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Erster Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Herr – Herr – es ist ein Knabe!«

»Ein Knabe,« wiederholte mein Vater, von seinem Buche aufsehend, augenscheinlich sehr verwirrt; »was ist ein Knabe?«

Nun lag es durchaus nicht in meines Vaters Absicht, mit dieser Frage eine philosophische Untersuchung veranlassen, oder von der ehrlichen, jedoch nicht sehr aufgeklärten Frau, welche soeben in sein Studirzimmer gestürzt war, eine Lösung jenes physiologischen und psychologischen Geheimnisses zu verlangen, welches schon so manche wißbegierige Philosophen beschäftigt hat, aber noch immer in der Frage enthalten ist: »Was ist der Mensch?« Denn, da wir nicht weiter, als im nächsten besten Wörterbuch, zu suchen brauchen, um zu erfahren, daß ein Knabe »ein männliches Kind« ist – d. h. das männliche Junge des Menschen –, so muß Derjenige, welcher der Sache auf den Grund gehen und wissenschaftlich erforschen will, was ein Knabe sei, vorher zu erklären im Stande sein, was der Mensch ist. Ich weiß nicht, war mein Vater in dieser Beziehung mit Buffon Französischer Naturforscher im Zeitalter der Aufklärung. einverstanden, oder auf Monboddo's James Burnett, Lord Monboddo, Philosoph und Deist des 18. Jh. Seite; theilte er Bischof Berkeley's Anglikanischer Theologe, Sensualist und Philosoph der Aufklärung. Ansicht, oder genügte ihm Professor Combe Andrew Combe (1797-1848), schottischer Arzt und Phrenologe.; faßte er den Gattungsbegriff geistig auf, wie Zeno Zenon von Kition, hellenistischer Philosoph und Begründer der Stoa., oder körperlich, wie Epicur Griechischer Philosoph und Begründer des (hedonistischen) Epikureismus. – zugegeben, daß der Knabe das männliche Junge des Menschen ist, würde er die Wahl unter einer Menge Begriffsbestimmungen gehabt haben. Er hätte z. B. sagen können: »Der Mensch ist ein Magen –folglich ist der Knabe ein männlicher junger Magen. Der Mensch ist ein Gehirn – der Knabe ein männliches junges Gehirn. Der Mensch ist ein Bündel Kleidungsstücke – der Knabe ein männliches junges Bündel Kleidungsstücke. Der Mensch ist eine Maschine – der Knabe eine männliche junge Maschine. Der Mensch ist ein ungeschwänzter Affe – der Knabe ein männlicher junger ungeschwänzter Affe. Der Mensch ist eine Zusammensetzung von Gasen – der Knabe eine männliche junge Zusammensetzung von Gasen. – Der Mensch ist eine Erscheinung – der Knabe eine männliche junge Erscheinung,« u. s. w. u. s. w. bis in's Unendliche! Und hätte auch keine dieser Bezeichnungen meinen Vater vollständig befriedigt, so bin ich überzeugt, daß er sich niemals an Mrs. Primmins wegen einer neuen gewendet haben würde.

Der Zufall wollte jedoch, daß mein Vater in diesem Augenblick in die wichtige Erwägung vertieft war, ob die Iliade von einem einzigen Homer geschrieben worden, oder als eine Sammlung verschiedener Balladen zu betrachten sei, von mehreren griechischen Verfassern stammend, und von einem, unter jenem alten, feingebildeten Tyrannen Pisistratus Latinisierte Form von Peisistratos (um 600-528/527 v. Chr.); dieser wurde durch einen bewaffneten Staatsstreich zum Begründer der Peisistratiden-Tyrannis in Athen. Er herrschte 18 Jahre, förderte die religiösen Kulte, ließ einen großen Zeustempel beginnen, das Olympieion und unterstützte massiv die Verehrung von Athene und Dionysos. Außerdem war er anscheinend den bildenden Künsten zugetan und unterstützte zahlreiche Künstler. – In der sog. »homerischen Frage« wurde in der älteren Philologie auch die These vertreten, der athenische Tyrann habe die Bücher Homers, »Odyssee« und »Ilias«, nach eigenem Ermessen geordnet. stehenden Geschmacks-Comitée gesichtet, zusammen getragen und zu einem Ganzen gestaltet. Die plötzliche Behauptung: »es ist ein Knabe,« schien ihm in keiner Weise Bezug auf den Faden der Untersuchung zu haben – daher die verwunderte Frage: »Was ist ein Knabe?«

»Mein Gott, Herr,« sagte Mrs. Primmins, »was wird ein Knabe sein? Nun, das neugeborne Kind!«

»Das Kind!« wiederholte mein Vater, aufstehend. »Wie, Sie wollen damit doch nicht sagen, daß Mrs. Caxton – eh –?«

»Ja, das will ich,« erwiederte Mrs. Primmins, sich verneigend; »und einen hübscheren kleinen Schelm haben meine Augen nie gesehen.«

»Arme, liebe Frau!« sagte mein Vater in mitleidigem Tone. »Und so bald – so schnell!« fuhr er mit dem Ausdruck nachdenklichen Erstaunens fort. »Wir haben uns ja kaum erst verheirathet!«

»Gerechter Himmel, Herr!« rief Mrs. Primmins entrüstet, »es sind zehn Monate und darüber.«

»Zehn Monate!« wiederholte mein Vater mit einem Seufzer. »Zehn Monate! und ich habe noch keine fünfzig Seiten an meiner Widerlegung von Wolf's Friedrich August Wolf (1759-1824), deutscher Altphilologe; in seinen »Prolegomena ad Homerum« untersuchte er die Werke Homers kritisch auf ihre Entstehung hin und zog ihn als einzigen Autor in Zweifel. ungeheuerlicher Theorie vollendet! In zehn Monaten ein Kind! – und ich wette, vollkommen ausgebildet – Hände, Füße, Augen, Ohren und Nase! – nicht gleich diesem armen Kinde meines Geistes (und mein Vater legte pathetisch seine Hand auf die Abhandlung), von welchem noch kein Glied Form oder Gestalt angenommen hat – nicht einmal das erste Gelenk des kleinen Fingers! Wahrhaftig, Mrs. Caxton ist eine treffliche Frau! Sorgen Sie für ihre Ruhe. Der Herr erhalte sie, und sende mir Kraft – diese Segnung zu ertragen!«

»Aber Euer Gnaden wollen doch das Neugeborne sehen? Kommen Sie, Herr!« und Mrs. Primmins bemächtigte sich schmeichelnd meines Vaters Rockärmel.

»Es sehen – gewiß,« erwiederte mein Vater freundlich; »gewiß will ich es sehen; es ist nicht mehr als billig gegen meine arme Frau, nachdem sie sich so viele Mühe gegeben, gute Seele!«

Hiermit legte mein Vater seinen Schlafrock in stattlichere Falten und folgte Mrs. Primmins die Treppe hinauf in ein Zimmer, aus welchem das Tageslicht sorgfältig ausgeschlossen war.

»Wie geht es Dir, meine Liebe?« frug mein Vater mit theilnehmender Zärtlichkeit, indem er tastend seinen Weg zum Bette fand.

Eine schwache Stimme flüsterte: »Besser nun, – und so glücklich!«

In demselben Augenblick zog Mrs. Primmins meinen Vater gewaltsam vom Bette weg, hob die Decke von einer kleinen Wiege und rief, indem sie die Kerze in ihrer Hand einer unentwickelten Nase auf Zolllänge nahe brachte, mit großem Nachdruck: »Hier –segnen Sie es!«

»Natürlich will ich es segnen,« sagte mein Vater etwas empfindlich. »Es ist meine Pflicht, es zu segnen; – Gott segne Dich! Und so also kommen wir in die Welt! – roth, sehr roth, – erröthend über alle Thorheiten, welche wir zu begehen bestimmt sind.«

Mein Vater setzte sich auf den Stuhl der Wärterin, die Frauen umringten ihn. Seine Blicke waren noch immer auf den Inhalt der Wiege geheftet, endlich sagte er nachdenklich: – »Und Homer war einst gleich diesem!«

In diesem Augenblick – und kein Wunder, in Anbetracht der Nähe des Lichtes von seinen Sehorganen – stimmte Homer's kindliches Ebenbild die ersten unkultivirten Melodien an.

»Homer vervollkommnete sich außerordentlich im Gesange, als er älter wurde,« bemerkte Mr. Squills, der Hausarzt, welcher in einem Winkel des Zimmers irgend einer geheimnißvollen Beschäftigung oblag.

Mein Vater hielt sich die Ohren zu. – »Kleine Geschöpfe können großen Lärmen machen,« sagte er philosophisch; »und je kleiner das Ding, um so größer der Lärm.«

So sprechend schlich er auf den Zehenspitzen zu dem Bette, ergriff die nach ihm ausgestreckte blasse Hand und flüsterte einige Worte, welche das Ohr, für das sie bestimmt waren, ohne Zweifel sehr beglückten und beruhigten, denn die blasse Hand entzog sich plötzlich der seinigen und schlang sich zärtlich um seinen Hals. Das Geräusch eines sanften Kusses ward durch die Stille hörbar.

