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Krispin meldete beglückt: »Die Magnus sagt, daß sie morgen abreist.«
Natürlich, ihre Arbeit war ja so weit abgeschlossen. Hieck ging ins Laboratorium hinauf.
Erna Magnus saß vor ihren Aufzeichnungen: »Also, das hätten wir; für eine Dissertation wird es wohl langen. Was meinen Sie?«
Richard war verwirrt, weil sie nicht mehr den gewohnten Laboratoriumskittel trug, sondern ein rotes und, wie ihm schien, duftiges Sommerkleid. Und es war für ihn irgendwie unfaßbar, daß diese Dame etwas mit Elektronenladungen zu tun haben sollte.
»Nun, Doktor Hieck, denken Sie über unseren nächsten Sternwartebesuch nach?«
»Fräulein Magnus …«, begann Richard.
»Ja, ich weiß, Sie konnten mich damals nicht mehr verständigen, aber jetzt bin ich da.« Sie schaute ihn belustigt an.
Er warf einen schrägen Blick aufwärts. Warum fiel ihm jetzt Hilde Wasmuth ein?
»Reisen Sie ins Gebirge?« versuchte er abzulenken. Das Gebirge, in das Erna Magnus reisen mochte, war unzweifelhaft größer, reichhaltiger, mondäner als jenes, in dem Kapperbrunn jetzt weilte. Und zwischen dem Leben, das in den Gebirgsbächen da draußen unerfaßlich rauschte, und dem abstrakten Leben innerhalb des Instituts wurde durch Erna Magnus ein merkwürdiger Zusammenhang hergestellt, ein sehr merkwürdiger Zusammenhang, der sich sogar bis zu Susannens Stube hin erstreckte.
»Na, sind Sie sehr erleichtert, daß Sie mich loswerden?«
Ja, er fühlte sich von dieser Abreise erleichtert. Und trotzdem nahm sie etwas mit sich fort, das sich nicht ohne weiteres ausdrücken ließ. Und deshalb war es keine Lüge, als er sagte:
»Aber nein.«
Gutmütig meinte sie: »Gequält habe ich Sie gerade genug«, doch sie konnte sich's nicht versagen, hinzuzusetzen: »Mit Ilse Nydhalm haben Sie's leichter, was?«
Natürlich ärgerten ihn diese gewissermaßen geradlinigen Anspielungen, aber sie schmeichelten ihm auch, ja, von irgendeiner Seite her, von der er eigentlich nichts wissen wollte, waren sie ihm geradezu wichtig, denn sie verliehen Ilse Nydhalm eine Weiblichkeit, die zu sehen erst Erna Magnus ihn gelehrt hatte. Manchmal schien es wirklich, als ob durch die Anwesenheit Erna Magnus' eine neue Note in das Institut hineingetragen worden wäre, eine durchaus weibliche Note, die den Kreis der Studentinnen in eine Art Schwesternschaft verwandelte und aus der Starrheit der Geschlechtslosigkeit hob. Eine Art schwesterlicher Gleichberechtigung, die auch Ilse Nydhalm zugute kam.
Nichtsdestoweniger mußte er ihre Anspielungen entkräften:
»Fräulein Nydhalms Arbeit ist doch ganz anders als die Ihre.«
»Das will ich meinen.« Erna Magnus lachte leise und warm; sie nahm ein Liebespaar in Schutz, sie war eine richtige Frau.
Ihr Lachen stand plötzlich isoliert im Raum, und Richard mußte an einen chemischen oder physikalischen Katalysator denken, der bei gewissen Reaktionen selber unbeteiligt bleibt, dessen Anwesenheit aber unbedingt notwendig ist, damit die Reaktionen vor sich gehen können.
