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Vierter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Ich hatte stets die Gewohnheit, frühe aufzustehen. Glücklich der Mensch, der dies von sich sagen kann! Jeden Morgen erscheint ihm der Tag mit jungfräulicher Liebe, in rosiger Frische und Reinheit. Die Jugend der Natur ist ansteckend, gleich dem Frohsinn eines glücklichen Kindes. Ich zweifle, ob man Jemand »alt« nennen kann, so lange er frühe aufsteht und seinen Morgenspaziergang macht. Und ach, der Jüngling, welcher in Schlafrock und Pantoffeln bis zum Mittag die Zeit bei seinem Frühstück vertändelt, ist ein trauriges Abbild desjenigen, welcher die Sonne hinter den Bergen erglühen und die Thautropfen auf Blumen und Blüthen erglänzen sieht!

Als ich an meines Vaters Studirzimmer vorüberging, war ich erstaunt, die Fenster geöffnet zu sehen; ich blickte hinein und war noch mehr überrascht, meinen Vater bereits in seine Bücher vertieft zu finden, da er doch sonst seine Studien niemals vor dem Frühstück zu beginnen pflegte. Gelehrte sind in der Regel keine Frühaufsteher, denn, welches auch ihr Alter sein mag, selten sind sie jung! Ja, das große Werk mußte ernstlich fortschreiten; es war kein Spielen mit Gelehrsamkeit mehrt – hier war Arbeit.

Ich trat durch das Gartenthor auf die Straße. Einige der Bauernhäuser begannen Zeichen wiedererwachten Lebens zu geben; allein die Stunde der Arbeit war noch nicht gekommen, und kein »Guten Morgen, Herr!« begrüßte mich auf dem Wege. Plötzlich wurde ich an einer Wendung, welche mir eine überhängende Buche verborgen hatte, meines Onkels Roland ansichtig.

»Wie, Du hier, Onkel? Schon so früh? Eben schlägt die Glocke fünf Uhr!«

»Nicht später? So bin ich für einen lahmen Mann rüstig ausgeschritten. Es muß nach, hin und zurück, mehr, als zwei Stunden sein.«

»Du warst in ? Doch wohl nicht Geschäfte halber? Du würdest Niemand wach getroffen haben.«

»In Gasthöfen ist immer Jemand wach. Hausknechte schlafen nie! Ich war dort, um mir einen bescheidenen Wagen mit zwei Pferden zu bestellen – ich verlasse Euch heute, Neffe.«

»Ah, Onkel, wir haben Dich beleidigt! Es war meine Thorheit – jenes verwünschte Buch –«

»Pah!«, unterbrach mich mein Onkel rasch. »Mich beleidigt, Junge! Ich trotze Dir!« Und er drückte mir ungestüm die Hand.

»Doch dieser plötzliche Entschluß! Erst gestern, in dem Römerlager, hast Du noch mit meinem Vater einen Ausflug nach Schloß C– verabredet.«

»Verlasse Dich niemals auf einen launischen Mann. Ich muß diesen Abend in London sein.«

»Um morgen wieder zu kommen?«

»Ich weiß nicht, wann dies geschehen wird,« sagte mein Onkel düster und schwieg für einige Augenblicke. Alsdann fuhr er, sich fest auf meinen Arm stützend, fort: »Junger Mann, Du gefällst mir. Ich liebe Deine offene, kecke Stirne, auf welche die Natur selbst geschrieben hat: ›Vertraue mir.‹ Ich liebe diese klaren Augen, die dem Manne männlich in das Angesicht sehen. Wir müssen uns näher kennen lernen –, viel näher. Du mußt mich eines Tages in dem verfallenen Horste Deiner Vorfahren besuchen.«

»Gewiß will ich das! Und dann sollst Du mir den alten Thurm zeigen –«

»Und die Reste der Außenwerke,« rief mein Onkel, seinen Stock schwingend.

»Und den Stammbaum –«

»Ah, und Deines Ur-Ur-Großvaters Rüstung, welche er bei Marston Moor getragen –«

»Ja, und die Erztafel in der Kirche, Onkel.«

»Der Teufel steckt in dem Jungen! Komm' her – komm' her; ich habe gute Lust, Dir den Schädel einzuschlagen, Neffe!«

»Es ist Schade, daß nicht Jemand ein Gleiches an dem Spitzbuben, dem Buchdrucker that, ehe er die Frechheit hatte, uns dadurch zu beschimpfen, daß er Nachkommen hinterließ, Onkel.«

Capitän Roland gab sich große Mühe, ein finsteres Gesicht zu machen; es gelang ihm aber nicht.

»Pah!« sagte er, indem er stehen blieb und eine Prise nahm. »Das Reich der Todten ist weit; weßhalb sollten die Geister uns belästigen?«

»Wir können den Geistern nie entgehen, Onkel. Sie umspuken uns immer und überall. Wir können weder denken noch handeln, ohne daß die Seele irgend eines Verstorbenen uns den Weg weist. Die Todten sterben nie, namentlich seit –«

»Seit was, Junge? Du sprichst gut.«

»Seit unser großer Ahnherr den Bücherdruck einführte,« sagte ich majestätisch.

Mein Onkel pfiff » Malbrouk s'en va-t-en guerre. Marlbrough (bzw. Malbrook) s'en va-t-en guerre (Marlbrough zieht in den Krieg), auch bekannt unter dem Titel Mort et convoi de l'invincible Malbrough (Tod und Beerdigung des unbesieglichen Marlbrough), war eines der populärsten französischen Volkslieder. Es beklagt auf burleske Art den Tod von John Churchill, Erster Herzog von Marlborough (1650–1722), beruht aber auf dem falschen Gerücht dieses Ereignisses nach der Schlacht von Malplaquet 1709, der blutigsten Schlacht des Spanischen Erbfolgekrieges. Das Lied erzählt, wie Marlborough's Gattin, die auf seine Rückkehr wartet, Kunde vom Tod ihres Mannes erhält, und berichtet von seiner Beerdigung und wie eine Nachtigall über seinem Grab gesungen habe. – Die Melodie scheint älter zu sein als der Text, denn sie kommt auch in anderen Liedern vor, so auch in » For He's a Jolly Good Fellow«.«

Ich hatte nicht das Herz, ihn weiter zu quälen.

»Friede!« sagte ich, indem ich mich vorsichtig in den Bereich seines Stockes schlich.

»Nein! Ich warne Dich –«

»Friede! und beschreibe mit mein kleines Bäschen, Deine hübsche Tochter – denn hübsch ist sie ganz gewiß.«

»Friede,« entgegnete mein Onkel lächelnd. »Doch Du mußt kommen und selbst urtheilen.«

Zweites Kapitel.

Onkel Roland hatte uns verlassen. Vor seiner Abreise, war er eine Stunde mit meinem Vater eingeschlossen gewesen, der ihn alsdann nach dem Thore begleitete; wir waren Alle um ihn versammelt, als er in den Wagen stieg. Nach der Entfernung des Capitäns suchte ich meinen Vater über den Grund einer so plötzlichen Abreise auszuforschen, allein dieser blieb unzugänglich in allem, was die Geheimnisse seines Bruders betraf. Ob ihm der Capitän die Ursache seiner Unzufriedenheit mit seinem Sohn vertraut hatte, oder nicht – ein Geheimniß, das mich sehr beschäftigte – mein Vater verhielt sich stets stumm darüber, sowohl gegen meine Mutter, als gegen mich. Während der folgenden zwei oder drei Tage zeigte übrigens Mr. Caxton eine sehr augenfällige Unruhe; er vernachlässigte sogar das große Werk und ging viel allein, oder nur von der Ente begleitet, spazieren, ohne ein Buch in der Hand. Nach und nach kehrte jedoch die Gewohnheit des Gelehrten zurück; meine Mutter schnitt ihm seine Federn, und das Werk machte Fortschritte.

Ich für meinen Theil war mir in jener Zeit ziemlich viel selbst überlassen, hauptsächlich während der Vormittage, und begann nun rastlos über meine Zukunft nachzudenken. So undenkbar es scheinen mag – das Glück der Heimath hatte aufgehört, mich zu befriedigen. Ich hörte von ferne die brausenden Wogen der großen Welt und wanderte ungeduldig an ihren Gestaden hin und her.