»Mr. Caxton,« rief Mr. Squills vorwurfsvoll. »Sie regen meine Patientin auf – Sie müssen sich zurückziehen.«

Mein Vater erhob sein mildes Antlitz, warf einen entschuldigenden Blick zurück, fuhr mit der Hand über die Augen, stahl sich zur Thüre und verschwand.

»Ich finde,« begann eine wohlmeinende Nachbarin, welche auf der andern Seite von meiner Mutter Bette saß, »ich finde, meine Liebe, Mr. Caxton hätte mehr Freude bezeugen können – mehr natürliches Gefühl, möchte ich sagen – beim Anblick des Kindes, und eines solchen Kindes! Aber die Männer sind alle gleich, meine Liebe – rohe Menschen – alle rohe Menschen, verlassen Sie sich darauf.«

»Armer Augustin!« seufzte meine Mutter leise, »wie wenig verstehen Sie ihn.«

»Ich werde nun das Zimmer räumen,« sagte Mr. Squills. – »Sie müssen schlafen, Mrs. Caxton.«

»Mr. Squills,« rief meine Mutter, und die Bettvorhänge zitterten, »bitte, sorgen Sie, daß Mr. Caxton sich nicht zu sehr aufregt; – und, Mr. Squills, sagen Sie ihm, daß er nicht ägerlich sein und mich nicht vermissen soll. – Ich werde sehr bald wieder unten sein – nicht wahr?«

»Wenn Sie sich ruhig verhalten, ja, Ma'am.«

»Bitte sagen Sie ihm dies; – und, Primmins, –«

»Ja, Ma'am.«

»Ich fürchte, Ihr Gebieter wird von Jedermann vernachlässigt. Versäumen Sie nicht, – (und meine Mutter brachte ihren Mund dicht an Mrs. Primmins Ohr) – versäumen Sie nicht, selbst – seine Nachtmütze zu lüften.«

»Zärtliche Geschöpfe, diese Frauen,« sprach Mr. Squills zu sich selbst, nachdem Alle, bis auf Mrs. Primmins und die Wärterin, das Gemach verlassen hatten, und er sich nach meines Vaters Studirzimmer begab.

»John,« redete er den Diener an, welcher ihm auf der Treppe begegnete, »bringe das Nachtessen in Deines Herrn Zimmer und mache uns eine Bowle Punsch – aber recht gut stark, hörst Du?«


Zweites Kapitel.

Mr. Caxton, wie in aller Welt kamen Sie je zum Heirathen?« wandte sich Mr. Squills plötzlich an meinen Vater, während er, die Füße gegen das Kamin ausgestreckt, seinen Punsch umrührte.

Dies war eine von jenen Fragen, über welche wohl Mancher mit Recht empfindlich geworden wäre; allein mein Vater wußte kaum, was Empfindlichkeit war.

»Squills,« sagte er, von seinen Büchern sich abwendend und, vertraulich einen Finger auf des Arztes Arm legend, – »Squills, ich möchte wohl selbst wissen, wie ich zum Heirathen kam.«

Mr. Squills war ein heiterer, gutmüthiger Mann von starkem, kräftigem Körperbau und mit schönen Zähnen, so daß man ihn ebenso gerne lachen sah, als hörte. Er war überdies ein wenig Philosoph in seiner Art, studirte die menschliche Natur, indem er ihre Krankheiten heilte, und pflegte zu sagen, Mr. Caxton sei an sich ein besseres Buch, als alle in seiner Bibliothek befindlichen zusammen genommen. Mr. Squills lachte und rieb sich die Hände.

Gedankenvoll und in moralisirendem Tone begann mein Vater wieder: –

»Es gibt drei große Ereignisse im Leben, Herr – Geburt, Heirath und Tod. Niemand weiß, wie er geboren wird. Wenige wissen, wie sie sterben. Allein ich vermuthe, daß Viele die dazwischen liegende, seltsame Erscheinung zu erklären vermögen – ich aber kann es nicht.«

»Um des Geldes willen war es nicht, es muß also aus Liebe gewesen sein,« bemerkte Mr. Squills, »und Ihre junge Frau ist ebenso hübsch, als sie gut ist.«

»Ha!« sagte mein Vater. »Ich erinnere mich.«

»Wirklich, Herr?« rief Mr. Squills höchlich belustigt. »Nun, wie kam es?«

Mein Vater zögerte mit seiner Erwiederung, wie es oft bei ihm der Fall war, und schien alsdann mehr mit sich selbst zu reden, als Mr. Squills zu antworten.

»Der liebevollste, der beste der Menschen,« murmelte er, – » Abyssus eruditionis. Unermessliche Tiefe von Gelehrtheit. Und zu denken, daß er den einzigen Reichthum, den er besaß mir vermachte, anstatt seinem eigenen Fleisch und Blut, Jack und Kitty. Alles wenigstens, was ich deficiente manu indem ich meine Hand in die seine schmiegte (Tibull, Elegie I,1). erhaschen konnte von seinem Lateinischen, Griechischen und Orientalischen. Was verdanke ich ihm nicht alles!«

Wem?« frug Squills. »Guter Gott, wovon redet der Mann?«

»Ja, Her,« fuhr mein Vater sich aufraffend fort, »so war Giles Tibbets, M. A, Sol scientarum Sol Scientarum: Sonne der Wissenschaften. Magister artium: Meister der sieben freien Künste, d.h. Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie., der Lehrer des demüthigen Schülers, der mit Ihnen spricht, und der Vater der armen Kitty. Er hinterließ mir seine Elzevirs; er hinterließ mir auch seine verwaiste Tochter.«

»Ah, zur Gattin –«

»Nein, als Mündel. So kam sie in mein Haus, und ich bin überzeugt, daß nichts Schlimmes daran war. Allein meine Nachbarn behaupteten das Gegentheil, und die Wittwe Wallroom erklärte mir, der Ruf des Mädchens müsse darunter leiden. Was konnte ich thun? – O ja, nun besinne ich mich auf alles wieder! Ich heirathete sie, damit das Kind meines alten Freundes ein Dach für ihr Haupt habe und nicht zu Schaden komme. Sie sehen, ich war gezwungen, ihr dieses Unrecht zuzufügen, denn im Grunde war es ein trauriges Loos für das arme, junge Geschöpf. Ein langweiliger Bücherwurm wie ich – cochleae vitam agens jemand, der sein Leben in einem Schneckenhaus führt; ein Einsamkeit liebender Mensch., Mr. Squills – der das Leben einer Schnecke führt! Allein mein Schneckenhaus war alles, was ich der Waise meines armen Freundes anbieten konnte.«

»Mr. Caxton, ich verehre Sie!« rief Squills mit großem Nachdruck, indem er aufsprang und ein halbes Glas kochenden Punsch über meines Vaters Beine goß. »Sie haben ein Herz, Herr, und ich begreife, weßhalb Ihre Gattin Sie liebt. Sie scheinen ein kalter Mann zu sein, aber ich sehe in eben diesem Augenblick Thränen in Ihren Augen.«

»Das glaube ich wohl,« versetzte mein Vater, seine Beine reibend, »er war kochend heiß!«

»Und Ihr Sohn wird Ihnen beiden zum Troste gereichen,« fuhr Mr. Squills fort, indem er seinen Platz wieder einnahm und in seiner freundschaftlichen Aufregung ganz und gar nicht zum Bewußtsein der Schmerzen kam, welche er verursacht hatte. »Er wird die Friedenstaube in Ihrer Arche sein.«

»Ich zweifle nicht daran,« erwiederte mein Vater mit kläglicher Miene; »nur finde ich jene Tauben, so lange sie klein sind, eine sehr lärmende Vogelart – non talium avium cantus somnum reducent. Nie wird solcher Vögel Gesang ihm den Schlaf vermindern (abgewandelt nach Horaz, Oden III, 1, 20f.: non avium citharaeque cantus somnum reducent). Es hätte übrigens schlimmer sein können. Leda hatte Zwillinge.«

»Ebenso Mrs. Barnabas in der vergang'nen Wehe,« entgegnete der Arzt. »Wer weiß, was Ihnen noch vorbehalten sein mag? Ich trinke auf die Gesundheit von Master Caxton, und möge ihm ein Häuflein Brüder und Schwestern nachfolgen!«

»Brüder und Schwestern! Ich bin überzeugt, Mrs. Caxton wird daran niemals denken, Herr,« war meines Vaters beinahe entrüstete Antwort. »Dazu ist sie eine viel zu gute Frau. Einmal mag es gehen, allein zweimal – und so, wie die Sachen stehen, kein Papier an seinem Platze, seit drei Tagen keine Feder geschnitten, und ich, der ich doch nur › cuspide duriuscula mit gespitztem Stift (Formulierung im 15. Gespräch des Erasmus).‹ schreiben kann – und vollends der Bäcker, der zweimal mit seiner Rechnung zu mir gekommen ist! Die Ilithyiae Eileithyia: in der griechischen Mythologie die Göttin der Geburt. sind beschwerliche Gottheiten, Mr. Squills.«

»Wer sind die Ilithyiae?« frug der Doctor.