Also blieb er beim Thema:
»Fräulein Nydhalm wird die ganzen Ferien für die Sichtungsarbeit benötigen.«
»Ja, ja, überhetzen Sie sich nur nicht.«
Erlauben und verbieten, das fiel eigentlich in den Machtbereich Susannens, und der wird sich jetzt wieder vergrößern, wenn Erna Magnus abgereist sein wird. Auch dies war Richard nicht recht, und unwirsch beendete er das Gespräch:
»Also, da kann ich Ihnen nur noch eine gute Reise wünschen.«
Sie zwinkerte ihm zu: »Und ich wünsche Ihnen eine prachtvolle Arbeit.«
Einem Menschen, der den andern nackt gesehen hat, ist es erlaubt, ironisch zu sein; also ließ er sich ihre Ironie gefallen. Und wieder mußte er an Susanne denken, als sie hinzufügte: »Nun denn, auf Wiedersehen im Herbst.«
Wird Susanne sie ersetzen können? wird das Unerfaßbare und Furchtbare, das Leben heißt, im Herbste wiederzufinden sein? in einer halben Stunde wird Erna Magnus das Institut verlassen haben, und er verstand nicht, warum dies ihm solches Unbehagen erzeugte. Das Gleichnis von dem Katalysator besagte nichts, das war keine Theorie; sein Bedürfnis nach Theorienbildung war nicht befriedigt. Trübselig nahm er die vorbereitete Mappe mit Erna Magnus' Arbeitsresultaten: »Ja, auf Wiedersehen im Herbst.«
Die Mappe unterm Arm, die eine Schulter etwas hochgezogen, begab er sich engen und ein wenig schwerfälligen Schrittes in Weitprechts Gemächer hinüber. »Wiedersehen, Doktor Hieck«, klang es ihm nach.
Nun wird Krispin das Großreinemachen im Laboratorium beginnen.
Der Himmel schaut blaß durch die Fenster des Korridors; ein windiger Augusttag, von der Kühle des Herbstes bereits geschwängert, unmerklich geht das Blau des Himmels in eine helle Wolkendecke über.
Richard war beinahe überrascht, als er Ilse Nydhalm vorfand. Sie saß an Weitprechts Tisch, die Hände gefaltet, den Blick irgendwo in der Luft. Vor ihr der gewohnte Papierstoß.
Hell, nackt, nüchtern fiel der winderfüllte Tag durch die Scheiben, manchmal vom Gold der Sonne unterbrochen. Verlassen fühlte sich Richard und nackt unter den Kleidern.
Aber sie lächelt ihn an, wie er eintritt, und dann setzt sie die Brille auf und beugt sich über die Arbeit. Daß es nur so aussieht, als arbeite sie, während sie in Wirklichkeit sinnloses Zeug macht, das merkt er allerdings nicht. Aber er bemerkt den hilflos kurzsichtigen Blick, mit dem sie die Schrift abtastet, und er muß an Blindheit denken. Das rührt ihn. Und es ist ihm eine Beruhigung, daß sie ihren hygienisch weißen Kittel anhat. Allerdings ohne Krawatte; um den nackten Hals trägt sie eine Kette aus großen bernsteinfarbigen Kugeln.
»Fräulein Magnus ist fertig«, sagt er und deutet auf die Mappe, die er auf den Tisch legt, »Weitprecht wird zufrieden sein.«
»Ja«, sagt sie und betrachtet den Mappendeckel; Versuchsreihen D-G ist darauf geschrieben und darunter in Klammern: Erna Magnus.
Ein Strom unbekannten Lebens drang von irgendwo herein. Strom einer noch unbekannten Evidenz, die irgendwo floß, einer Evidenz, die allen eigentlichen Sinn, sogar den der Mathematik tragen mochte. Denn das Ziel der Erkenntnis liegt außerhalb der Erkenntnis.
Jedenfalls liegt es außerhalb des Instituts.
»Soll ich das Fenster öffnen?« fragt er und tut es auch schon; das Ergebnis ist ein Windstoß, der die Papiere auf dem Tisch aufwirbelt, ein paar Bogen landen im Gleitflug auf dem Fußboden. »Änhn«, macht Richard unwillig und beginnt, die Bogen aufzulesen, aber kaum ist er so weit, als der Wind eine zweite Portion auf den Boden fegt. Nun muß auch Ilse helfen. Und sooft sie sich bückt, gleitet die Bernsteinkette aus dem Mantelausschnitt und baumelt ihr vor dem Kinn.
