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Ralph klopfte das Herz aus Angst, in welchem Zustand er seinen Reisegefährten finden würde. Er preßte sein Gesicht gegen die Eisenstangen in der Oeffnung und guckte in die Dunkelheit hinunter, aus der ein stöhnendes Schnarchen zu ihm heraufklang. »Davis,« rief er. Keine Antwort. »Davis,« rief er noch lauter und klopfte mit seinen Knöcheln gegen das Eisen. Da erinnerte er sich seiner Taschenlaterne, er zog sie heraus und richtete das Licht auf die Dunkelheit.

Da sah er ungefähr sechs Meter unter sich ein menschliches Wesen in Brahmanentracht auf einer Pritsche sitzen, gegen die kahle Mauer gelehnt, den Kopf schlafend auf die Brust gesenkt. Ralph löschte sein Licht sofort wieder aus und bückte sich; das stöhnende Schnarchen aber klang ungestört weiter. Da erinnerte er sich, daß Davis als Brahmane verkleidet, die Dewadasi aufgesucht hatte. Wieder zündete er die Lampe an und rief noch einmal. Da hob der Gefangene den Kopf und seine Hände griffen tastend an die Augen, um sie gegen das blendende Licht zu schützen. Ralph hörte einen Ausruf und erkannte die Stimme.

»Davis,« rief er, »ich bin es – Ralph Cunning!«

Ein heiserer Freudenruf klang zu ihm herauf. Davis war aufgesprungen und trat so dicht an die Luke, wie er kommen konnte.

Die achttägige Gefangenschaft in der Dunkelheit hatte ihn mager und blaß gemacht, die schwarzen Bartstoppeln gaben seinem Gesicht ein verändertes Aussehen, nur die lebhaften Augen schienen unverändert.

»Nehmen Sie sich in acht,« flüsterte Davis, »sobald die Sonne aufgegangen ist, kommt die Tempelwache und windet Essen und Trinken zu mir herab.«

»Haben Sie Not gelitten?«

»Ich habe von Hirsengrütze und Ghi gelebt und habe das Wasser des Flusses trinken müssen. Versuchen Sie, ob Sie etwas bei der Tür machen können. Aber beeilen Sie sich, denn die Tempelwache muß gleich hier sein.«

Ralph untersuchte die Tür. Sie hatte kein Schloß, aber zwei eiserne Riegel, die ganz einfach hochgehoben werden konnten.

Das war die Sache eines Augenblicks. Die Tür drehte sich in ihren Angeln, und Ralph sprang die Steinstufen hinunter. Davis ließ sich Zeit zu einem wortlosen Händedruck, griff nach seinem Notizbuch, das neben ihm auf der Steinpritsche lag, nahm seine Sandalen, die er während der Nacht gelöst hatte, und eilte die Treppe hinauf.

Sein Gesicht verzog sich zu einem krampfhaften Lächeln, als er von neuem das Prickeln des Lichtes auf seiner Haut spürte, die Augen mußte er bei dem ungewohnten Glanz zusammenkneifen. Er atmete die Luft in vollen Zügen und eilte dann, von Ralph gefolgt, die Stufen hinunter. Als sie die Wendeltreppe erreichten, tasteten sie sich im Dunkeln weiter, den Atem bei jeder Stufe anhaltend, um zu lauschen. Da kein Laut zu ihnen drang, schloß Ralph daraus, daß die Tempelwache noch nicht gekommen sei, denn wenn man den Krüppel geknebelt angetroffen, Shankar gefunden und gebunden hätte, wäre das alles wohl nicht so still vor sich gegangen, daß sie nicht etwas davon gehört hätten.

Wenige Augenblicke später standen sie im Vorraum und sahen in der schwachen Tagesdämmerung den Krüppel zusammengebunden neben seinen Krücken, wo Ralph ihn verlassen hatte. Shankar kam aus seinem Versteck hinter dem Türflügel hervor, blaß und zitternd von der Höllenangst, die er ausgestanden hatte. Er bat sie, ihn zuerst hinausschlüpfen zu lassen, damit sie ihn vor den Blicken des Krüppels decken konnten; denn wenn er seiner ansichtig wurde, würde er vor Sonnenuntergang ein toter Mann sein, solch furchtbares Vergehen war es, sich an dem mißgestalteten Heiligen zu vergreifen.