Eines Abends endlich entsprach mein Vater nach einigem Räuspern und mit einer ungekünstelten Röthe auf seiner klaren Stirne meiner oft an ihn ergangenen Bitte, mir einige Abschnitte aus dem großen Werke vorzulesen. Ich kann die Gefühle nicht aussprechen, welche dadurch in mir hervorgerufen wurden – am liebsten möchte ich sie einer Art heiliger Ehrfurcht vergleichen. Die Anlage des Buches war so unabsehbar, und die Ausführung setzte eine so umfassende Gelehrsamkeit nach allen Richtungen hin voraus, daß es mir vorkam, als thue sich eine neue Welt vor mir auf, welche immer zu meinen Füßen gelegen hatte, durch meine eigene menschliche Blindheit aber mir bisher verborgen geblieben war. Die unsägliche Geduld, mit welcher alle diese Materialien Jahr um Jahr gesammelt worden – die Leichtigkeit, mit der sie nun durch die ruhige Macht des Genius von selbst in ein System zu fallen und harmonisch sich aneinander anzureihen schienen – die arglose Bescheidenheit, mit welcher der Gelehrte die Schätze eines arbeitsamen Lebens entfaltete – alles vereinigte sich, um mir meinen eigenen rastlosen Ehrgeiz zum Vorwurf zu machen, während es mich mit einem gerechten Stolz auf meinen Vater erfüllte, der meiner verwundeten Eigenliebe den Schmerz ersparte.

Hier war in der That eines jener Bücher, welche ein ganzes Dasein in sich fassen – gleich Bayle's Wörterbuch Pierre Bayle (1647-1706), frz. Philosoph der Aufklärung; » Dictionnaire historique et critique« (1697) ist sein wichtigstes Werk., Gibbon's Geschichte Edward Gibbon (1737-1794), einer der bedeutendsten britischen Historiker in der Zeit der Aufklärung. The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (6 Bde, 1776-1788) ist sein Hauptwerk., oder Clinton's Fasti Hellenici Fasti hellenici: the civil and literary chronology of Greece (1834-1841) von Henry Fynes Clinton ( 1781-1852). Das Werk ist von hoher Bedeutung wegen seiner methodischen Korrektur der Chronologie in der altgriechischen Geschichte. – ein Buch, zu welchem Tausende von Büchern beigetragen hatten, nur, um die Originalität des einzelnen Geistes kühner und klarer hervortreten zu lassen. Die goldenen Gefäße aller Jahrhunderte waren in den Schmelzofen gebracht worden, aus der Form aber kam eine neue Münze hervor, gestempelt mit ihrem eigenthümlichen Gepräge, und zum Glück hinderte der Gegenstand des Werkes den Verfasser nicht, seiner ihm eigenen naiven, humoristischen Ironie – so ruhig, und doch so tief – Raum zu geben. Meines Vaters Buch war die »Geschichte des menschlichen Irrthums« somit eine Sittengeschichte unseres Geschlechts, vorgetragen mit Ernst und Wahrheit, allein, auch mit einem schalkhaften, nicht bösartigen Lächeln. Bisweilen rief dieses Lächeln wohl auch Thränen hervor, allein in allem echten Humor liegt der Keim des Pathetischen. O, bei der Göttin Moria oder Thorheit, wie war er zu Hause in seinem Thema! Er betrachtete den Menschen zuerst im Zustande der Wildheit und zog dabei die bestimmten Berichte neuerer Reisenden den unsichern Mythen des Alterthums und den Träumen der Philosophen über unsern ursprünglichen Zustand vor. Ungekünstelte Lebensbilder aus Abyssinien und Australien entwarf er mit einer Lebhaftigkeit, als ob er sein ganzes Leben unter Buschmännern und Wilden zugebracht hätte. Dann setzte er über das atlantische Weltmeer und zeichnete den Kampf um die Civilisation, aus welchem die edle Natur des amerikanischen Indianers eben siegreich hervorzugehen begann, als Freund Penn ihn um sein Geburtsrecht betrog, und der Angelsachse ihn zurückdrängte in die Finsterniß. Er zeigte die Aehnlichkeit sowohl, als auch den Gegensatz zwischen dieser und andern Spielarten unseres Geschlechts, ebenso weit entfernt von den äußersten Grenzen des wilden Zustandes, wie der Cultur – der Araber in seinem Zelt, der Teutone in seinen Wäldern, der Grönländer in seinem Boot, der Finne in seinem Rennthierschlitten, Vor unsern Augen erstehen die rohen Götter des Nordens und der wiedererweckte Druidismus, von seinem früheren tempellosen Glauben zu der späteren Verderbniß des Götzendienstes übergehend; ihnen zur Seite der Saturn der Phönizier, der mystische Budh der Indianer, die Elementargottheiten der Pelasger, Naith und Serapis Egyptens, der Ormuzd der Perser, der Bel von Babylon und die geflügelten Genien des unmuthigen Etruriens. Wie Natur und Leben der Religion Form und Gestalt gaben; wie die Religion die Sitten umwandelte; wie und durch welche Einflüsse manche Stämme für den Fortschritt reiften, während andere bestimmt waren, stehen zu bleiben, durch den Bruderkrieg verschlungen oder in Knechtschaft geführt zu werden – alles dies war mit einer Genauigkeit ausgeführt, so klar und überzeugend, wie die Stimme des Schicksals. Nicht nur als Alterthumsforscher und Sprachenkundiger, sondern auch als Anatomist und Philosoph behandelte und prüfte mein Vater auch nach diesen Richtungen hin die verschiedenen Ansichten, welche auf die Unterschiede der Racen sich bezogen. Er zeigte, wie sie durch Vermischung bis auf einen gewissen Grad der Vollkommenheit erhoben werden können, wie eben die vermischten Racen von jeher die intelligentesten gewesen, und wie sie in demselben Verhältniß, in welchem örtliche Zustände und der religiöse Glaube eine Verschmelzung der Stämme gestatteten, in den Verfeinerungen der Civilisation rasche Fortschritte machten. Er folgte der Erhebung und Ausbreitung der Hellenen von ihrer mythischen Wiege in Thessalien an und wies nach, wie Griechenland seine wunderbare Vervollkommnung in Künsten und Wissenschaften, diesen Blüthen der alten Welt, Denjenigen verdankte, welche die Gestade des Meeres bewohnten und sich genöthigt sahen, in Handel und Verkehr mit Fremden zu treten; – wie dagegen Andere, z. B. die Spartaner, welche stets in ihrem Lager sich aufhielten und vor ihren Nachbarn auf der Hut waren, bei dem strengen Festhalten an ihrer dorischen Abkunft weder Künstler, noch Dichter oder Philosophen erzeugten und in die goldene Schatzkammer des Geistes keinen Beitrag lieferten. Dann betrachtete er die alten Stämme der Celten und Cimbern und verglich diejenigen Celten, welche, wie in Wales, den schottischen Hochlanden, der Bretagne und dem wenig verstandenen Irland, ihre alten Charakterzüge und die Reinheit des Blutes bewahrten, mit denen, welche nach erfolgter Vermischung mit andern Stämmen von Paris aus über die Sitten und Revolutionen der Welt gebieten. Den Normannen in seiner alten skandinavischen Heimath verglich er mit jenem Wunder von Intelligenz und Ritterlichkeit, zu dem er sich bildete, als allmählig das Blut der Franken, Gothen und Angelsachsen sich mit dem seinigen vermischte, den Sachsen, welcher in dem Lande des Horsa an der Scholle klebt, mit dem Colonisten, der den Erdball civilisirt, nachdem er – wer weiß, aus welchen Kanälen, französischen, flämischen, dänischen, welschen, schottischen und irischen – sanguinischere Elemente in sich aufgenommen hat. Und aus allen diesen Betrachtungen, denen ich nur flüchtig und spärlich Gerechtigkeit widerfahren lasse, gelangte er zu der gesegneten Wahrheit, welche auch in das Land des Kaffern und in die Hütte des Buschmanns Trost und Hoffnung bringt, daß weder der platte Schädel, noch die schwarze Haut in Widerspruch mit dem göttlichen Gesetz der Vervollkommnung trete, und daß nach demselben Princip, welches den Hund – im wilden Zustande das niedrigste der Thiere – durch Vermischung der Racen zu dem edelsten nach dem Menschen umwandelt, die Verworfensten unter der Menschheit, welchen jetzt nur unser Mitleid oder unsere Verachtung zu Theil wird, zu Nationen voll Majestät und Macht erhoben werden können. Wenn aber mein Vater in das Mark seines Themas gerieth; – wenn er diese einleitenden Betrachtungen verließ und auf das Gebiet der sogenannten Weisheit der Weisen überging; – wenn er auf die Civilisation selbst mit ihren Schulen, Säulenhallen und Akademien zu sprechen kam; – wenn er die Thorheiten blosstellte, welche unter den Collegien der Aegypter und den Symposien der Griechen verborgen waren; – wenn er nachwies, daß die Griechen selbst in ihrem Lieblingsstudium, der Metaphysik, nur Kinder, und die Römer auf ihrem praktischeren Gebiete, der Politik, bloß Träumer und Stümper waren; – wenn er, den Strom des Irrthums durch spätere Perioden verfolgend, die Knabenhaftigkeit des Agrippa Marcus Vipsanius Agrippa (um 64-12 v.u.Z.), bedeutender römischer Feldherr und Politiker, Freund und Schwiegersohn des Augustus sowie Vorfahr der Kaiser Caligula und Nero. und die Unreife des Cardan Gerolamo Cardano (1501-1576), ital. Arzt, Philosoph und Mathematiker; Humanist der Renaissance. berührte, um sodann mit seinem ruhigen Lächeln in die Salons der plauderhaften Pariser Witzlinge des achtzehnten Jahrhunderts einzutreten – o, dann war seine Ironie die eines Lucian Lukian von Samosata (um120-180), griechischsprachiger Satiriker der Antike., gemildert durch den edlen Geist eines Erasmus Desiderius Erasmus von Rotterdam (um 1466-1536), bedeutender niederländischer Gelehrter des Renaissance-Humanismus.. Denn nicht einmal hier streifte sein Spott an die höhnische Kälte der mephistophelischen Schule. Aus dieser Darstellung des Irrthums leitete er die großartigen Aeren der Wahrheit ab. Er zeigte, daß ernste Männer nie vergeblich denken, selbst, wenn ihre Gedanken auf Irrthümern beruhen. Er bewies, wie der menschliche Geist im weiten Zeitenkreise Jahrhundert um Jahrhundert fortschreitet – gleich dem Ocean hier zurückweichend und dort vorrückend; wie von den Spekulationen der Griechen alle wahre Philosophie ausging; wie sich aus den Staatseinrichtungen der Römer alle dauernden Regierungssysteme entwickelten; wie den kräftigen Thorheiten des Nordens das glorreiche Ritterthum, das zarte Ehrgefühl unserer Periode und der veredelnde Einfluß des Weibes entstammte. Er führte die Ahnenschaft unserer Sidney Algernon Sidney (1623-83), englischer Politiker und politischer Philosoph; Gegner Karls II. von England; beeinflusste mit seinem Opus Betrachtungen über Regierungsformen neben John Locke die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die amerikanische Verfassung. und Bayard Pierre du Terrail, Chevalier de Bayard (um 1476-1524), französischer Feldherr; genannt »der Ritter ohne Furcht und Tadel«. bis auf die Hengist Hengest (oder Hengist), legendäre Gestalt des 5. Jh, angeblicher Führer der angelsächsischen Invasion (Südost-)Britanniens., Gänserich §§ Geiserich (389-477), Vandalenkönig, Gründer des Vandalenreiches im römischen Africa. und Attila zurück. Voll seltsamer, geistreicher Anekdoten und origineller Erläuterungen und reich an jenen Feinheiten des Wissens, welche nur einem durchaus rein und edel ausgebildeten Geschmack entquellen, unterhielt das Buch, indem es zugleich eine eigenthümliche Anziehungskraft, einen hohen Reiz ausübte. Die Gelehrsamkeit verlor ihr pedantisches Gewand bald in der Einfachheit eines Montaigne Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592), frz. Jurist, Politiker, Philosoph und Begründer der Essayistik., bald in dem Scharfsinn eines La Bruyère Jean de La Bruyère (1645-1696), frz. Schriftsteller, Moralist.. Mein Vater lebte in jeder Zeit, welche er schilderte, und ebenso lebte jede Zeit in ihm wieder auf. Ah, welch' ein Romanschreiber hätte er werden können, wenn – wenn was? Wenn er in Betreff der Leidenschaften der Menschen ebenso traurige Erfahrungen gemacht hätte, als er eine glückliche Anschauung ihrer Wunderlichkeiten besaß. Doch, wer den Wiederschein des Ufers im Wasserspiegel sehen will, muß den Fluß, nicht das Meer dazu wählen. Der schmale Strom gibt den knorrigen Baum, die grasende Herde, den Dorfkirchthurm, die ganze Romantik der Landschaft wieder, während die See nur den gewaltigen Umriß der Hüfte und, die Lichter des ewigen Himmels zurückstrahlt.