Es ist ein aussichtsloser Kampf mit dem Wind. Richard sieht das schließlich ein und sagt:
»Man muß das Fenster schließen.«
Beide stehen beim Fenster. Unten fährt ein Auto vorbei. Die Papierhandlung Sidonie Metzinger, dem Institut gegenüber, hat die Türe mit Ansichtskarten voll behängt. Das Schaufenster des kleinen Modistengeschäftes daneben zeigt die wohlbekannten drei Hüte. Ein Mädchen tritt aus einem Haustor, kämpft gegen den Wind und hält die flatternden Röcke mit der Hand zusammen. Papier und Staub wird vom Wind über den Asphalt getrieben, bleibt in wellenförmigen Strichen liegen.
Ob Erna Magnus noch im Institut ist?
Dunkel rauscht irgendwo das Leben, unendlich, unerreichbar, unerfaßlich.
Eine dunkle Wolke ist die Vergangenheit, aufgehoben werden wir aus dem Meer der Finsternis, von der Flut gehoben und geworfen in die blinde Einsamkeit. Hier ist die Grenze der Sehnsucht, und das Helle schlägt zurück in die Woge des Einst. Mit zitternder Stimme sagte Ilse: »Ja, jetzt können wir weiterarbeiten«, und im nächsten Augenblick schluchzte sie, an ihn gelehnt. Die Lippen auf ihrem Haar, hielt er sie ungeschickt umfangen.
Zwischen den Ansichtskarten an der Türe des Papiergeschäfts hängt eine Todesanzeige. Ein Hund an der Ecke hebt ein Bein. Ein Auto mit schwarzlackiertem Dach, dessen Lüftungsklappe offenstand, ist vorbeigefahren. Aus einem Fenster der gegenüberliegenden Front beugt sich eine Frau; sie hat ein derbes gelbes Gesicht, ein schwarzes Kleid, sie lehnt mit fleischig nackten Armen auf dem Fensterbrett und schaut zur Straße hinunter. Der Rauch des Schornsteins schlägt auf das Ziegeldach, wird vom Wind auseinandergezogen und davongetragen.
Doch nun entdeckt Ilse die Frau da drüben und drängt vom Fenster weg. Und als ob sie nichts Eiligeres zu tun hätte, als die Arbeit fortzusetzen, nimmt sie den Rotstift verkehrt zur Hand und beginnt wirr in den Papieren zu stöbern. Ihr schmaler Körper zuckt, eine Träne fällt auf das Papier, und Richard, in vollkommener Bestürzung danebenstehend, erinnert sich, daß Otto ebenso verkrampft geschluchzt hatte. Er zückt das Taschentuch, um den Tropfen auf dem Weitprechtschen Papier wegzuwischen.
Da schaut sie auf und schaut in sein schmerzlich verdüstertes Asketengesicht, und da erst, in ihrem kaum merkbaren, ihr selbst unbewußten Lächeln, finden sich ihre Gesichter zum unbeholfenen Kuß, losgelöst von ihrem Willen, losgelöst von ihrem Sein, getragen von der Woge der Dunkelheit, die über ihnen zusammenschlug.
Klang der Einsamkeit, einsamer Klang des Todes.
Es war ohne Begehren. Es war mehr als Begehren. Es war Ausgeliefertsein und war Angst. Es war kein Entzücken. Es war mehr als Entzücken. Es war das Herausgehobensein aus dem Meere, es war der Augenblick auf dem Wogenkamm, das Preisgegebensein dem Sonnenwinde, der über die Dunkelheit dahinstreicht. Es war nicht Verzweiflung. Es war mehr als Verzweiflung. Es war das Entlassensein aus dem Geflecht des Seienden, aus dem mütterlichen und geschwisterlichen Geflecht des blinden Schlafes, es war das Grauen der Freiheit, das Phantom des Mittags, das sie berührte. Oh, Angst der Helle, Angst des Mittags.
Irgendwo im Hause fiel eine Tür ins Schloß.
Sie blickten einander an. Und dann versuchten sie Ordnung zu machen. Und lächelten einander an. Legten vieles verkehrt. Nahmen sich bei den Händen. Taten die Aufzeichnungen Erna Magnus' in den Schrank. Sprachen nichts. Und waren wie Verurteilte. Und lächelten dennoch. Und legten die Bleistifte in die Glasschale. Und er beugte sich über ihr Haar und küßte es.
