erwiederte ich offen; »und dies würde mich Wunder nehmen, wenn nicht, wie Sie wissen werden, mein Vater kein Freund von vielen Worten wäre.«

»Wirklich? Er war sehr lebhaft, als ich ihn kannte,« sagte Lady Ellinor, indem sie ihr Antlitz abwandte und seufzte.

In diesem Augenblick trat eine junge Dame ein, so frisch, so blühend und lieblich, daß plötzlich jeder andere Gedanke aus meinem Kopfe schwand. Sie kam singend und so heiter, wie ein Vögelein, in das Zimmer und erschien meinem bewundernden Blicke auch wirklich als ein geflügelter Bote des Himmels.

»Fanny,« sagte Lady Ellinor, »gib Mr. Caxton die Hand; er ist der Sohn eines Mannes, den ich zum letzten Mal gesehen, als ich um weniges älter war, als Du, dessen ich mich aber erinnere, als ob es gestern gewesen wäre.«

Miß Fanny erröthete, lächelte und hielt mir ihre Hand mit einer ungezwungenen Freimüthigkeit entgegen, welche ich vergebens nachzuahmen suchte. Während des Frühstücks fuhr Mr. Trevanion fort, seine Briefe zu lesen und die Zeitungen durchzugehen, was er mit dem gelegentlichen Ausruf »Pfui!« oder »Geschwätz!« begleitete; dazwischen trank er mechanisch seinen Thee oder aß einige Stückchen von einer gerösteten Brodschnitte. Dann erhob er sich mit der eigenthümlichen Schnelligkeit, welche seine Bewegungen kennzeichnete, und stand hierauf einige Zeit in Gedanken vertieft vor dem Kamine; und jetzt, da der große Hut mit breitem Rande von seiner Stirne entfernt war, und die Raschheit seiner ersten Bewegung, verbunden mit seiner nachherigen ruhigen Haltung, meine neugierige Aufmerksamkeit fesselte, schämte ich mich mehr, denn je, meines Irrthums. Unverkennbare Sorge sprach aus den hohlen Augen und tiefen Furchen des lebhaften und zugleich gedankenvollen Antlitzes, welchem jene geistige Ausbildung, die den wahren Aristokraten, d. h. den Mann von edler Erziehung und scharfem Verstande auszeichnen, Würde und Feinheit des Ausdrucks verlieh. Es mußte in jüngeren Jahren sehr schön gewesen sein; die Züge waren zwar klein, allein ungewöhnlich bestimmt; die theilweise kahle Stirne ragte breit und edel hervor, und in der Krümmung der Lippe lag fast eine weibliche Weichheit. Der ganze Ausdruck des Antlitzes war gebieterisch, aber traurig. Bei zunehmender Lebenserfahrung glaubte ich oftmals, in diesen beredten Zügen die Geschichte eines thatkräftigen Ehrgeizes, gezügelt durch eine stolze Philosophie und ein hartes Gewissen, verfolgen zu können; damals aber sah ich nur eine unbestimmte, unzufriedene Schwermuth, welche mich niederdrückte, ohne daß ich wußte, weßhalb.

Mr. Trevanion kehrte an den Tisch zurück, raffte seine Briefe zusammen, näherte sich langsam der Thüre und verschwand.

Die Blicke seiner Gattin folgten ihm zärtlich. Ihre Augen erinnerten mich an diejenigen meiner Mutter – wie mich in der That alle freundlichen und liebevollen Augen an dieselben erinnerten! Ich rückte Lady Ellinor näher und hätte so gerne die weiße Hand erfaßt, die so sorglos vor mir lag.

»Wollen Sie nicht mit uns spazieren gehen?« wandte sich Miß Trevanion an mich.

Ich verbeugte mich, und in wenigen Minuten hatten mich die Damen verlassen, um ihre Hüte und Schawls zu holen. Da ich eben nichts Besseres zu thun wußte, nahm ich die Zeitungen in die Hand, welche Mr. Trevanion auf den Tisch geworfen hatte. Mein Auge fiel zuerst auf seinen eigenen Namen, der sich oft und in allen Blättern wiederholte. In dem einen wurde er mit Verachtung behandelt, während ihm ein anderes hohes Lob spendete; ein Artikel jedoch in einem Journale, das eine unparteiische Haltung zu beobachten schien, fesselte meine Aufmerksamkeit so sehr, daß ich mich seines Inhalts noch jetzt vollkommen erinnern kann, obwohl ich ihn vielleicht nicht in denselben Worten wiederzugeben vermag. Der Aufsatz lautete ungefähr folgendermaßen:

 

»Bei dem gegenwärtigen Stand, der Parteien haben sich unsere Zeitschriften ganz natürlicher Weise vielfach mit den Vorzügen und Mängeln Mr. Trevanions beschäftigt. Es ist ein Name, der unzweifelhaft hoch im Hause der Gemeinen steht, aber eben so unzweifelhaft wenig Sympathien im Lande findet. Mr. Trevanion ist wesentlich und vorzugsweise ein Parlaments-Mitglied. Er ist ein gewandter Debattenführer und ein bewunderungswürdiger Ausschuß-Präsident. Obwohl er niemals im Staatsdienste gewesen, so haben doch langjährige Erfahrung und stete, den öffentlichen Angelegenheiten freiwillig geschenkte Aufmerksamkeit ihm einen hohen Rang unter jenen praktischen Politikern angewiesen, aus deren Mitte die Minister gewählt werden. Er verdient ohne Zweifel die Bezeichnung eines Mannes von fleckenlosem Charakter und vortrefflichen Absichten, und jedes Kabinet würde in ihm ein ehrenhaftes, nützliches Mitglied gewinnen. Hier aber endet Alles, was wir zu seinem Lobe sagen können. Als Redner fehlen ihm das Feuer und die Begeisterung, welche die Volksgunst erwerben. Er gebietet über das Ohr des Hauses, nicht aber über das Herz des Landes. Ein Orakel in reinen Geschäfts-Angelegenheiten ist er dagegen den großen Fragen der Politik nicht gewachsen. Er stellt sich nie mit ganzem Herzen auf die Seite einer bestimmten Partei und vertritt niemals eine Frage mit vollem Ernste. Die Mäßigung, auf welche er sich, wie man sagt, viel zu gut thut, äußert sich oft in stolzen Grillen und in dem Versuch, eine philosophische Originalität in seine Offenheit zu legen, wodurch er sich längst bei seinen Feinden den Ruf eines Wetterhahns zugezogen hat. Einem solchen Manne mögen wohl die Umstände zeitweilige Gewalt in die Hände geben; aber kann er einen bleibenden Einfluß ausüben? Nein; möge Mr. Trevanion auf dem ihm von Natur und Stellung angewiesenen Posten bleiben – auf dem eines biedern, unabhängigen, tüchtigen Parlaments-Mitgliedes, welches berufen ist, versöhnend zwischen die Parteien zu treten, wenn sie Gefahr laufen, in Extreme zu gerathen. Als Kabinets-Minister ist er verloren. Seine Bedenklichkeiten würden jedes Regieren unmöglich machen, und an seiner Unentschlossenheit müßte sein eigener Ruf scheitern, wenn es sich, wie in allen menschlichen Angelegenheiten, darum handelte, einige Irrthümer nachzusehen, um dadurch etwas wirklich Gutes zu erreichen.«

 

Ich hatte eben diesen Artikel zu Ende gelesen, als die Damen zurückkehrten.