Sie ließen den Krüppel liegen – lange würde es ja nicht dauern, bis die Wache ihn fand – und eilten in die Vorhalle hinaus, wo die Tempelbuden lagen. Shankar suchte und fand die Gewänder, die die Handelnden trugen, wenn sie bei der Arbeit waren. Sie nahmen jeder einen Kittel, um ihre schmutzigen Kleider zu verbergen, und Shankar nahm sich noch extra einen, den er zu einem kunstvollen Turban um seinen Kopf schlang, so daß sein Gesicht ganz verborgen war und man ihn für einen jener Bußfertigen halten konnte, die sich selbst dazu verdammen, mit verhülltem Kopf zu gehen. Auf Davis' Rat begaben sie sich zum Tor der Elefanten, das bereits ein früheres Mal seine Rettung gewesen war. Sie warteten hinter Säulen versteckt, bis sie die Tiere in den Ställen beim Laut der Schritte ihrer Wärter prusten und schnaufen hörten. Der Wächter rief den heiligen Tieren durch das geschlossene Tor zärtliche Morgengrüße zu. Dann hob er den Riegel und die metallenen Flügel öffneten sich knarrend.

Ralph trat mit seinen beiden Begleitern vor. In der rechten Hand hielt er den Revolver unterm Mantel verborgen. In der Maske des wohlhabenden Sudra – mit geschwärzten Brauen und Walnußfarbe auf Gesicht und Händen – rasselte er vor den Ohren des erstaunten Türwächters mit Silbergeld und drückte ihm einige Rupien in die Hand. Erst als sie glücklich alle draußen waren, kam der verblüffte Tamule zur Besinnung.

Sie begegneten einem Bauern, der mit Gemüse zum Markt fuhr. Der Ochse trabte gelassen, während der Kutscher halb schlafend auf der Wagenstange saß und seine Morgengebete murmelte. Shankar rief ihn an, ohne sein Gesicht zu zeigen, und für fünf blanke Rupien nahm der Mann sie alle drei auf. So saßen sie denn zwischen Mangofrüchten und Bananen, so gut es ging, während der Kutscher den Schwanz des armen Zebus drehte, als ob er ein Korkenzieher sei, um den Ochsen mit der schweren Last anzutreiben.

Noch während der Fahrt kam Shankar mit seiner Forderung: Sein Leben sei in Gefahr, er müsse gleich mit dem Morgenzug auf und davon, bevor das Ereignis bekannt würde. Ralph gab ihm, was er an Geld bei sich hatte, und als sie vor dem Kollegium abgestiegen waren und der Wagen so weit fort war, daß der Kutscher weder sehen noch hören konnte, stellte Ralph ihm den Scheck auf fünfhundert Rupien aus, den er ihm versprochen hatte, und Davis fügte noch zweihundert hinzu. Shankar lief durch den Garten, quer über Rasen und Beete, winkte von weitem mit der Hand und verschwand über den Zaun, um einen Richtweg zum Bahnhof einzuschlagen.

Barnett trafen sie nicht an, er war von Schulstunden in Anspruch genommen, und Ralph wollte nicht, daß man ihn störte. Während sie badeten und sich umkleideten, sorgte der Sirdar dafür, daß für sie aufgetischt wurde. Nachdem sie gegessen hatten, machten sie es sich auf den Liegestühlen in der Veranda bequem und Davis erzählte.

Ramalingam hatte ihn nachts in dem Raum der Daja mit der Dewadasi überrascht. Tempeldiener, die im Hinterhalt warteten, hatten ihn übermannt und zum Gefängnis im Turm gebracht. Am nächsten Vormittag hatte man ihm einen Brief vom Oberbrahmanen in merkwürdig korrektem Englisch überreicht. Der Tempelrat schrieb, wenn er auf Ehrenwort dem Tempelrat seine sämtlichen Koffer und Papiere zur Durchsuchung vorlegen und sich freiwillig der Geldbuße, zu der er wegen Tempelschändung verurteilt sei unterzöge, würde man ihn sofort freilassen. Als er sich weigerte, wurde er wie ein eingeborener Gefangener behandelt und bekam auch die Kost derselben.

