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Als Ralph und Davis nach Kalkutta kamen, ließen sie ihr Gepäck am Bahnhof stehen und fuhren gleich zu Herrn Janoji Rao, einem vornehmen Inder, an den Davis von einem Universitätsschüler, einem jungen Hindu, Sri Rama, empfohlen war.

»Rao bedeutet Fürst,« erklärte Davis, »es ist ein Name, den alle Brahmanen aus dem Mahrattageschlecht, dem Janoji angehört, führen. Uebrigens ist er wirklich aus einem Rajahgeschlecht von einem der vielen kleinen Staaten in Rajputana, dem Lande zwischen Bombay und Delhi, die alle unter britischer Oberhoheit stehen. Den Fürsten wird von einem politischen Agenten auf die Finger gesehen, der über ihre Politik und Wirtschaft wacht; im übrigen regieren sie selbst.«

»Das heißt mit anderen Worten: man hat den Kern genommen, und ihnen edelmütig die Schalen überlassen.«

»So kann man es auch nennen. Vergessen Sie aber nicht, daß, bevor die Weißen den Kern nahmen, wie Sie sagen, diese Fürsten nichts anderes taten, als sich gegenseitig die Kerne zu rauben, während die armen Untertanen mit Leib und Gut dafür bezahlen mußten. Jetzt dagegen herrscht Ruhe und Ordnung in ihren Ländern.«

Ralph schwieg und dachte über seine Worte nach.

Janoji Rao wohnte in dem ersten Hotel der Stadt, auf der breiten Cowringhee-Street, der vornehmsten und belebtesten Straße des europäischen Viertels.

Davis schickte seine und Ralphs Karte zu ihm hinauf. Nach einigen Minuten erschien ein großer, schwarzbärtiger Hindu, mit einem strengen, verschlossenen Gesicht, in der Halle, grüßte feierlich und machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Warum wohnt solch vornehmer Mann in einem Hotel?« fragte Ralph, indem sie den langen, halbdunklen Korridor entlanggingen.

»Er ist ein Abtrünniger!« Davis senkte seine Stimme mit Rücksicht auf den Diener, der natürlich Englisch konnte, obgleich er sich ganz verständnislos stellte, »er hat in Oxford studiert, in Paris und Belgien gewohnt und sich in den Vereinigten Staaten aufgehalten, sehr gegen den Willen seiner Familie. Er kehrte unheilbar europäisch im Aeußeren und in seinen Lebensgewohnheiten zurück. Seine Familie betrachtete ihn als einen verlorenen Sohn. Seine Mutter, die alte verwitwete Rani in Rajputana, wollte ihn nicht einmal in seiner neuen Kriegsmalerei empfangen. Wenn man meinem Hinduschüler aber Glauben schenken darf, so gingen der Familie bald die Augen dafür auf, was es mit seinem Abfall für eine Bewandtnis hatte. Der Europäismus war eine Maske, unter der es ihm glückte, für das ›junge Indien‹ zu wirken, die Bewegung zu organisieren. Jetzt macht die Familie sich Sorge darüber, daß er zu hinduisch ist. Und es müßte merkwürdig zugehen, wenn die Regierung nicht dieselbe Entdeckung gemacht hat, denn Kalkutta ist das größte Spionennest der Welt. Die Regierung belauert die Eingeborenen und die fremden Weißen, besonders die Deutschen und Russen; die Brahmanen belauern die Regierung; die Fremden die aufrührerischen niederen Kasten und Anhänger der verschiedenen neureligiösen Bewegungen, die sich wiederum gegenseitig belauern. Innerhalb der rechtgläubigen Kasten belauert man sich gegenseitig, ob auch die Kastenregeln innegehalten und dem Geist der um sich greifenden Auflösung keine Zugeständnisse gemacht werden, und mitten dazwischen sitzen Japaner in ihren Gespinsten und belauern die ganze Gesellschaft, um kleine nützliche Winke für die Regierung in Tokio zu sammeln.«

»Wenn Sie bereits so viel von Janoji wußten, bevor Sie noch im Lande waren, ist es begreiflich, daß die Regierung auch allerhand weiß.«

»Dazu ist zweierlei zu bemerken. Erstens bin ich Amerikaner und nicht Engländer. Zweitens bin ich in meiner Stellung als Universitäts-Professor, besonders genanntem Schüler Sri Rama gegenüber, als erklärter Freund der Nationalisten aufgetreten. Allein kraft meiner Wissenschaft bin ich ein Beschützer des Rechtes aller Rassen. Mir kann man vieles anvertrauen, wie revolutionär es auch sein mag. Das wußte Sri Rama besser als einer.«

»Aha!« sagte Ralph und lachte.

Davis verzog keine Miene.

»Ich brauche Sie wohl nicht erst um äußerste Diskretion für das zu bitten, was ich Ihnen freundschaftlich von diesen Dingen mitteile,« sagte er feierlich.

»Bewahre!« antwortete Ralph. Ihre Blicke begegneten sich, ein plötzlicher Blitz von Unwillen traf Davis aus Ralphs scharfen Augen.

»Was ist seine bürgerliche Stellung?« fragte Ralph kurz darauf.

»Er ist ein Kollege von mir, insofern, als er die indischen Sprachquellen in der Bibliothek der hiesigen asiatischen Gesellschaft studiert. Uebrigens behauptet Sri Rama, daß er im geheimen Eigentümer mehrerer revolutionärer Zeitungen in Bengalen und Rajputana ist.«

»Was wollen Sie von ihm?«

»Er kann mir bei meinen Studien von Nutzen sein,« sagte Davis nach kurzem Zögern.

»Ist es noch weit,« fragte er den Diener, der voranging. Der große Hindu zeigte auf das Ende des Korridors, merkte aber im selben Augenblick, daß er überrumpelt worden war, als er verraten hatte, daß er die englische Sprache verstand. Er drehte sich hastig wieder um, und Davis sah Ralph lächelnd an.