Meine Wirthin bemerkte die Zeitung in meiner Hand und sagte mit erzwungenem Lächeln: »Vermuthlich wieder ein Angriff auf Mr. Trevanion?«

»Nein,« sagte ich – ungeschickt genug, denn der Aufsatz, der mir so unparteiisch erschien, war vielleicht der bitterste Angriff von allen – »nein, dies nicht gerade.«

»Ich lese die Zeitungen nicht mehr – wenigstens nicht die sogenannten Leitartikel – es ist mir zu schmerzlich. Und einst machten sie mir so viele Freude – doch das war zu Anfang seiner Laufbahn, und ehe er einen berühmten Namen erlangt hatte.«

Lady Ellinor öffnete jetzt das Fenster, welches auf den offenen Grasplatz vor dem Hause führte, und in wenigen Minuten befanden wir uns in jenem Theile des Lustparkes, welchen die Familie der öffentlichen Neugierde entzogen hatte. Wir kamen an seltenen Strauchpflanzen, fremdländischen Blumen und langen Reihen von Gewächshäusern vorbei, in welchen die ganze wunderbare Pflanzenwelt Afrikas und beider Indien blühte und lebte.

»Mr. Trevanion ist wohl ein großer Blumenfreund?« sagte ich.«

Die schöne Fanny lachte. »Ich glaube nicht, daß er die eine von der andern zu unterscheiden weiß.«

»Mir geht es ebenso,« erwiederte ich; »das heißt, wenn es sich nicht etwa um Rosen und Nelken handelt.«

»Die Meierei wird Sie vielleicht mehr interessiren,« bemerkte Lady Ellinor.

Wir kamen zu den Wirthschaftsgebäuden, die ganz kurz erst und ohne Zweifel nach den besten Grundsätzen errichtet worden waren. Lady Ellinor zeigte mir die Maschinen und sonstigen Vorrichtungen neuester Erfindung zu Abkürzung der Arbeit und Vervollkommnung der mechanischen Operationen im Feldbau.

»So ist wohl Mr. Trevanion ein Freund der Landwirthschaft?«

Die hübsche Fanny lachte wieder.

»Mein Vater ist eines der großen Orakel in der Agricultur, einer der eifrigsten Beschützer aller ihrer Verbesserungen; was aber seine Vorliebe für die Landwirthschaft betrifft, so zweifle ich, ob er es weiß, wenn er über seine eigenen Felder reitet.«

Wir kehrten nach dem Hause zurück, und Miß Trevanion, deren offene Freundlichkeit bereits einen allzutiefen Eindruck auf das jugendliche Herz von Pisistratus dem Zweiten gemacht hatte, erbot sich, mir die Gemäldegallerie zu zeigen. Die Sammlung enthielt nur Werke englischer Künstler, und Miß Trevanion machte mich auf die Hauptschönheiten der Gallerie aufmerksam.

»Nun, so muß Mr. Trevanion wenigstens ein Freund von Gemälden sein!«

»Abermals falsch gerathen!« sagte Fanny mit einem schalkhaften Kopfschütteln. »Mein Vater soll zwar ein ausgezeichneter Kenner sein, allein er kauft die Bilder nur aus Pflichtgefühl – um unsere vaterländischen Künstler aufzumuntern. Ist er einmal im Besitze eines Gemäldes, so möchte ich nicht behaupten, daß er es je wieder ansieht!«

»An was aber hat er denn –« Ich hielt inne, denn ich fühlte, daß meine beabsichtigte Frage unpassend gewesen wäre.

»Sie wollten fragen, an was er denn Freude habe? Nun, ich kenne ihn natürlich, seitdem ich denken kann, habe aber noch nie entdeckt, an was mein Vater Freude hat. Nein, nicht einmal an der Politik, obgleich er nur für diese lebt. Sie staunen? Ich hoffe, Sie werden ihn eines Tages besser kennen lernen, doch wird es Ihnen niemals gelingen, das Geheimniß zu lösen – an was Mr. Trevanion Freude hat.«

»Du hast Unrecht,« sagte hier Lady Ellinor, welche uns in das Gemach gefolgt war, ohne daß wir es gehört hatten. »Ich will Dir sagen, an was Dein Vater nicht nur Freude hat, sondern was er liebt und wofür er lebt – Gerechtigkeit, Wohlthätigkeit, Ehre und Vaterland. Ein Mann, der jede Stunde seines edlen Lebens diesen Dingen weiht, mag wohl entschuldigt werden, wenn er gleichgültig ist gegen ein seltenes Geranium, oder einen neuen Pflug, oder sogar (was Dich am meisten beleidigt, Fanny) gegen ein eben vollendetes Meisterwerk von Landseer Edwin Henry Landseer (1802-1873), engl. Landschaftsmaler, Tiermaler und Bildhauer., oder gegen die neueste Mode, welcher Miß Trevanion zu huldigen beliebt.«

»Mama!« rief Fanny, und Thränen traten in ihre Augen.

Lady Ellinor aber erschien mir erhaben, als sie so sprach; ihre Augen leuchteten, ihre Brust wogte. Die Frau, welche Partei für den Gatten nahm gegen das Kind und so wohl begriff, was dieses trotz täglicher Erfahrung nicht fühlte, und was die Welt trotz aller Wachsamkeit ihres Lobes und ihres Tadels nie erfahren konnte – dies war in meinen Augen ein schöneres Bild, als irgend eines in der ganzen Sammlung.

Der Ausdruck ihres Antlitzes wurde milder, als sie die Thränen in Fanny's hellbraunen Augen bemerkte; sie reichte ihrer Tochter die Hand, welche dieselbe mit Innigkeit küßte, und mit den halblauten Worten: »Du mußt nicht auf meine thörichten Reden achten, Mama, sonst wirst Du mir jede Minute etwas zu vergeben haben,« glitt Miß Trevanion aus dem Zimmer.

»Haben Sie eine Schwester?« frug mich Lady Ellinor.

»Nein.«

»Und Trevanion hat keinen Sohn,« sagte sie traurig.

Das Blut stieg mir in die Wangen. O, junger Thor, zum zweiten Mal! Wir standen stumm neben einander, als die Thüre aufging und Mr. Trevanion eintrat.

»Hm,« sagte er lächelnd, als er meiner ansichtig wurde und sein Lächeln war ebenso bezaubernd als selten – »hm, junger Herr, ich bin gekommen, um Sie aufzusuchen – ich fürchte, ich war unhöflich gegen Sie und möchte Sie daher um Vergebung bitten. Der Gedanke kam mir eben erst, und so verließ ich meine Bücher, um Sie zu bitten, eine halbe Stunde mit mir auszugehen – eine halbe Stunde, ist alles, was ich Ihnen schenken kann – um Ein Uhr eine Deputation! Sie nehmen natürlich das Mittagsmahl mit uns ein und bleiben über Nacht hier?

»Ah, gnädiger Herr, meine Mutter wird sich sehr beunruhigen, wenn ich heute Abend nicht in London eintreffe.«

»Pah!« versetzte das Parlaments-Mitglied, »ich will ihr einen Expressen senden.«

»O, nicht doch! ich danke Ihnen.«

»Warum nicht?«

Ich zögerte. »Sie sehen, gnädiger Herr, mein Vater und meine Mutter sind beide fremd in London – ich bin es zwar auch, allein dennoch könnte ich ihnen vielleicht nützlich sein – sie könnten meiner bedürfen.«

Lady Ellinor legte ihre Hand auf meinen Kopf und ließ sie über meine Haare hinabgleiten, während ich sprach.

