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Fünfter Teil

Noch einmal war das Aufheulen des Tieres hervorgebrochen, in jenem Augenblicke nämlich, da der Sarg Ottos in der Erde verschwand. Es war der Augenblick, in dem Katharine Hieck zum Himmel emporheulte, weil er ihr das letzte Stück Jugend aus dem Fleische riß. Und die Anrufungen Susannens gellten über den Friedhof.

Ein beinahe wolkenloser Tag wölbte sich über der geöffneten Erde. Nüchtern inmitten der Ebene lag der Friedhof, umgeben von Fabriken, die ihm an den Leib gerückt waren. Von ferne sah man die Allee, die zur Sternwarte hinausführte, und wenn man ortskundig war, erkannte man auch den weißen Fleck der Badeanstalt zwischen den Bäumen. Aber dort hinten auf dem Hügel waren die Kuppeln und die roten Mauern des Observatoriums deutlich wahrnehmbar, umrahmt von der dunklen Fläche des Tannenwaldes, in dem hier und da das lichtere Grün einiger Laubbäume leuchtete. Über den Bergen schwammen ruhig einige weiße Herbstwölkchen. Sonst Blau, scharfes Blau, wie es bloß der Herbst hervorbringt.

Emilie war zum Begräbnis gekommen. Ihre Anwesenheit bedeutete eine rechte Hilfe, freilich eine einigermaßen äußerliche: als Emilie eintrat, war Frau Katharine Hieck vor Erstaunen fast vom Stuhle gefallen, so schlank war die Tochter geworden, und das Wunder solchen Abmagerungsprozesses bildete fortan einen unerschöpflichen Gesprächsstoff für Katharine und Susanne Hieck, die solcherart über das Ereignis manches Ungemach und manches Leid und manche Aufregung vergaßen. Nun stand die fremde Schwester neben der schwerfälligen Susanne am Grabe, schlank in ihrer neuen Trauerkleidung, fremd und schlank, dennoch eine Schwester. Und Ilse, die zwar keine Trauerkleider, sondern nur ihren dunkelblauen Mantel hatte, stand nicht allzu weit von ihnen, auch sie schmal und schlank, schwesterlicher als je: es war gut, daß Emilie gekommen war.

Wie einstens schlief Emilie in Susannens Kammer, sehr gerührt und entzückt von dem Brautbett, das Susanne ihr gerichtet hatte. Und Katharine Hieck saß kindlich bei ihren beiden erwachsenen Töchtern, freute sich der Schönheit Emiliens, in der sie ihr Abbild sah, und wiederholte nur immer wieder:

»Schade, daß man Rudolf nicht verständigen konnte.«

Wäre auch noch Rudolf hier gewesen, es wäre ein richtiges Familienfest geworden. Aber Emilie mußte versprechen, zumindest alle Weihnachten mit ihnen zu verbringen.

»Wißt ihr, gar zu lange hielte ich es hier wirklich nicht aus«, drohte Emilie mit einem Blick auf die Heiligenbilder.

»Ach, für ein paar Tage geht es schon«, sagte Katharine.

Susanne saß breit da: »Sie wird sich schon gewöhnen«, sagte sie ruhig.

»Ich mache mir keine Illusionen mehr«, sagte Katharine. Richard trat ein.

»Nett ist deine kleine Braut«, belobte ihn Emilie.

»Braut?« erstaunte sich Richard, »wo denkst du hin!« Allein das Lob tat ihm wohl. Susanne war endgültig entthront. Und ihr Zimmer schwebte nicht mehr im Unendlichen, es war zu einem gewöhnlichen Teil einer gewöhnlichen Wohnung in der Kramerstraße geworden. Indes auch die Erinnerung an Erna Magnus schien verschwunden. Es war, als hätte Otto all dies mit sich genommen und hätte ihm doch etwas anderes dafür gegeben: es war, als sei eine Verschiebung und gleichzeitig eine Erhellung des Unendlichen eingetreten.

»Wie kann Richard ans Heiraten denken«, ereiferte sich Katharine, »er hat ja noch keine Anstellung.«

Nein, er dachte nicht ans Heiraten, aber er sah das schmale Gesicht Ilses vor sich, und nicht mit geschlossenen Augen, nicht aus der Nacht tauchte es auf, sondern hell in kristallisch durchsichtiger Landschaft sah er die graue Helle ihrer Augensterne.

Und in plötzlicher Opposition gegen die Mutter sagte er:

»Und die Stellung an der Sternwarte? in einem halben Jahre kann ich definitiv werden.«

Das Leben ging weiter. Und Emilie blieb noch. Sie gewöhnte sich ein, wie Susanne es gesagt hatte.

Kapperbrunn kam vom Urlaub zurück. Gebräunt, aber nicht magerer, eher das Gegenteil. Im Kampf mit dem Bauch war er wieder einmal unterlegen.

»Jetzt kann's mit der Fron wieder angehen«, ächzte er.

»Doktor Kapperbrunn, es ist keine Fron«, sagte Richard, »ich finde, daß unsereiner ein unbändiges Glück hat.«

Kapperbrunn schaute auf: »Sind Sie aber abgeklärt; ich muß sagen, ich fühle mich für diesen täglichen Trott noch zu jung.«

»Ich meine, daß wir eine Arbeit machen dürfen, die uns freut … während andere …«

»Lieber Gott, eine Arbeit, die uns freut … es ist ein Handwerk wie jedes … überschätzen Sie es nur nicht, sonst werden Sie auch noch so ein Narr wie unser armer alter Weitprecht.«

»Haben Sie ihn besucht?«

»Natürlich … es sieht mies aus mit ihm … das hat er nun davon.«

»Er hat sich in seinem Leben redlich geplagt … aber …« Richard schwieg.