»Ich hoffe,« flüsterte Davis, »daß Rao uns zu einer der Sitzungen mitnehmen wird, die in der Villa seines Onkels, eines alten, reichen Mannes, vor der Stadt abgehalten werden. Wenn Rao den Sitzungen beiwohnt, trägt er sein Mahratta-Kostüm, ebenso wie andere. Auch wenn er seine alte Mutter besucht; in einem anderen Kostüm will sie ihn nicht empfangen.«

»Wie gut Sie Bescheid wissen!«

Davis lächelte.

»Ich unterrichte mich über alle diejenigen, die mir von Nutzen sein können.«

Jetzt waren sie am Ziel angelangt.

Der Hindu riß die Tür weit auf, zog sich ganz in den Hintergrund zurück und ließ die Fremden eintreten.

Sie befanden sich in einem hohen Eckzimmer, mit zwei großen Fenstern, von denen das eine zur Esplanade, das andere zu einem vornehmen Eckhaus in der Seitenstraße hinausging.

Ralph hatte eine stillose Einrichtung von europäisch-amerikanischem Zuschnitt, mit orientalischen Elementen vermischt, erwartet; Herrn Raos Zimmer aber hatte nicht das geringste Exotische an sich.

Ein tiefer, weicher Teppich von derselben Grundfarbe wie die Tapeten an den Wänden, stimmte harmonisch mit den Sesseln überein, die an der Wand zwischen hohen Bücherborden standen. Eine geschmackvolle Bronzekrone an der Decke, vorm Fenster ein riesengroßer Schreibtisch, schwarz mit elfenbeinerner Schreibgarnitur. Mitten im Zimmer ein viereckiger Tisch mit Prachtwerken. Ein niedriger, breiter Diwan mit dunklem Leder überzogen, und einige Klubsessel im selben Stil.

Das Zimmer war leer. Ralph hatte Zeit, sich die Bilder an den Wänden anzusehen: da waren erstklassige Photogravüren, ein Rembrandtporträt, ein Millet, Murillos Maria mit dem Kind, nichts, das einen persönlichen Geschmack verriet, nichts Intimes. In der Ecke zwischen den Fenstern aber entdeckte er auf einem Tischchen eine kostbare Wasserpfeife; endlich einmal etwas Orientalisches. Und jetzt begriff er auch, was es für ein eigentümliches Parfüm war, das das Zimmer füllte: ein Duft von Honig, welken Rosen, feinem Weihrauch, türkischen Zigaretten, all die Bestandteile, woraus ein ausgesuchter Wasserpfeifentabak zusammengesetzt ist.

Da ging die Tür auf und ein hoher, schlanker Mann in den Dreißigern kam herein.

Auf den schmalen Schultern trug er einen stolzen, schlanken Kopf, mit bläulichen Bartschatten von den Ohren bis zum Kinn. Das schwarze Haar legte sich glatt an die hohlen Schläfen; ein schimmernder weißer Scheitel reichte von der blanken Stirn bis zu dem hohen Kragen im Nacken. Die Gesichtsfarbe war beinah europäisch, mit einem gelblichen Rand um die tiefliegenden, glanzlosen Augen. Die Nase war fein gebogen, schmal und groß. Um die blauroten, hübsch geschwungenen Lippen, die dem Gesicht Ausdruck verliehen, hatten leidenschaftlicher Zorn, leidenschaftliche Freude und Kummer eine Spur gegraben.

»Ich bin Professor Davis!« sagte Davis, als Raos Blick fragend von einem zum andern ging, und er trat lächelnd mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Rao faßte sie mit seiner langen, schmalen Hand und behielt sie, bis Davis Ralph vorgestellt hatte.

»Das ist mein Freund Ralph Cunning, Ingenieur aus Neuyork, berühmt wegen seiner ›Himmelsbrücke‹.«

Rao lächelte und drückte Ralph die Hand.

»Es freut mich sehr – bitte nehmen Sie Platz.«

Er sprach englisch, fast ohne Akzent; seine leichte Verbeugung, die elegante Handbewegung, mit der er sie zum Sitzen aufforderte, waren die Manieren eines Weltmannes. Ralph betrachtete ihn mit wachsendem Interesse, während Davis das Wort führte und die ganze Liebenswürdigkeit aufbot, über die sein Lächeln und sein kraftvoller Blick verfügten.

Als Davis seinen Schüler Sri Rama nannte, wurde der Ausdruck in Raos höflich lauschendem Gesicht zum erstenmal persönlich. Die glanzlosen Augen bekamen Blick, die Spur um den Mund zeigte Freude. Er beugte sich näher zu Davis und fragte:

»Wie geht es ihm?«

Davis sprach sich voll Lobes über seinen Schüler aus, hob seinen Fleiß und seinen Charakter hervor und fügte hinzu:

»Er und ich haben ganz dieselben Anschauungen, dieselben Sympathien. Ich bin stolz auf sein Vertrauen.«

Raos Wangen färbten sich mit leisem Rot; er beugte leicht den Kopf, als sei er es, dem das Lob galt, und als Davis seine Brieftasche herausnahm und ihm den Brief überreichte, den Sri Rama ihm zur Empfehlung mitgegeben hatte, zeigte die Spur um den Mund ein wirkliches Lächeln, ein warmes und edles, das Ralph erfreute.

Während er las, bewegten Raos Lippen sich, vielleicht weil sie den Worten folgten, vielleicht weil sie von Bewegung zitterten. Darauf faltete er den Brief zusammen und steckte ihn zu sich. Ein feuchter Glanz war in seinem Auge, als er sich zu Davis beugte und sagte:

»Ich bin mit Sri Rama verwandt und liebe ihn wie einen Sohn oder einen jüngeren Bruder; seine Freunde sind auch meine Freunde.«

Der Brief hatte sein Wesen verändert. Seine Stimme hatte etwas Einschmeichelndes, sein Blick etwas Warmes bekommen; es war, als ob er das Gefieder gewechselt habe.