Und ohne etwas verabredet zu haben, verließ er das Haus vor ihr, damit der Diener Krispin nichts ahnen möge.
Richard Hieck ging heim und ging doch nicht heim. Er ging zu dem kleinen Papierladen und betrachtete die Todesanzeige und die Ansichtskarten, und er warf einen Blick auf die drei Hüte im Modistengeschäft. Er ging durch die Stadt und betrachtete die Diamanten auf dem schwarzen Samtgrund in den Schaufenstern der Juweliere. Er stand am Geländer der Brücke und suchte etwas in dem blinden Spiegel des flaschengrün dahingleitenden Wassers. Etwas floß in ihm, dunkel, trug ihn; und er wollte Susanne nicht sehen.
Ilse Nydhalm ging heim und ging doch nicht heim. Sie fühlte sich sehr wach, obwohl sie es wahrscheinlich durchaus nicht war. Sie spähte in alle Gesichter, ob sie eines von asketischem Aussehen darunter fände. Sie begegnete allerdings einigen Herren von schwerfälliger Gestalt und mit engem Gang, aber sie bemerkte sie nicht. Sie war bedrückt, aber diese Bedrücktheit hatte etwas Helles, beinahe Feierliches an sich. Und plötzlich fiel ihr herrlich, flügelschlagend und doch mit furchtbaren Krallen ein Wort ins Herz: die Liebe.
Der Wind in den Straßen hatte sich gelegt; es war wieder drückend schwül geworden, wie sich's für Anfang August gehört.
Als der alte Meister Haubigl in die graphische Kunstanstalt eingetreten war, fertigte man dort noch Kupfersticharbeiten und dergleichen an. So alt ist der alte Haubigl. Er ist gelernter Kupferstecher und hat es dem Otto beigebracht.
Über die Kupferplatte gebeugt, die Vorlage unter dem schrägen Spiegel, die Nadel in der Hand, saß Otto an dem langen Eichentisch vor dem großen schrägen Atelierfenster. Haubigl schaute ihm erfreut über die Schulter: ein seltener Auftrag, den die Anstalt da erhalten hatte, eine Speisekarte im alten Stil für ein mondänes Restaurant, eine Girlande von Gerichten, Blumen, Sektflaschen, das Ganze bekrönt von einem üppigen Tafelaufsatz, der von Früchten überquillt. Und wenn der alte Haubigl nicht gewesen wäre, hätte die Anstalt den Auftrag nicht übernehmen können. Daß Otto daran arbeiten durfte, war eine besondere Auszeichnung.
»Du wirst noch ein besserer Maler als die Gimpel von der Akademie.«
Otto, ohne aufzuschauen, schüttelte den Kopf:
»Aus mir wird nichts mehr«, sagte er theatralisch.
Haubigl mit alten starkadrigen gelben Händen, schwarzgerändert die schmalen, auffallend aristokratischen Nägel, wendete den Jungen mitsamt dem Drehstuhl zu sich:
»Hör mal, solches Gerede paßt dem Papa Haubigl durchaus nicht, überhaupt gefällst du mir schon die längste Zeit nicht mehr, mein Sohn.«
Es war ein bartstoppeliges Gesicht, welklippig, welkäugig, dennoch ein scharfäugiges Gesicht hinter der Stahlbrille, in das Otto blickte.
»Also, was gibt's, mein Sohn?«
Otto antwortete, was jeder Junge in einem solchen Fall zur Antwort gibt:
»Nichts.«
»Zu viel gelumpt?«
»Dazu habe ich kein Geld.« Mit verstockter Miene glitt er von seinem hohen Drehstuhl.
Haubigl klopfte ihm besorgt auf die Schulter: »Na, geh dich waschen, es ist viere schon lange durch.«
Stumm ging Otto zum Wandbrunnen, entledigte sich seiner blauen Arbeitsbluse, wusch sich, zog seine Jacke an. Er hätte gerne gesprochen, doch es würgte ihn im Halse. Und überdies: was hätte er erzählen sollen? es war ja nichts vorgefallen.