Ralph war erstaunt über das großmütige und kühne Angebot der Brahmanen. Welcher Kniffe hatte er sich selbst bedienen müssen, um den armen Shankar zu zwingen, gegen sein besseres eingeborenes Ich zu handeln? In seinem Herzen hielt Ralph mit den Brahmanen. Er sah ein, wie tief Davis sie gekränkt hatte, und schämte sich im Namen der weißen Kultur, daß es nur einer elenden Wette wegen geschehen war.

»Sie sind billiger davongekommen, als Sie verdient haben!« sagte er und sah Davis fest in die Augen.

Der Amerikaner sah ihn erstaunt an, dann zuckte er die Achseln und lachte.

»Wie aber stellen wir fest, wer die Wette gewonnen hat?« fragte Ralph nach einer Weile. »Die Dewadasi werden wir kaum jemals wieder zu Gesicht bekommen.«

Davis hörte mit Glanz im Blick von dem Brief, den sie Ralph geschickt hatte; und als Ralph erzählte, daß sie nach Aussage der Daja spurlos verschwunden sei, rief er: »Gott sei Dank! Sonst hätte man sie verunstaltet!«

»Ich kann die Wette noch gewinnen,« fügte er nach einem Augenblick der Ueberlegung hinzu. »Sie sollen sehen, wir begegnen Kantra noch wieder.«

Ralph wollte nicht fragen, Davis aber erzählte aus eigenem Antrieb, wie wertvoll es für ihn sei, das Leben einer Dewadasi kennen gelernt zu haben.

»Wir sind viermal zusammen gewesen und Sie können mir glauben, daß ich die Zeit gut ausgenutzt habe.«

Ralph lächelte und Davis beeilte sich hinzuzufügen:

»Nicht in der Erotik allein. Ich habe sie ausgefragt und sie hat mir aus ihrem Leben erzählt. Sobald ich Zeit habe, werde ich es niederschreiben.«

»Auch ich habe dies und jenes erlebt,« sagte Ralph und erzählte von seiner gestohlenen Handtasche, dem Besuch bei den Todas und der Jagd in den »Blauen Bergen«.

Davis interessierte sich am meisten für die gestohlene Handtasche und wollte hierüber genauer die Einzelheiten wissen.

»Ich glaube, hier haben noch andere als die Korava-Bande ihre Finger im Spiel gehabt.«

»Wen meinen Sie?«

»Ich glaube, die Brahmanen haben uns seit dem Tage, wo wir Ramalingam besuchten, auf der Nase gespielt.«

»Welches Interesse sollten sie an uns und unseren Handtaschen nehmen?«

»Dasselbe Interesse, das sie an meinen Papieren nahmen.«

Davis zuckte die Achseln und begann den Fahrplan zu studieren, der auf dem Tisch lag.

»Wir müssen so bald wie möglich fort. Shankar hat recht, es ist nicht ratsam, daß wir uns in der Stadt zeigen, besonders nach der Geschichte mit dem Krüppel. Wir wollen den Nachtzug nach Bombay nehmen.«

Und so wurde es bestimmt. Den Rest des Tages blieben sie im Kollegium. Barnett fuhr zum Bahnhof, wo er das Notwendige mit dem Stationsvorsteher verabredete, Ralphs und Davis' Rechnung bezahlte und ihr Gepäck beförderte. Als es Zeit war, fuhr er sie persönlich, mit Kutscher und Diener auf dem Bock und zwei Läufern auf dem hinteren Sitz, in gestrecktem Galopp zum Bahnhof.

Als Ralph auf dem Bahnsteig stand, mit Barnetts Hand zum Abschied in der seinen, sagte er:

»Tun Sie mir bitte den Gefallen, Herr Barnett, und teilen Sie dem Gericht mit, daß ich die Klage gegen die Korara-Bande zurückziehe.