Bei der Unterhaltung über die Verhältnisse in Indien, die jetzt folgte, bemerkte Ralph, daß Rao ihm häufig prüfende Blicke zuwarf. Wahrscheinlich fühlte er sich unsicher, weil er nichts über Davis' Reisebegleiter wußte. Ralph wollte sich gerade erheben und verabschieden, als Davis es bemerkte und ihm zuvorkam.

»Lieber Herr Rao, Sie können sich auf Herrn Cunning ebenso verlassen, wie auf mich. Wir haben dieselben Anschauungen über die Rechte der Rassen – ja, er geht fast noch weiter als ich.«

Davis erzählte von der gestohlenen Handtasche und von dem Verdacht, der ihnen von Bombay nach Benares gefolgt war. Er erzählte von seinem eigenen Abenteuer mit Kantra, indem er es so darstellte, als ob der Wunsch, durch sie einen Einblick in Dinge zu bekommen, die den Weißen sonst verborgen blieben, ihn geleitet hätte.

Rao lächelte. Ralph aber meinte, daß ein mißbilligender Ausdruck in seine Augen trat.

Auch Davis sah es und beeilte sich hinzuzufügen, daß Sri Rama ihn darauf vorbereitet hätte, daß seine sprachlichen und ethnographischen Studien ihn verdächtig machen würden, wenn nirgends anders, so doch bei der Regierung. Ebenfalls Herr Cunning, der in Gegenden reiste, die ganz außerhalb der gewöhnlichen Touristenroute lägen, und der nicht einmal ein bestimmtes Ziel hätte, wäre natürlich Verdächtigungen ausgesetzt. Ob es möglich sei, daß der Raub der Handtasche von irgendeinem Dienstbeflissenen der heimlichen Polizei ins Werk gesetzt worden wäre?

Rao zuckte die Achseln, leugnete es aber nicht. Sein Blick war geistesabwesend geworden, und Davis versuchte zu erraten, was sich in seinem Gemüt regte; er schien in diesem Nachsinnen eine Gefahr zu wittern.

»Wie dem auch sei,« sagte er schließlich, »Cunning und ich sind uns einig geworden, daß wir uns inkognito in Kalkutta aufhalten wollen. Sieht er nicht aus wie ein Großkaufmann,« – er zeigte scherzend auf Ralph. – »Ist er nicht der Teehändler Herr Teddyson? – Und sehe ich nicht aus wie sein Sekretär, mit meiner goldenen Brille und meiner Geschäftigkeit – Der Sekretär Herr – – Parker? Nun wohl, die Herren Teddyson und Parker erbitten sich Schutz bei dem ›jungen Indien‹ gegen die Gewaltherrschaft.«

Es wurde wie ein Scherz gesagt.

Rao zog die Brauen zusammen und hob den Kopf, Davis aber legte ihm die Hand auf den Arm und sagte:

»Lieber Herr Rao, wir sind Eingeweihte. Ich wußte, wer Sie sind, bevor ich hierherkam. Ich bewunderte Sie lange, bevor ich Sie kannte. Sri Rama hat es mich gelehrt.«

Raos Augen wurden dunkel. Er starrte Davis einen Augenblick durchdringend an, der seinen Blick lächelnd aushielt. Darauf beugte Rao den Kopf, als ob er sagen wollte: Ja, so ist es.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er, indem er von einem zum anderen blickte.

»Bezeichnen Sie uns bitte ein kleines Hotel, zweiten oder dritten Ranges, wo wir wohnen können, ohne die Aufmerksamkeit der Regierung zu wecken – einen Ort, wo keine weitgereisten Fremden einkehren, sondern Provinzkaufleute und Beamte. Und noch eins: Am liebsten muß der Wirt oder der Portier Japaner sein. Ich beabsichtige nämlich, mich von hier nach Japan zu begeben, die Sprache aber ist schwer, und es würde mir sehr von Nutzen sein, wenn ich Gelegenheit hätte, mich täglich darin zu üben und gleichzeitig Einblick in japanische Denkweise zu bekommen.«

»Das läßt sich wohl finden.«

Rao erhob sich und trat ans Fenster. Wie er dort im Profil stand und über die Esplanade blickte, in einem Gehrock der letzten Mode, die Hände auf dem Rücken, sich leicht auf den Hacken wiegend, erinnerte nichts daran, daß dieser Mann ursprünglich aus einer ganz anderen Umgebung war. Er sah aus wie ein Diplomat, der über eine Antwort nachdenkt, wie ein Millionär, der ein Börsenmanöver plant, während sein Sekretär auf Bescheid wartet.

Rao begab sich vom Fenster zum Bücherbord, nahm einen dicken Band heraus – er sah wie ein Adreßbuch aus – schlug an mehreren Stellen auf und sagte schließlich:

»Gleich vor der Stadt ist ein kleines drittklassiges Hotel, ›The old merchant‹, das einem intelligenten und tüchtigen Japaner, Herrn Danjuro, gehört, oder von ihm geführt wird. Ich habe ihm einst einen Dienst geleistet, wenn Sie ihn von mir grüßen und ihm sagen –«

Rao hielt inne und nahm seine Visitenkarte heraus.

»Wie waren doch noch die Namen?«

»Herr Teddyson, Teehändler, und Herr Parker, Forscher der asiatischen Sprachen, der bei ihm Stellung genommen hat, um das Ziel seiner Wünsche, Asien, zu erreichen.«

Rao lächelte und schrieb.

»Geben Sie ihm diese Karte, dann wird er den Herren Teddyson und Parker das Beste verschaffen, was sein Haus vermag, und er wird tun, was in seiner Macht steht, um Ihnen bei Ihren Studien zu helfen.« Rao blickte von einem zum anderen, als erwarte er eine Antwort. Davis und Ralph bedankten sich und erhoben sich abschiednehmend.