Drittes Kapitel.

Es verhält sich wie ein Palast zu einer Nußschale,« bemerkte Onkel Jack.

»Sind die Wahrscheinlichkeiten zu Gunsten des Ruhms, dem Fehlschlagen gegenüber, so groß? Ich fürchte, Du sprichst nicht aus Erfahrung, Bruder Jack,« erwiederte mein Vater, indem er sich niederbeugte, um die Ente hinter dem linken Ohr zu kratzen.

»Aber Jack Tibbets ist nicht Austin Caxton, Jack Tibbets ist kein Gelehrter, kein Genie, kein –«

»Halt!« rief mein Vater.

»Obgleich ich kein Freund von Schmeicheleien bin,« begann Mr. Squills, »so muß ich doch sagen, daß Mr. Tibbets im Grunde nicht so Unrecht hat.«

»Der Abschnitt in Ihrem Buche, welcher die crania oder Schädel der verschiedenen Racen vergleicht, ist ausgezeichnet. Lawrence s. Anm. 61. oder Dr. Prichard James Cowles Prichard (1786-1848), engl. Arzt und Ethnologie. Sein Hauptwerk Researches into the Physical History of Man erschien ab 1813. hätte den Gegenstand nicht schöner behandeln können. Ein solches Buch darf der Welt nicht verloren gehen, und ich stimme mit Mr. Tibbets überein, daß Sie es so bald als möglich, drucken lassen sollten.«

»Es ist zweierlei, ein Buch zu schreiben und dasselbe drucken zu lassen,« erwiederte mein Vater unschlüssig. »Wenn man sich all' der großen Männer erinnert, welche ihre Werke herausgegeben, wenn man bedenkt, man wolle sich kühn eindrängen in die Gesellschaft eines Aristoteles, eines Bacon Francis Bacon (1561-1626), engl. Philosoph, Staatsmann; Wegbereiter des Empirismus., eines Locke John Locke (1632-1704), einflussreicher englischer Philosoph und Vordenker der Aufklärung., eines Herder Johann Gottfried Herder (1744-1803), deutscher Dichter, Übersetzer, Theologe sowie Geschichts- und Kultur-Philosoph der Weimarer Klassik; einer der einflussreichsten Schriftsteller und Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung. – in die Gesellschaft jener ernsten Philosophen, welche mit gedankenschwerer Stirne die Natur erforschten, so mag man wohl zaudern und –«

»Pah!« unterbrach ihn Onkel Jack; »die Wissenschaft ist kein Club, sondern ein Ocean, der dem Boote so gut, als der Fregatte offen steht. Der Eine befährt ihn mit einer Fracht edler Metalle, der Andere bringt eine Ladung Häringe nach Hause. Wer kann das Meer ausschöpfen?? wer zu dem Geiste sagen, die Tiefen der Philosophie sind bereits ergründet?«

»Bewunderungswürdig!« rief Squills.

»So ist es in der That Euer Rath, meine Freunde,« sagte mein Vater, auf den Onkel Jacks beredte Worte Eindruck gemacht zu haben schienen, »daß ich meinen Hausgöttern untreu werden und nach London ziehen soll, um, da meine eigene Bibliothek meinen Bedürfnissen nicht mehr entspricht, eine Wohnung in der Nähe des britischen Museums zu nehmen und wenigstens den ersten Theil sogleich zu beendigen?«

»Es ist eine Pflicht, welche Du dem Vaterlande schuldest,« versetzte Onkel Jack feierlich.

»Und sich selbst,« drängte Squills; »Man muß die natürlichen Entleerungen des Gehirns unterstützen. Ja, Sie mögen lächeln, Herr, allein ich habe die Bemerkung gemacht, daß, wenn ein Mensch viel in seinem Kopfe hat, er einen Ausweg dafür suchen muß oder es macht ihm Beschwerden und bringt sein ganzes System in Verwirrung. Die Zerstreutheit geht allmählig in Betäubung über, und die Last des Druckes greift die Nerven an. Ich möchte sogar nicht dafür stehen, daß nicht ein Schlagfluß das Ende sein könnte.«

»Ach, Austin!« rief meine Mutter zärtlich und schlang ihren Arm um meines Vaters Hals.