»Recht, junger Mann – ganz recht! Sie werden Ihr Glück in der Welt machen – zwar nicht nach Art der Spitzbuben – das ist eine andere Frage – aber wenn Sie auch nicht hoch steigen, so werden Sie doch nicht fallen. Nehmen Sie nun Ihren Hut, und kommen Sie mit mir – wir wollen nach dem Pförtnerhäuschen gehen – Sie werden noch früh genug kommen, um einen Wagen nach London benützen zu können.«

Ich verabschiedete mich von Lady Ellinor und hätte gerne etwas von Empfehlungen an Miß Fanny gesagt, allein die Worte blieben mir in der Kehle stecken, und mein Wirth schien ungeduldig.

»Sie müssen sich bald wieder bei uns sehen lassen,« sagte Lady Ellinor freundlich, als sie uns nach der Thüre folgte.

Mr. Trevanion schritt rasch und schweigend vorwärts, die eine Hand in seine Brusttasche gesteckt, in der andern nachlässig einen dicken Spazierstock schwingend.

»Ich muß über die Brücke zurück,« sagte ich, »denn ich ließ meinen Tornister dort liegen. Ich warf ihn ab, um meinen Sprung zu machen, und die alte Frau hat ihn wohl schwerlich in Verwahrung genommen.«

»So kommen Sie diesen Weg. Wie alt sind Sie?«

»Siebzehn und ein halb.«

»Sie können vermuthlich Lateinisch und Griechisch, wie man es in den Schulen lernt?«

»Ich denke, ich kann beides ziemlich gut, gnädiger Herr.«

»Ist das Ihres Vaters Ansicht?«

»Mein Vater ist schwer zu befriedigen; indeß gesteht er zu, daß er im Ganzen zufrieden ist.«

»So bin ich es auch. Mathematik?«

»Ein wenig.«

»Gut.«

Hier stockte die Unterhaltung eine Weile. Ich hatte meinen Tornister gefunden und wieder aufgeschnallt, und wir näherten uns dem Pförtnerhäuschen, als Mr. Trevanion plötzlich sagte: »Sprechen Sie, mein junger Freund, sprechen Sie; ich höre Ihnen gerne zu – seit zehn Jahren hat Niemand natürlich mit mir gesprochen.«

Diese Aufforderung war ein vollständiges Dämpfungsmittel für meine jugendliche Beredtsamkeit; ich hätte jetzt nicht natürlich sprechen können, selbst wenn es mich das Leben gekostet hätte.

»Ich sehe, ich habe einen Mißgriff gethan,« sagte mein Begleiter lächelnd, als er meine Verlegenheit bemerkte. »Hier sind wir an unserm Ziele angelangt, und der Wagen wird in fünf Minuten vorüberfahren; Sie können die Zwischenzeit dazu benützen, dem alten Weibe zuzuhören, wie sie die Hogtons lobt und an mir nichts Gutes läßt. Aber hören Sie mich, junger Mann – kümmern Sie sich nie einen Strohhalm um Lob oder Tadel – beides ist Schaum! Lob und Tadel sind hier!« Und dabei schlug er mit fast leidenschaftlicher Heftigkeit die Hand auf seine Brust. »Nehmen Sie an mir ein Beispiel. Diese Hogtons waren das Verderben der Besitzung – geizig und ohne alle Bildung, ihr Land eine Wildniß, ihr Dorf ein Schweinstall. Ich komme mit Kapital und Einsicht, mache den Boden nutzbar, verbanne den Pauperismus und civilisire alles um mich her. Kein Verdienst gebührt mir dabei – ich that, als bloße Maschine, was ein Mann, der Bildung und Kapital besitzt, thun muß. Und doch ist diese alte Frau nicht die einzige Person, welche Ihnen zu verstehen geben wird, daß die Hogtons Engel waren, und ich das gewöhnliche Gegentheil derselben bin. Und was noch mehr ist, Herr – weil das alte Weib, das wöchentlich zehn Schillinge von mir bezieht, ihr Herz darauf setzt, von den Fremden, welche sie herumführt, ihre sechs Pence einzunehmen – welchen Nebenverdienst ich ihr nicht verkümmern will – so geht jeder Besucher, mit welchem sie spricht, unter dem Eindruck von hier fort, daß ich, der reiche Mr. Trevanion, sie für ihren Lebensunterhalt auf eben jenen elenden Nebenerwerb verweise. Nun – hat dies das Geringste zu bedeuten?

Gott befohlen. Sagen Sie Ihrem Vater, sein alter Freund müsse ihn sehen und sich bei seiner ruhigen Weisheit Raths erholen – sein alter Freund ist ein Thor bisweilen und gar oft schweren Herzens. Wenn Sie eingerichtet sind, schreiben Sie mir eine Zeile nach St. James Square, und sagen Sie mir, wo Sie wohnen.

Hm! und damit genug.«

Mr. Trevanion drückte mir die Hand und verließ mich.

Ich wartete nicht auf den Wagen, sondern ging auf das Drehkreuz zu, an welchem die Alte (welche schon aus der Ferne den Sixpence, dessen Personification ich war, entweder gesehen oder gewittert hatte) –

»Gewohnter Morgenbeut' in grimm'gem Schweigen harrte.«

Meine Ansichten über ihre Leiden und die Tugenden der geschiedenen Hogtons hatten sich inzwischen einigermaßen geändert, und so begnügte ich mich, in ihre offene Handfläche genau die Summe fallen zu lassen, über welche wir ursprünglich einig geworden waren. Allein die Hand blieb noch immer offen, und die Finger der andern hielten mich fest, während ich in der Krümmung des Drehkreuzes wie ein Stöpsel in einem Patent-Korkzieher steckte.

»Und drei Pence für den Neffen Bob,« sagte die Alte.

»Drei Pence für den Neffen Bob – und warum?«

»'s ist seine Gebühr, wenn er mir einen Gentleman zuschickt. Ihr werdet nicht wollen, daß ich es aus meinem eigenen Erwerb zahlen soll – und geben muß ich's ihm, sonst richtet er mir mein Geschäft zu Grunde. Arme Leute müssen für ihre Mühe bezahlt werden.«

Unempfindlich gegen diese Anrufung und im Geiste Bob verwünschend, wand ich mich aus dem Drehkreuz und entwischte.