Ale Rao sie zur Tür begleitete, sagte er lachend:

»Für die Verpflegung übernehme ich keine Verantwortung.«

Er drückte ihnen die Hände, sprach die Hoffnung aus, daß er bald Gelegenheit haben würde, sie wiederzusehen und forderte sie auf, zu ihm zu kommen, wenn er ihnen mit irgend etwas helfen könnte. Als sie auf den Gang hinauskamen, glitt eine hohe Gestalt aus der Ecke und schritt vor ihnen her. Es war der Diener.

»Seine Vorfahren«, sagte Davis, »haben sicher seit vielen Generationen Raos Geschlecht gedient. Er ist mit dem Bewußtsein aufgewachsen, daß er das unbedingte Eigentum dieses Mannes ist. Wenn Rao von ihm verlangt, daß er sich vom dritten Stock aus dem Fenster stürzt, wird er es ohne zu murren tun. Ein wunderbares Land!«

Und Davis schritt in tiefen Gedanken hinter dem hohen Hindu her, – der sie an genau derselben Stelle in der Halle ablieferte, wo er sie vor einer Stunde abgeholt hatte.

 

Von der stattlichen Cowringhee-Street gelangten sie durch eine schmale, öde Gasse zu einer stark belebten Verkehrsader – Bow Bazar – und weiter nördlich durch ein Viertel von Krankenhäusern. Darauf fuhren sie durch das stille Viertel der Missionskirchen – hier hörten Davis' Ortskenntnisse auf – und kamen durch schmale, bunt belebte Straßen zu einer Vorstadtstraße, wo sie an einer hohen, verfallenen Gartenmauer, hinter der alte Feigen- und Palmenbäume standen, entlangfuhren. Noch einige Häuser weiter lag »The old merchant«, ein gelbliches, zweistöckiges Gebäude, mit grünen Sprossenfenstern; Ralph meinte, daß es über hundert Jahre alt sei.

Davis schickte den Chauffeur mit der Karte hinein. Kurz darauf kam ein kleiner schmächtiger Japaner, in einem engsitzenden, weißen Rock, an den Wagen und stellte sich als Direktor des Hotels, Herr Danjuro, vor.

Ralph führte als Herr Teddyson das Wort. Wenige Minuten später waren sie in zwei kleinen Zimmern einquartiert, die zu einem Gärtchen hinausgingen, das sich mit dem alten Garten vereinigte, an dem sie kürzlich vorbeigefahren waren. Hinter Bäumen sahen sie Eisenbahnschienen zwischen verstreuten Fabrikgebäuden und dahinter wieder einen Schimmer von dem flachen, weißen Land, mit dunklen Flecken von Baumgruppen und vereinzelten Gehöften.

»Hier ist es nicht übel!« sagte Ralph, nachdem er sich zwischen den alten Möbeln umgeblickt und die Liegestühle probiert hatte. Die Einrichtung erinnerte ihn an das kleine Hotel in Agra. So ungefähr mochte ein wohlhabendes Superkargo-Heim im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ausgesehen haben.

Während Ralph es sich bequem machte, ging Davis zu der teppichbelegten Halle hinunter, in altem englischem Stil mit farbigen Fenstern. In einer halbdunklen Loge, hinter einer Schranke mit einem Glasfenster, das heruntergeschoben werden konnte, saß Herr Danjuro an seinem Schreibtisch.

Davis gab ihm ihre Gepäckscheine, schwang sich vertraulich auf die Schranke und begann ein Gespräch mit dem Japaner.

Herr Danjuro hatte dichtes, struppiges, schwarzes Haar, das von der Stirn in die Höhe wirbelte, als ob es aus einer Narbe wüchse. Die Augen blitzten aus den Augenspalten, blank und hart, wie zwei polierte Ebenholzkugeln. Ein erstklassiger photographischer Apparat, dachte Davis bei sich. Ein Untergesicht, das wie eine Maske erstarrt war, ein Mund wie ein Streifen geronnenes Blut, und große, glatte Ohren, die fest am Kopf lagen.

Danjuro sprach gelassen, als habe er nie etwas anderes getan, als von einer halbdunklen Loge in einem kleinen Hotel das Wort zu führen; wenn er aber einen Befehl gab, verriet sein Tonfall, wie gedämpft er auch war, eine Überlegenheit, die unter größeren Verhältnissen geschult zu sein schien. Sein Gesicht war ganz ohne Ausdruck, nur durch die Bewegung seines Kopfes verriet er eine verständnisvolle Seele. Davis konnte sein Alter nicht schätzen. Bisweilen sah er wie ein verlöschter Greis aus, bisweilen wie ein aufgeschossener Junge; wenn er sprach, bewegten seine dünnen Finger sich wie Fühlhörner.

 

Davis stand mit Herrn Danjuro bald auf vertraulichem Fuß und faßte von Tag zu Tag mehr Interesse für ihn. Der Sekretär erzählte lustige Geschichten von seinem Prinzipal, der die fixe Idee hätte, seine Geschäftseinkäufe selbst zu machen und der nicht in den feinen Hotels wohnte, um sich nicht übers Ohr hauen zu lassen; der sich aber trotzdem den Luxus leistete, einen armen Gelehrten, wie ihn – Davis – als Sekretär mitzunehmen, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Studien an Ort und Stelle fortzusetzen.

Der Japaner amüsierte sich über seine Erzählungen. Er kam seinem Wunsch nach und sprach japanisch mit ihm, lachte über seine verkehrte Aussprache, berichtigte irrtümliche Anschauungen über das Sonnenreich im Osten und fand dazwischen Gelegenheit zu kleinen treuherzigen Fragen, die Davis mit ebensolch treuherziger Offenheit beantwortete.