»Ergieb Dich, Vater, Du bist besiegt,« sagte ich.

»Und was soll aus Dir werden, Sisty?« frug mein Vater.»Willst Du mit uns gehen und in den Zerstreuungen von London Dich für die Universität vorbereiten?«

»Onkel Roland hat mich in sein Schloß eingeladen, und in der Zwischenzeit will ich hier bleiben, tüchtig arbeiten und für die Ente sorgen.«

»Ganz allein?« frug meine Mutter.

»Nein – nicht allein! Ich hoffe doch, Onkel Jack wird so oft, wie sonst, hierherkommen.«

Onkel Jack schüttelte den Kopf. »Nein, mein Junge – ich muß mit Deinem Vater nach London. Du verstehst diese Dinge nicht. Ich werde statt seiner die Buchhändler aufsuchen, denn ich weiß, wie diese Herren behandelt sein wollen. Ich werde ferner die literarischen Kreise auf die Erscheinung des Buches aufmerksam machen. Es ist allerdings ein Opfer, das ich bringe – meine Zeitung wird darunter leiden. Allein die Freundschaft und des Vaterlandes Wohl gehen allen andern Dingen vor!«

»Mein guter Jack!« sagte meine Mutter liebevoll.

»Ich kann dies nicht zugeben,« rief mein Vater. »Du hast ein hübsches Einkommen; es geht Dir gut, wo Du jetzt bist und was die Buchhändler betrifft, so kannst Du, wenn das Werk fertig ist, auf eine Woche nach London kommen und die Angelegenheit mit ihnen in's Reine bringen.«

»Mein lieber, guter Austin,« versetzte Onkel Jack in einem Tone der Ueberlegenheit und des Mitleids, »eine Woche! Das Erscheinen eines Buches, welches Erfolg haben soll, bedarf einer Vorbereitung von Monaten. Pah! ich bin kein Genie, aber ein praktischer Mann und verstehe etwas von der Welt. Laßt mich nur machen.«

Allein mein Vater blieb hartnäckig, und Onkel Jack hörte endlich auf, in ihn zu dringen.

Die Reise nach London und zum Ruhme war somit beschlossen; doch wollte mein Vater nichts davon hören, daß ich zurückbleiben sollte. Nein, Pisistratus mußte mitgehen und die Welt sehen; die Ente konnte für sich selbst sorgen.


Viertes Kapitel.

Wir hatten die Vorsicht gebraucht, unsere Plätze – vier im Ganzen (einen für Mrs. Primmins inbegriffen) – in oder auf der erst kürzlich unter dem Titel »die Sonne« zur besondern Bequemlichkeit der Umgegend gegründeten Familienkutsche schon den Tag vor unserer Abreise zu bestellen.

Dieses Gestirn, welches in einer etwa sieben Meilen von uns entfernten Stadt aufging, beschrieb zuerst eine sehr eratische Linie durch die benachbarten Dörfer, ehe es in die Hochstraße des Lichts einbog und nun seinen Weg Angesichts der Menschheit mit der majestätischen Geschwindigkeit von sechs und einer halben Meile in einer Stunde fortsetzte. Wir erwarteten die Ankunft des himmlischen Gastes am Gartenthor – mein Vater die Taschen mit Büchern gefüllt und einen Quartband Quart ist ein altes Buchformat; mit einer Rückenhöhe von ca. 23 bis 26 cm ist ein entsprechender Band schon ziemlich wuchtig (»leichte Reiselektüre«!). von »Gebelin's Urwelt« Antoine Court, der sich selbst Antoine Court de Gébelin nannte (1725-84), frz. hugenottischer Pastor und Theologe; von Le Monde primitif, analysé et comparé avec le monde moderne erschienen von 1773 bis 1782 neun Bände (das Werk war auf 30 Bände angelegt). als leichte Reiselectüre unter dem Arm, meine Mutter mit einem Körbchen voll selbstbereiteter Zwiebackschnitten und Sandwiches Mrs. Primmins mit einem für diese Gelegenheit neugekauften Regenschirm und einem Käfig, in welchem sich ein Kanarienvogel befand, der ihr eben so sehr seines Alters und eines von ihr geheilten Pipses, als seines Gesanges wegen theuer war, und meine Wenigkeit. Der Gärtner stand mit einem Schubkarren voll Schachteln und Reisesäcken ein wenig in der Vorhut, und der Bediente, welcher uns nach Auffindung einer Wohnung in die Stadt folgen folgen sollte, hatte sich auf eine nahe Anhöhe begeben, um den Aufgang der erwarteten »Sonne« zu beobachten und uns ihre Ankunft durch ein verabredetes Zeichen mittelst eines an einen Stock befestigten Tuches mitzutheilen.

Das hübsche alte Haus sah aus seinen verlassenen Fenstern traurig auf uns nieder. Die Unordnung vor der Thüre und in der offenen Halle, die vom Backen übrig gebliebenen Heu- und Strohwische, die Körbe und Schachteln, welche untersucht und zurückgewiesen, andere, die mit Schnüren umwickelt und zusammengestellt worden waren, um mit dem Bedienten nachzukommen, endlich die beiden erhitzten und ermüdeten Hausmädchen, welche flüsternd zwischen der Thüre und dem Gartenthore standen und aussahen, als hätten sie eine ganze Woche nicht geschlafen – dies alles verlieh meiner sonst so friedlichen und geordneten Heimath den Charakter pathetischer Verlassenheit und Oede. Der Genius des Hauses schien uns Vorwürfe zu machen. Ich fühlte, die Omina waren gegen uns, und wandte den sehnsüchtigen Blick mit einem Seufzer ab, als die Kutsche in ihrer ganzen Großartigkeit anfuhr. Der Condukteur stieg sogleich auf, um uns in aller Höflichkeit die Mittheilung zu machen, daß nur noch drei Plätze, zwei innen und einer außen, zur Verfügung stünden, indem die übrigen schon vierzehn Tage vor unserer Meldung bestellt worden waren.

Da ich nun wußte, wie unentbehrlich Mrs. Primmins für die Bequemlichkeit meiner verehrten Eltern war, um so mehr, als sie früher in London gelebt hatte und daher dort bekannt sein mußte, so schlug ich vor, sie solle Besitz von dem Außenplatze nehmen, während ich den Weg zu Fuße zurücklegen wolle – eine Reiseart, welche für einen jungen Mann mit kräftigen Gliedern und einem heitern Sinne nicht ohne Reize war. Der ausgestreckte Arm des Condukteurs ließ meiner Mutter wenig Zeit, Einsprache gegen diesen Vorschlag zu erheben, welchem mein Vater durch einen stummen Händedruck seine Zustimmung ertheilte. Ich versprach, in dem Hotel unfern des Strandes Strand ist eine Straße in London. Sie war die historische Verbindung zwischen der City of London und der City of Westminster, die im Mittelalter noch getrennte Siedlungen waren. Der Name Strand stammt aus der altenglischen Sprache und bedeutet ähnlich wie im Deutschen ›Ufer‹ oder ›Flussufer‹. Vor dem Bau des Thames Embankment verlief nämlich die Straße direkt neben der Themse., das von Mr. Squills als besonders anständig und ruhig empfohlen worden war, wieder mit ihnen zusammen zu treffen, winkte meiner guten Mutter, die ihr sanftes Angesicht nicht vom Fenster entfernte, bis der Wagen gleich einem Helden Homer's in einer Wolke dahinsauste, ein letztes Lebewohl zu und kehrte alsdann in das Haus zurück, um in einen kleinen Tornister, den ich in der Rumpelkammer gesehen zu haben mich erinnerte, und der einst meinem Großvater mütterlicher Seits gehört hatte, einige nothwendige Reiseeffecten zu packen. Mit genanntem Tornister auf dem Rücken und einem guten Stock in der Hand trat ich meine Wanderung nach der Hauptstadt so rüstigen Schrittes an, als gelte es nur, das nächste Dorf zu erreichen. Gegen Mittag war ich müde und hungrig und begrüßte daher mit Freuden eines jener am Wege liegenden hübschen Wirthshäuser, wie sie jetzt noch England eigenthümlich sind, aber, Dank den Eisenbahnen, bald zu den vorsündfluthlichen Dingen gehören werden. Ich setzte mich unter einigen beschnittenen Linden an einen Tisch, schnallte meinen Tornister ab und gab mit der Würde eines Menschen, der zum ersten Mal in seinem Leben sein eigenes Mittagessen bestellt und es aus seiner eigenen Tasche bezahlt, die nöthigen Befehle hinsichtlich meines einfachen Mahles.