Davis sah erstaunt auf und wollte ihn unterbrechen; Ralph aber übersah es.

»Sorgen Sie dafür, daß alle freigelassen werden.«

»Aber warum in aller Welt?« fragte Davis.

»Des Gleichgewichtes wegen!« sagte Ralph mit einem Lächeln, das weder Davis noch Barnett sich zu deuten vermochten.

In seinem Herzen hatte er einen Rechnungsabschluß gemacht, und das Saldo war nicht zu Davis' oder seinen eigenen Gunsten ausgefallen.

 

Was Davis von der Dewadasi erzählte:

Sie ist auf dem Lande in der flachen Ebene geboren, wo das Telugu-Volk zu Hause ist. Sie ist aus einem Hirtengeschlecht, ihr Stamm hat seit Jahrhunderten Schafe und die kleine dunkle Zebu-Kuh gehütet. Sie ist aus der Kaste der Golla, harmlose Leute, genügsam und ehrbar; selbst ein Brahmane kann Milch und Butter aus ihrer Hand entgegennehmen, ohne sich dadurch zu verunreinigen. So angesehen sind sie, daß sie bei Tempelfesten mit den Goldschmieden in einer Reihe sitzen. Zur Zeit der Nabobs waren es Gollas, denen man anvertraute Geld von Stadt zu Stadt zu bringen. Sie waren treu und zuverlässig, ihr Herz war jeder Mißgunst verschlossen, ihr Gemüt standhaft gegen Ueberredung. Was in ihrem Bündel, in den Falten ihres Lendentuches oder an heimlichen Stellen auf ihrem braunen Körper verborgen lag, war so sicher, wie ein Samenkorn in der Erde, das noch nicht zum Licht emporgeschossen ist.

Ihr Vater war reich an Vorfahren, aber arm an Schafen. Aus seiner kleinen runden Palmenhütte stiegen nur Seufzer zu dem Gewaltigen empor, dessen Schatten schwer auf seinem Kopf lasteten. Böse Dämonen kamen aus den schwarzen, heimtückischen Dschungeln, mit Seuchen für seine Herden; sie nahmen den Schafen die spärliche Wolle und ritten sie, bis sie am ganzen Körper zitterten und die Angst ihnen in feuchtem Schweiß aus den kranken Augen rann.

Die Gollas dürfen so viele Frauen nehmen wie sie wollen – Amram hatte nur zwei, zwei Schwestern, die wie Blumen in seinem Schatten lebten und sein Brot und seine Not teilten.

Amram war arm, aber reich an Kindern. Sie hüteten seine Schafe, während er Reis baute. Sie sammelten Kuhdünger für den Herd auf der neidischen Erde, die vor Verlangen nach Wasser trocken und rissig war.

Kantra war die Aelteste. Sie war zehn Jahre alt, zart und schmächtig, sanft und scheu wie die Antilope, die unsicher auf ihren zierlichen Beinen steht, wenn sie grast, aber eine Feder von Stahl wird, wenn sie um ihr Leben läuft.

Ihre Augen waren wie zwei blanke Kugeln, in deren Spiegel die äußere Welt sich mit der inneren begegnete. In ihrem Blick brannte bereits die dunkle Flamme des Blutes. Amram sah sie an warmen, schweigenden Abenden leuchten. Er sah, wie ihre Lippen bebten, sah sie schwellen und von Glut brennen. Siva hatte sein Auge auf sie geworfen, von seinem Licht leuchteten sie. Und Amram faßte den Entschluß, daß er dem Gott geben wollte, was er sich erkoren, und der Gott würde ihm sicher gute Tage dafür spenden.

 

Eines Tages, als Amram in der Mittagsstunde unter seinem Feigenbaum schlief, fiel plötzlich ein Schatten, breit und würdig, über den sonnigen Sand, wo der Schatten des Feigenbaumes nicht hinreichte.