Gelegentlich erzählte Davis von Ralphs Pech mit der Handtasche, und der Japaner erkundigte sich voller Interesse nach Herrn Teddysons Stellung in Amerika, nach Art und Umfang seines Geschäfts, ob Herr Parker ihn schon lange kenne und was das eigentliche Ziel seiner Reise sei. Der gesprächige Sekretär ließ es nicht an Aufklärungen fehlen und vertraute ihm an, daß ihm allerhand Merkwürdiges in Herrn Teddysons Treiben aufgefallen sei, wie umgänglich er auch als Prinzipal wäre. Aber – was ginge das ihn an. Er kannte ihn noch nicht lange, ein Gönner hätte Herrn Teddyson auf ihn – Parker – aufmerksam gemacht, und so sei sein Wunsch, nach Asien zu kommen, erfüllt worden.

Während Davis Japanisch studierte, ging Ralph seine eigenen Wege. Er hatte sich vergeblich bei Cook und in den Hotels nach Helen erkundigt. Jetzt versuchte er sich mit dem Gedanken zu versöhnen, daß sie bereits Indien verlassen habe.

Er fragte sich selbst Tag für Tag, was er eigentlich in dieser Stadt wolle. Oft war er drauf und dran, Davis seine Reisebegleitschaft zu kündigen und nach Singapur weiterzureisen, um sich dort nach Amerika einzuschiffen. Das Ziel seiner Reise hatte er nicht erreicht, warum dann nicht ehrlich die Niederlage zugestehen und entschlossen nach Hause zurückkehren? Seine Untätigkeit quälte ihn, aber der Gedanke, seine ehemalige Tätigkeit wieder aufzunehmen, weckte nur Widerwillen in ihm.

Wenn er des Morgens erwachte, ließ er sich indessen von dem fremdartigen Leben locken. Hier war so viel zu sehen und zu lernen für einen, der den Menschen hinter der Maske suchte, sowohl der weißen wie der schwarzen, für einen, der das Verhältnis zwischen Rassen und Zivilisation ergründen wollte. Er streifte im Automobil oder zu Fuß umher, suchte die Plätze auf, wo Weiße zwischen Eingeborenen verkehrten, wo die Rassen sich mischten, er ging zu den Docks und den großen Speichern am Fluß, wo Dampfer von verschiedenfabigen Händen im Dienst weißer Gehirne gelöscht und geladen wurden. Oft vergingen ganze Tage, wo Davis und er sich nur des Morgens sahen. Als er aber in einem Anfall von Mißmut Davis eines Tages mitteilte, daß er reisen wollte, machte Professor Davis, der sich in Kalkutta ungeheuer wohl zu fühlen schien, ihn darauf aufmerksam, daß ihr Aufenthalt erst acht Tage gedauert habe; er erinnerte ihn an den Besuch bei Rao, der ihnen sicher noch interessante Erlebnisse einbringen dürfte.

»Der kleine Japaner«, sagte Davis eines Abends, als sie nach dem Mittagessen beim Kaffee zusammensaßen, »umfaßt Sie mit ungewöhnlichem Interesse.«

Ralph sah ihn fragend an.

»Wenn wir unsere Sprachstunden haben, forscht er mich immer nach Ihnen aus.«

»Was will er denn wissen?«

»Ihre Stellung in Amerika, Ihre Anschauungen und das eigentliche Ziel Ihrer Reise.«

»Das ist nicht wenig.«

»Es ist merkwürdig, wie der Verdacht Ihnen hier in Indien auf den Fersen folgt. Zuerst die Handtasche und die Papiere, dann der Sannyasi und jetzt ein Japaner!«

Ralph lachte:

»Eigentlich müßte man irgend etwas vornehmen, damit diese guten Leute etwas für ihre Ungelegenheit haben. Können Sie mir nicht irgendeine Spitzbüberei vorschlagen?«

»Ernsthaft gesprochen – können Sie sich nicht einen Grund denken, warum man Sie im Auge behält? Auch Gamâl hat Sie ja, seit Sie im Osten reisen, mit Zwischenräumen verfolgt. Begegneten Sie ihm nicht zum erstenmal in Konstantinopel?«

»Mich verfolgt? Davon weiß ich nichts. Es handelt sich eher um ein zufälliges Zusammentreffen.«

»Und der Sannyasi?«

»Nun ja,« – Ralph sann nach, – »ich habe mich nie mehr mit Politik beschäftigt, als meine Tätigkeit unbedingt erforderte; es sei denn, daß man mich als Mitglied der ›Verantwortungslosen‹ –«

Davis wandte sich ihm zu:

»– Der ›Verantwortungslosen‹ –?«

Etwas in seinem Ton ließ Ralph aufblicken. Davis' Blick funkelte mit einer Mischung von Erstaunen und Mißtrauen, worüber Ralph lächeln mußte.

»Ich bin nur ein unwürdiges Mitglied, insofern als ich nicht Milliardär bin. Die Himmelsbrücke verschaffte mir die Ehre.«

»Ich könnte mir wohl denken,« sagte Davis nach einer kurzen Pause, während er jedes Wort wog, »daß man in gewissen Kreisen den heimlichen Klub der ›Verantwortungslosen‹ als einen politischen Faktor von Bedeutung betrachtet.«

Ralph dachte nach. Die Sache fing an ihn zu interessieren.

»Wann haben Sie Amerika verlassen?« fragte Davis.

»Zwanzig Tage vor Neujahr.«

»Glauben Sie, daß Gamâl weiß, daß Sie Mitglied der ›Verantwortungslosen‹ sind?«

Ralph suchte in seiner Erinnerung.

»Ich glaube, ich habe es ihm selbst erzählt, auf dem Dampfer im Marmarameer – als wir uns miteinander bekannt machten.«

»Sehr unvorsichtig,« murmelte Davis.

»Warum? – Er war übrigens in Neuyork bekannt und erinnerte sich meines Namens. Im übrigen finde ich, daß es eine Reise nur würzt, wenn man eine verdächtige Person ist.«

»Aber es ist gefährlich.«

»Haben Sie Angst, Herr Davis?« neckte Ralph wieder.