»Das sollten Sie wissen,« erwiederte mein Vater lächelnd. »Es sind die weiblichen Dämonen, welche über dem Neogilos oder Neugebornen wachten. Sie leiten ihren Namen von der Juno ab, nach dem XI. Buch des Homer. Beiläufig bemerkt, wird mein Neogilos wie Hektor oder wie Astianax Astyanax, nach Homer der Sohn des trojanischen Königssohnes Hektor und dessen Gemahlin Andromache. aufgezogen, d. h. von seiner Mutter oder von einer Amme ernährt werden?«

»Was ziehen Sie vor, Mr. Caxton?« frug Mr. Squills, den Zucker in seinem Glase zerdrückend. »Ich halte es stets für meine Pflicht, hierin die Wünsche des Vaters zu Rathe zu ziehen.«

»Dann jedenfalls eine Amme,« erwiederte mein Vater. »Und möge sie ihn tragen hypo kolpo, zunächst ihrem Busen. Ich weiß alles, was schon darüber gesagt worden ist, daß die Mütter ihre Kinder selbst nähren sollen, Mr. Squills; allein die arme Kitty ist so zart, daß ich glaube, eine gesunde, kräftige Bauernfrau wird für des Knaben künftige Nerven am besten sein – und nicht weniger für die dermaligen und zukünftigen Nerven seiner Mutter. Ach, ich werde die liebe Frau sehr vermissen; wann wird sie wieder auf sein dürfen, Mr. Squills?«

»O, in weniger als vierzehn Tagen!«

»Und dann soll der Neogilos in die Schule gehen! hypo kolpo – die Amme mit ihm, und alles wird wieder recht werden,« sagte mein Vater mit einer ihm eigenthümlichen Miene schlauer, geheimnißvoller Heiterkeit.

»In die Schule, und kaum erst geboren?«

»Man kann nicht zu bald anfangen,« versetzte mein Vater entschieden. »Dies ist die Ansicht des Helvetius frz. Philosoph des Sensualismus und Materialismus der Aufklärung., und es ist auch die meinige!«


Drittes Kapitel.

Ich nehme es für ausgemacht an, daß ich ein sehr wunderbares Kind war; dennoch aber kam ich nicht in Folge eigener Wahrnehmung in den Besitz der in den vorhergehenden Kapiteln niedergelegten Einzelnheiten. Meines Vaters Benehmen bei meiner Geburt hinterließ einen tiefen Eindruck bei Allen, welche zugegen gewesen, und Mr. Squills und Mrs. Primmins erzählten mir jene Thatsachen oft genug, um mich ebenso vertraut mit denselben zu machen, als jene würdigen Zeugen es selbst waren. Ich glaube meinen Vater vor mir zu sehen, in seinem dunkelgrauen Schlafrock, mit dem seltsamen, halb schlauen, halb unschuldigen Zucken um den Mund und dem eigenthümlichen, verwirrenden Blick seiner schönen, ruhigen, zerstreuten Augen, in dem Moment, als er in Uebereinstimmung mit Helvetius die Nothwendigkeit aussprach, mich sogleich nach meiner Geburt in die Schule zu senden.

Kein Mensch wußte eigentlich, was er aus meinem Vater machen sollte – seine Gattin ausgenommen. Die Bürgerschaft von Abdera ließ Hippokrates rufen, um den vermeintlichen Wahnsinn Demokrit's Nach einer fiktiven Geschichte halten die Bürger von Abdera ihren berühmten Mitbürger Demokrit für verrückt, da er der Stadt den Rücken gekehrt hat, sich in seiner Zurückgezogenheit der Forschung widmet und das Leben seiner Mitbürger verlacht. Man holt Hippokrates, der Demokrit bei Vorbereitungen zu einer Abhandlung über den Wahnsinn vorfindet. Der Arzt erkennt, dass der Philosoph mit seinem Lachen eine stoisch-zynische Weltanschauung bekundet, und lernt diese schätzen. So gelangt er zu der Ansicht, dass nicht Demokrit verrückt ist, sondern die Abderiten krank sind, indem sie Weisheit für Wahnsinn hielten. – Demokrit ist gleichwohl eine historische Persönlichkeit; er zählt zu den vorsokratischen Philosophen. zu heilen, »welcher,« wie jener trocken bemerkt, »sich eben damals ernstlich mit philosophischen Studien beschäftigte.« Dieselben Abderiten würden ohne Zweifel sehr beunruhigende Anzeichen von Wahnsinn bei meinem armen Vater bemerkt haben, denn, gleich Demokrit, »achtete er für nichts die Dinge, groß oder klein, mit welcher die übrige Welt sich beschäftigte.« Demgemäß sahen die Einen einen Weisen, die Andern einen Thoren in ihm. Die Geistlichen der Umgegend verehrten ihn als einen Gelehrten, der die Kenntnisse ganzer Bibliotheken in sich trug; die Damen mißachteten ihn als einen zerstreuten Pedanten, welcher so wenig von Artigkeit wußte, als ein Stock oder Stein. Die Armen liebten ihn um seiner Wohlthätigkeit willen, spotteten jedoch zugleich seiner, als eines schwachen, leicht zu hintergehenden Mannes. Gleichwohl aber fanden Gutsbesitzer und Pächter, welche in ihren eigenen landwirthschaftlichen Angelegenheiten an ihn sich wandten, eine Fundgrube seltenen Wissens in ihm, und wer immer seinen Rath begehrte, mochte er jung oder alt, vornehm oder gering, gelehrt oder ungelehrt sein, dem ward er mit eben so viel Demuth, als Weisheit ertheilt. In den gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens schien er unfähig, selbstständig zu handeln, denn er überließ alles meiner Mutter; oder wurde, wenn er auf sich selbst angewiesen war, regelmäßig überlistet. Wenn aber in eben denselben Angelegenheiten Andere ihn um Rath befragten, so leuchtete sein Auge, seine Stirne klärte sich auf, und der Wunsch, nützlich zu sein, machte ein neues Wesen aus ihm: vorsichtig, gründlich und praktisch. Zu träge oder zu gleichgültig, wo es seine eigenen Interessen galt, durfte nur sein Wohlwollen in Anspruch genommen werden, und alle Räder des Uhrwerks fühlten die Gewalt einer Meisterfeder. Kein Wunder, wenn Andere das Räthsel eines solchen Charakters schwer zu lösen fanden!

In den Augen meiner guten Mutter jedoch war Augustin (vertraulich Austin genannt) Caxton das beste und größte aller menschlichen Wesen. Und sie mußte ihn genau kennen, denn sie studirte ihn mit ihrem ganzen Herzen, war mit jedem Zug seines Gesichtes vertraut und errieth neunmal unter zehn, was er sagen wollte, noch ehe er die Lippen geöffnet. Gleichwohl gab es Tiefen in seinem Wesen, welche das Senkblei ihres zarten weiblichen Verstandes niemals ergründet hatte, und selbst in den vertraulichsten Gesprächen kamen ihr bisweilen Zweifel, ober wirklich der einfache, schlichte Mann war, für welchen er meistens gehalten wurde. Er besaß in der That eine Art unterdrückter, feiner Ironie, zu unkörperlich, um mit dem gewöhnlichen Ausdruck Humor bezeichnet zu werden, dennoch aber in unbestimmten Zügen eine Art von Scherz in sich schließend, welchen er jedoch ganz allein für sich behielt. Dies war übrigens nur bemerkbar, wenn er etwas sagte, das sehr ernst klang oder den Ernsten sehr thöricht und unverständig erschien.

Daß ich die Schule – wenigstens was Mr. Squills unter dem Wort Schule verstand – nicht ganz so bald besuchte, als beabsichtigt gewesen, brauche ich kaum zu bemerken. In der That wußte es meine Mutter so gut einzurichten – die Kinderstube war überdies vermittelst doppelter Thüren außer Gehörweite gebracht – daß mein Vater, wenn er wollte, meistens das Vorrecht genießen konnte, mein Dasein zu vergessen. Einmal jedoch, bei Gelegenheit meiner Taufe, ward er dunkel daran erinnert. Nun war aber mein Vater ein schüchterner Mann und haßte ganz besonders alles Ceremonienwesen und öffentliche Gepränge. So bemerkte er denn mit großer Unruhe, daß eine solche Ceremonie, in welcher er vielleicht eine Hauptrolle zu spielen berufen sein könnte, bevorstand. Trotz seiner gewöhnlichen Zerstreutheit hatte er ein bedeutsames Geflüster gehört, von der Anwesenheit des Bischofs in der Nachbarschaft, welche man »nicht unbenützt vorübergehen lassen dürfe,« und von »zwölf neuen Gelee-Gläsern, die unumgänglich nöthig seien,« so daß er an einer drohenden, schrecklichen Festlichkeit nicht zweifeln konnte. Und als endlich die Frage über Pathe und Pathin ihm geradezu vorgelegt wurde, verbunden mit einer Bemerkung über diese passende Gelegenheit, die Höflichkeiten der Nachbarn zu erwiedern – da fühlte er, daß ein kühner Fluchtversuch das einzige Rettungsmittel für ihn blieb. Nachdem nun in seinem Beisein, ohne daß er es zu hören schien, der Tag der Taufe festgesetzt worden, und er, scheinbar ohne es zu bemerken, die Zitzstühle Zitz ist eine feinere Art von Kattun, einem glatten und relativ dichten Baumwoll-Gewebe in Leinwandbindung. im Besuchzimmer von ihren Ueberzügen befreit gesehen hatte (meine liebe Mutter war die pünktlichste und sorgfältigste Frau der Welt), machte er demgemäß die plötzliche Entdeckung, daß eine große Bücherversteigerung an einem zehn Stunden entfernten Orte stattfinde, welche vier Tage dauern werde, und bei der er durchaus nicht fehlen dürfe. Meine Mutter seufzte; allein sie widersprach meinem Vater niemals, selbst dann nicht,wenn er Unrecht hatte, was sicherlich bei dieser Gelegenheit der Fall war. Sie ließ nur eine schüchterne Andeutung fallen, daß »sie fürchte, es würde sonderbar aussehen, und die Welt könnte meines Vaters Abwesenheit mißdeuten – ob sie nicht lieber die Taufe aufschieben sollte?«