Amram richtete sich auf und sieh, es war, wie er sich gedacht hatte: ein mächtiger, ein schwangerer Schatten war es – es war der Oberbrahmane vom Kodi Maram (dem großen Tempel), der sich herabließ, den edlen Abdruck seines Körpers auf den armseligen Sand zu werfen.

Amram sprang auf, um dem Edlen zu Füßen zu fallen, damit das unreine Licht seiner Augen den Reinen nicht beschmutze.

»Mach' dich bereit zu wandern. Bring diese Botschaft meinem Freund, dem Brahmanen Ramalingam, Damarkarthas (Mitglied des Tempelrates) in Sundareshvars Tempel in Madura. Es ist eine Aufschrift gegen Zahnschmerzen. Verwahre sie so gut, als ob sie dein eigenes Leben sei, damit kein böses Auge die Kraft der Worte vernichte. Der Gewaltige wird inzwischen nach deiner Herde sehen und wenn du zurückkommst, wirst du sie mit einer Zebu-Kuh und zwei schwarzen Böcken bereichert finden.«

Amram küßte den Fleck der Erde, worauf der Reine seinen Fuß gesetzt hatte, dann stand er auf, um sich bereit zu machen. Als er zur Hütte kam, trat Kantra ihm entgegen mit dem Jüngsten, zappelnd und nackt in ihren Armen – die Sonne traf ihre Augen und ihre weißen Zähne.

»Nimm mich mit,« bat sie.

Amram stutzte bei dem Glanz ihrer Augen. Sie ist ein reiches Geschenk, dachte er, legte seine Hand auf ihren Kopf und segnete sie.

»Komm mit,« sagte er, »ich will dich Sundareshvar schenken.«

Kantra fragte nicht. Ihre Mutter aber, die es hörte, beugte den Kopf; sie hatte auf das gelauscht, was Amram in schlaflosen Nächten gedacht hatte, wenn der Regen vom Dach der Hütte sickerte.

Am selben Abend zogen sie davon, wie zwei arme Jogi verkleidet, den Bettelsack auf dem Rücken, die Lehmkruke am Gürtel und den Stab in der Hand, damit niemand ihren Auftrag erraten sollte. Das Blatt, das der Oberbrahmane ihm gegeben hatte, verbarg Amram zusammengerollt in einem der stachligen Kerne seines Gebetkranzes; der Kern war ausgehöhlt und mit Leim wieder verschlossen.

Sie wanderten, solange die Nacht von Mond und Sternen hell war. In der Mittagsstunde erbettelten sie sich Schutz gegen die Sonne unter einem heiligen Baum oder in dem Schatten einer gastfreien Hütte. Sie tranken aus dem Fluß, und wenn sie zu einem Dorf kamen, schlugen sie mit dem Stock auf ihre Lehmkruken, blieben vor jeder Hütte stehen und sagten »Bicham, Amma, Bicham« (Almosen, Mutter, Almosen), bis die Frau ihnen Hirsengrütze und Ghi gab.

Als sie Madura erreicht hatten, fiel es ihnen leicht, den Weg zum Tempel zu finden, denn die vier großen Gopurams überragten alle Häuser der Stadt.

Beim Eingang des Tempels nahm Amram seine Tochter bei der Hand und drängte sich bis zur Vorhalle durch. Er achtete nicht der Stöße, die er bekam, sondern strebte auf die Steinsäulen zu, dorthin, wo die Bettler sich aufhielten. Er kaufte einen Lingamstein in einer Bude hinter der Säule, und erfuhr, daß der Brahmane Ramalingam auf seinem Wege zum Altar des Gottes dort vorbeikommen würde. Kurz daraus konnte er an dem Geschrei der Bettler hören, daß der Brahmane in der Vorhalle war.

