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Achtzehntes Kapitel.

Kurz darauf begleitete Wolfine ihren Vetter nach dem bescheidenen Dorfwirtshaus, in dem er und Mayer abgestiegen waren und in dem sie wohnen und essen wollten, solange Frau von Tschirn noch unter ihres Mannes Dach weilte.

Wolf Hohenecke und Wolfine unterhielten sich über das während des Sommers Erlebte.

»Hast du eigentlich deine Tochter schon gesehen?« fragte Wolfine plötzlich.

»Ja, flüchtig begrüßt habe ich sie und ihr mitgeteilt, daß ich sie mit nach Berlin nehme. Ehe diese Scheidungsangelegenheit nicht beendet ist, mag ich sie hier nicht lassen. Kommst du mit uns?«

»Ich weiß nicht.«

Er sah sie scharf an. »Du bist schlapp, Wolfine! Wo steckt dein Temperament? Mir scheint, du hättest längst wie das heilige Donnerwetter in diesen Unfug hineinfahren sollen. Dies laisser faire et laisser aller hat noch nie zu etwas geführt.«

Wolfine sah auf die Kornhalme, die ein letzter Erntewagen über den Weg gestreut hatte.

»Ich habe mich immer bemüht, das Menschliche, Echte, Teilnahmswerte hinter Maske und Flittern herauszufinden. Und dann wartete ich eben doch auf dich.«

»So weich mit diesem Teufelchen und so hart mit mir!« sagte er halblaut vor sich hin.

»Aber natürlich! Die Schwachen und Krüppel behandelt man mit Schonung, an die Starken stellt man höchste Forderungen.«

»Hm. Jedenfalls hast du über mein Kind gewacht, und dafür danke ich dir.«

»Es war nicht viel zu bewachen. Maria hat sich mit sicherem Instinkt von Susi fern zu halten gewußt. Und Susi machte es ihr leicht. Sie hat wohl gewittert, daß ihre Komödiantenkunst an der einfachen, grundvornehmen Natur Marias verloren war.«

Wolfine sah nicht das überraschte, freudige Aufleuchten seiner Augen. Sie dachte auch nicht daran, daß sie eben mit warmen Worten von dem Mädchen gesprochen hatte, von dem sie ihm einst erklärt hatte, daß sie es nicht lieben könne.

»Es ist eigentümlich, wie stark sie an diesem Fleck Erde hängt,« meinte er, »das junge Ding hat einen Seefahrer zum Vater und ist die richtige Hauskatze. Als ich ihr sagte, daß sie sich fürs erste nicht wieder in Mervisrode verankern werde, wurde sie blaß.«

»Ja; diesen Zug kann ich auch gar nicht an ihr verstehen.«

An der Wirtshausthür trennten sie sich. Er hatte einige Briefe zu schreiben.

Als ob eine köstlich herbe, reinigende Luft vom geliebten Meere her das Dorf durchwehe, war es Wolfine, während sie langsam nach dem Herrenhof zurückging. Tief und wohlig atmete sie.

Wie hatte sich hier nur in einer Stunde alles verwandelt.

Sie sah im Hof Uglar mit seinem Rad stehen, offenbar eben erst nach Hause gekommen, und bei ihm Maria.

Der Anblick des schönen, kavaliermäßig aussehenden blonden Menschen, der sie sonst zu erfreuen pflegte, war ihr in diesem Augenblick schrecklich. Er hatte ja eine schmähliche, schändliche Rolle in der Tragikomödie dieses Hauses gespielt! Wie konnte er es nur noch wagen, so kameradschaftlich mit diesem reinen Mädchen zu verkehren. Es graute ihr, zu denken, wie oft und gemütsruhig sie Maria im tête-à-tête mit diesem verdorbenen Menschen gesehen hatte.

Rasch ging sie auf die beiden zu.

»Sie wissen wohl schon, daß Marias Vater hier ist, um seine Tochter mitzunehmen,« sagte sie in kaltem Tone zu Uglar.

»Er hat recht,« entgegnete der mit finsterem Gesicht, »er hätte die Komteß längst fortholen sollen.«

Maria sah Wolfine mit flehendem Blick an.

»Hast du für mich gebeten?« fragte sie mit zitternden Lippen.

»Nein, Maria, ich kann nicht – weil ich glaube, daß dein Vater im Recht ist. Ich sehe auch wirklich nicht ein, daß es ein solches Unglück für dich ist. Du wirst Schwereres zu ertragen haben, als die Trennung von einem geliebten Heim.«

Auch Uglar redete ihr zu und sprach dabei in so zarter Weise und in so gütigem, warmen Ton, daß Wolfine für den Moment alle seine Sünden vergaß.