»Meine Liebe,« antwortete mein Vater, »es wird meine Pflicht sein, aus dem Knaben mit der Zeit einen Christen zu machen – eine Pflicht, welche sich nicht in Einem Tage erfüllen läßt. Für jetzt zweifle ich nicht, daß der Bischof ganz wohl ohne mich zu Stande kommen wird. Lasse es also bei dem festgesetzten Tage, oder, wenn Du ihn verschiebst, so glaube ich, auf Ehre, daß der gottlose Auctionator den Bücherverkauf ebenfalls aufschieben wird. So viel ist gewiß, die Taufe und die Versteigerung werden zu gleicher Zeit stattfinden.«

Da war nun freilich nichts mehr zu machen, allein ich bin überzeugt, daß meine gute Mutter hinfort mit weit weniger leichtem Herzen die Ueberzüge von den Zitzstühlen im Besuchzimmer abnahm! Fünf Jahre später wäre dies nicht mehr vorgekommen – meine Mutter hätte meinen Vater geküßt und zu ihm gesagt: »Bleibe!« und er wäre geblieben. Doch damals war sie noch sehr jung und ängstlich, er dagegen der wilde Mann, nicht aus den Wäldern, sondern aus der Gelehrtenstube, den die Annehmlichkeiten der Heimath noch nicht civilisirt hatten. Kurz, der Postwagen wurde bestellt und der Reisesack gepackt.

»Mein Lieber,« begann meine Mutter den Abend vor dieser Hegira, indem sie von ihrer Arbeit aufsah, »mein Lieber, Du hast eine wichtige Frage zu entscheiden ganz vergessen – ich bitte um Entschuldigung, daß ich Dich störe, allein es ist nothwendig – der Name des Kleinen! Sollen wir ihn nicht Augustin nennen?« .

»Augustin,« wiederholte mein Vater wie im Traume; »ei, das ist mein Name.«

»Und Du möchtest, daß ihn auch Dein Sohn trüge?«

»Nein,« erwiederte mein Vater sich aufraffend. »Niemand würde wissen, welcher von uns beiden es wäre. Es könnte mir einfallen, lateinische Eigenschaftswörter zu lernen oder mit bunten Steinen zu spielen. Ich wäre niemals meiner Identität gewiß, und Mrs. Primmins könnte mir Brei geben wollen.«

Meine Mutter lächelte, legte ihre sehr hübsche Hand auf meines Vaters Schulter, blickte ihn zärtlich an und sagte: »Es ist nicht zu befürchten, daß Du mit irgend Jemand verwechselt werden könntest, mein Lieber, und wäre es Dein eigener Sohn. Doch, wenn Du einen andern Namen vorziehst, welcher soll es sein?«

»Samuel« versetzte mein Vater. » Dr. Parr Samuel Parr (1747-1825), engl. Schulmeister, Schriftsteller, Minister und Rechtsgelehrter. heißt Samuel.«

»O mein Lieber, Samuel ist der häßlichste Name –«

Mein Vater hörte diesen Ausruf nicht, er war wieder in seine Bücher vertieft. Im nächsten Augenblick begann er wieder: »Barnes Joshua Barnes veröffentlichte seine Homer-Ausgabe 1711 in Cambridge. sagt, Homer sei Salomon. Omeros nach hebräischer Weise rückwärts gelesen –«

»Ja, mein Lieber,« unterbrach ihn meine Mutter. »Aber der Taufname des Knaben?«

»Omeros – Saremo – Salemo – Salomo!«

»Salomo! entsetzlich!« sagte meine Mutter.

»Ja wohl entsetzlich,« wiederholte mein Vater. »Ein Verbrechen gegen allen gesunden Menschenverstand.« Dann setzte er nach einem Blicke über seine Bücher gedankenvoll hinzu: »Aber im Grunde ist es ein Unsinn, anzunehmen, daß man über Homer nicht im Klaren gewesen sein soll bis zu seiner Zeit.«

»Wessen Zeit?« frug meine Mutter mechanisch. Mein Vater hob seinen Finger auf.

Nach einer kurzen Pause fuhr meine Mutter fort: »Arthur ist ein hübscher Name. Ebenso William – Henry – Charles – Robert. Welcher soll es sein, mein Lieber?«

»Pisistratus?« sagte mein Vater im Tone der Verachtung – »Ja wohl gar, Pisistratus!«

»Pisitratus! ein sehr schöner Name,« erwiederte meine Mutter erfreut – »Pisistratus Caxton. Ich danke, mein Lieber, Pisistratus soll er heißen.«

»Widersprichst Du mir? Stellst Du Dich auf Wolf's und Heyne's Christian Gottlob Heyne (1729-1812), deutscher Altphilologe. Zwischen ihm und dem o.g. Wolf wurde der sog. Homerstreit um die Verfasserschaft und die Datierung der Schriften Homers ausgetragen. und jenes pragmatischen Burschen Vico's Giambattista Vico (1668-1744), italienischer Geschichts- und Rechtsphilosoph; in der Homerfrage vertrat er folgende Ansicht: Da die vulgären Gefühle und Sitten im heroischen Zeitalter einem wilden und irrationalen Zustand entsprachen, könne die homerische Dichtung nicht die esoterische Weisheit eines Einzelnen sein, sondern sie repräsentiere die poetischen Fähigkeiten des griechischen Volkes insgesamt. Der Dichter von Ilias und Odyssee habe nie (als Individuum) existiert; vielmehr hätten die griechischen Sänger das Ideal eines Dichters imaginiert. Seite? Willst Du behaupten, daß die Rhapsodisten Rhapsoden waren wandernde Sänger im antiken Griechenland, die bei Festen und feierlichen Anlässen epische Dichtungen wie die von Homer vortrugen. In der »homerischen Frage« spielen die Rhapsoden eine entscheidende Rolle; Wolf vertrat folgende Theorie: Da Homer in einer Zeit gelebt habe, die noch keine Textfixierung durch Schrift, sondern nur mündliche Wiedergabe gekannt habe, könne er nur die Grundlinie (bzw. gewisse tragende Hauptteile) der Handlung erdacht haben. Rhapsoden hätten diese vorhandene Grundstruktur mündlich weitergegeben und das sich auch im Wortlaut ändernde Werk dabei ständig im Sinne des Grundplans verändert, bis Peisistratos es im 6. Jahrhundert v.u.Z in Athen durch Niederschrift habe fixieren und ein Ganzes machen lassen (die sog. Peisistratidische Redaktion der Epen). Wolf ging also davon aus, dass die Ilias und die Odyssee die gemeinsamen Schöpfungen vieler Dichter seien. – Wolfs Theorie ist inzwischen widerlegt. –«

»Nein, gewiß nicht,« unterbrach ihn meine Mutter. »Mein Lieber, Du erschreckst mich.«

Mein Vater seufzte und warf sich in seinen Stuhl zurück. Meine Mutter faßte Muth und begann wieder.

»Pisistratus ist allerdings ein langer Name; doch man könnte ihn Sisty nennen.«

» Siste, Viator Halt ein, Reisender! – Inschrift auf römischen Grabsteinen.,«, murmelte mein Vater; »das ist abgenutzt!«

»Nein, nur Sisty – kurzweg. Danke, mein Lieber.«

Als mein Vater vier Tage später von der Bücherversteigerung zurückkam, ward ihm zu seinem unaussprechlichen Entsetzen mitgetheilt, daß »Pisistratus ihm mit jedem Tage ähnlicher werde.«

Nachdem endlich der gute Mann die Thatsache vollständig begriffen hatte, daß sein Sohn und Erbe sich desselben in der Geschichte so denkwürdigen Namens rühme, welchen der Tyrann von Athen und der angefochtene Sammler der homerischen Gesänge getragen – als man ihm vollends erklärte, daß er selbst diesen Namen vorgeschlagen – da wurde er so unwillig, als es bei seinem milden Wesen nur möglich war. »Aber es ist schrecklich!« rief er aus. »Pisistratus getauft! Pisistratus, der sechshundert Jahre vor Christi Geburt gelebt hat. Gütiger Himmel, Frau, Du hast mich zum Vater eines Anachronismus gemacht!«

Meine Mutter brach in Thränen aus, allein dem Uebel war nicht mehr abzuhelfen. Ein Anachronismus war ich, und ein Anachronismus muß ich bleiben bis zum Ende meiner Tage.