Während ich eben mit demselben beschäftigt war, kamen zwei Fußgänger des Weges daher, den ich zurückgelegt hatte, blieben stehen, warfen einen gleichzeitigen Blick auf meine Arbeit und nahmen, ohne Zweifel angezogen durch deren Reize, unter denselben Linden an dem anderen Ende des Tisches Platz. Ich betrachtete die neuen Ankömmlinge mit der meinen Jahren natürlichen Neugierde.

Der Aeltere der beiden mochte etwa dreißig Jahre zählen, obschon verschiedene tiefe Linien und die früher blühende, jetzt aber verblichene Gesichtsfarbe, welche auf Erschöpfung, Sorge oder Ausschweifung hindeutete, ihn älter erscheinen ließen, als er wirklich war. Es lag wenig Einnehmendes in seiner Erscheinung. Seine anspruchsvolle Kleidung paßte schlecht für einen Fußreisenden. Sein Rock war knapp anliegend und wattirt; zwei ungeheure, durch eine Kette mit einander verbundene Nadeln zierten eine sehr steife Halsbinde von blauem, mit gelben Sternchen getüpfeltem Atlas; seine Hände steckten in sehr schmutzigen, ehemals strohgelben Handschuhen und spielten mit einem Fischbeinstock, an dessen oberem Ende sich ein so bedeutender Knopf befand, daß man ihn für einen l ife-preserver Der auch als » life-saver« bezeichnete Stocktyp enthielt damals bestimmte technische Raffinessen, die ihn zu einer Waffe machen konnten (als verborgener Degen im Schaft des Stockes, oder als aufspringendes Bajonett bzw. als Morgenstern o.ä. im Knauf). halten konnte. Als er seinen weißem abgetragenen Hut abnahm, um ihn sorgfältig mit dem rechten Aermel abzuwischen, verrieth eine Masse steifer Locken sogleich die menschliche Kunst. Die Perücke ging – wie man dies auf den jugendlichen Porträts Georgs IV. 1820 bis 1830 englischer König. sieht – tief über die Stirne herein und war oben aufgerollt. An Pomade fehlte es ihr nicht, und diese hatte sich mit dem Straßenstaub vermengt, wovon die Spuren auf Stirne und Wangen des Perückenbesitzers zu sehen waren. Im Uebrigen zeigte sein Gesicht einen dreisten, sorglosen Ausdruck, doch nicht ohne eine gewisse Drolligkeit in den Augenwinkeln.

Der jüngere der beiden Männer schien in meinem Alter zu sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, nicht sowohl nach seinem jugendlichen Antlitz, als vielmehr nach seiner gedrungenen, kräftigen Gestalt zu urtheilen. Ersteres konnte trotz seiner Knabenhaftigkeit nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit auch des oberflächlichsten Beobachters auf sich zu ziehen. Es hatte nicht nur die dunkle Farbe, sondern auch den Charakter eines Zigeunergesichtes, mit großen, funkelnden Augen und rabenschwarzen, langen, wallenden, doch nicht gelockten Haaren: die feinen Züge hatten einen adlerartigen Schnitt, und beim Sprechen wurden blendend weiße Zähne, gleich Perlen, sichtbar. Es war unmöglich, die eigenthümliche Schönheit dieses Antlitzes nicht zu bewundern, und doch zeigte sich auf demselben der verstohlene, wilde Ausdruck,welchen der Krieg gegen die Gesellschaft den Gesichtslinien jener Race aufgeprägt hat, an welche es mich erinnerte. Uebrigens war etwas von der Haltung eines Gentleman an dem jungen Wanderer nicht zu verkennen. Sein Anzug bestand aus einer schwarzen Sammtjacke, oder vielmehr einem kurzen Jagdrock, der mit einem breiten Ledergürtel zusammengehalten war, weiten weißen Beinkleidern und einer Fouragirmütze, welche er nachlässig auf den Tisch warf, nährend er sich die Stirne abtrocknete. Ungeduldig und mit einigem Stolz sich von seinem Begleiter abwendend, warf er mir einen scharfen, beobachtenden Blick aus seinen durchbohrenden Augen zu, streckte sich alsdann der Länge nach auf die Bank und schien entweder zu schlummern oder nachzusinnen, bis in Gemäßheit der Befehle seines Gefährten der Tisch mit allen kalten Vorräthen der Speisekammer bedeckt war.

»Ochsenfleisch!« sagte Jener, indem er eine Tombacklorgnette Tombak bezeichnet eine kupferhaltige Messinglegierung, mit der hier das Monokel eingefasst ist. in sein rechtes Auge zwickte.,Ochsenfleisch; – muffig – sieht wie Kuhfleisch aus – hm. Lamm; alt – hart – schöpsich, hm. Pastete; – auch alt – von Kalbfleisch? – nein, Schweinefleisch. Ah, was wollt Ihr haben?«

»Nehmt Euch nur,« entgegnete der junge Mann in mürrischem Tone, während er sich aufrichtete, verächtlich nach den Streifen hinblickte und nach einer langen Pause zuerst die eine, dann die andere derselben unter vielem Achselzucken und halblauten Ausrufen der Unzufriedenheit kostete. Plötzlich sah er auf und verlangte Branntwein, worauf er zu meinem nicht geringen Erstaunen und, wie ich fürchte, zu meiner Bewunderung fast ein halbes Glas voll dieses unverfälschten Giftes mit einer Ruhe trank, welche bewies, daß er daran gewöhnt war.

»Schlimm!« sagte sein Begleiter, indem er sich der Flasche bemächtigte und den Alkohol in sorgfältigem Verhältniß mit Wasser mischte. »Sehr schlimm! Die Magenwandungen sind bald abgenützt mit Hülfe dieser Art von Bürsten. Besser man hält sich an den ›gäschtigen Im Original » yeasty«, also »heftig«. Schaum‹, wie der große Will sagt. Dieser junge Herr gibt Euch ein gutes Beispiel.«

Bei diesen Worten nickte mir der Sprecher vertraulich zu. Trotz meiner Unerfahrenheit vermuthete ich sogleich seine Absicht, mit dem auf diese Weise begrüßten Nachbar eine Bekanntschaft anzuknüpfen, und hatte mich denn auch nicht getäuscht.

»Nichts da, was Euch verführen könnte?« frug er nach einer kurzen Pause und beschrieb dabei mit seinem Messer einen Halbkreis um die Platten.

»Ich danke, Herr. Ich habe schon zu Mittag gegessen.«

»Was thut's? ›Brecht aus zum zweiten unglücksel'gen Rennen‹ Shakespeare, Heinrich V, IV, 3., wie der Schwan empfiehlt – der Schwan von Avon Von Ben Jonson (1572-1637) eingeführter Spitzname Shakespeares., Herr! Nicht? ›So fordr' ich Euch heraus mit diesen, Becher Sekt!‹ Heinrich IV, Teil 1, II, 4. Reist Ihr weit, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, zu fragen?«

»Nach London, wenn ich hinkommen kann.«

»Ah!« sagte der Reisende – während sein junger Gefährte die Augen aufschlug, deren durchdringendes Feuer mir abermals auffiel.

»London ist der beste Ort der Welt für einen jungen Mann von Geist. Wollt das Leben dort sehen – ›des guten Tones und der Mode Spiegel‹ Hamlet, III, 1., Freund vom Theater, Herr?«

»Ich habe noch niemals ein Theater gesehen.«

»Ist's möglich!« rief der Gentleman, indem er den Griff seines Messers sinken ließ und die Spitze in eine horizontale Richtung brachte. »Dann, junger Mann,« setzte er feierlich hinzu, »müßt Ihr – doch ich will nicht sagen, was Ihr sehen müßt. Nein, ich will's nicht sagen, selbst nicht, wenn Ihr diesen Tisch mit goldenen Guineen bedecken und mit dem edelmüthigen Feuer der Jugend ausrufen würdet: ›Mr. Peacock, dies ist Euer, wenn Ihr mir sagt, was ich zu sehen habe‹.«

Ich lachte hell auf – man möge mir die kleine Eitelkeit verzeihen, allein ich hatte in der Schule den Ruf, als lache ich sehr angenehm. Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich jedoch; er schob seinen Teller zurück und seufzte.