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, Herr Cunning, daß ich keine Furcht kenne, mich dünkt, ich habe Sie bereits vom Gegenteil überzeugt.«

Der Ton war gereizt, Davis war böse.

»Können Sie nicht Scherz verstehen, Mann?«

Ralph streckte ihm die Hand zur Versöhnung entgegen.

»Wie gesagt: ich betrachte es als eine Würze, und das kann mir doch niemand verbieten. Ich möchte meinen Verfolgern sogar etwas für ihre Mühe bieten, sonst verlieren sie noch die Lust und lassen mich fallen.«

»Daß Sie inkognito reisen, ist schon allerhand,« lachte Davis versöhnt, »ich möchte darauf wetten, daß Sie verfolgt werden. Ist Ihnen nicht irgend etwas aufgefallen.«

Ralph dachte nach und schüttelte den Kopf.

»In Zukunft werde ich genauer achtgeben.«

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«

»Nun.«

»Ueberzeugen Sie sich, ob Ihre Papiere durchsucht werden.«

»Wie soll ich das anfangen?«

»Legen Sie Ihre Briefe in eine ganz bestimmte Ordnung und notieren Sie sich genau, wie sie liegen; noch besser, machen Sie eine photographische Aufnahme davon. Man wird Ihre Papiere nicht untersuchen können, ohne sie wenigstens einen Millimeter zu verschieben.«

»Sie sind ein Sachverständiger, Herr Davis.«

»Ich bin Gelehrter. Genügt Ihnen das nicht?« sagte er grimmig.

Eine Stunde beschäftigte Ralph sich damit, seine Briefe nach bestimmten Grundsätzen zu ordnen.

Dann bekam er Lust Danjuro kennen zu lernen und ging in die Halle, um ein Gespräch mit ihm anzufangen und seine Neugierde zu reizen. Als er aber hinunterkam, war die Loge dunkel und leer und kein Danjuro zu sehen.

»Das hätte ich Ihnen gleich sagen können,« sagte Davis, als er davon hörte, »nach acht Uhr abends ist Danjuro nie mehr hier.«

»Ich glaubte, daß er hier wohnte.«

»Das tut er auch. Aber er geht jeden Abend aus und kommt nicht vor nachts nach Hause.«

»Woher wissen Sie das.«

»Wie ich Ihnen schon häufig gesagt habe: von Leuten, die mich interessieren, weiß ich immer Bescheid.«

 

Als Ralph am nächsten Tag bei Cook war, um seine Post zu holen, mußte er sich gedulden, bis ein Chinese in einem dunkelblauen, seidenen Kaftan abgefertigt worden war. Der Chinese sprach vorzüglich Englisch und der Angestellte von Cook behandelte ihn mit ausgesuchter Höflichkeit. Als er schließlich fertig war und sich zum Gehen wandte, trafen sich seine und Ralphs Blicke. In der lauernden Dunkelheit hinter den schmalen Augenspalten leuchtete ein Blitz des Wiedererkennens auf. Ralph sann nach, wo er diesen Mann schon mal gesehen hatte. In der Tür wandte der Chinese sich um, um seinen faltenreichen Aermel vom Türgriff zu befreien, und indessen ruhten seine Augen auf Ralph. Im selben Augenblick erinnerte Ralph sich des Chinesen vom Dampfer – des Gesandten, der sich auf der Heimreise befand, von seiner Frau begleitet, die die großen, echten Perlen getragen hatte, das blanke, schwarze Haar hoch im Nacken mit einem Kamm frisiert.

Ralph erwähnte es dem Angestellten gegenüber; dieser aber meinte, daß es ein Irrtum sei. Herr Laou Wo war ein chinesischer Großkaufmann, der im Namen seiner Regierung hergekommen wäre, um über den Export von Opium zu verhandeln, der, so war die Uebereinkunft zwischen Indien und China, in einigen Jahren ganz aufhören sollte. Davon hatte Ralph noch nichts gehört, aber es interessierte ihn, weil es ihm ein Zeichen dafür zu sein schien, daß der Geist einer besseren Zivilisation im Begriff war, sich Bahn zu brechen. Handelten die leitenden, weißen Kreise nicht gegen ihr eigenes ökonomisches Interesse, wenn sie einer unterlegenen Rasse die Hand boten, damit sie sich von einer uralten nationalen Last befreien konnte? – Und war es nicht ein Beweis dafür, daß Indien den Geist der wahren Zivilisation erkannt hatte, wenn es freiwillig davon Abstand nahm, Geld an diesem Gift zu verdienen? Der Angestellte aber teilte offenbar Ralphs Anschauung nicht, und da augenblicklich kein anderer Kunde im Laden war, äußerte er sich rückhaltlos und weitschweifig darüber.

Die Sache lag nämlich so: Nach den großen Boxeraufständen, die Hunderten von Weißen das Leben gekostet hatten und schließlich der europäisch-amerikanischen Zivilisation die Ausnutzung von Chinas natürlichen Reichtümern unmöglich machen würden, hatte man eingesehen, daß es notwendig war, den Mißbrauch von Opium aufzuheben, der letzten Endes die Ursache zu der Wildheit war, womit das besitzlose China aufgestanden, oder von heimlichen Gegnern der Weißen aufgestachelt worden war. Das Geld, das Indien verdiente, um China mit dem nationalen Gift zu versorgen, schien zu teuer bezahlt zu sein, und darum lieh die englische Regierung der Forderung der chinesischen Regierung ein offenes Ohr, die den Export beschränkt und schließlich ganz untersagt haben wollte. Man war sogar bereit, China dieses Recht zu einem noch früheren Zeitpunkt als verlangt zuzugestehen, wenn es beweisen konnte, daß es selbst kein Opium mehr produzierte. In dieser Angelegenheit war, soweit der Beamte wußte, Herr Laou Wo nach Kalkutta gekommen.