»Gute Nacht, Herr Haubigl.«
»Gute Nacht, mein Junge.«
Otto holte sein Rad aus dem Fahrradständer im Hofe und fuhr gehetzt davon. Zu Hause schlich er die Stiege hinauf, schlich in die Wohnstube und stürmte dann überfallsmäßig in das Zimmer seiner Mutter:
»Ist Karl da?«
»Nein«, gab sie ruhig zurück, »aber vielleicht sitzt er bei dir drüben.«
Das war Enttäuschung und Erleichterung zugleich. Und beides verstärkte sich, als er Karl auch in seiner Kammer nicht antraf. Er kehrte zur Mutter zurück:
»Drüben ist er nicht … ist er wirklich nicht gekommen?«
»Meines Wissens nicht … aber was machst du denn immerfort beim Wäscheschrank, Otto?«
»Nichts, ich dachte nur, daß er offenstünde …«
Etwa nach einer halben Stunde kam Karl wirklich daher, er wurde von Otto hinterlistig begrüßt:
»Du hast mich schon gesucht, sagt die Mutter.«
Er prüft Karls Augen, ob sie einen besonders glückhaften liebebefriedigten Ausdruck trugen.
»Nein«, sagte Karl, »ich war heute noch nicht da.«
Vielleicht will Karl bloß den Besitz des Geldes verschweigen? dann soll er es in Gottes Namen behalten. Otto mag von dem Geld nichts mehr wissen, er pfeift darauf, aber Klarheit muß er haben, und die wird er aus dem Karl schon herausbringen:
»Weißt du, eigentlich brauche ich jetzt kein Geld. Haubigl meint, daß ich bald ein perfekter Maler sein werde, dann verdiene ich Geld wie Heu.«
Indes, aus Karl ist ebensowenig herauszuholen wie aus der Mutter. Karl hält dicht. Und ob der Mutter Geld fehlte, das war trotz aller Umwege und Anspielungen von ihr nicht zu erfahren gewesen. Der Verdacht wuchs, daß sie es dem Karl geschenkt hat und daß ihm dies von den beiden verheimlicht wurde. Was war zwischen den beiden vorgefallen? Otto stand vor einer Mauer und hatte das Gefühl, sich an ihr den Schädel einrennen zu müssen.
Karl sagte: »Ich soll bei deinem Bruder mathematische Nachhilfestunden bekommen. Heute ist die erste Stunde.«
»Sonderbar«, sagte Otto argwöhnisch.
»Warum sonderbar?«
»Weil man mir nichts gesagt hat.« Das stimmte nicht ganz, denn Richard hatte sich bei ihm nach Karl erkundigt. Freilich war seitdem schon mehr als eine Woche vergangen. Und Richard war so offenkundig von anderen Dingen gefangengenommen, daß die ganze Geschichte nicht recht ernsthaft geklungen hatte. Überhaupt war Richard in seinem Gehaben seit etwa einer Woche unzuverlässig geworden, er hatte sich geradezu verändert – Ottos wacher Beobachtungsgabe war das nicht entgangen –, nicht nur, daß es wegen späten Heimkommens keinen Krach mehr gab, sondern es stand außer jedem Zweifel, daß Richard eine sozusagen passive Kameradschaftlichkeit und Brüderlichkeit an den Tag legte. Er hat was am Kerbholz, dachte Otto. Allein was nützte das schon.
Richard kam. Karl wurde vorgestellt und ins Verhör genommen.
Mittlerweile saß Otto bei seiner Mutter in der Küche. Auf dem Gasherd brodelte ein großer Topf. Es roch nach den Aprikosen, die eingelegt wurden. Die Mutter mit aufgerollten Ärmeln schälte und entkernte. In einer grünen Steingutschüssel lagen die kochbereiten Fruchthälften.
