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Einundzwanzigstes Kapitel.

Niemand dachte jetzt an Abreisen. Mayer depeschierte nach seinen Apparaten und Instrumenten. Als sie kamen, durchleuchtete er die verwundete Stelle, fand den Sitz des kleinen Geschosses und holte es mit Eleganz und Präzision, wie es seine Art war, heraus. Erst nachdem er sich noch überzeugt hatte, daß weder nachts noch am folgenden Tag bedenkliche Erscheinungen eintraten, reiste der große Mann nach seiner verwaisten Klinik zurück.

Maria hatte stillschweigend, wie etwas Selbstverständliches, die Haushaltsleitung übernommen, während Tante Guendoline sich mit Wolfine in die Pflege des Patienten teilte.

Ein wunderbarer Friede war in dem alten Herrenhof eingezogen. Der tiefgebeugte Hausherr richtete sich von einem Tag zum andern mehr auf. Sein Blick wurde freier, seine Stirn glatter.

Wie wenn in schwülen Sommertagen ein heftiges Gewitter niederrasselt und die stickige Luft reinigt, so war es in Mervisrode: ein unendlich erleichtertes, tiefes Aufatmen!

Nun hatte es ein paar Tage lang geregnet. Wolfine stand in dem von Susi eingebauten Erkerfenster des Salons und sah in den Hof hinunter, wo eben ein mit Koffern und Kisten beladener Wagen abfuhr.

Es waren Susis Sachen, die sie sich telegraphisch nach Paris bestellt hatte. Bianka hatte sorglich alles zusammengetragen, was ihrer Herrin gehörte oder gehören konnte, und Günther hatte stillschweigend zugelassen, daß auch manches Stück mitwanderte, an das Susi gar kein Anrecht hatte.

Bianka selbst saß in Reisekleidern neben dem Fuhrknecht auf der hölzernen Kutschierbank, um ihrer armen mißhandelten Herrin in die Verbannung zu folgen. Sie allein hatte sich trotz allem, was vorgefallen war, von dem Bann Susis nicht frei machen können oder wollen. Sie besaß auch jetzt noch das Vertrauen Susis und hatte erzählt, daß die Frau Baronin eine Zufluchtsstätte bei seiner Erlaucht, dem Herrn Reichsgrafen von Torndorff gefunden habe. Man hatte die Verletzung Uglars als ein Susi passiertes Ungeschick hingestellt, aber, so wenig unwahrscheinlich dies auch war, glaubte im stillen keine Seele daran. Man schwieg natürlich, da der Herr es wünschte, doch man fühlte die Wahrheit.

Wolfine hatte das Erkerfenster geöffnet und lehnte sich hinaus in den feinen grauen Herbstregen, der so still und unablässig herabrieselte.

Auf einem mit Haferstrohbündeln beladenen Leiterwagen stand eine von Günthers Tagelöhnerinnen, ein kräftiges junges Weib mit panierartig über den Hüften hochgenommenem dunkelblauen Kleiderrock, darunter den bis etwas über die Kniee reichenden, hochroten Flanellunterrock. Sie bückte sich tief, lud Strohlasten auf und warf sie mit kräftigem Schwung einem in der Bodenluke der Scheune stehenden Knecht zu.

»Wie schwer sie arbeiten muß!« dachte Wolfine.

Jetzt fiel ihr von oben eine ganze Last Stroh auf den gebeugten Rücken!

Das Weib richtete sich auf, blickte nach oben und lachte fröhlich. Aus der Bodenluke antwortete des jungen Burschen Lachen.

Wolfine dachte: »Sie ist doch glücklich.« Ein melancholisches Gefühl der Vereinsamung umschlich sie.

Eben in diesem Moment hörte sie jemand im Salon gehen und wandte sich um. Es war Hohenecke, und er trat zu ihr ans Fenster.

Ob er noch den schwermütigen Ausdruck in ihren Zügen aufgefangen hatte?

»Wolfine,« sagte er in dem weichen Ton, den er nur ihr gegenüber zuweilen annahm, »willst du nicht endlich zu mir kommen?«

Sie schaute ihm verwirrt in die Augen.

Da fuhr er fort: »Ich habe vor Jahren deine Ausrede gelten lassen müssen. Die hat heute keine Gültigkeit mehr, denn du hast mein Kind lieb gewonnen. Willst du das leugnen?«

»Nein.«

»Nun also?«

Er breitete einfach die Arme aus, und sie ließ sich nehmen und umfassen und fühlte tiefen Frieden. Diesmal war er im rechten Augenblick gekommen.


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