Gegen Abend erreichte ich London. Wer hat London je zum ersten Mal gesehen und war nicht in seinen Erwartungen getäuscht? Die langen Vorstädte, welche ohne Abgrenzung mit der Hauptstadt zusammenfließen, machen jede Ueberraschung unmöglich; allmälige Uebergänge stören jeden Zauber. Ich hielt es für zweckmäßig, eine Miethkutsche zu nehmen und holperte so meines Weges nach dem – Hotel, dessen Eingang sich in einer schmalen Seitenstraße des Strandes befand, während der größere Theil des Gebäudes nach dem geräuschvollen Strande selbst hinausging. Ich fand meinen Vater in einem Zustande großer Unbehaglichkeit; gleich einem neu gefangenen Löwen in seinem Käfig schritt er in einem kleinen Zimmer ungeduldig auf und ab. Meine arme Mutter hatte eine Menge Klagen vorzubringen, und zum ersten Mal in ihrem Leben fand ich sie wirklich verdrießlich. Es war keine passende Zeit, um meine Abenteuer zu erzählen; ich hatte genug zu thun, diejenigen meiner Eltern anzuhören. Sie waren den ganzen Tag vergebens nach einer Wohnung herumgelaufen; meinem Vater war ein neues ostindisches Tuch aus der Tasche gestohlen worden; Primmins, welche London so gut kennen sollte, wußte gar nichts und erklärte, alle Straßen hätten ihre Namen gewechselt; der neue seidene Regenschirm endlich, der fünf Minuten unbewacht in der Halle gestanden, war gegen einen alten baumwollenen mit drei Löchern vertauscht worden.

Erst als sich meine Mutter erinnerte, daß sie selbst nachsehen müsse, ob mein Bett gehörig gelüftet worden, da ich sonst sicherlich den Gebrauch meiner Glieder verlieren würde, und sie zu diesem Zweck mit Mrs. Primmins und einem naseweisen Stubenmädchen, die zu glauben schien, wir verursachten mehr Mühe, als wir werth seien, das Zimmer verließ, fand ich Gelegenheit, meinem Vater von meiner neuen Bekanntschaft mit Mr. Trevanion zu erzählen.

Er schien nicht auf mich zu hören, bis ich des Namens Trevanion erwähnte. Bei Nennung desselben wurde er sehr blaß, setzte sich ruhig nieder und hieß mich fortfahren, als er bemerkte, daß ich inne hielt und ihn ansah.

Nachdem ich ihm alles mitgetheilt und die freundlichen Aufträge ausgerichtet hatte, mit welchen ich von Mr. und Mrs. Trevanion betraut worden war, flog ein mattes Lächeln über sein Gesicht, welches er sofort mit seiner Hand bedeckte. Er schien nachzusinnen – doch mochten es keine angenehmen Erinnerungen sein, welche ihn beschäftigten, denn ich hörte ihn ein, oder zweimal seufzen.

»Und Ellinor,« sagte er endlich, ohne aufzublicken, »Lady Ellinor, wollte ich sagen – sie ist wohl sehr, sehr –«

»Was meinst Du, Vater?«

»Noch sehr schön?«

»Schön? Ja, gewiß sehr schön; doch achtete ich mehr auf ihr Wesen, als auf ihre Züge. Und dann Fanny – Miß Fanny ist so jung und lieblich!«

»Ah!« sagte mein Vater, einige griechische Verse vor sich hin murmelnd, etwa folgenden Inhalts:

»Das Bild der Menschheit ist der Bäume Laub.
Frisch grünend bald, bald welkend hin im Staub.«

»Gut, sie wollen mich also sehen. Sprach Ellinor – Lady Ellinor – oder ihr – ihr Gemahl diesen Wunsch aus?«

»Ihr Gemahl allerdings – Lady Ellinor deutete ihn mehr an, als daß sie ihn aussprach.«

»Wir wollen sehen,« sagte mein Vater. »Oeffne das Fenster; dieses Zimmer ist zum Ersticken schwül.«

Ich öffnete das Fenster, das nach dem Strand hinaussah. Der Lärm – die Stimmen – die schnellen Tritte der Fußgänger und das Rollen der Räder ward deutlich hörbar. Mein Vater lehnte sich einige Augenblicke hinaus, während ich an seiner Seite stand. Hierauf wandte er sich mit heiterem Antlitz gegen mich und sagte: »Jede Ameise auf dem Hügel trägt ihre Bürde, und ihre Heimath besteht nur aus den Lasten, die sie herbeischleppt. Wie glücklich bin ich – wie sollte ich Gott dafür danken! Wie leicht ist meine Bürde! Wie sicher meine Heimath!«

Er hatte eben ausgeredet, als meine Mutter eintrat. Mein Vater ging auf sie zu, schlang seinen Arm um ihren Leib und küßte sie. Derartige Liebkosungen von seiner Seite hatten ihren zärtlichen Zauber durch die Gewohnheit nicht verloren; die vorher etwas umwölkte Stirne meiner Mutter heiterte sich sogleich auf. Doch erhob sie mit sanfter Ueberraschung ihren Blick zu dem seinigen.

»Ich dachte eben,« sagte mein Vater entschuldigend, »wie viel ich Dir verdanke, und wie sehr ich Dich liebe!«


Zweites Kapitel.

Und nun haben wir uns, drei Tage nach meiner Ankunft, in allem Pomp und in der ganzen Großartigkeit eines eigenen Hauses in Russel Street, Bloomsbury, unfern der Bibliothek des Museums, niedergelassen. Mein Vater verwendet seine Morgenstunden auf jene lata silentia – das weite Schweigen – wie Virgil die Welt jenseits der Gräber nennt. Und eine Welt jenseits des Grabes mögen wir wohl jenes Gebiet der Geister nennen, das durch eine Büchersammlung dargestellt wird.

»Pisistratus,« sagte mein Vater eines Abends, als er seine Notizen vor sich geordnet hatte und nun seine Brille abrieb – »Pisistratus, eine große Bibliothek ist ein hehrer Ort! Hier sind alle Ueberreste der Menschen seit der Sündfluth begraben.«

»Ja wohl, ein Begräbnißplatz!« bemerkte Onkel Roland, welcher uns an diesem Tage aufgefunden hatte.

»Es ist ein Heraclea!« sagte mein Vater wieder.

»Ich bitte Dich, bediene Dich keiner so starken Worte,« erwiederte mein Onkel mit einem Kopfschütteln.

»Heraclea war die Stadt der Zauberer, in welcher man die Todten heraufbeschwor. Will ich mit Cicero sprechen? Ich rufe ihn herbei. Wünsche ich auf dem Marktplatz von Athen zu plaudern und zweitausendjährige Neuigkeiten zu hören? Ich schreibe meine Bannformel auf einen Streifen Papier, und ein ernster Magier beschwört mir Aristophanes herauf. Und dieses alles verdanken wir unserm großen Vor –«

»Bruder!«

»Unsern Vorfahren, welche Bücher schrieben – ich danke Dir, daß Du mich daran erinnert.«

Onkel Roland bot jetzt seine Tabaksdose meinem Vater an, welcher zwar den Schnupftabak verabscheute, dennoch aber freundlich eine Prise nahm und darauf fünfmal niesen mußte – ein Vorwand für Onkel Roland, eben so oft mit großer Salbung zu sagen: »Helf' Dir Gott, Bruder Austin!«

Sobald sich mein Vater wieder erholt hatte, fuhr er mit Thränen in den Augen, aber so ruhig, wie vor der Unterbrechung – denn er huldigte der Philosophie der Stoiker – folgendermaßen fort:

»Aber nicht das ist es, was mich mit hehrer Scheu erfüllt; es ist die Anmaßung, mit diesen ›auserlesenen Geistern‹ zu wetteifern; zu ihnen zu sagen: ›Raum gegeben – auch ich spreche meinen Platz an unter den Auserwählten. Auch ich will mit den Lebenden verkehren, Jahrhunderte nach dem Tode, der meinen Staub verzehrt. Auch ich –‹ Ah, Pisistratus! ich wollte, Onkel Jack wäre in Jericho gewesen, statt daß er mich nach London heraufbringen und in die Mitte dieser Lenker der Welt stellen mußte!«