Otto fischte langsam eine nach der andern heraus. Während er aß, war ihm wieder einmal zum Weinen. Warum gab es kein Zurück? Warum mußte er sich den Kopf an einer Mauer einrennen, die zu errichten ihm niemand befohlen hatte? Etwas hatte ihn erfaßt, das er nicht benennen konnte, aber er ahnte, daß es das Gegenteil alles dessen war, was er hier sah, ja, man konnte wohl sagen, was er nun zum erstenmal sah: die langsam und gleichmäßig schälenden Arme seiner Mutter, die Aprikosen, die gleichmäßig in das Gefäß fielen, er sah zum erstenmal diese Küche, die Geräte an dem Wandregal, jedes einzelne wollte er benennen, den Quirl, den Schaumschläger, die Reihe der hölzernen Kochlöffel, und indem er sich gleichzeitig wunderte, daß er all dies noch nicht abgezeichnet hatte, befiel ihn ungeheures Mitleid mit sich selbst und ungeheure Bangigkeit. Welch grausame furchtbare Macht hatte ihn erfaßt und stand all dem feindlich gegenüber? ach, es war das Leben schlechthin, es war das Leben an sich, diese furchtbarste Macht, der der Mensch ausgeliefert ist, und es hat gar keinen Sinn, darüber zu seufzen. Aber das wußte Otto nicht, er ahnte es kaum, und so tat er sich leid und seufzte: »Ach.«
Vorwurfsvoll sagte er: »Warum hast du Karl Nachhilfestunden geben lassen?«
Katharine Hieck schaute auf: »Wenn du so viel Aprikosen ißt, wirst du Leibschmerzen kriegen.«
Otto trollte sich beleidigt fort, und obwohl er noch rasch eine letzte Aprikose genommen hatte, saß die Beleidigung tiefer, als er selber glaubte. Und während er das weichkörnige Fruchtfleisch im Munde zergehen ließ, fühlte er sich ausgestoßen. Ja, ausgestoßen, das war es. Nicht einmal ein Zimmer hat man. Dort sitzt der Richard noch mit dem Karl beisammen. Ekelhaft.
Karl war gerade mit seiner Prüfung fertig und sagte: »Dankschön.«
»Bleibst du da?« fragte Otto.
»Nein, ich muß nach Hause.«
Das war gut. Obgleich man nicht wissen konnte, ob er nächtlings nicht im geheimen zurückkehren würde.
Und wie zum Beweise solcher Annahme fragte Katharine Hieck während des Abendessens:
»Nun, wie steht's mit Karl, wirst du ihn unterrichten?«
»Natürlich hat er eine Menge Lücken«, sagte Richard, »das kommt eben von dem verdammten Fußball, ich werde ihn zu einer befreundeten Studentin schicken.«
»Aber er spielt gut«, sagte Otto, dessen Opposition gereizt war, »was, Mutter, Karl spielt gut?«
»Davon verstehe ich nichts, aber wenn du's sagst, will ich es gerne glauben.«
»Er ist der beste Läufer im Feld«, beharrte Otto.
»Wer ist diese Studentin?« fragte Susanne.
»Ach, das ist ja egal«, sagte Richard, »Ilse Nydhalm heißt sie.«
»Er braucht gar keine Nachhilfestunden«, platzte Otto heraus.
»Wenn er etwas lernen will, so ist das nur löblich«, sagte die Mutter.
Richard entschied: »Ich glaube, daß ich es wohl beurteilen kann, ob er Nachhilfestunden braucht oder nicht.«
Otto hatte das Gefühl, als hätten sich alle gegen ihn verschworen. Wo es anging, hielten sie gegen ihn zusammen. Er war ausgestoßen. Welche Sprache redeten sie? sie bewegten die Lippen, und sie verständigten sich mit etwas, das aus ihren Mündern herauskam. Aber er, er vermochte nicht mehr, sich ihnen verständlich zu machen. Sahen sie nicht, was vorging?
»Du ißt ja nichts«, sagte die Mutter in ihrer Scheinheiligkeit.