»Ei,« fuhr sein Freund fort, »mein Gefährte hier, der, wie ich vermuthe, in Eurem Alter stehen wird, könnte Euch sagen, was das Theater – was das Leben ist. Er hat die Sitten und Gebräuche der Stadt beobachtet, er hat ›den Kaufmann studirt,‹ Komödie der Irrungen, I, 2. wie der Schwan poetisch bemerkt. Ist's nicht so, mein Junge – eh?«

Bei dieser unmittelbaren Anrede blickte der Jüngling auf und erwiederte, während ein verächtliches Lächeln um seine Lippen spielte, – »Ja, ich weiß, was das Leben ist, und ich sage, daß es gleich der Armuth seltsame Schlafkameraden zusammenführt. Fragt mich jetzt, was das Leben sei, und ich werde antworten ein Melodrama – fragt mich zwanzig Jahre später, und ich werde sagen –«

»Eine Posse?« unterbrach ihn sein Begleiter.

»Nein, ein Trauerspiel – oder eine Komödie à la Molière.«

»Wie so?« frug ich, üherrascht und angezogen zugleich von dem Tone, in welchem mein Altersgenosse sprach.

»Wo das Stück mit dem Triumph des witzigsten Spitzbuben endigt. Mein Freund hier hat dazu keine Aussicht!«

»›Lob von Sir Hubert Stanley‹ Redewendung nach A Cure for the Heartache, von Thomas Morton, 1797 in London uraufgeführt; sie bezeichnet eine floskelhafte Anerkennung, der nichts weiter folgt. – In der letzten Szene des letzten Aktes sagt Sir Hubert Stanley zu dem Schneidersohn Rapid: » Mr. Rapid, by asserting your character as a man of honor, in rewarding the affection of this amiable woman, you command my praise; for bestowing happiness on my dear Charles, receive an old man's blessing.« Rapids Antwort lautet: » Approbation from Sir Hubert Stanley is praise indeed.«, hm – ja – Hal Peacock mag witzig sein, aber ein Spitzbube ist er nicht.«

»Das war es nicht gerad, was ich sagen wollte,« erwiederte der Jüngling trocken.

»›Eine Feige für Eure Meinung‹ A fico for the phrase! (Bei Bulwer: for the meaning.) Die lustigen Weiber von Windsor, I, 3., wie der Schwan sagt. Heda – holla, Wirth! Räumt den Tisch ab, bringt frische Gläser – heißes Wasser – Zucker – Zitronen; – und die Flasche ist auch leer! Rauchen, Herr?« – und Mr. Peacock bot mir eine Cigarre an.

Ich lehnte ab, worauf er ein sehr wenig einladendes Exemplar von einer fabelhaften Havanna zwischen seinen Fingern drehte und es sorgfältig benetzte; hierauf biß er das eine Ende ab, steckte das andere an einer kleinen Maschine, welche er aus seiner Tasche hervorzog, in Brand und war bald eifrigst bemüht, die umgebende Atmosphäre zu vergiften, was übrigens durch die in den Blättern hastende Feuchtigkeit ziemlich erschwert wurde. Durch das Beispiel angesteckt, oder vielleicht auch zu seiner Selbstvertheidigung, zog nun der junge Gentleman ein auffallend elegantes Cigarren-Etuis aus seiner Tasche – es war von Sammt und augenscheinlich ein Geschenk aus schöner Hand, denn »Von Julia« war in sehr leserlichen Zügen darauf gestickt – nahm eine Cigarre von besserem Aussehen, als diejenige seines Begleiters heraus, und zeigte sich ebenso vertraut mit dem Taback, wie mit dem Branntwein.

»Spröde, Herr – ein spröder junger Mann das,« bemerkte Mr. Peacock in den kurzen Zwischenräumen, welche ihm der entschlossene Kampf mit seinem nicht einladenden Opfer gestattete »nichts gut genug – (puff puff) – für ihn, als – (pfh, pfh) – Ihre ächte Syl – Syl – Sylva. Ausgegangen, beim Himmel! ›Der Abgrund der Finsterniß hat es verschlungen‹ Ein Sommernachtstraum, I, 1.

Und wieder nahm Mr. Peacock seine Zuflucht zu der Phosphor-Maschine. Diesmal trugen Geduld und Ausdauer den Sieg davon, und das Herz der Cigarre belohnte mit einem trübrothen Funken (die Seiten blieben völlig unberührt) den unermüdlichen Eifer ihres Freiers.

Nachdem diese Heldenthat vollbracht war, rief Mr. Peacock triumphirend: »Und nun, meine jungen Herrn, was sagt Ihr zu einem Kartenspiel? – Wir sind unserer drei – Whist mit dem Strohmann? Nichts Besseres – eh?«

Während er sprach, zog er aus seiner Rocktasche ein rothseidenes Tuch, einen Schlüsselbund, eine Nachtmütze, eine Zahnbürste, ein Stück Rasirseife, vier Stückchen Zucker, die Reste eines Zuckerbrodes, ein Rasirmesser und ein Kartenspiel hervor. Nachdem er das letztere ausgelesen und die übrigen Dinge dem Abgrund, aus dem sie hervorgegangen waren, wieder zurückgegeben hatte, schlug er mit einer raschen Bewegung seines Daumens und Zeigefingers den Treffbuben um, legte ihn oben auf die übrigen Karten und klopfte mit dem ganzen Päckchen nachdrücklich auf den Tisch.

»Ihr seid sehr gütig, allein ich kenne das Whistspiel nicht.«

»Ihr könnt nicht Whist spielen – seid in keinem Theater gewesen – raucht nicht! Nun, so bitte ich Euch, mir zu sagen, junger Mann,« fügte er mit einem majestätischen Stirnrunzeln bei, »was in aller Welt Ihr denn eigentlich könnt?«

Sehr bestürzt über diese unmittelbare Aufforderung und mich meiner Unwissenheit in dem, was Mr. Peacock für die Cardinalpunkte der Bildung hielt, nicht wenig schämend, senkte ich den Kopf und blickte zu Boden.

»Recht so,« nahm Mr. Peacock in wohlwollendem Tone wieder auf; »Ihr habt das unverfälschte Schamgefühl der Jugend. Dies ist viel versprechend, Herr – ›die Demuth ist die Leiter für den erwachenden Ehrgeiz,‹ Julius Caesar, II, 1. wie der Schwan sagt. »Besteigt die erste Sprosse und lernt Whist spielen – der Point sechs Pfennige zum Anfang.«

Trotz meiner Unerfahrenheit im wirklichen Leben war ich doch so glücklich gewesen, einiges über den Weg, welcher vor mir lag, zu 1ernen, und zwar mit Hülfe jener vielgeschmähten Führer – Novellen genannt – die sehr häufig für die innere Welt werden, was Landkarten für die äußere sind. Unterschiedliche Erinnerungen aus »Gil Blas« »Geschichte des Gil Blas« (1715-35), bedeutender Schelmenroman von Alain-René Lesage. und dem »Landprediger von Wakefield« »Der Pfarrer von Wakefield« ( The Vicar of Wakefield, 1766), sehr wirkungsmächtiger Roman aus der Epoche der Empfindsamkeit von Oliver Goldsmith. kamen mir in den Sinn. Ich wünschte nicht, in meinen Beziehungen zu diesem neuen Mr. Jenkinson den ehrenwerthen Moses nachzuahmen, schüttelte daher den Kopf und forderte meine Rechnung. Als ich die von meiner Mutter gestrickte Börse herauszog, deren eines Ende ein Goldstück, das andere verschiedene Silbermünzen enthielt, sah ich, daß Mr. Peacock's Augen blinzelten.

»Geringer Muth, Herr! Geringer Muth, junger Mann! ›Dieser Geiz steckt tief,‹ Macbeth, IV, 3. wie der Schwan so schön bemerkt. ›Nichts wagen, nichts haben‹ Ein konkrete Textstelle dieses Wortlauts (bei Bulwer: Nothing venture, nothing have.) findet sich bei Shakespeare selbst nicht, als Redewendung ist die Formel jedoch seit dem 16. Jh. präsent.

»Nichts haben, nichts wagen,« entgegnete ich, Muth fassend.

»Nichts haben? – Junger Herr, bezweifelt Ihr meine Solidität – mein Kapital – mein ›golden Glück‹ Heinrich IV, Teil 2, V, 3.

»Herr, ich sprach von mir selbst. Ich bin nicht reich genug, um mich mit Spielern einzulassen.«

»Spieler!« rief Mr. Peacock in tugendhafter Entrüstung. »Spieler! was wollt Ihr damit sagen, Herr? Ihr beschimpft mich.«

Er erhob sich drohend und drückte den weißen Hut auf seine Perücke.