Während mein Vater sprach, war ich damit beschäftigt, einige hängende Bücherbrettchen für jene »auserlesenen Geister« anzufertigen, denn meine Mutter, stets für die Bequemlichkeit meines Vaters besorgt, hatte die Nothwendigkeit einer solchen Einrichtung in einem gemietheten Hause vorausgesehen und nicht nur meinen kleinen Handwerkszeug mitgebracht, sondern auch im Laufe des Morgens selbst das Rohmaterial dazu eingekauft. Den Hobel in seinem Wege über das glatte Holz einhaltend sagte ich: »Mein lieber Vater, wenn ich im Philhellenischen Institute vor den großen Burschen, die mir vorausgegangen waren, eine so heilige Scheu gehabt hätte, wie Du, so wäre ich in alle Ewigkeit der Letzte in der untersten Abtheilung geblieben.«

»Pisistratus, Du bist ein eben so großer Agitator, als Dein Namensvetter,« rief mein Vater lächelnd. »Kümmern wir uns also nicht weiter um die großen Bursche!«

Meine Mutter trat nun in ihrem hübschen Abendhäubchen ein, lächelnd und voll guter Laune, denn sie hatte eben ein Zimmer für Onkel Roland eingerichtet, eine vortheilhafte Uebereinkunft mit der Wäscherin getroffen und mit Mrs. Primmins Rath gepflogen über die beste Art und Weise, sich gegen Uebervortheilung von Seiten der Londoner Gewerbsleute zu schützen. Mit sich selbst und aller Welt zufrieden küßte sie meinen Vater auf die über seine Notizen niedergebeugte Stirne und trat hierauf an den Theetisch, der nur noch ihres Präsidiums harrte. Onkel Roland stand mit seiner gewöhnlichen Galanterie rasch von seinem Stuhle auf, den Kessel in der Hand (unsere Urne war noch nicht ausgepackt worden), und entledigte sich nach Soldatenart des von ihm freiwillig angebotenen ritterlichen Dienstes. Alsdann trat er zu mir und sagte:

»Es gibt wohl ein besseres Stück Eisen für die Hände eines Jünglings, wie Du bist, als einen Zimmermannshobel –«

»Aha, Onkel – das kömmt darauf an –«

»Worauf?«

»Auf den Gebrauch, den man davon macht. – Peter der Große war besser beschäftigt, indem er Schiffe zimmerte, als Karl XII, der den Leuten die Schädel einschlug.«

»Der arme Karl XII.!« rief mein Onkel mit einem pathetischen Seufzer. »Er war ein tapferer Held!«

»Schade, daß er den Frauen so wenig hold war!«

»Kein Mensch ist vollkommen!« bemerkte mein Onkel. »Aber, ernstlich gesprochen, Du bist jetzt die männliche Hoffnung der Familie – Du bist jetzt –« er hielt inne, und seine Züge verdüsterten sich. Ich sah, daß er seines Sohnes gedachte – jenes geheimnißvollen Sohnes! Und während ich ihn mit Innigkeit anblickte, gewahrte ich, daß die tiefen Furchen in seinem Gesichte noch tiefer und seine grauen Haare noch grauer geworden waren. Ein frischer Kummer hatte seine unverkennbaren Merkmale auf diesem Antlitz zurückgelassen, und, obgleich mein Onkel niemals ein Wort über den Grund seiner plötzlichen Abreise zu uns geredet, so bedurfte es doch keines großen Scharfblicks, um zu erkennen, daß sein damaliges Vorhaben von keinem günstigen Erfolg begleitet gewesen sein mußte.

»Seit unvordenklichen Zeiten,« nahm mein Onkel wieder auf, »hat jede Generation unseres Hauses dem Vaterlande einen Soldaten gegeben. Ich schaue umher; nur ein einziger Zweig grünt noch an dem alten Baume, und –«

»Ah, Onkel! Aber was würden sie sagen? Glaubst Du, ich möchte nicht selbst gerne Soldat werden? Versuche mich nicht!«

Mein Onkel nahm seine Zuflucht zu der Schnupftabaksdose, und in diesem Augenblick wurde – unglücklicher Weise für die Lorbeeren, die sich andernfalls Pisistratus von England vielleicht um die Schläfe gewunden hätte – unsere Unterredung durch das plötzliche, geräuschvolle Eintreten Onkel Jacks unterbrochen. Keine Gespenstererscheinung hätte uns mehr überraschen können.

»Hier bin ich, meine lieben Freunde. Wie geht es Euch? Was treibt Ihr mit einander? Capitän de Caxton, von Herzen der Eurige! Ja, ich bin erlöst – dem Himmel sei Dank! Ich habe die Plackerei an jenem erbärmlichen Provinzialblatt aufgegeben. Ich war nicht dazu geschaffen. Ein Ocean in einer Theetasse – das war ich in der That! Den kleinlichsten, schmutzigsten, engherzigsten Interessen sollte ich dienen – ich, dessen Seele die ganze Menschheit umfaßt! Eben so gut könntet Ihr einen Kreis in ein gleichförmiges Dreieck umwandeln!«

»Gleichschenklig!« sagte mein Vater, indem er seufzend seine Notizen bei Seite schob und allmählig der Beredtsamkeit sein Ohr lieh, die für heute alle Aussicht auf ein weiteres Vorrücken des großen Werks vernichtete. »Gleichschenkliges Dreieck, Jack Tibbets – nicht gleichförmiges.«

»Gleichschenklig oder gleichförmig – ist ganz dasselbe,« erwiederte Onkel Jack, indem er rasch nach einander drei Manöver ausführte, welche keineswegs im Einklang mit seiner Lieblingstheorie von dem »größten Glück der großen Menge« standen. Erstens leerte er in eine Tasse, die er den Händen meiner Mutter entnahm, die Hälfte des sparsamen Inhalts einer Londoner Rahmkanne; zweitens schmälerte er den Umfang eines Butterkuchens in bedeutender Weise, indem er sich drei nahezu gleichschenklige Dreiecke herausschnitt, und drittens stellte er sich vor das Feuer, welches in Rücksicht auf Capitän de Caxton angezündet worden war, steckte seine Rockschöße unter die Arme und nahm so, behaglich seinen Thee schlürfend, Licht und Wärme so ziemlich für sich allein in Anspruch.

»Gleichförmig oder gleichschenklig – ist ganz dasselbe. Der Mensch ist um seiner Mitgeschöpfe willen geschaffen. Die Einmischung jener selbstsüchtigen Herren war mir längst zuwider. Eure Abreise brachte meinen Entschluß zur Reife. Ich habe Verhandlungen mit einer Londoner Firma abgeschlossen, welche Muth, Kapital und ausgedehnte philantropische Ideen besitzt. Vergangnen Sonnabend zog ich mich aus dem Dienst der Oligarchen zurück, und jetzt fühle ich mich in meiner wahren Eigenschaft, als Beschützer von Millionen. Mein Prospekt ist gedruckt – hier habe ich ihn in der Tasche. – Noch eine Tasse Thee, Schwester, ein wenig mehr Rahm und noch etwas Butterkuchen. Soll ich läuten?«

Nachdem sich Onkel Jack seiner Tasse entledigt hatte, zog er einen noch feuchten Bogen bedruckten Papieres aus seiner Tasche hervor. Oben stand mit großen Buchstaben: » Die Antimonopolzeitung, oder Der Volkskämpe.« Er schwenkte das Blatt triumphirend vor den Augen meines Vaters.