Der Angestellte verhehlte nicht, daß er die ganze Sache sehr bedenklich fand. Herr Cunning durfte nicht vergessen, daß es sich um große Einnahmen der indischen Staatskasse handelte. Voriges Jahr hatte man nicht weniger als sechs Millionen Pfund Sterling eingenommen, obgleich in den vergangenen Jahren die Produktion des Opiums bereits, als Folge der Uebereinkunft, zum großen Schaden weitester Interessen eingeschränkt worden war.

Als Ralph im Wagen saß, dachte er über die Worte des jungen Mannes nach. Sie schienen ihm ein Ausdruck für den Geist zu sein, womit die weiße Rasse durch Jahrhunderte ihre humane Aufklärung der Menschheit gegenüber praktisch betrieben hatte. Und er mußte an das denken, was Barnett in Madura von dem edlen Todastamm erzählt hatte, dem die Berührung mit den Europäern, von denen ein natürlicher Instinkt sie so lange ferngehalten hatte, das Leben kosten würde.

O ja, – Ralph wußte so gut wie einer, was dabei auf dem Spiel stand, wenn man alte, fest erworbene Produktions- und Handelsrechte aufhob: die vielen, die plötzlich brotlos wurden, die Entwertung von Boden, Maschinen und anderem Kapital, das in der Branche festgelegt war, Lahmlegung von Eisenbahnlinien, Tonnageverlust, die Panik, die allein der Kursfall der Papiere mit sich führen würde! Wer wollte da von dem einzelnen verlangen, daß er in die Bresche ging – der einzelne, der weiß, daß sein Opfer nur ein unmerklicher Gewinn für das Ganze bedeuten würde, während es sich für ihn um seine ganze Existenz handelte. Nein, nicht der einzelne, der weiß, daß er nur einem Konkurrenten schenkt, was er aufgibt, sondern die Regierungen mußten hier einschreiten. Wozu waren sie sonst da? Wenn Regierungen nicht im Namen der Menschlichkeit auftreten konnten, waren sie nichts weiter als eine Interessenmajorität. Was war die Zivilisation dann anderes als ein Geschäft in großem Stil! Wenn das Christentum mit seinen Geboten der Nächstenliebe Regierung und Zivilisation nicht zwingen konnte, die Gesetze der Menschlichkeit hochzuhalten, dann war es nichts anderes als ein Sonntagskleid, womit brutale Begierde ihre Nacktheit bedeckte.

Während Ralph so philosophierte, führte das Auto ihn am Schloß des Vizekönigs vorbei zur Esplanade, wo er von der Reihe der eleganten Gefährte aller Art aufgenommen wurde, die gleich nach Sonnenuntergang die vornehme Welt, sowohl die weiße wie die farbige, in hastiger Fahrt aus den erhitzten Häusern in die Abendkühlung führten.

Ralph befand sich plötzlich mitten in der Reihe, im Takt mit den anderen, nach dem unzusammengesetztesten aller Lebensgüter schmachtend: nach frischer Luft. Er gab sein nutzloses Philosophieren mit einem Seufzer auf und dachte, wie in ironischer Selbstverteidigung: ich bin ja Mitglied der ›Verantwortungslosen‹, worauf er sich bequem zurücklehnte und seine Genossen betrachtete.

 

Während Ralph den Korso auf der Promenade mitfuhr, hatte Davis im Hotel Besuch von einem Englisch sprechenden Herrn. Ein aufgedunsenes Gesicht, Säcke unter den Augen, spiritusglänzender Blick und ein fleckiger Khakianzug, so war die Erscheinung.

Er blieb neben der Tür stehen und nahm erst nach wiederholter Aufforderung Platz.

»Was bringen Sie mir, Herr Forbe?« fragte Davis und ließ seine Augen über den Khakianzug gleiten, der, wie sein Herr, bessere Tage gesehen hatte.

Herr Forbe blickte sich vorsichtig um, beugte den Kopf vor, und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Herr Danjuro hat eine Opiumkneipe in ... street Nr. 340.«

Davis sprang vom Stuhl auf und rieb sich die Hände, wandte sich wieder zu Forbe um, der ebenfalls aufgestanden war, und wartete auf weiteres.

»Ungefähr um acht Uhr öffnet er die Kneipe, er geht von hier direkt dorthin.«

»Was für Bedienung hat er?«

»Zwei chinesische Boys, wovon der eine an der Tür Wache hält.«

»Wer verkehrt dort?«

»Soweit ich sehen kann, sind es Leute von den Dampfern und Lagerhäusern, meistens Chinesen und Japaner, aber ich habe auch einen portugiesischen Schiffer gesehen, den ich von früher her kenne.«

»Kein Hindu? – Kein Siamese?«

»Nein, Herr.«

»Nur Leute der unteren Klassen?«

»Ja, Herr. Soweit ich es beurteilen kann.«

»Es ist gut.«

Herr Forbe bekam sein Geld und neue Instruktionen und verließ das Hotel just in dem Augenblick, als Ralphs Auto vor der Tür hielt. Herr Forbe blieb einige Schritte davon entfernt stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und musterte indessen den Reisebegleiter seines Klienten.

 

Einige Tage darauf begegnete Davis, als er von der Bibliothek der asiatischen Gesellschaft kam, wo er Rao vergeblich gesucht hatte, einem ältlichen Chinesen, im dunkelblauen Seidenkaftan, in der Tür des Hotels.

»Wer war das?« fragte er Danjuro, der in der Halle stand und mit dem Hausknecht sprach.

»Das ist Herr Laou Wo, er fragte nach Herrn Teddyson. Ich forderte ihn auf zu warten, aber er hatte keine Zeit und wollte wiederkommen.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein – hier ist seine Karte.«

Darauf stand: Laou Wo – Teehändler, Kanton.