»Wir in Mervisrode Zurückbleibenden verlieren ja mehr als Sie,« sagte er, »und doch würde ich Ihrem Herrn Vater nur zureden. Sie müssen aus dieser ungesunden Atmosphäre wirklich einmal heraus, Komteß Maria.«

Maria griff mit hilflos tastender Bewegung nach ihrer Stirn, seufzte tief, wie aus beklemmenden Träumen heraus, wandte sich stumm ab und ging durch den Garten nach dem offen stehenden Gartenthor und hinaus auf das Stoppelfeld, auf dem die tauglitzernden Sommerfäden hingen, wie Gewebe der Elfen.

»Wenn sie nur nicht gar so scheu und stumm wäre!« sagte Wolfine, während sie dem jungen Mädchen nachsah. »Sie gleicht wohl mehr der Mutter, als dem Vater. Eine Tschirn ist sie, wie mir scheint. Auch die Tante Guendoline Tschirn und Günther gehören zu den Stummen des Himmels.«

Vom Hof her tönte unablässig das »Gauter, gauter, gauter!« des cholerischen Truthahns.

Wolfine wandte sich, da Maria hinter der Mauer verschwand, nach Uglar um.

Der stand und schaute auf seine gelben Sommerschuhe. Sein Gesicht sah so traurig aus, wie es Wolfine noch nicht an ihm gesehen.

»Sie nehmen uns unsern guten Engel,« sagte er mit halber Stimme. Es war, als habe er Wolfines Blick gefühlt, der forschend auf ihm ruhte.

»Ja, und ihr wird es so schwer! Ihr ist Mervisrode zur Heimat geworden, und die Heimatsliebe scheint bei ihr das stärkste Gefühl zu sein. Aber es muß sein.«

»Ja, es muß sein,« wiederholte er tonlos.

»Sie wird diesen ersten Schmerz überwinden. Sie muß es. Wem bleibt es erspart?«

Als er nichts erwiderte, sah sie ihm aufmerksam ins Gesicht und sah, daß er Thränen in den Augen hatte.

Ihre ganze Zuneigung für ihn erwachte noch einmal.

»Herr von Uglar!« rief sie warm, »warum reißen Sie sich nicht los, koste es, was es wolle! Ist diese Sklaverei eines Mannes würdig! Mit sehenden Augen lassen Sie sich zu Grunde richten.«

Er schüttelte matt den Kopf.

»Geben Sie mich auf! Ich selbst habe mich aufgegeben. Es lohnt sich auch nicht mehr um mich. Ich komme nicht mehr von dieser verfluchten Frau los, obwohl ich sie oft hasse. Manchmal denke ich, solche Weiber sollte man rücksichtslos zertreten wie eine Schlange!«

»So denken Sie und doch ...«

»Doch kann ich nicht los. Ich bin eben schon kaputt, eigentlich so gut, wie ein Toter, dem ihre Künste nur noch ein Scheinleben suggerieren. – Aber was liegt an mir? Ich war einmal. Bitte, gnädiges Fräulein, seien Sie so gut und gehen Sie der Komteß nach. Ich fürchte ...«

Er sprach nicht weiter, sondern wandte sich ab.

Maria saß hinter der Mauer auf einem Felsstein am Rande des weiten, breiten Stoppelfeldes unter Apfelbäumen, an denen die Aepfel sich schon röteten.

Erst dachte Wolfine: »O, sie ist ganz ruhig!«

Als sie ihr aber näher kam, hätte sie doch lieber heftiges Weinen gehört, als sie so zu sehen, wie sie sie sah.

Dies starre, grünlich blasse Gesicht, dies sich Hin- und Herwiegen, wie in unerträglicher Qual, diese matten todestraurigen Augen!

»Maria!« sagte Wolfine mit sanftem Vorwurf, »was ist das? So groß ist das Unglück nicht. Wenn es noch in die Fremde ginge! Aber zu deinem Vater! Einem solchen Vater! Liebst du deinen Vater so wenig?!«

Maria griff mit beiden Händen nach dem Kopf – der Strohhut lag neben ihr im Grase. Sie schien etwas antworten zu wollen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Immer nur dies verzweifelte sich Hin- und Herwiegen.

Dies mußte aufhören, so oder so. Wolfine machte einen Versuch mit Strenge.

»Nimm dich zusammen, ich bitte dich. Diese völlige Fassungslosigkeit zeigt, daß du schon zu lange hier gewesen bist.«

Da stammelte Maria: »Er ... er ... nun verdirbt sie ihn ganz.«

Es lief Wolfine eiskalt den Rücken hinunter.