Viertes Kapitel.

Natürlich werden Sie bald anfangen. Ihren Sohn selbst zu erziehen. Mr. Caxton?« sagte Mr. Squills.

»Natürlich haben Sie Martinus Scriblerus Der Scriblerus Club war eine informelle und exklusive Vereinigung von politisch aktiven Literaten, die den Tories nahestanden und sich um 1713 in London zusammengefunden hatten. Gründungszweck des Clubs war es, die Auswüchse von Gelehrsamkeit und den Wissenschaftsjargon satirisch aufs Korn zu nehmen. Das bedeutendste und im Prinzip einzige literarische Ergebnis des Clubs waren die »Memoirs of the Extraordinary Life, Works, and Discoveries of Martinus Scriblerus«, die 1741 erstmals im zweiten Band von Popes Prosawerken gedruckt wurden. In einem Vorwort merkt der Herausgeber an, dass die Memoiren überwiegend von Pope und Arbuthnot geschrieben waren. gelesen. Mr. Squills?« frug mein Vater.

»Ich verstehe Sie nicht. Mr. Caxton.«

»Dann haben Sie Martinus Scriblerus nicht gelesen, Mr. Squills.«

»Angenommen, ich hätte ihn gelesen – was dann?«

»Dann, Squills,« sagte mein Vater vertraulich, »würden Sie wissen, daß ein Gelehrter zwar oft ein Thor ist, nie aber ein größerer, als wenn er die erste unbefleckte Seite der menschlichen Geschichte durch die Gemeinplätze seiner eigenen Pedanterie entweiht. Ein Gelehrter – wenigstens einer von meinem Schlage – ist unter allen Menschen am wenigsten geeignet, kleine Kinder zu unterrichten. Eine Mutter, Herr, eine einfache, natürliche, liebende Mutter ist des Kindes sicherer Führer auf dem Wege zur Erkenntniß.«

»Wahrhaftig,. Mr. Caxton, trotz des Helvetius, auf den Sie sich in der Nacht, da der Knabe geboren wurde, beriefen – wahrhaftig, ich glaube, Sie haben Recht!«

»Ich bin fest davon überzeugt,« erwiederte mein Vater; »wenigstens so weit ein armes, sterbliches Wesen von irgend etwas überzeugt sein kann. Ich stimme vollkommen mit Helvetius darin überein, daß das Kind von seiner Geburt an erzogen werden muß; aber wie? – darin liegt die Schwierigkeit. Es gleich in die Schule schicken? Gewiß, es befindet sich bereits in der Schule bei den zwei großen Lehrmeisterinnen Natur und Liebe. Sie werden finden, Herr, daß die Kindheit und das Genie ein wichtiges Organ, die Wißbegierde, mit einander gemein haben. Man lasse die Kindheit gewähren, und, da sie begann, wo das Genie beginnt, so mag sie auch finden, was jenes findet. Ein griechischer Schriftsteller erzählt uns von einem Manne, der seinen Bienen, um ihnen den mühsamen Flug zum Hymettus zu ersparen, die Flügel stutzte und ihnen die schönsten Blumen, die er finden konnte, hinlegte. Die armen Bienen aber bereiteten keinen Honig. Nun, Herr, wenn ich meinen Knaben lehren wollte, so würde ich ihm die Flügel beschneiden und Blumen vorlegen, welche er selbst finden soll. Vorderhand wollen wir die Natur und ihre liebevolle Stellvertreterin, die wachsame Mutter, allein walten lassen.«

Bei diesen Worten deutete mein Vater auf seinen Erben, der sich im Grase wälzte und Gänseblümchen pflückte, während die junge Mutter, über des Kindes Fröhlichkeit lachend, ihre Stimme heiter erklingen ließ.

»Ich sehe schon, in Ihrer Kinderstube werde ich eine schlechte Rechnung machen,« sagte Mr. Squills.

In der That entwickelte ich mich in Folge jener Grundsätze, welche an einem so gelehrten Manne vielleicht befremden mögen, vortrefflich und lernte unter der vereinten Sorgfalt meiner Mutter und Dame Primmins buchstabiren und Krähenfüße machen. Primmins gehörte einer Klasse an, die leider rasch im Aussterben begriffen ist – der Klasse alter treuer Dienerinnen und mährchenerzählender Kinderfrauen. Sie hatte schon meine Mutter aufgezogen, allein ihre Anhänglichkeit trieb neue Blüthen für den jungen Nachwuchs. Sie war von Devonshire, und die Frauen aus jener Gegend, namentlich diejenigen, welche ihre Jugend an der Seeküste zugebracht haben, sind in der Regel abergläubisch. Dank ihrem wunderbaren Vorrath an Mährchen war ich noch vor meinem sechsten Jahre vollkommen vertraut mit jener Erstlingsliteratur, in welcher die Sagen aller Völker sich auf eine gemeinsame Quelle zurückführen lassen – der gestiefelte Kater, Hans Däumling, Fortunio, Fortunatus, Jack, der Riesentödter – Mährchen, welche, gleich so manchen Sprüchwörtern, in anderer Form dem jugendlichen Verehrer des Budh Buddha. eben so geläufig sind, wie den kühneren Kindern Thor's. Ich kann ohne Eitelkeit sagen, daß ich in einem Examen in diesen ehrwürdigen Classikern sicherlich einen Preis davon getragen hätte!

Meine gute Mutter hegte einige Besorgnisse in Betreff der aus einer so phantastischen Gelehrsamkeit zu erzielenden wirklichen Vortheile und befragte schüchtern meinen Vater darüber.

»Meine Liebe,« erwiederte mein Vater mit jenem Tone der Stimme, welcher selbst meine Mutter so oft im Zweifel ließ, ob er im Scherze oder im Ernste spreche – »in allen diesen Mährchen könnten gewisse Philosophen mit leichter Mühe die höchste Moral unter symbolischer Verhüllung auffinden. Ich selbst habe eine Abhandlung geschrieben, um zu beweisen, daß der gestiefelte Kater nichts Anderes, als eine Allegorie auf den Fortschritt des menschlichen Verstandes ist, daß wir seinen Ursprung in den mystischen Schulen der ägyptischen Priester zu suchen haben, und er augenscheinlich die Anbetung darstellt, welche in Theben und Memphis diesen Vierfüßlern aus dem Katzengeschlecht dargebracht wurde, wo man dieselben nicht nur zu Symbolen der Religion machte, sondern auch als Mumien aufbewahrte.«

»Mein lieber Austin,« sagte meine Mutter, ihre blauen Augen aufschlagend. »Du glaubst doch nicht, daß Sisty alle diese schönen Dinge in dem gestiefelten Kater herausfinden werde?«

»Meine liebe Kitty,« entgegnete mein Vater. »Du glaubst doch nicht, daß, als Du so gut warst,. Dich mir anzuvertrauen, Du alle die schönen Dinge in mir entdeckt hattest, die ich aus meinen Büchern gelernt habe? Du kanntest mich nur als ein harmloses Geschöpf, das so glücklich war, Dir zu gefallen. Nach und nach fandest Du, daß mich all' die Quartanten, welche in mir zu Ideen geworden – Ideen, die mir selbst oft Geheimnisse sind, nicht schlimmer gemacht hatten. Wenn Sisty, wie Du das Kind nennst (die Pest über diesen unglücklichen Anachronismus, welchen Du wohl thust, in eine Doppelsylbe abzukürzen!) – wenn Sisty nicht alle Weisheit Aegyptens in dem gestiefelten Kater zu entdecken vermag, was thut's? Der gestiefelte Kater ist harmlos und gefällt seiner Phantasie. Alles, was die Neugierde weckt, sofern es unschuldig ist, führt zu heilsamer Kenntniß, alles, was der Phantasie jetzt gefällt, wandelt sich später in Liebe oder Erkenntniß um. Und so, meine Liebe, gehe nun beruhigt wieder in die Kinderstube zurück.«

Ich würde Dir jedoch Unrecht thun, o bester der Väter, wollte ich den Leser in dem Wahne lassen, als wärest Du im Herzen gleichgültig gegen Deinen beschwerlichen Neogilos gewesen, weil Du bei meiner Geburt so gleichgültig und bei meiner frühsten Erziehung so unbesorgt schienst. Als ich älter wurde, erkannte ich mehr und mehr, daß das Auge eines Vaters auf mir ruhte. Ich erinnere mich deutlich eines Vorfalls, welcher mir, indem ich darauf zurückblicke, als eine Krisis in meinem kindlichen Leben erscheint, als das erste fühlbare Bindeglied zwischen meinem eigenen Herzen und jener ruhigen, großen Seele.

Mein Vater saß auf dem Grasplatz vor dem Hause, seinen Strohhut auf dem Kopfe (es war Sommer) und ein Buch auf dem Schooße. Plötzlich fiel ein schöner Blumenstock von blau und weißem Steingut, welcher an einem Fenster des oberen Stockes gestanden hatte, krachend zu Boden, und die Scherben flogen meinem Vater um die Beine. Erhaben in seinen Studien, wie Archimedes bei der Belagerung, fuhr er fort zu lesen: » Impavidum ferient ruinae Si fractus illabatur orbis / Impavidum ferient ruinae: Wenn die Erde einstürzt, werden die Trümmer auf einen Unerschrockenen fallen. (Horaz, Oden III, 3, 7)

»O!« rief meine Mutter, die unter dem Portale beschäftigt war, »mein armer Blumentopf, der mir so theuer war! Wer kann dies gethan haben? Primmins. Primmins!«

Mrs. Primmins Kopf ward an dem verhängnißvollen Fenster sichtbar, sie nickte auf den Zuruf und kam sogleich blaß und athemlos herunter.