»Pisistratus,« sagte dieser, »sieh' hierher. Dies ist die Art, wie Dein Onkel Jack jetzt seine Butterbällchen drückt. – Eine Freiheitsmütze, die aus einem offenen Buch herauswächst! Gut, Jack – gut, ganz gut!«

»Es ist jacobinisch!« rief der Capitän.

»Wohl möglich,« entgegnete mein Vater; »aber Wissenschaft und Freiheit sind die besten Devisen von der Welt für Butterballen, welche auf den Markt gebracht werden sollen.«

»Butterballen! Ich verstehe Dich nicht,« sagte Onkel Jack.

»Je weniger Du mich verstehst, desto besser wird die Butter verkauft werden, Jack,« erwiederte mein Vater und kehrte hierauf zu seinen Notizen zurück.


Drittes Kapitel.

Onkel Jack hatte sich vorgenommen, bei uns zu wohnen, und meine Mutter fand es ziemlich schwierig, ihm begreiflich zu machen, daß sie kein übriges Bett für ihn habe.

»Das ist schlimm,« sagte er. »Ich war kaum in der Stadt angekommen, so wurde ich mit Einladungen überhäuft, wies sie jedoch alle zurück, um bei Euch zu sein.«

»Wie gut und freundlich von Dir! Das sieht Dir so ganz gleich!« sagte meine Mutter; »allein, Du begreifst –«

»Schon gut; ich muß nun fort, um mir ein Zimmer zu suchen. Beunruhige Dich nicht. Du weißt, ich kann ja zum Frühstück und Mittagessen immer zu Euch kommen – das heißt, wenn meine andern Freunde es zugeben. Ich werde schrecklich verfolgt werden.«

Mit diesen Worten steckte Onkel Jack seinen Prospektus wieder in die Tasche und wünschte uns gute Nacht.

Es war elf Uhr vorüber, und meine Mutter hatte sich schon zurückgezogen, als mein Vater vor seinen Büchern aufblickte und seine Brille ihrem Futteral zurückgab. Ich hatte meine Arbeit vollendet und saß nun am Feuer, wo ich bald an Fanny Trevanion's hellbraune Augen, bald mit ebenso hochklopfendem Herzen an Feldzüge, Schlachten, Ruhm und Lorbeeren dachte, während Onkel Roland gesenkten Hauptes und mit über der Brust gekreuzten Armen dem Verglimmen der Asche zusah. Mein Vater ließ den Blick im Zimmer umherschweifen, beobachtete seinen Bruder einige Augenblicke und sagte alsdann fast in flüsterndem Tone –

»Mein Sohn hat die Trevanions gesehen. Sie erinnern sich unser. Roland.«

Der Capitän sprang auf und begann zu pfeifen – eine Gewohnheit, die ich stets an ihm bemerkte, wenn er sehr aufgeregt war.

»Und Trevanion wünscht uns zu sehen. Pisistratus versprach, ihm unsere Adresse zu geben – soll er es thun. Roland?«

»Wie Du willst,« erwiederte der Capitän mit militärischer Haltung, indem er sich in seiner ganzen, sieben Fuß betragenden Höhe aufrichtete.

»Ich möchte es allerdings,« versetzte mein Vater mild. »Seit zwanzig Jahren haben wir uns nicht gesehen.«

»Mehr, als zwanzig,« sagte mein Onkel mit einem ernsten Lächeln. »Und die Zeit – es war die Zeit des fallenden Laubes!«

»Der Mensch erneuert die Fasern und Bestandtheile seines Körpers alle sieben Jahre,« fuhr mein Vater wieder fort. »In dreimal sieben Jahren hat er Zeit gehabt, seinen innern Menschen zu erneuern. Können zwei Personen, die in jener Straße dort wandeln, einander unähnlicher sein, als die Seele von vor zwanzig Jahren und die Seele von heute? Bruder, nicht vergeblich geht der Pflug über den Boden und die Sorge über das Menschenherz. Neue Ernten verändern den Charakter des Landes, und der Pflug muß in der That tief gehen, bis er das Muttergestein aufwühlt.«

»Laß' uns Trevanion sehen,« rief mein Onkel. Dann wandte er sich plötzlich mit der Frage an mich: »Hat er Familie?«

»Eine Tochter.«

»Keinen Sohn?«

»Nein.«

»Das muß dem armen, thörichten, ehrgeizigen Mann schmerzlich sein. Ah, Du bewunderst diesen Mr. Trevanion wohl sehr, nicht wahr? Ja, das Feuer seines Wesens, seine schönen Worte und kühnen Gedanken sind geeignet, die Jugend zu blenden.«

»Schöne Worte, mein lieber Onkel! – Feuer? Ich fand Mr. Trevanion's Unterhaltung und seine ganze Art zu sprechen so einfach, daß ich mich nur wundern muß, wie er einen solchen Ruf als öffentlicher Redner erringen konnte.«

»Wirklich?«

»Der Pflug hat auch hier seine Furchen zurückgelassen,« bemerkte mein Vater.

»Aber nicht der Pflug des Kummers. Er ist reich, berühmt, hat Ellinor zur Gattin – und keinen Sohn!«

»Er sagte Pisistratus, sein Herz sei oftmals traurig, und deßhalb wünsche er uns zu sehen.«

Roland sah zuerst meinen Vater und dann mich erstaunt an.

»So möge er in Gottes Namen kommen,« rief er aus vollem Herzen. »Ich kann ihm die Hand drücken, wie einem alten Kriegskameraden. Armer Trevanion! Schreibe ihm sogleich, Sisty.«

Ich setzte mich nieder und folgte dieser Aufforderung. Nachdem ich meinen Brief gesiegelt, blickte ich auf und bemerkte, daß Roland an meines Vaters Tisch getreten war, um sein Licht anzuzünden; mein Vater ergriff seine Hand und flüsterte ihm leise etwas zu. Ich errieth, daß es seinen Sohn betraf, denn der Capitän schüttelte den Kopf und erwiederte mit ernster, hohler Stimme: »Erneuere immerhin den Schmerz, wenn es Dir Freude macht – aber nicht die Schande. Ueber diesen Gegenstand stille!«


Viertes Kapitel.

Die Morgenstunden, während welcher ich mir selbst überlassen war, benützte ich in der Regel zu einsamen Wanderungen durch die ungeheure Wildniß Londons. Nach und nach gewöhnte ich mich an das Gefühl von Verlassenheit inmitten einer großen Bevölkerung und hörte auf, mich nach den grünen Feldern und Wiesen zu sehnen. Die rührige Thätigkeit, welche mich umgab und mich anfangs wehmüthig gestimmt hatte, wirkte bald erheiternd und belebend und übte zuletzt einen ansteckenden Einfluß auf mich aus. Für einen regsamen Geist ist nichts so verführerisch, als der Anblick des Gewerbfleißes! Ich begann der goldenen Feiertage einer unbeschäftigten Kindheit müde zu werden, nach Thätigkeit zu seufzen und mich nach einer Laufbahn umzusehen. Die Universität, auf welche ich mich früher gefreut hatte, erschien mir nun in einem trüben, klösterlichen Lichte, und der Gedanke, aus den lebensvollen Straßen Londons in die Stille und Einsamkeit eines Klosters versetzt zu werden, hatte wenig Anziehendes für mich. Täglich erwachte mein Geist mehr und mehr; er trat heraus aus dem rosigen Morgenroth der Knabenzeit – er fühlte das Urtheil Kain's unter der hochstehenden Sonne des Mannesalters.