Als der Brahmane in seinem weißen Gewand an den Bettlern vorbeiging, warf Amram sich ihm zu Füßen, streckte ihm seine Lehmkruke entgegen und rief:

»Bicham, Bicham. – Oh, du Reiner – gib dem armen Amram, der nur Lehm ist, den du mit deinem Fuß zerbrechen, nur Staub, worauf du treten kannst, ein Almosen, und Sira wird dir, Ramalingam, ebenso große Gnade erweisen, wie deinem Freund, dem Oberbrahmanen in Kodi Maram, dem Reinsten der Reinen, der dir durch mich, den Demütigsten aller Demütigen, seinen Gruß sendet!«

Als er den Namen nannte, streifte Ramalingams Blick ihn – wie zufällig. Er verlangsamte seine Schritte, während er Almosen nach rechts und links austeilte.

»O du Reiner,« rief Amram wieder. »Siva schütze dich vor allen Plagen, Lendengicht und Schnupfen, Kopfweh und Zahnschmerzen! – Verweile einen Augenblick und lasse dich herab, den Glanz deiner Augen auf meine Tochter fallen zu lassen, die schöne Kantra, die ich dem Gewaltigen schenken will.«

Bei dem Wort »Zahnschmerzen« glitt das Auge des Brahmanen wieder wie zufällig über Amram und das Kind an seiner Hand, das Amram jetzt vor sich schob.

»Folgt mir,« sagte er.

Als der Brahmane die großen Erzflügel des Tores erreicht hatte, winkte er Amram im Halbdunkel des Tores zu sich heran.

»Was bringst du mir?« fragte er leise.

»Ein Mittel gegen Zahnschmerzen, o du Reiner, von deinem Freund, dem Oberbrahmanen in Kodi Maram.«

Amram zählte die Kerne seines Betkranzes, bis er den richtigen gefunden hatte, öffnete ihn und nahm das Blatt heraus. Ramalingam steckte es zu sich, ohne es zu lesen.

»Es ist gut,« sagte er und ließ einige Rupien in Amrams Lehmkruke fallen.

Amram warf sich nieder und küßte die schmutzige Erde vor seinem Fuß.

»Willst du sonst noch etwas?«

»Ja, du Reiner, ich bringe dir meine Tochter Kantra, die die Sonne in ihrem Blick hat. Wenn ihre Flamme erst entzündet ist, wird sie zur Lust des Gewaltigen lodern, ihre Seele wird in Siva verlöschen und ihr Körper in seinen Armen zu Asche verbrennen. Es ist eine reiche Gabe, die der arme Amram, der Demütigste unter den Demütigen, dem Gewaltigen zu Füßen legt, damit er mein Haus und meine Herde segne.«

Ramalingam begegnete Kantras Blick. Er sah ihren schlanken Wuchs, die weiche Röte ihrer Lippen, das Beben des Pulses unter dem zarten Hals.

»Folgt mir,« sagte er.

Sie gingen durch eine Reihe von Göttern, die die reiche Gabe des armen Amram mit ihren Steingesichtern musterten. Sivas Frau, Parvati, maß den geringen Umfang ihrer Hüften und ihre zarte Brust. Ganesh mit dem Elefantenkopf, die Hände auf den Knien, lächelte spöttisch. Kantras Herz schlug laut vor Angst, sie bohrte ihre Finger in Amrams Arm, so daß es ihn schmerzte.

Sie gingen an dem »Teich der goldenen Lilien« entlang, wo heilige Männer im Schutz der Säulen saßen, Opfergefäße um sich herum breitend, Gebete mit verhülltem Kopf murmelnd.

Schließlich waren sie am Ziel. Bei einem Druck von Ramalingams Hand drehte sich eine kleine Tür von dunklem Erz in ihren Angeln.

Sie befanden sich in einem dunklen Raum; die Tür schloß sich hinter ihnen.

Amram hielt lauschend den Atem an; er wußte nicht, ob man sie allein gelassen hatte, oder ob der Brahmane noch bei ihnen war, er wagte nicht zu rufen, und konnte sich nicht rühren, denn Kantras Arme umklammerten ihn bebend.