»O,« sagte meine Mutter traurig, »wären mir lieber alle Pflanzen des Gewächshauses bei dem starken Froste im Mai zu Grunde gegangen – wäre mir lieber mein bestes Theeservice zerbrochen! Das arme Geranium, das ich selbst aufgezogen, und der schöne, schöne Blumentopf, den mir Mr. Caxton zu meinem letzten Geburtstag geschenkt! Das unartige Kind muß es gethan haben!«

Mrs. Primmins fürchtete sich außerordentlich vor meinem Vater – weßhalb, weiß ich nicht, wenn nicht etwa der Grund darin lag, daß sich sehr redselige und gesellige Leute vor sehr schweigsamen und schüchternen in der Regel zu fürchten pflegen. Sie warf einen hastigen Blick auf ihren Gebieter, welcher Zeichen von Aufmerksamkeit zu geben anfing, und rief schnell: »Nein, nein. Ma'am, es war nicht das liebe Kind – ich selbst habe es gethan!«

»Sie! wie konnten Sie so unachtsam sein? Sie wußten doch, wie theuer mir der Blumenstock war. Primmins!«

Primmins begann zu schluchzen.

»Sage keine Unwahrheiten, Primmins,« ließ sich nun eine kleine, helle Stimme hören, und Master Sisty, mit kühner Stirne aus dem Hause herauskommend, fuhr rasch fort: »Schelte Primmins nicht, Mama; ich habe den Blumentopf heruntergeworfen.«

»Bst!« sagte die Kinderfrau, mehr denn je erschrocken und entsetzt nach meinem Vater hinblickend, welcher bedächtig seinen Hut abgenommen hatte und mit ernstem Auge die Scene beobachtete.

»Bst! Und wenn er es gethan hat, Ma'ame, so geschah es ganz zufällig, ohne alle schlimme Absicht. Nicht wahr, Master Sisty? So rede doch,« fuhr sie flüsternd fort, »oder Papa wird sehr böse werden.«

»Nun,« sagte meine Mutter, »ich will annehmen, daß es ein Zufall war; nimm Dich aber in Zukunft in Acht, mein Kind. Ich sehe, es thut Dir leid, daß Du mich betrübt hast. Da hast Du einen Kuß, und sei jetzt ruhig.«

»Nein, Mama. Du mußt mich nicht küssen, ich verdiene es nicht. Ich habe den Blumentopf absichtlich hinuntergeworfen.«

»Ha! und weßhalb?« frug mein Vater, indem er zu uns trat.

Mrs. Primmins zitterte wie ein Espenlaub.

»Aus Scherz!« sagte ich und ließ den Kopf hängen. »Um zu sehen, was Du für ein Gesicht dazu machen würdest, Papa. Das ist die Wahrheit, und nun schlage mich – schlage mich, Papa!«

Mein Vater warf sein Buch fünfzig Schritte weit von sich, beugte sich nieder und schloß mich in seine Arme. »Junge,« sagte er, »Du hast Unrecht gethan; aber Du sollst es wieder gut machen, indem Du Dein ganzes Leben eingedenk bleibst, daß Dein Vater Gott gelobt, weil Er ihm einen Sohn gegeben, der sich durch die Furcht nicht abhalten ließ, die Wahrheit zu sagen. O, Mrs. Primmins, noch eine Fabel dieser Art, welche Sie ihn lehren wollen, und wir sind geschiedene Leute für immer!«

Von dieser Stunde an war ich mir bewußt, daß ich meinen Vater liebte und von ihm geliebt wurde; von jener Zeit an begann er auch. Unterredungen mit mir anzuknüpfen. Wenn er mich im Garten traf, ging er nicht länger mehr mit einem Lächeln und Kopfnicken an mir vorüber, sondern blieb stehen und steckte sein Buch in die Tasche. Obgleich seine Gespräche für mein Fassungsvermögen oftmals zu hoch waren, so fühlte ich mich doch glücklicher und besser, und weniger als Kind, wenn ich über seine Worte nachdachte und deren Sinn zu ergründen suchte, denn er hatte eine eigenthümliche Art, nicht sowohl, zu belehren, als vielmehr Gedanken anzuregen, deren Ausarbeitung er alsdann meinem eigenen Kopfe überließ. Ich erinnere mich namentlich eines Beispiels, welches mit eben jenem Blumenstock und Geranium im Zusammenhang stand. Mr. Squills, der unverheirathet war und sich in sehr guten Verhältnissen befand, machte mir öfters kleine Geschenke. Nicht lange nach dem erwähnten Vorfall erfreute er mich mit einer Gabe, deren Werth den eines gewöhnlichen Kindergeschenkes weit überstieg – es war ein schönes, großes Dominospiel aus gemalten, und vergoldeten, Elfenbein. Dieses Domino war mein höchstes Entzücken. Ich ward nie müde, mit Mrs. Primmins damit zu spielen, und schlief die Nacht mit der Schachtel unter meinem Kopfkissen.

»Ah,« sagte mein Vater eines Tages, als er mich im Wohnzimmer die elfenbeinernen Täfelchen ordnen sah, »ich glaube, dieses Domino ist Dir lieber, als alle Deine andern Spielsachen, nicht wahr?«

»O ja, Papa!«

»Es würde Dir wohl sehr leid thun, wenn Deine Mama die Schachtel aus Scherz zum Fenster hinauswerfen und zerbrechen würde?«

Ich sah bittend zu meinem Vater auf, ohne zu antworten.

»Vielleicht aber würde es Dich recht freuen,« begann er wieder, »wenn plötzlich eine von jenen guten Feen, von welchen Du in Deinen Büchern liesest, die Dominoschachtel in ein schönes Geranium in einem schönen blau und weißen Blumentopfe verwandeln würde, und Du das Vergnügen haben könntest, ihn an das Fenster Deiner Mama zu stellen?«

»Ja gewiß!« sagte ich halb weinend.

»Mein lieber Junge, ich glaube Dir; allein gute Wünsche vermögen schlimme Handlungen nicht wieder gut zu machen – sie müssen durch gute Handlungen ausgeglichen werden.«

So sprechend schloß er die Thüre und ließ mich allein. Ich kann nicht sagen, in welche Verwirrung seine Worte mich versetzten, da ich durchaus nicht herausfinden konnte, was er damit hatte sagen wollen. So viel aber weiß ich noch, daß ich an jenem Tage nicht mehr Domino spielte. Den nächsten Morgen fand mich mein Vater allein unter einem Baume im Garten sitzend; er blieb stehen und sah mich mit seinen ernsten, klaren Augen fest an.

»Mein Sohn,« sagte er, »ich mache einen Spaziergang nach – (einer etwa drei Viertelstunden entfernten Stadt); willst Du mit mir gehen? Beiläufig, hole doch Deine Dominoschachtel, ich möchte sie gerne dort Jemand zeigen.«

Ich eilte fort, um die Schachtel zu holen, und trat alsdann, nicht wenig stolz darauf, mit meinem Vater auf der Landstraße gehen zu dürfen, mit ihm den Weg nach der Stadt an.

»Papa,« begann ich nach einiger Zeit, »es gibt jetzt keine Feen mehr.«

»Und was denn, mein Kind?«

»Nun – wie kann denn dann meine Dominoschachtel in ein Geranium in einem blau und weißen Blumentopf verwandelt werden?«

»Mein liebes Kind,« erwiederte mein Vater, seine Hand auf meine Schulter legend, »Jedermann, dem es mit dem Guten ernst ist, hat stets zwei Feen bei sich – eine hier,« und er deutete dabei auf mein Herz, »und eine hier,« indem er meine Stirne berührte.

»Ich verstehe Dich nicht, Papa.«

»Ich kann warten, bis Du mich verstehen wirst, Pisistratus! (Welch' ein Name!)«

Mein Vater trat bei einem Kunstgärtner ein und blieb, nachdem er die Blumen angesehen, vor einem großen gefüllten Geranium stehen. »Ach, dieses ist noch schöner, als dasjenige, welches Deiner Mama so lieb war. Was kostet es, Herr?«

»Nur 7 Schillinge 6 Pence,« antwortete der Gärtner.

Mein Vater steckte seine Börse ein. »So viel kann ich heute nicht geben,« sagte er ruhig, und wir entfernten uns.