Onkel Jack war bald in seine neuen Spekulationen zum Besten der Menschheit vertieft, und, die Mahlzeiten ausgenommen, sahen wir ihn selten; doch muß ich ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er diese pünktlich einhielt, obgleich er uns oftmals zu verstehen gab, welche Opfer er uns bringe, und wie viele Einladungen er um unsertwillen ablehne. Auch der Capitän verschwand in der Regel nach dem Frühstück, speiste selten mit uns zu Mittag und kehrte oft spät erst zurück; er hatte seinen eigenen Hausschlüssel und konnte daher heimkehren, wenn er wollte. Zuweilen weckte mich sein Tritt auf der Treppe; zuweilen auch hörte ich ihn in seinem Zimmer, welches sich neben dem meinigen befand, unruhig auf und ab gehen, oder glaubte, ein leises Stöhnen zu vernehmen. Sein Aussehen wurde mit jedem Tage kummervoller, seine Haare immer weißer. Dennoch war er ruhig und sogar heiter in der Unterhaltung mit uns Allen, und ich glaubte, der Einzige im Hause zu sein, welcher den nagenden Kummer bemerkte, über den der standhafte alte Spartaner den Mantel des Anstandes warf.

Mitleid und Bewunderung machten mich neugierig, zu erfahren, wie er die Tage, denen so unruhige Nächte folgten, zubrachte. Ich fühlte, daß, wenn es mir gelingen würde, sein Geheimniß zu ergründen, ich vielleicht auch ein Recht erlangen könnte, ihm Trost und Hülfe anzubieten.

Nach manchen gewissenhaften Bedenken entschloß ich mich endlich, die Befriedigung einer Neugierde zu versuchen, welche durch ihre Beweggründe wohl zu entschuldigen war.

So schlich ich denn meinem Onkel eines Morgens, als er das Hans verlassen hatte, nach und folgte ihm in einiger Entfernung.

Er begann seine Wanderung, ungeachtet seines Korkbeines, mit festen Schritten und nahm zuerst seinen Weg nach den Umgebungen von Leicester Square; mehrmals ging er auf dem Isthmus hin und her, der von Piccadilly aus nach jenem Revier der Fremden und nach den Gassen und Höfen führt, welche sich von da gegen St. Martin hinziehen. Nach ein oder zwei Stunden wurde sein Gang langsamer, und er nahm oft den glatten, abgetragenen Hut ab, um sich die Stirne zu trocknen. Endlich schlug er die Richtung nach den beiden großen Schauspielhäusern ein, blieb vor den Theaterzetteln stehen, als überlege er ernsthaft die Aussichten auf Genuß und Unterhaltung, die sie darboten, wanderte langsam durch die schmalen Straßen, welche diese Tempel der Musen umgeben, und gelangte zuletzt an den Strand. Hier ruhte er etwa eine Stunde in einer kleinen Speisewirthschaft aus, und als ich an dem Fenster vorüberging und hineinblickte, sah ich ihn bei einem einfachen Mahle sitzen, welches er jedoch kaum berührte, dagegen eifrig in den Ankündigungsspalten der Times las. Nachdem er die Zeitung beendigt und mit sichtbarem Widerwillen noch einige Bissen zu sich genommen hatte, legte er schweigend seinen Schilling auf den Tisch, erhielt einige Pence zurück, und ich hatte nur eben noch Zeit, auf die Seite zu schlüpfen, ehe er wieder auf der Schwelle erschien. Er zögerte und blickte umher – ich trug jedoch Sorge, daß er mich nicht entdecken konnte – und alsdann richtete er seine Schritte nach den vornehmeren Stadttheilen. Es war jetzt Nachmittag, und, obgleich die Saison noch nicht begonnen, wimmelten die Straßen von Leben. Auf dem Waterlooplatze angelangt, gallopirte auf einem schönen Fuchse ein schmächtiger Mann vorüber, der, wie mein Onkel, den Rock über der Brust zugeknöpft trug, und dem jedes Auge nachschaute. Onkel Roland blieb stehen und legte die Hand an seinen Hut; der Reiter berührte mit dem Zeigefinger den seinigen und gallopirte weiter, während mein Onkel sich umwandte und ihm nachblickte.

»Wer ist« – fragte ich einen Ladenjungen, der gerade vor mir stand und dem Reiter ebenfalls nachstarrte – »wer ist jener Herr zu Pferde?«

»Nun, der Herzog, natürlich,« war die in verächtlichem Tone gegebene Antwort.

»Der Herzog?«

»Wellington – Dummkopf!«

»Danke schön,« versetzte ich demüthig.

Onkel Roland war jetzt schnelleren Schritts in Regent Street eingetreten – der Anblick des alten Führers hatte dem alten Soldaten wohlgethan. Hier wandelte er wieder auf und ab, bis ich, der ich ihn von der andern Seite des Weges aus beobachtete, vor Ermüdung, beinahe zusammensank, obgleich ich ein rüstiger Fußgänger war. Das Tagewerk des Capitäns war jedoch noch nicht zur Hälfte vollbracht. Er zog seine Uhr heraus, hielt sie an sein Ohr, steckte sie wieder ein, begab sich zunächst nach Bond Street und von da nach Hyde Park. Dort lehnte er sich in augenscheinlicher Erschöpfung an das Geländer unfern der Bronze-Statue, und seine Haltung zeugte von großer Niedergeschlagenheit. Ich setzte mich in der Nähe der Statue in das Gras und beobachtete ihn. Der Park konnte im Vergleich mit den Straßen leer genannt werden, doch sah man hin und wieder einen müßigen Reiter und viele Spaziergänger. Meines Onkels Auge heftete sich durchdringend auf jeden Vorübergehenden; ein oder zwei ältere Herren von militärischem Aussehen blieben stehen, näherten sich ihm und redeten ihn an; der Capitän schien sich jedoch solcher Begrüßungen zu schämen – er antwortete kurz und wandte sich ab.

Der Tag begann sich zu neigen – der Abend kam heran. Wieder sah der Capitän auf seine Uhr, schüttelte den Kopf und näherte sich alsdann einer Bank, auf welcher er, den Hut in die Stirne gedrückt und die Arme gekreuzt, unbeweglich sitzen blieb, bis der Mond aufging. Ich hatte seit dem Frühstück nichts über die Lippen gebracht und war völlig ausgehungert; dennoch behauptete ich meinen Posten gleich einer alten römischen Schildwache.

Endlich erhob sich der Capitän und kehrte wieder nach Piccadilly zurück; aber wie verschieden in Haltung und Aussehen! Welch' ein Unterschied zwischen dem aufrecht einherschreitenden Veteranen von diesem Morgen und dem gebrochenen Invaliden, dessen Lahmheit jetzt schmerzlich bemerkbar wurde, als er gesenkten Hauptes, ermattet und gebeugt nur mühsam sich fortschleppte!

Wie sehnte ich mich, auf ihn zuzueilen und ihm meinen Arm als Stütze anzubieten! allein ich wagte es nicht!