»Pah! laßt ihn gehen, Hal,« sagte sein jugendlicher Begleiter verächtlich und fügte alsdann gegen mich gewendet bei: »Wenn er unverschämt wird, so gebt ihm eins.«

»Unverschämt? – mir eins geben?« rief Mr. Peacock mit dunkelrothem Gesicht; als er jedoch den höhnischen Zug um die Lippen seines Gefährten bemerkte, setzte er sich wieder und versank in ein finsteres Schweigen.

Unterdessen hatte ich meine Rechnung bezahlt und mich, nachdem diese Pflicht – selten eine angenehme – erfüllt war, nach meinem Tornister umgesehen. Es befand sich in den Händen des Jüngling, welcher kaltblütig die Adresse las, die ich wegen eines möglichen Unfalls sorgfältig darauf befestigt hatte – Pisistratus Caxton, Esq. Hotel Street, Strand.

Mehr überrascht durch einen solchen Verstoß gegen die gute Sitte von Seiten eines jungen Gentleman, der das Leben so gut kannte, als wenn sich Mr. Peacock einen solchen zu Schulden hätte kommen lassen, nahm ich ihm mein Tornister ab. Er entschuldigte sich nicht, sondern nickte mir ein Lebewohl zu und streckte sich wieder auf der Bank aus. Mr. Peacock, der jetzt in das Legen einer Patience vertieft war, würdigte meinen Abschiedsgruß keiner Erwiederung, und im nächsten Augenblick befand ich mich allein auf der Landstraße. Meine Gedanken weilten noch lange bei dem jungen Mann, den ich eben verlassen, und neben einer instinktartigen, mitleidigen Ahnung, daß solche Gewohnheiten und eine solche Gesellschaft eine schlimme Zukunft nach sich ziehen werden, fühlte ich eine unwillkürliche Bewunderung nicht sowohl für sein hübsches Aeußeres, als vielmehr für seine ruhige Gewandtheit, seine Kühnheit und das sorglose Uebergewicht, welches er seinem so viel älteren Gefährten gegenüber behauptete.

Der Tag war weit vorgerückt, als ich der Thürme einer Stadt ansichtig wurde, in welcher ich die Nacht zuzubringen gedachte. Der Schall eines Posthorns hinter mir veranlaßte mich, rückwärts zu schauen, und als der Wagen an mir vorüber fuhr, bemerkte ich auf einem Außenplatz Mr. Peacock, der noch immer mit seiner Cigarre kämpfte –, es konnte doch wohl kaum mehr die nämliche sein – und seinen jungen Freund, auf dem Dach unter dem Gepäck ausgestreckt, den schönen Kopf auf die Hand gestützt und augenscheinlich weder mich, noch sonst Jemand beachtend.


Fünftes Kapitel.

Ich bin geneigt – und zwar in Folge meiner eigenen Erfahrung – die Aussichten eines jungen Mannes auf praktischen Erfolg im Leben nach zwei, auf den ersten Blick sehr gewöhnlich scheinenden Eigenschaften zu bemessen – nämlich nach seiner Wißbegierde und seiner animalischen Lebhaftigkeit. Eine Neugierde, welche sogleich und eifrig alles Neue untersucht – eine an Rastlosigkeit streifende Regsamkeit, welche körperlicher Ermüdung selten gestattet, einem in's Auge gefaßten Ziele hindernd in den Weg zu treten – diese beiden Eigenschaften bilden meiner Ansicht nach einen sehr hoffnungsvollen Grundstock, um damit in der Welt einen Anfang zu machen.

Nachdem ich mich gewaschen und in dem kleinen Kaffeezimmer des Wirthshauses, in dem ich Quartier genommen, mit dem besten Getränke des Fußgängers, dem bekannten und oft geschmähten Thee, erfrischt hatte, konnte ich trotz meiner Müdigkeit der Verlockung nicht widerstehen, in die breite, hellerleuchtete, geräuschvolle Straße hinaus zu treten, in welche ich durch die trüben Fenster des Kaffeezimmers geblickt hatte. Ich war nie zuvor in einer großen Stadt gewesen, und der Gegensatz zwischen einer von Gaslampen erhellten, geschäftigen Nacht in den Straßen und der stillen, dunkeln Nacht in Feld und Wiese machte einen tiefen Eindruck auf mich.

So schlenderte ich denn, von Anderen gestoßen und selbst wieder stoßend, draußen umher, und betrachtete bald die Ladenfenster, bald ließ ich mich wieder von der Fluth des Lebens mit fortreißen, bis ich endlich vor einer Speisewirthschaft stand, um welche sich ein Häuflein Männer, Weiber und hungriger Kinder versammelt hatte. Während ich diese Gruppe beobachtete und verwunderte Betrachtungen darüber anstellte, daß die Hauptsorge der Mehrzahl der Menschen darin zu bestehen scheine, wie, wann und wo sie essen sollen, schlugen die Worte an mein Ohr – »›In Troja ist der Schauplatz‹ Troilus und Cressida, I, Prolog., wie der herrliche Will bemerkt.«

Ich sah mich um und erblickte Mr. Peacock, der mit seinem Stock nach einer offenen Thüre neben der Speisewirthschaft deutete; die Halle jenseits war mit Gas beleuchtet, und auf einer Glasscheibe über dem Eingang las man in schwarzen Buchstaben das Wort »Billard«

Die That dem Worte folgen lassend, trat der Sprecher unverweilt durch die Thüre und verschwand. Sein jugendlicher Begleiter folgte ihm langsam nach, als sein Auge meiner ansichtig wurde. Ein leichtes Roth überflog seine dunkeln Wangen; er blieb stehen, lehnte sich an einen Thürpfosten und sah mich fest und lange an, ehe er sagte: »Willkommen, Herr, zum zweiten Mal. Ihr findet es wohl schwer, Euch an diesem langweiligen Ort zu unterhalten; die Nächte sind lang außerhalb Londons.«

»O,« entgegnete ich unschuldig, »mich unterhält hier alles – die Lichter, die Läden, die Menschenmenge; aber freilich ist mir auch alles neu.«

Der Jüngling verließ den Thürpfosten und ging einige Schritte weiter, als wolle er mich einladen, mit ihm zu gehen, während er mit Bitterkeit erwiederte: »Eines wenigstens kann Euch nicht neu sein; es ist eine alte Wahrheit, die wir lernen, ehe wir die Kinderstube verlassen – ›Was immer des Besitzes werth ist, muß gekauft werden;‹ wer daher nicht kaufen kann, hat nichts, was sich zu haben verlohnt.«

»Ich glaube nicht,« war meine sehr weise Antwort, »daß die Dinge, welche am meisten des Besitzes werth sind, überhaupt gekauft werden können. Ihr seht z. B. jenen armen, wassersüchtigen Juwelier vor seiner Ladenthüre stehen – sein Laden ist der schönste in der Straße – und ich wette, er würde ihn gerne Euch oder mir abtreten gegen unsere gute Gesundheit und unsere kräftigen Glieder. O nein, ich theile die Ansicht meines Vaters – ›Was des Besitzes werth, ist Allen verliehen,‹ nämlich Natur und Arbeit.«

»Euer Vater sagt das, und Ihr glaubt seinen Worten! Natürlich haben alle Väter diese und noch viele andere gute Lehren gepredigt, seit Adam seinem Sohne Kain predigte. Es scheint mir jedoch nicht, als hätten die Väter sehr gläubige Zuhörer in ihren Söhnen gefunden.«

»Um so schlimmer für die Söhne,« erwiederte ich nicht eben höflich.