Als wir in die Stadt kamen, führte mich mein Vater in einen Laden mit Porzellanwaaren. »Haben Sie noch einen ähnlichen Blumentopf, wie derjenige war, welchen ich vor einigen Monaten bei Ihnen kaufte? Ah, hier ist einer, mit dem Preis von 3 Schillingen 6 Pence bezeichnet. Ja, das kostete auch jener. Nun, wenn Deiner Mama Geburtstag wieder kömmt, müssen wir ihr einen andern kaufen. Das währt freilich noch etliche Monate. Aber wir können warten, Master Sisty. Die Wahrheit, welche das ganze Jahr hindurch blüht, ist besser, als ein armes Geranium, und ein Wort, das nie gebrochen wird, ist besser, als ein Stück Steingut.«

Mein Kopf, welcher zuvor niedergesunken war, hob sich wieder; aber der Freudenstrom, der sich nach meinem Herzen ergoß, erstickte mich beinahe.

»Ich komme, um meine kleine Rechnung zu bezahlen,« sagte mein Vater, indem wir einen Spielwaarenladen betraten, in welchem alle Arten hübscher Kleinigkeiten zu sehen waren. »Uebrigens glaube ich,« setzte er hinzu, während der Kaufmann lächelnd den Posten in seinem Buche nachschlug, »mein kleiner Sohn hier kann Ihnen eine viel schönere Probe französischer Arbeit zeigen, als jenes Arbeitskästchen war, zu welchem Sie letzten Winter Mrs. Caxton ein Loos zu nehmen veranlaßten. Zeige Deine Dominoschachtel, mein Kind.«

Ich brachte meinen Schatz zum Vorschein, und der Kaufmann war freigebig mit Lobeserhebungen.

»Es ist immer gut, mein Sohn, zu wissen, was eine Sache werth ist, für den Fall, daß man sie weggeben wollte. Was könnten Sie meinem jungen Herrn für sein Spielzeug geben, wenn er dessen überdrüssig würde?«

»Ich fürchte,« erwiederte der Kaufmann, »wir könnten nicht mehr als achtzehn Schillinge dafür berechnen, ausgenommen, wenn der junge Herr einige von diesen hübschen Sachen dagegen nehmen wollte.«

»Achtzehn Schillinge!« sagte mein Vater. » Soviel würden Sie geben? Nun, mein Sohn, wenn Du jemals Deine Dominoschachtel müde wirst, so hast Du meine Erlaubniß, sie zu verkaufen.«

Mein Vater bezahlte seine Rechnung und verließ den Laden. Ich blieb noch einige Augenblicke zurück und holte ihn am Ende der Straße wieder ein.

»Papa! Papa!« rief ich, die Hände zusammenschlagend, »wir können das Geranium kaufen – wir können den Blumentopf kaufen!« Und ich zog eine Hand voll Silbermünzen aus meiner Tasche.

»Habe ich nicht Recht gehabt?« sagte mein Vater, indem er mit seinem Taschentuch über die Augen fuhr. – »Du hast die beiden Feen gefunden!«

O, wie stolz, wie überglücklich war ich, als ich den Blumentopf an das Fenster gestellt und meine Mutter, sie am Kleide zupfend, veranlaßt hatte, mir dahin zu folgen!

»Es ist sein Werk und von seinem Gelde bestritten,« sagte mein Vater. »Er hat durch eine gute Handlung die schlimme wieder ausgeglichen.«

»Wie!« rief meine Mutter, nachdem sie alles gehört; »Deine schöne Dominoschachtel, die Dir so theuer war! Wir wollen morgen hingehen, und sie wieder zurückkaufen, und wenn sie das Doppelte kosten sollte.«

»Wollen wir sie zurückkaufen, Pisistratus?« frug mein Vater.

»O nein – nein – nein! Es würde alles verderben,« rief ich und verbarg mein Gesicht an meines Vaters Brust.

»Meine Gattin,« sagte mein Vater feierlich, »dies ist der erste Unterricht, den ich unserm Kinde gegeben – die Heiligkeit und das Glück der Selbstverleugnung. Vereitle nicht, was er daraus lernen soll bis zum letzten Tage seines Lebens!«

Und dies ist die Geschichte des zerbrochenen Blumentopfes.


Fünftes Kapitel.

Zwischen meinem siebten und achten Jahre ward eine Veränderung an mir bemerkbar, welche vielleicht allen Eltern, die sich des beängstigenden Segens eines einzigen Kindes zu erfreuen haben, mehr oder weniger bekannt ist. Die gewöhnliche Lebhaftigkeit des kindlichen Alters verließ mich; ich wurde still, gesetzt und nachdenkend. Der Mangel an Spielgefährten, die mit mir in gleichen Jahren standen, und der Umgang mit Erwachsenen, welcher nur mit völliger Einsamkeit abwechselte, verliehen entweder meiner Einbildungskraft oder meinem Verstande eine allzufrühe Reife. Die abenteuerlichen Sagen, welche meine alte Wärterin in der sommerlichen Dämmerung oder am winterlichen Herde mir einflüsterte – die Anstrengung meines ringenden Geistes, die ernste und doch so liebliche Weisheit in meines Vaters Andeutungen zu erfassen – dienten dazu, einen Hang zur Träumerei in mir zu nähren, welche alle meine Seelenkräfte in die höchste Thätigkeit und Spannung versetzte, gleich den Träumen, die den Menschen heimsuchen, wenn er dem Erwachen nahe ist. Ich hatte mit Leichtigkeit lesen und mit ziemlicher Geläufigkeit schreiben gelernt und fing bereits an, nachzuahmen und wiederzugeben. Seltsame Geschichten, denjenigen verwandt, welche ich aus dem Feenlande gesammelt, rohe Verse, den Gedichten, die mir zufällig in die Hände fielen, nachgebildet, begannen die Schiefertafeln und Hefte zu bedecken, welche für die minder ehrgeizigen Zwecke der Uebung in runder Schrift und im Multipliciren bestimmt waren.

Die Liebe, welche ich zu meinen Eltern hegte, hatte etwas Krankhaftes und Peinliches, so daß ich unter der Leidenschaft meiner Empfindungen wirklich litt. Ich weinte oft bei dem Gedanken, wie wenig ich für Diejenigen, welche mir so theuer waren, thun konnte. Am liebsten schuf sich meine Einbildungskraft Schwierigkeiten für sie, die mein Arm beseitigen sollte. Diese Gefühle machten meine Nerven in hohem Grade reizbar und empfindlich. Die Natur begann einen mächtigen Einfluß auf mich auszuüben, und eben daraus entsprang eine rastlose Begier, den Zauber zu zergliedern, der mich so geheimnißvoll zu Freude oder Furcht, zum Lächeln oder zu Thränen bewegte. Ich ließ mir von meinem Vater die Elemente der Astronomie erklären und entlockte Mr. Squills, der ein eifriger Botaniker war, einige Geheimnisse aus dem Leben der Blumen. Meine größte Leidenschaft wurde jedoch die Musik. Meine Mutter (obgleich die Tochter eines großen Gelehrten, bei dessen Namenserwähnung mein Vater den Hut abzuziehen pflegte, wenn er zufällig einen solchen auf dem Kopfe hatte) besaß, wie ich ehrlich gestehen muß, weniger Bücherweisheit, als in unserm erleuchteteren Zeitalter die Tochter manches geringen Handwerkers zu besitzen sich rühmen kann. Dagegen hatten sich einige natürliche Anlagen, der Himmel weiß, wie, in schönster Weise entwickelt. Ihre Zeichnungen waren mit feinem Geschmack und ihre gemalten Blumen mit wirklicher Vollkommenheit ausgeführt. Sie spielte verschiedene Instrumente mit mehr als Schülerfertigkeit, und, obgleich sie in keiner anderen als ihrer eignen Sprache sang, so konnten doch Wenige ihre süße Stimme hören, ohne von derselben tief ergriffen zu werden. Ihr Spiel und ihr Gesang machten einen wunderbaren Eindruck auf mich. So erfaßte denn eine Art träumerischer und zugleich wonniger Melancholie mein ganzes Wesen, was um so auffallender erschien, als mein Temperament früher keck, lebhaft und fröhlich gewesen war. Die Veränderung in meinem Charakter begann auch auf meinen Körper zu wirken, und aus dem kräftigen, muntern Kinde wurde ein blasser, schmächtiger Knabe. Ich fing an zu kränkeln und wurde immer stiller. Man berief Mr. Squills.

»Laßt' ihn nicht immer über seinen Büchern sitzen,« sagte dieser. »Schickt ihn hinaus in's Freie – er soll spielen. Komm' her, mein Junge – diese Organe werden zu groß,« und Mr. Squills, der ein Phrenologe war, legte seine Hand auf meine Stirne. »Alle Welt, Herr, das ist eine Idealität für Sie; und, Gott behüte mich, welch' eine Construction!«

Mein Vater schob seine Papiere bei Seite und ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab; er sprach jedoch kein Wort, bis sich Mr. Squills entfernt hatte.