An einem Miethkutschenstande blieb der Capitän stehen, griff mit der Hand in die Tasche, zog seine Börse heraus und fuhr mit den Fingern über das Netzwerk; allein der Beutel glitt wieder in die Tasche zurück, mein Onkel erhob mit sichtbarer Anstrengung den Kopf und schritt standhaft weiter.

»Wohin jetzt?« dachte ich. »Sicherlich nach Hause! Nein – er kennt kein Erbarmen!«

Der Capitän hielt nicht wieder an, bis er eines der kleinen Theater am Strand erreicht hatte; dann las er den Zettel und fragte, ob die halben Preise bereits begonnen? »So eben,« lautete die Antwort, und mein Onkel trat ein. Ich nahm gleichfalls ein Billet und folgte. An den offenen Thüren eines Erfrischungszimmers angelangt, trat ich jedoch zuvor in dasselbe und stärkte mich mit etwas Zwieback und Sodawasser. In der nächsten Minute erblickte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Bühne. Aber das Stück hatte keinen Reiz für mich; es war die Mitte eines scherzhaften Nachspiels, rings um mich her tönte schallendes Gelächter. Ich konnte jedoch nichts entdecken, was mich zum Lachen gereizt hätte, und ließ meine Augen in allen Ecken umherschweifen; endlich bemerkte ich in der obersten Reihe ein Gesicht, so finster, wie das meinige. Heuraeka! Es war das des Capitäns! »Warum aber geht er in ein Theater, wenn er so wenig Vergnügen daran findet?« dachte ich. »Hättest Du lieber Deinen Schilling auf ein Cabriolet verwendet, armer alter Mann!«

Bald jedoch sammelten sich geputzte Herrn und noch geputztere Damen in der einsamen Ecke des armen Capitäns. Er wurde unruhig – erhob sich – und verschwand. Ich verließ meinen Platz und blieb vor der Loge stehen, um ihn zu erwarten. Er kam die Treppe herunter – ich zog mich in den Schatten zurück. Nachdem er zweifelnd ein oder zwei Minuten gestanden, trat er keck in das Erfrischungszimmer oder den Salon. Dieser war, seitdem ich ihn verlassen, gedrängt voll geworden, und ich schlüpfte unbemerkt hinein. Es war seltsam und rührend zugleich, den alten Krieger inmitten dieses fröhlichen Schwarms zu beobachten. Er sah über Alle hinweg, gleich einem homerischen Helden um einen Kopf größer, als die Größesten, und seine Erscheinung war so auffallend, daß sie augenblicklich die Aufmerksamkeit der anwesenden Schönen auf sich zog. In meiner Unschuld hielt ich es für das natürliche Mitgefühl dieses liebenswürdigen und scharfblickenden Geschlechts, welches jeden Kummer so schnell entdeckt und ihn zu lindern bemüht ist, was drei Damen in seidenen Kleidern – deren eine einen Federnhut, die beiden andern eine Fülle von Locken trugen – bewog, eine kleine Gruppe von Herrn, mit denen sie sich unterhalten hatten, zu verlassen und sich vor meinem Onkel aufzupflanzen. Ich bahnte mir einen Weg durch das Gedränge, um zu hören, was vorging.

»Sie suchen Jemand, wie ich sehe,« begann die Eine in vertraulichem Tone, während sie ihn mit ihrem Fächer auf den Arm klopfte.

Der Capitän fuhr zusammen. »Sie haben Recht, Madame,« erwiederte er.

»Kann ich Ihnen vielleicht einen Ersatz bieten?« frug ein anderer dieser mitleidigen Engel mit himmlischer Süßigkeit.

»Sie sind sehr gütig. Ich danke Ihnen – nein, nein, Madame,« entgegnete der Capitän mit seiner besten Verbeugung.

»Nehmen Sie ein Glas Glühwein,« sagte die dritte, als ihre Freundin ihr Platz machte. »Sie scheinen müde zu sein, und ich bin es auch. Kommen Sie hierher.«

Mit diesen Worten ergriff sie seinen Arm, um ihn an den Tisch zu führen. Der Capitän schüttelte wehmüthig den Kopf. Dann – als entdecke er plötzlich die Natur der Aufmerksamkeit, die so reichlich an ihn verschwendet wurde – richtete er, ohne in seiner ritterlichen Verehrung gegen das schöne Geschlecht, welche er sogar auf die Verworfensten ausdehnte, die Hand abzuschütteln, einen so milden Blick des Vorwurfs und zartesten Mitleids auf die holden Armiden, daß jedes dreiste Auge beschämt sich senkte. Die Hand wurde scheu und unwillkührlich zurückgezogen, und mein Onkel ging seines Weges.

Er durchschritt die Menge in der Richtung nach einer entlegenen Thüre; seine Absicht errathend, erwartete ich ihn auf der Straße.

»Nun endlich nach Hause – dem Himmel sei Dank!« dachte ich.

Abermals getäuscht! Mein Onkel begab sich jetzt zunächst nach jenem bekannten Schlupfwinkel, der, wie ich später erfuhr, den Namen »Schatten« führt, erschien jedoch bald wieder und klopfte endlich an die Thüre eines Privathauses in einer der Straßen außerhalb St. James. Sie wurde vorsichtig geöffnet und hinter ihm sogleich wieder abgeschlossen. Was mochte dies für ein Haus sein? Während ich harrend stehen blieb, näherten sich einige andere Männer – wieder das leise Klopfen – wieder das vorsichtige Oeffnen der Thüre und das verstohlene Eintreten.

Ein Polizeidiener ging mehrmals an mir vorüber. »Lassen Sie sich nicht versuchen, junger Mann,« sagte er endlich, mich scharf ansehend. »Folgen Sie meinem Rathe und gehen Sie nach Hause.«

»Was ist dies denn für ein Haus?« fragte ich, während eine Art Schauder mich bei dieser bedeutungsvollen Warnung überflog.

»O, Sie wissen es wohl.«

»Nein; ist bin fremd in London.«

»Es ist eine Hölle!« versetzte der Polizeidiener, dem mein offenes Wesen die Ueberzeugung gegeben hatte, daß ich die Wahrheit sprach.

»Gott behüte mich! Eine – was? Ich kann Euch unmöglich recht verstanden haben.«

»Eine Hölle – ein Spielhaus!«

»Oh!« – und ich ging weiter.

Konnte Capitän Roland, dieser strenge, sparsame, karge Mann, ein Spieler sein? Plötzlich ging mir ein Licht auf. Der unglückliche Vater suchte seinen Sohn! Ich lehnte mich an einen Pfosten und bezwang mich, nicht zu schluchzen.

Nach einiger Zeit hörte ich die Thüre aufgehen. Der Capitän kam heraus und trat den Heimweg an. Ich eilte voraus und erreichte in kurzer Zeit unsere Wohnung – zur unaussprechlichen Erleichterung meiner Eltern, welche mich seit dem Frühstück nicht gesehen und sich über mein langes Ausbleiben nicht wenig geängstigt hatten. Ich ließ mich geduldig ausschelten – »Ich war den Merkwürdigkeiten Londons nachgegangen und hatte mich verirrt« –, bat um mein Nachtessen und schlich mich zu Bett. Fünf Minuten später hörte ich den müden Tritt des Capitäns auf der Treppe.



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