Da tauchte an der Wand vor ihnen, nicht höher als ihre Knie, ein Lichtschein auf. Das Licht kam näher, stieg bis zu ihren Gesichtern hinauf, und plötzlich sahen sie eine qualmende Kerze an einer Eisenstange, die sich aufwärts bewegte. Sie sahen einen mächtigen Schatten über eine Mauerwölbung flattern. Es war ein Riese an der Wand vor ihnen, ein Ungeheuer aus Stein, der diesen Schatten warf; er trug eine Schlangenkrone auf seinem Haupt und hatte vier Arme, wovon zwei hochgehoben und zwei gesenkt waren. In den hochgehobenen hielt er eine Antilope und einen Dreizack, in den gesenkten eine Schlinge und eine Trommel. Um die Lenden trug er ein Tigerfell. Links neben der Statue stand ein länglicher Stein, der ihnen bis zum Gürtel reichte, ein kahler, glatter, oben gerundeter Zylinderstein, um den sich eine in Stein gehauene Schlange wand. Es war ein Lingam. Das Bild von der Kraft des Gottes, und der Raum, in dem sie standen, war das Allerheiligste. Rechts neben dem Tisch des Gewaltigen lag sein heiliger Steinochse, mit erhobenem Kopf, ein Seidentuch auf dem Rücken zum Schutz gegen die Nachtkälte.

Jetzt war das Licht ganz dicht bei ihnen. Eine ältliche Frau in einem losen, grauen Kittel trug es; sie war aus einem Loch in der Mauer zwischen den Beinen des Gottes hervorgekommen.

»Dies ist Adytum, die Schlafkammer des Gewaltigen,« sagte Ramalingam, »dort hinten in dem Raum steht sein Bett.«

Amram warf sich vor dem Gott auf die Erde und als er wieder auf seinen Füßen stand, fragte er:

»Wer ist diese Frau?«

»Eine Daja – eine von denen, die die Dewadasen des Gottes hüten und ihm sein Lager bereiten.«

Die Daja befestigte die Eisenstange mit der Kerze an der Mauer neben dem Gott.

»Entkleide sie,« sagte Ramalingam, »damit der Gott seine Gabe schauen kann.«

Die Daja tastete mit ihren knochigen Händen über Kantras Kittel, das Kind zog sich schaudernd zurück, Amram aber sandte ihr einen zornigen Blick. Da riß sie sich selbst das weiße Tuch von der Brust, so daß ihr bebender Mädchenkörper bis zum Gürtel entblößt war.

Ramalingam riß die Augen auf und zeigte auf ihr Lendentuch. Kantra zögerte. Amram aber faßte sie am Arm, und sie löste die Enden des Lendentuches und ließ es fallen, während sie ihr Gesicht mit den Armen verhüllte.

Dort stand sie nackend vor dem Angesicht des Gewaltigen, der ihr das Leben geschenkt hatte und dem sie es zurückgeben sollte. Sie dachte nicht an Siva, sie dachte nur an den aufgerissenen Blick, der auf ihr ruhte und sie musterte.

Amram war stolz auf seine Tochter. Jetzt erst sah er, wie reich seine Gabe war. Sein Auge suchte das unbewegliche Gesicht des Gottes, um ihn zum Zeugen aufzurufen. Aber es war kein Zug, kein Lächeln um seinen Mund, kein Beben der Lust um seine Nasenflügel.

Kantra fühlte eine Hand auf ihrer Brust und eine Hand auf ihrer Hüfte, Ramalingams heiße und lebendige Hand, die ihr das Blut in einem Strom zum Herzen zwang, ihr die Kehle zusammenschnürte und die Knie matt machte. Die alte Frau sah sie schwanken und faßte sie um die Schultern.

Ramalingam und die Daja wechselten einige Worte. Amram konnte an ihren Mienen sehen, daß die Gabe den Beifall des Gottes gefunden hatte.

Die Alte zog Kantra den Arm vom Gesicht, klopfte ihr die brennende Wange mit ihrer runzligen Hand und wickelte sie wieder in das Lendentuch ein. Kantra aber entwand sich ihren Händen und bekleidete sich selbst.

»Zu welcher Kaste gehörst du?« fragte Ramalingam und musterte Amrams Bettlerkleidung.