»Und die Frau … großer Gott, so eine Frau … und wenn ich denke, daß ich auch einmal so eine Professorentochter werde heiraten müssen … Hieck, ich sage Ihnen, besser ist's, man gibt dieses Gewerbe auf und wird Bergführer … sind Sie schon mal geklettert, so richtig in Wänden geklettert?«

»Nein.«

»Dann wissen Sie nicht, was Leben heißt.«

»Doch, ich hoffe wenigstens, daß ich's weiß«, sagte Hieck, der solch weltfrommer Skepsis wenig entgegenzusetzen hatte.

»Kommen Sie mir nicht wieder mit Ihrer Erkenntnis … Erkenntnis ist gar nichts, Erkenntnis ist ein großer Dreck … und die Welt pfeift auf Erkenntnis, wenigstens die heutige … Sie sind kein moderner Mensch, Hieck.«

»Mag sein«, antwortete Richard Hieck, »aber was die Erkenntnis anlangt, dürfte es wohl zu allen Zeiten das nämliche gewesen sein.«

»Sie sind ein Sterngucker, Hieck«, sagte Kapperbrunn in jenem richtigen Erfassen der Sachlage, das ihm eigentümlich war und ihn befähigte, die Oberfläche der Dinge richtig zu sehen, »Sie sind ein Sterngucker, und solche Narren hat es immer gegeben, da haben Sie recht, Sie stehen auf dem richtigen Platz.«

»Ja«, sagte Hieck und dachte an die kristallische Landschaft des Erkennens.

»Wie heißt es doch bei Ihrem alten Kant: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir …«, Kapperbrunn lachte, »heißt es nicht so?«

»Ja«, sagte Hieck, »das stimmt.«

Das moralische Gesetz in mir: das hing irgendwie mit dem Herzen zusammen, mit dem Herzen, von dem Weitprecht gesprochen hatte, einsamer Klang des Herzens im Dunkel der Nacht, einsame Erkenntnis der Liebe, moralisches Gesetz, gültig ohne Beweis.

»Das stimmt gar nicht«, behauptete Kapperbrunn, »denn wie windig es mit den kosmischen Gesetzen aussieht, das erleben wir gerade jetzt, und von den moralischen wollen wir lieber ganz schweigen.«

»Es gibt statistische Annäherungswerte«, sagte Hieck, aber er dachte dazu: in der Einsamkeit des Herzens ist alles absolut, hier gibt es keinen statistischen Annäherungswert, hier gilt das Gesetz schlechthin.

»Na schön«, gab sich Kapperbrunn zufrieden, »à propos moralische Gesetze: was macht Ihr Sommerharem, was machen Ihre beiden Mädchen?«

»Sie waren sehr fleißig«, wich Richard aus, »und ich bin froh, daß man Weitprecht noch diese Freude machen konnte.«

»Um die Magnus ist's schade«, bemerkte Kapperbrunn sinnend, »aber passen Sie auf, die bleibt nicht bei dem Wissenschaftsbetrieb, die hat zu viel Leben in sich.«

»Nein«, sagte Richard, »die bleibt nicht dabei.«

»Wenn Weitprecht geht«, sprang Kapperbrunn ab, »dann wird es wieder mal einen Pairsschub geben, dann heißt es aufpassen, daß auch für Sie etwas abfällt … irgendwie werden wir es schon deichseln …« Er war hilfsbereit wie immer.

»Danke, Doktor Kapperbrunn«, sagte Hieck, »es ist nett, daß Sie daran denken.«

»Na, hören Sie mal, … aber sagen Sie selber, ist das nicht furchtbar, diese Hierarchie, diese Leiter, dieses Aufpassen, daß man nur ja auf eine freie Sprosse springt … ekelhaft ist das … und da reden Sie von Erkenntnis!«

»Mein Gott …«, sagte Hieck.

Das Leben wird weitergehen. Und man wird mit Gruppentheorie und Mengentheorie und allerlei astronomischen Berechnungen beschäftigt sein. Und wenn das Glück es will, wird man in den erkenntnistheoretischen und logischen Grundlagen ein gutes Stück weitergelangen. Genügte das nicht?

Und aus der Dunkelheit, aus der man gekommen ist, wird man zu neuer Dunkelheit fortschreiten, auf schwarzem Grunde stehen die Sterne, und sie werden in die Fläche dunklen Wassers gleiten, auftauchend in der Größe und Erhabenheit des Todes. Genügte das nicht?

Und die verwehte Unsicherheit der Herkunft und des Zieles wird um ein weniges erhellt sein im Klange der Einsamkeit und des Herzens. Ziel außerhalb des Lebens, dennoch Leben. Oh, Liebe!

Genügte das nicht?

Draußen rauscht das Leben, fernab, unerfaßbar, ungeheuer, unerschöpflich, aber es rauscht auch durch das Herz, ebenso unerfaßbar, ebenso ungeheuer, ebenso unerschöpflich. Ebenso furchtbar.

Genügte das nicht?

Richard ging durch die Straßen. Die Blätter in den Anlagen hatten die welke, ein wenig starre Frische des Herbstes. Das Gras war geschoren, schmale braune Streifen durchzogen die Rasenflächen. Hell wölbte sich der Himmel. Das Herbstwetter hatte seine gesetzmäßige Stabilität erreicht. Doktor Loßka wird einen guten Urlaub haben.

 

Ende


In unserer Scanvorlage ebenfalls enthalten:
Das Unbekannte X, Kommentare des Autors und Anmerkungen des Herausgebers.
Diese Textteile wurden aus Gründen des Urheberrechts gelöscht. Re. für Gutenberg

 


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