»Sieh mal einer an – ein Kollege! – Was wußte er zu erzählen?« fragte Davis im leichten Unterhaltungston und setzte sich auf die Schranke, während Danjuro hinter dem Schreibtisch Platz nahm.

Der Japaner legte seinen beweglichen Kopf auf die Seite, blickte nachdenklich mit seinen Ebenholzkugeln zur Seite und bewegte seine Fühlhornfinger, während er sprach.

»Ja, was sagte er? – Er ließ sich allerhand von Herrn Teddyson berichten – wie lange er hier wohne – ob er große Geschäfte mache – ob ich glaubte, daß er Tee bei ihm kaufen wolle. Ich sagte, das würde er gewiß gern tun. War es nicht recht so? Ich meine, wenn man nichts weiß, muß man die Tür lieber offen halten, als sie zu schließen, nicht wahr?«

Davis nickte.

Danjuro blickte auf seine Fühlhörner herab und fuhr fort:

»Darauf erkundigte er sich nach dem Hotel, und als er erfuhr, daß ich der Mann selbst sei – auf eine Weise – nicht der Besitzer, wie Sie wissen – aber doch der Direktor ...«

Er blickte beifallheischend auf und Davis nickte wieder.

»Da wollte er durchaus, daß auch ich Tee von ihm kaufen sollte. Ich sagte ihm, daß ich versehen sei. Der Mann aber wollte nicht locker lassen. Ist es nicht gut, wenn man entgegenkommend ist, Herr Parker, und hat man nicht immer Verwendung für Tee? Feinen und guten Tee – nicht teuer!«

Danjuro nahm eine kleine Tüte, die auf dem Tisch lag, schüttete etwas davon in seine Hand, roch daran und bot Davis, der ebenfalls probierte und Beifall lächelte

»Ich kaufte also – nicht zu viel.«

»Wie in aller Welt aber hatte er Herrn Teddyson aufgespürt?«

Danjuro legte seinen Kopf auf die Seite und ließ seine Ebenholzkugeln wieder durch den Raum irren.

»Bei Cook – ja, bei Cook hatte er Herrn Teddyson getroffen.«

Dann begann Davis japanisch zu sprechen und Danjuro antwortete, lachte und verbesserte, während er zwischendurch seine Arbeit tat, Rechnungen beglich, seine Bücher führte und dem Laufjungen Anweisungen gab.

 

Abends, als Ralph und Davis vor dem offenen Fenster in ihrem Zimmer saßen und die schwache Kühlung genossen, die aus dem alten Garten heraufstieg, fragte Davis:

»Sagen Sie mal, haben Sie in Ihrem Koffer nachgesehen?«

»Wonach?«

»Nach den Papieren.«

Ralph erhob sich und legte die Zigarre aus der Hand.

»Wir wollen gleich mal sehen!«

Sie gingen in sein Schlafzimmer, wo sie zuerst feststellten, daß der Koffer noch genau an der bezeichneten Stelle stand.

Darauf öffnete Ralph den Koffer und nahm die Briefe aus dem Raum, wo er sie versteckt hatte. Er nahm sein Notizbuch und verglich.

»Sie sind berührt,« sagte er, »sehen Sie selbst!«

Es war unverkennbar, daß der kleinere Brief, der zuoberst gelegen hatte, den größeren auf andere Weise bedeckte, als in Ralphs Notizbuch beschrieben stand.

»Sehen Sie wohl!« sagte Davis.

»Wer kann es nur gewesen sein, zum Teufel?« Ralph ging interessiert auf und ab.

Davis zuckte die Achseln. »Es braucht weder Danjuro noch sonst einer vom Hotel gewesen zu sein.«

Ralph trat ans Fenster, maß die Entfernung mit den Augen und ließ seinen Blick prüfend über die Mauer schweifen.

»Hier kann niemand heraufkommen.«

»Warum sollte man sich auch die Mühe machen, durchs Fenster zu steigen, wenn eine Tür da ist?« sagte Davis trocken. »Danjuro kann ja nicht den ganzen Tag in der Loge sein. Es ist eine Kleinigkeit, hier hereinzugelangen, wenn man weiß, daß wir nicht zu Hause sind.«

»Der Chinese –!« Ralph wandte sich zu Davis um, »was in aller Welt wollte der hier?«

»Ich dachte an keinen Bestimmten,« sagte Davis, »ich meinte nur, daß es nicht nötig ist, die Fenster zu Hilfe zu nehmen.«

»Es tut mir nur leid,« sagte Ralph, »daß der Betreffende so wenig für seine Mühe gehabt hat. Ein Chiffretelegramm, eine verdächtige Broschüre, ein Manuskript oder dergleichen wären ihm sicher lieber gewesen.«

»Andererseits hat er aber auch keinen einzigen Geschäftsbrief gefunden, der von Tee handelt. Ist das nicht seltsam, wenn man in dieser Branche reist?«

Ralph lachte. »Sie haben recht. Ich bin in Wahrheit eine verdächtige Person. Ich werde mir ein scheues und hinterlistiges Wesen zulegen.«

»Womit Sie wahrscheinlich gerade die entgegengesetzte Wirkung erreichen würden. Wer sagt Ihnen übrigens, daß der, der die Briefe untersuchte, Sie selbst jemals gesehen hat?«

Ralph verharrte eine Weile nachdenklich. »Wenn wirklich etwas daran ist,« sagte er, »dann muß irgend jemand einer Sache auf der Spur sein, die mit dem Klub der ›Verantwortungslosen‹ zusammenhängt. Denn der Umstand allein, daß ich Mitglied bin, ist doch noch kein Grund.«

»Das ist nicht gesagt. Hier wird Spionage sportsmäßig betrieben. Man muß lieber zuviel als zu wenig wissen.«

Darauf fuhren sie zu einem Hindutheater in der Beadonstraße, das Danjuro ihnen empfohlen hatte.

* * *


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