»Die Natur,« fuhr mein neuer Bekannter fort, ohne auf meine letzten Worte zu achten – »die Natur gibt uns allerdings viel, und sie selbst weist uns auch an, wie wir ihre Gaben benützen sollen. Verleiht sie Euch die Liebhaberei, Euch abzuplacken, so werdet Ihr Euer Lebenlang ein Joch ziehen; legt sie mir den Ehrgeiz in's Herz, mich empor zu schwingen, und läßt mich die Arbeit verachten, so gelingt mir vielleicht das erstere – arbeiten aber werde ich jedenfalls nicht.«

»O,« sagte ich, »so theilt Ihr vermuthlich Mr. Squills Ansicht, daß wir Alle von den Beulen an unserer Stirne geleitet werden?«

»Und von dem Blut in unsern Adern und von der Milch, die wir von unserer Mutter eingesogen. Wir erben noch andere Dinge, als die Gicht und die Schwindsucht. Ihr thut also immer, was Euer Vater Euch sagt? Guter Junge!«

Ich war beleidigt. Weßhalb wir uns schämen, wenn man uns um des Guten willen verspottet, war mir immer unbegreiflich; ich fühlte mich jedoch entschieden gedemüthigt. Doch erwiederte ich mit Festigkeit – »Wenn Ihr einen so guten Vater hättet, wie ich, so würdet Ihr es nicht so außerordentlich finden, daß ich thue, was er sagt.«

»Ah! So ist er also ein sehr guter Vater! Er muß großes Vertrauen in Eure Standhaftigkeit und Besonnenheit setzen, daß er Euch so in der Welt umher wandern läßt.«

»Ich treffe in London wieder mit ihm zusammen.«

»In London! Ah, wohnt er dort?«

»Er wird sich einige Zeit dort aufhalten.«

»Dann treffen auch wir vielleicht wieder zusammen. Ich gehe ebenfalls nach London.«

»O, so werden wir gewiß dort wieder zusammentreffen!« sagte ich mit unverhohlener Freude, denn mein Interesse für den jungen Mann hatte sich durch seine Reden nicht vermindert, so wenig mir auch die darin ausgedrückten Gesinnungen gefielen.

Der Jüngling lachte – ein eigenthümliches Lachen, leise und wohltönend, aber erkünstelt, nicht wohlthuend.

»Gewiß wieder zusammentreffen! London ist groß – wo wird man Euch finden können?«

Ich gab ihm ohne Bedenken die Adresse des Gasthofes, in welchem ich meinen Vater zu finden hoffte, obgleich seine genaue Besichtigung meines Tornisters ihn bereits über jene Adresse belehrt haben mußte. Er hörte aufmerksam zu und wiederholte meine Worte zweimal, als wolle er sie seinem Gedächtniß einprägen; dann gingen wir schweigend weiter, bis wir, in einem schmalen Durchgang einbiegend, uns plötzlich in einem großen Kirchhof befanden; dieser grenzte an den Marktplatz, und dorthin führte ein mit Fliesensteinen belegter Pfad quer durch den Kirchhof. Auf einem der Grabsteine saß ein junger Savoyarde Savoyen war ein französisch-italienisches Gebiet, des Herrschaftszentrum in Turin lag. Es erstreckte sich um 1840 zwischen Nizza und der Schweiz., seine Drehorgel – oder wie man sonst sein Instrument nennen mochte – auf dem Schooße; er kaute an einer Brodrinde, und fütterte einige kleine weiße Mäuschen, welche mit ihren Hinterbeinen auf der Drehorgel standen, und war dabei so wohlgemuth, als hätte er sich den fröhlichsten Ruheplatz von der Welt ausgesucht.

Wir blieben beide stehen. Als der Savoyarde unserer ansichtig wurde, drehte er den schelmischen Kopf auf die Seite, zeigte alle seine weißen Zähne in jenem, seiner Race eigenthümlichen, glücklichen Lächeln, welches das Betteln der Armuth so wenig bitter erscheinen läßt, und setzte die Handhabe seines Instrumentes in Bewegung.

»Armes Kind!« sagte ich.

»Aha, Ihr bemitleidet ihn! Doch weßhalb? Nach Eurer Regel, Mr. Caxton, ist er nicht so sehr zu beklagen; der wassersüchtige Juwelier würde ihm für seine gesunden Glieder eben so viel geben, als für die unsrigen! Wie kömmt es – antwortet mir, Sohn eines so weisen Vaters – daß Niemand den wassersüchtigen Juwelier beklagt, und Alles Mitleid mit dem gesunden Savoyarden hat? Der Grund, Herr, liegt in der ernsten Wahrheit, welche lauter spricht, als alle spartanischen Lehren, – daß die Armuth das Grundübel der Welt ist. Blickt um Euch – läßt die Armuth ihre Spuren über den Gräbern zurück? Betrachtet diesen großen, umzäunten Grabstein und lest die lange Inschrift: – ›Tugenden‹ – ›Bester der Gatten‹ – ›liebevoller Vater‹ – ›untröstlicher Schmerz‹ – ›schläft in der seligen Hoffnung,‹ u. s. w. Meint Ihr, jene steinlosen Grabhügel bergen nicht den Staub von einst eben so guten Menschen? Aber keine Grabschrift erzählt von ihren Tugenden, schildert den Schmerz ihrer Wittwen oder verspricht ihnen selige Hoffnung!«

»Was liegt daran? Fragt Gott nach Grabschriften und Monumenten?«

» Datemi qualche cosa! Gebt mir etwas!« sagte der Savoyarde in seinem rührenden Patois und streckte, noch immer lächelnd, seine Hand aus.

Ich ließ eine kleine Münze hineinfallen, worauf der Knabe seine Dankbarkeit durch erneuertes Drehen seiner Orgel bezeugte.

»Das ist keine Arbeit,« bemerkte mein Begleiter, »und hättet Ihr ihn bei irgend einer Beschäftigung angetroffen, so würdet Ihr ihm nichts gegeben haben. Auch ich habe mein Instrument zu spielen und nach meinen Mäusen zu sehen. Lebt wohl!«

Er winkte mir mit der Hand und schritt unehrerbietig über die Gräber zurück, in der Richtung, in der wir gekommen waren.

Ich blieb vor dem schönen Denkmal mit der langen Inschrift stehen; der Savoyarde sah mich aufmerksam an.


Sechstes Kapitel.

Der Savoyarde sah mich aufmerksam an. Ich wünschte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen – dies war jedoch nicht leicht. Indeß begann ich: –

Pisistratus. – »Du mußt oft hungrig genug sein, armer Junge. Nähren Dich denn Deine Mäuse?«

Savoyarde senkt den Kopf auf die Seite, schüttelt ihn und streichelt die Thierchen.

Pisistratus. – »Du liebst wohl die Mäuse sehr; ich fürchte, sie sind Deine einzigen Freunde.«

Savoyarde, der augenscheinlich Pisistratus versteht, reibt sein Gesicht sanft gegen die Mäuse, setzt sie alsdann auf ein Grab nieder und beginnt wieder, die Orgel zu drehen. Die Mäuse spielen sorglos auf dem Grabe.

Pisistratus deutet zuerst auf die Thierchen, dann auf das Instrument. – »Was liebst Du mehr, die Mäuse oder die Orgel?«

Savoyarde zeigt seine Zähne – besinnt sich – streckt sich auf dem Grase aus – spielt mit den-Mäusen – und antwortet mit geläufiger Zunge.

Pisistratus versteht mit Hülfe seines Lateinischen, daß der Savoyarde sagt, die Mäuse seien lebendig, die Drehorgel aber nicht. – »Ja, ein lebendiger Freund ist besser, als ein todter. Und die Orgel ist todt!«

Savoyarde schüttelt ungestüm den Kopf. – » Nô – nô! Eccelenza, non a mortè!« Hierauf beginnt er eine lebhafte Weise auf dem geschmähten Instrument; sein Gesicht klärt sich auf, er sieht wieder glücklich aus. Die Mäuse schlupfen vom Grabe aus in seine Brusttasche.

Pisistratus ist gerührt und frägt ihn in lateinischer Sprache, ob er einen Vater habe?

Savoyarde (mit umwölktem Gesicht). – » Nô – Eccellenza!« Nach einer kleinen Pause aber sagt er schnell: » Si – si!« spielt eine feierliche Melodie auf seiner Orgel – hält inne – stützt die eine Hand auf das Instrument und weist mit der andern gen Himmel.

Pisistratus versteht ihn. Der Vater ist, wie die Drehorgel, zu gleicher Zeit todt und lebendig. Die bloße Maschine ist etwas Todtes, aber die Musik lebt. Pisistratus läßt abermals eine kleine Silbermünze auf den Boden gleiten und wendet sich weg

Gott segne Dich und helfe Dir, kleiner Savoyarde! Pisistratus verdankt Dir sehr viel. Du hast die herbe Weisheit des jungen Gentleman in der Sammtjacke berichtigt – Pisistratus ist durch Dich ein besserer Mensch geworden.

Ich hatte den Eingang des Kirchhofs erreicht und blickte zurück. Der Savoyarde saß noch immer inmitten der Gräber der Menschen, aber unter Gottes freiem Himmel. Er sah mir aufmerksam nach, und als sich unsere Blicke begegneten, drückte er die Hand auf sein Herz und lächelte. Gott segne Dich und helfe Dir, kleiner Savoyarde!



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