»Ich gehöre zu dem ehrbaren Gollavolk« – Amram richtete sich höher auf und hielt seinen schmutzigen Kittel mit vorsichtig gespreizten Fingern von sich ab – »dies scheinheilige Jogigewand habe ich nur angelegt, um dir den Brief zu sichern, oh, du Reiner – denn wer wird einen Bettler berauben?«

Ramalingam nickte.

»Ich will dir ein Gewand schenken, das eines Golla würdig ist. Ist sie dein einziges Kind?«

»Nein, du Reiner, sie ist die Aelteste von neun.«

»Hast du nur Mädchen?«

»Nein, zwei Söhne.«

»Warum willst du dich von dieser trennen?«

Der Brahmane beugte seine gewölbte Stirn zu ihm herab und sah ihn mit Augen an, die Amram bis ins Innerste drangen. Während der Wanderung hatte er sich eine blühende Rede ausgedacht, von seiner Liebe zur Gottheit; bei dem Blick des Brahmanen aber welkten diese Worte und fielen auseinander.

»Weil ich so arm bin,« sagte er und sah wie ein Hund zu seinem Herrn auf.

»Einen anderen Grund hast du nicht?«

Amram überlegte redlich, aber er wußte keinen.

»Hat sie irgendeine heimliche Krankheit?«

»Nein, du Reiner, sie ist gesund und warm wie die Sonne.«

»Hat sie ein trotziges, widerspenstiges Gemüt, das den Abendfrieden von deiner Hütte verscheucht?«

»Nein, du Reiner, sie ist gut und heiter, wie die weißen Lämmer, die auf meinem Hof spielen.«

»Ich glaube dir. Deine Gabe ist angenommen. Ich danke dir im Namen des Gewaltigen. Seine Augen werden über deiner Hütte leuchten, so daß kein dunkler Geist der Dschungeln sich dir zu nähern wagt, er wird dein Haus und deine Herde segnen und sie fruchtbar machen.«

Ramalingam öffnete die Erztür und ließ Amram vor sich hinaustreten. Kantra sprang herzu, um ihm zu folgen, der Brahmane aber hielt sie sanft zurück.

Sie stieß einen Schrei aus, und Amrams Herz hörte zu schlagen auf. Er sollte nie mehr die Sonne ihrer Augen sehen, die munteren Quellen ihres Lachens hören; ihre Hand würde nicht mehr Ghi von der Milch schöpfen, ihre Arme nicht mehr die Kleinen, die noch nicht gehen konnten, tragen.

Er wandte sich in der Tür um und streckte die Arme nach dem bebenden Leben aus, das er sich vom Herzen gerissen hatte, um es dem furchtbaren Gott der Vernichtung in die Arme zu werfen.

»Lebe wohl!« flüsterte er, während die Tränen ihm aus den Augen brachen. »Lebe wohl!« stöhnte er und suchte vergebens nach jemandem, den er um Schutz für sie anflehen konnte. In seiner Seele war es dunkel geworden, er fühlte sich so klein, wie ein Sandkorn auf dem Wege unterm Rad des göttlichen Wagens. Gottes barmherzige Gnade, in dessen Arm sie lag, auf sie herabzuflehen, das war alles, was er für sie tun konnte. Niemand konnte ihr helfen, sie mußte selbst den Willen haben, sich dem Gott, dem sie geweiht war, würdig zu zeigen.

»Sei treu gegen den Gewaltigen!« Das war das einzige, was er zu ihrem Schutz zu sagen wußte.

Ihr Blick klammerte sich voller Entsetzen an den seinen, so sehr fürchtete sie sich vor der Dunkelheit, die hinter ihr war. Ihre Lippen öffneten sich zu einem Schrei, um ihn zurückzurufen; aber er erstarb, als sie merkte, daß er ihr seine Arme entgegenstreckte, nicht um sie mitzunehmen, sondern um ihr Lebewohl zu sagen. Sie war bereits losgerissen, – er stand draußen, fern, verschwunden. Als die Tür den Faden, der von ihrem zu seinem Blick spann, durchschnitten hatte, hörte er ihr lautes Weinen, bis auch das hinter der Tür erstickte.

* * *


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