»Von wem sprichst du?«

Keine Antwort.

»Wen meinst du?« wiederholte Wolfine in streng forderndem Ton. »Wer ist ›er‹?«

Maria hob den Blick zu Wolfine. Die groß geöffneten, klaren Augen schienen verwundert zu fragen: wen gibt es denn noch außer ihm?!

Ihr Mund sagte, wie etwas, was sich ja von selbst versteht: »Uglar.«

Und dann, während Wolfine halb betäubt von dem unerwarteten Schlag stand und mühsam ihre Gedanken zusammensuchte, kam auf einmal Leben in die Gestalt des jungen Mädchens. Sie sprang auf und streckte mit flehender Gebärde Wolfine die Hände entgegen.

»Liebe, liebe Wolfine, bring den Papa dazu, mich hier zu lassen! Ich kann nicht fort – ich kann nicht von hier fort und von ihm! Du glaubst nicht, wie nötig ich für ihn bin!«

»Für Herrn von Uglar?!!«

»Ja! Ich weiß, daß der Papa auf dich mehr als auf irgend einen Menschen hört. Erbarme dich, Wolfine! Ich muß bei ihm bleiben.«

»Was du da sagst, Maria, ist entsetzlich! Herr von Uglar darf dich nie etwas angehen, nie, nie! Du kannst ihm auch gar nicht helfen. Bedenke, daß er frei gewesen ist, zwischen dir und Susi zu wählen, dies ganze Jahr, und daß er dich nicht gewählt hat. Was sind das für heillose Verirrungen!«

Wolfine rang in heller Verzweiflung über ihre eigene Unaufmerksamkeit und Blindheit die Hände. Das also war hier vorgegangen, und sie stand seit Monaten daneben und ließ sich von Susi alberne Märchen erzählen und Komödie vorspielen und sah von dem Wichtigsten und Verhängnisvollsten nichts!

»Er war nicht frei,« entgegnete Maria fest. »Als ich ihn kennen lernte, war er schon der Gefangene dieser schlechten Frau. Ich wußt' es freilich damals nicht. Und als ich begriff, was zwischen ihnen vorging, war es für mich zu spät.«

»Du weißt also, daß er nicht ihr Bruder ist?!«

»Ach, ich weiß alles. Du denkst, ich bin ein Kind. Ich bin es nicht.«

»Wer sagte dir? ...«

»Niemand. Ja, doch, Susi sagte es mir auch einmal, aber da wußte ich es längst. Ich habe doch Augen! Ich habe doch ein wenig Verstand!«

»Und da möchtest du noch irgend etwas mit ihm zu thun haben?!«

»Hast du niemals geliebt, Wolfine?«

Wolfine schwieg – sah zur Seite.

Leidenschaftlich fuhr Maria in ihrem Bekenntnis fort:

»Als er kam, zuerst, mit ihr, weißt du, hielt ich ihn natürlich für ihren Bruder. Und er war sehr lieb mit mir, sehr! Nachher, als ich merkte, was er für Susi war, konnt' ich's nicht mehr ändern. Es machte mich sehr unglücklich, aber ich hatte ihn nun einmal so lieb und hab' ihn nur immer mehr lieb gewonnen, je mehr er mir leid that. Und dich hab' ich lieb bekommen, weil ich sah, daß du gut für ihn warst. Wenn du nun aber fort bist, hat er nur noch mich als Gegengewicht gegen den Einfluß dieser gewissenlosen Frau.«

Sie sagte alles dies nicht geläufig, sondern langsam, nach Worten suchend, kindhaft unbehilflich.

»Er ist deiner Liebe und deines Mitleids nicht wert,« predigte Wolfine; »die Rolle, die er hier in diesem Hause deinem Onkel Günther gegenüber gespielt hat, ist einfach eine Ehrlosigkeit. Gott sei Dank sind endlich deinem Onkel die Augen geöffnet worden! – Wahrscheinlich verlassen Susi und Uglar Mervisrode noch vor dir und mir.«

Maria schlug die Hände vor die Augen.

»Dann ist alles aus!« stöhnte sie.

Eine Weile überließ Wolfine das arme Mädchen seinem stummen und starren Schmerz. Dann mahnte sie liebevoll: »Du hast die ganze Zeit her eine staunenswerte Kraft an den Tag gelegt, mein armer Liebling! Soll die Kraft im entscheidendsten Augenblick nun versagen? Sei wieder du selbst, meine tapfere, sich beherrschende Maria! Meine stolze Maria! Ihres Vaters echte Tochter.«

Dieser Anruf, dessen Zärtlichkeit bei Wolfine etwas ganz Außergewöhnliches war, blieb nicht ohne Wirkung. Das junge Mädchen umarmte Wolfine stumm und begleitete sie dann willig und gefaßt nach dem Hause.