»Meine Liebe,« begann er hierauf, gegen meine Mutter gewendet, an deren Brust ich meine schmerzende Idealität lehnte – »meine Liebe, Pisistratus muß jetzt allen Ernstes in die Schule.«

»Ich bitte Dich, Austin! – in seinem Alter?«

»Er ist nächstens acht Jahre.«

»Aber er ist schon so weit voran.«

»Eben darum soll er in die Schule.«

»Ich verstehe Dich nicht ganz, mein Lieber. Zwar weiß ich wohl, daß ich ihn nichts mehr lehren kann, aber Du –«

Mein Vater ergriff die Hand meiner Mutter – »Wir beide können ihn jetzt nichts lehren. Kitty,« sagte er. »Wir schicken ihn in die Schule –«

»Zu einem Schulmeister, der viel weniger weiß, als Du –«

»Zu Knaben, die wieder einen Knaben aus ihm machen werden,« entgegnete mein Vater beinahe traurig. »Meine Liebe, erinnerst Du Dich unseres Gärtners aus Kent, der uns jene Haselnußbäume setzte? Sie standen im dritten Jahre, und Du begannst schon auszurechnen, was sie einbringen würden. Da kamst Du eines Morgens in den Garten und fandest sie bis auf den Boden hinunter beschnitten; Du warst ärgerlich und frugst den Gärtner, weßhalb er es gethan. Was antwortete er Dir? ›Um ihr zu frühes Tragen zu verhindern.‹ Es ist kein Mangel an Fruchtbarkeit hier – laß' uns aber die Zeit des Ertrags hinausrücken, damit die Pflanze erstarke.«

»Laßt mich in die Schule gehen,« sagte ich, den matten Kopf erhebend und meinem Vater zulächelnd. Ich hatte ihn sogleich verstanden, und es war, als ob die Stimme meines Lebens selbst ihm antwortete.


Sechstes Kapitel.

Ein Jahr nach dem auf diese Weise gefaßten Entschlusse war ich in den Ferien zu Hause.

»Ich hoffe, daß Sisty recht behandelt wird,« sagte meine Mutter. »Es kömmt mir vor, als begreife er lange nicht mehr so schnell, als ehe er in die Schule ging. Ich wollte, Du prüftest ihn, Austin.«

»Ich habe ihn bereits geprüft, meine Liebe. Es ist ganz so, nie ich erwartete, und ich bin vollkommen zufrieden.«

»Wie, Du findest wirklich, daß er vorwärts gekommen?« entgegnete meine Mutter erfreut.

»Er kümmert sich jetzt im geringsten nicht mehr um Botanik,« bemerkte Mr. Squills.

»Und welche Freude hatte er früher an der Musik, der grobe Junge!« setzte meine Mutter mit einem Seufzer hinzu. – »Gütiger Himmel, was für ein Lärm war das?«

»Deines Sohnes Knallbüchse im Fenster,« erwiederte mein Vater. »Ein Glück, daß es nur den Scheiben galt, obgleich der Lärm weniger betäubend gewesen wäre, wenn er, wie gestern Morgen, Mr. Squills Kopf getroffen hätte.«

»Das linke Ohr,« bemerkte Mr. Squills; »und ein tüchtiger Schlag war's, wahrhaftig! Doch, Sie sind zufrieden, Mr. Caxton?«

»Ja, ich denke, der Junge ist jetzt ein eben so großer Dummkopf, wie die meisten Knaben seines Alters.«

»Um des Himmels willen, Austin – ein großer Dummkopf!«

»Wozu sonst wurde er in die Schule geschickt?« frug mein Vater; und als er ein gewisses Entsetzen in dem Gesichte seiner Zuhörerin und ein gewisses Erstaunen in demjenigen seines Zuhörers bemerkte, stand er auf und trat an den Herd, indem er eine Hand in seine Weste steckte, wie er zu thun pflegte, wenn er bei seinem Philosophiren mehr als gewöhnlich, auf Einzelnheiten einging.

»Mr. Squills,« begann er, »Sie haben viele Erfahrung.«

»Eine so gute Praxis, wie irgend eine in der Grafschaft,« versetzte Mr. Squills stolz. »Mehr, als ich bemeistern kann. Ich werde mich nach einem Gehülfen umsehen.«

»Da müssen Sie die Bemerkung gemacht haben,« fuhr mein Vater fort, »daß beinahe in jeder Familie eines der Kinder von Vater, Mutter, Onkel und Tante für ein Wunderkind erklärt wird.«

»Eines zum mindesten,« erwiederte Mr. Squills lächelnd.

»Es ist leicht, dies für elterliche Parteilichkeit zu halten – allein dem ist nicht so. Prüfen Sie als Fremder das Kind, und Sie werden selbst überrascht sein; Sie werden staunen über seine Wißbegierde und schnelle Auffassungsgabe, seine treffenden Antworten und klaren Begriffe. Oft auch finden wir eine besondere Fähigkeit auffallend entwickelt; das Kind hat vielleicht Sinn für Mechanik und macht uns das Modell eines Dampfbootes; oder es hat ein Ohr für Verse und schreibt ein Gedicht, gleich demjenigen, welches es aus dem »Declamator« auswendig lernte – es studirt vielleicht Botanik (wie Pisistratus) mit einer alten Jungfer Tante, oder spielt einen Marsch auf dem Pianoforte seiner Schwester. Kurz, Sie selbst, Mr. Squills, müssen zugeben, daß es ein Wunderkind ist.«

»Auf mein Wort,« sagte Mr. Squills gedankenvoll, »es liegt viel Wahres in dem, was Sie sagen. Der kleine Tom Dobbs ist ein wunderbares Kind – ebenso Frank Steppington – und was vollends Johnny Styles betrifft, so muß ich ihn einmal hierher bringen, damit Sie selbst ihn über Naturgeschichte schwatzen hören und sehen können, wie geschickt er mit seinem kleinen Mikroskop umzugehen weiß.«

»Der Himmel bewahre mich davor!« entgegnete mein Vater. »Aber lassen Sie mich fortfahren. Diese Thaumata oder Wunder währen – wie lange, Mr. Squills? Bis der Knabe in die Schule kömmt, und alsdann zerfließen sie in dünne Luft, wie die Geister beim Hahnenschrei. Nachdem das Wunderkind ein Jahr in der Schule gewesen, quälen uns Vater und Mutter, Onkel und Tante nicht mehr mit Berichten über sein Thun und Reden; das außerordentliche Wesen ist ein ganz gewöhnlicher kleiner Knabe geworden. Ist es nicht so, Mr. Squills?«

»In der That, Sie haben Recht, Herr. Wie kamen Sie aber dazu, solche Beobachtungen zu machen? Sie scheinen doch niemals –«

»Bst!« unterbrach ihn mein Vater, blickte dann liebevoll auf das ängstliche Gesicht meiner Mutter und fuhr beruhigend fort: »Sei getrost, meine Liebe; es ist weislich so eingerichtet – und zu unser Aller Bestem.«

»Es muß der Fehler der Schule sein,« sagte meine Mutter, den Kopf schüttelnd.

»Es ist die Nothwendigkeit der Schule und ihre Tugend, mein Käthchen. Man behalte irgend eines dieser Wunderkinder – und wäre es so wunderbar, wie Sisty selbst in Deinen Augen war – zu Hause, und man wird sehen, wie sein Kopf immer größer und größer, sein Körper dagegen immer schmächtiger und schmächtiger wird – nicht wahr, Mr. Squills? – bis der Geist dem Leibe alle Nahrung entzieht, und dieser alsdann hinwiederum den Geist in Fesseln schlägt oder krank macht. Wir sehen jene edle Eiche vom Fenster aus – hätte ein Chinese sie gezogen, so wäre sie nach fünf Jahren ein Miniaturbaum gewesen, und nach hundert hätte man sie nicht größer, als nach fünfen, in einem Blumentopf auf den Tisch stellen können – als Wunder von Reife in dem einen und von Winzigkeit in dem andern Alter. Nein, die Schule ist die Feuerprobe für das Talent. Aus dem verkümmerten Männchen muß wiederum ein Kind werden, und alsdann wird es, wenn es kann, gesund, kühn und natürlich seinen langsamen Weg zur Größe sich bahnen. Und wenn Größe ihm versagt ist, so wird wenigstens ein Mann aus ihm werden, und das ist besser, als das ganze Leben hindurch ein kleiner Johnny Styles zu bleiben – eine Eiche in einer Pillenschachtel.«

In diesem Augenblick stürzte ich glühend und keuchend in das Zimmer, Gesundheit auf den Wangen, Kraft in den Gliedern, kindliche Lebensfreudigkeit im Herzen.

»O Mama, ich habe den Drachen zum Steigen gebracht – so hoch! – Komm und sieh! Papa, o, komme auch!«

»Gewiß,« erwiederte mein Vater; »nur schreie nicht so laut. Drachen machen beim Steigen keinen Lärm, und doch siehst Du, wie hoch sie sich über die Welt aufschwingen. Komm, Käthchen! Wo ist mein Hut? Ah – danke Dir, mein Junge.«

»Kitty,« sagte mein Vater, indem er nach dem Drachen aufblickte, welcher, mit der Schnur an einen Pfahl befestigt, den ich in die Erde geschlagen hatte, ruhig am Himmel schwebte, »fürchte nicht, daß unser Drache nicht eben so hoch fliegen werde, denn die menschliche Seele hat einen stärkeren Trieb, sich aufwärts zu schwingen, als einige Bogen Papier in einer Holzrahme. Merke indeß wohl, daß, wenn er sich nicht in der Freiheit des Raumes verlieren soll, wir ihn leicht an die Erde befestigen müssen; und merke ferner, meine Liebe, daß, je höher er sich aufschwingt, um so fester wir ihn halten müssen.«



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