Im Garten kam ihnen Mayer entgegen.

»Weiß sie?« fragten seine rasch nach Maria blickenden Augen, und Wolfines Augen antworteten ebenso deutlich: »sie weiß.«

Neben Wolfine gehend, berichtete er ihr mit halber Stimme: »Ich habe eine Unterredung mit Uglar gehabt, und darauf hat es in meiner Gegenwart eine sehr ruhige Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern gegeben. Uglar stellte sich dem Herrn von Tschirn zur Verfügung, aber dieser hat begreiflicherweise nicht das leiseste Verlangen, wegen eines Frauenzimmers, dessen Verdorbenheit sich ihm so hüllenlos offenbart hat, sich mit einem Mann, in dem er ein Opfer ihrer Ränke sieht, zu schlagen. Er hat ihn also nur ersucht, mit oder ohne Frau Susi Mervisrode zu verlassen. Und da Ihr Herr Vetter sich großherzigerweise bereit erklärt hat, Herrn von Uglar seinen Gutsanteil bar auszuzahlen, so macht der Geldpunkt keine Schwierigkeiten. Diese Angelegenheit hat sich leichter geordnet, als zu erwarten stand.«

»Der arme Tschirn!« sagte Wolfine.

»Jetzt ist er doch weniger beklagenswert als vorher,« entgegnete Mayer; »er ist in der Lage eines Menschen, an dem nach langen Schmerzen endlich die Operation eines wurzelkranken Zahnes vorgenommen worden ist. Die Nerven zucken und schmerzen bei der Gewaltsamkeit des Eingriffs ja noch etwas, aber die Genesung ist doch eingeleitet.«

»Nur, daß zertrümmerte Illusionen nicht so gut ausheilen, wie eine Wunde im Zahnfleisch.«

Ein leiser Seufzer Marias wandte Wolfines Aufmerksamkeit wieder auf das junge Mädchen. Hier war vielleicht eine Blüte geknickt, um sich nie mehr ganz aufzurichten! Von allen, die durch Susis verderbliche Wesensart zu Schaden gekommen waren, war Maria gewiß das unschuldigste und bedauernswerteste Opfer. Jeder Gedanke an diese unglückselige Verknüpfung lastete mit furchtbarer Schwere auf dem Herzen Wolfines.

In ihrer sehr stillen Art trennte sich Maria von den andern und begab sich in das Haus.

Wolfine, die noch in ihrem Radfahranzug war, wäre auch am liebsten ins Haus gegangen, um sich zu waschen und umzukleiden, aber Doktor Mayer hatte sichtlich den Wunsch, sich ihr gegenüber noch etwas auszusprechen. So ließ sie ihn reden und wandelte mit ihm den Gartenweg auf und nieder.

»Sie wissen,« sagte er, »ich bin ein Jude und will ein Jude sein und bin stolz darauf, ein Jude zu sein und dem Volk anzugehören, aus dem der größte aller Menschen hervorgegangen ist. Ich behaupte, daß dies ein Adelsbrief ist, wie niemand sich eines besseren rühmen kann. Aber ich habe mir niemals verhehlt, daß wir Juden ein greisenhaftes Volk sind, trotz aller noch sichtbaren Zähigkeit und Kraft. Und daß unsre Greisenhaftigkeit Erscheinungen von so verderblichem Charakter zeitigt, daß ich sie mit dem Greisenbrand vergleichen möchte. Zu diesen zersetzenden Fäulnissymptomen rechne ich insbesondere diese Leo-Taxil-Naturen, zu denen auch Frau Ilka von Tschirn gehört: die, gänzlich verlassen von der Kraft, wirklich zu leben, sich ein Scheindasein dadurch ermöglichen, daß sie einen Lebensinhalt bewußt vortäuschen. Statt zu leben, taschenspielern sie mit dem Leben, an dessen Ernst sie nicht mehr glauben, und füttern ihre blutlosen Seelen mit Ueberlegenheitswahn ihren viel einfacheren, viel unbewußteren, kindhafteren und darum gläubigen Opfern gegenüber. Diese Spezies meiner Stammesgenossen erachte ich für Leichengift! Sie bringen allem gesunden Leben, mit dem sie in Berührung kommen, Blutvergiftung, die, wenn nicht rechtzeitig energisch eingegriffen wird, zu Tod und Verwesung führen muß. Ich möchte sie – im Interesse meines Volkes zuallernächst! – mit Feuer und Schwert vom Erdboden getilgt sehen.«


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