»Kann nicht, hab' keinen Hunger.«
»Ich wußte ja, daß du zu viel Aprikosen gegessen hast.«
Das war die Mutter! und Susanne? die faselte immer von der christlichen Nächstenliebe und saß trotzdem da und fraß genau so stumpf das Futter in sich hinein wie die anderen. Otto machte einen Versuch:
»Susanne.«
»Ja.«
»Susanne, ich möchte beichten gehen.«
Susanne wurde aufmerksam: »Ja … ist das wahr?«
Richard warf einen schrägen Blick auf sie: »Er hat nämlich zu viel Aprikosen gefuttert. Du müßtest ihn endlich schon kennen.«
Susanne fühlte sich verletzt: »Wenn du mich zum besten halten willst, Otto, spreche ich überhaupt nicht mehr mit dir. Das sind heilige Dinge.«
»Ich habe genug von euch«, sagte Otto, »ich gehe jetzt schlafen.«
Er hörte noch, wie die Mutter sagte: »Jetzt hat er wirklich Leibschmerzen.«
Als Richard später in ihr gemeinsames Zimmer trat, lag Otto auf dem Bett. Er war angekleidet, nur das Hemd klaffte über der Brust. Mit sonderbar unjugendlichem Gesicht lag er da, und sein Körper atmete unter dem geöffneten Hemd. Richard war beinahe beunruhigt, als er ihn sah. Otto setzte sich auf:
»Richard«, sagte er gepreßt, »die Mutter …«
»Ja, was ist mit der Mutter?«
»Die Mutter protegiert den Karl.« Nun war's heraus, so milde als möglich ausgedrückt, aber es war heraus.
»Nun ja, was kümmert's dich …«
Otto sprang auf: »Natürlich … um mich scherst du dich einen Dreck …«
»Bist du verrückt, Otto?«
»Du machst dir's ja recht bequem … bloß daß der Karl Nachhilfestunden kriegt … bei deinem Fräulein Nydhalm.«
Richard fühlte sich hilflos:
»Du wolltest doch schlafen gehen …«
»Ich gehe schlafen, wann ich will … jetzt gehe ich ins Café.«
Richard antwortete nicht. Was zuviel ist, ist zuviel. Und fast war er froh, als der Kleine, frechen Gesichts, sich entfernt hatte. Er machte sich an die Arbeit.
Daß Otto mittwegs wieder umgekehrt war und nun die halbe Nacht um das Haus herumstrich, das konnte allerdings kein Mensch voraussetzen.
Es gab einige Schwierigkeiten, ehe Karls Privatstunden ins richtige Fahrwasser gebracht wurden, und Richard, mit der allen Hieckkindern eigentümlichen Schlauheit, hatte es vorausgesehen: sowenig die Sittenstrenge im Hause Ilse Nydhalms es erlaubte, daß er selber dort auftauchte, ebensowenig war es möglich, Karl Wohlfahrt als Schüler dort einzuführen. Und da man Ilse nicht zumuten konnte, Karl zu besuchen, so wurde zwangsläufig die Hiecksche Wohnung zum Schauplatz der Zusammenkünfte gewählt. Darauf aber war es Richard angekommen; er machte es sich zwar nicht klar, doch sein Wunsch, Ilse seiner Schwester Susanne zu zeigen, war seit der Abreise Erna Magnus' immer mehr gewachsen.
Katharine Hieck betrachtete Ilse mit eifersüchtigen Augen. Irgendwie dämmerte die Vorstellung von einer Schwiegertochter und von einer neuen Generation, die sich gegen sie zusammenschloß und der auch Karl angehörte. Instinktiv verbündete sie sich mit Susanne.
»Glaubst du, daß er etwas mit ihr hat?« fragte sie naiv, und Susanne, mit der Weitläufigkeit der Älteren, gab die erwartete Antwort: »Das sieht doch jedes Kind; so sind sie eben alle an dieser Universität.« Im Grunde glaubte freilich auch sie nicht daran.
Indes Richard hatte wirklich nichts mit Ilse. Er sah sie nach wie vor im Institut, er holte sie zu den Stunden ab und begleitete sie wieder nach Hause, doch mit einer gewissen Gewalttätigkeit vermied er jedes weitere Zusammentreffen, und mit einer gewissen Gewalttätigkeit verharrte er im mathematischen und physikalischen Gebiet, duldete keine Abschweifung vom wissenschaftlichen Thema und hielt seine Vorträge. Und er wurde zornig, wenn er zu bemerken glaubte, daß sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit folgte wie ehedem.
Warum war dies so? war vielleicht die Verachtung daran schuld, die Susanne zur Schau trug, wenn von Ilse Nydhalm gesprochen wurde. Nicht etwa, daß sie, wie man eigentlich hätte annehmen können, den Mangel an Moral verachtete, im Gegenteil, sie gab in sehr eindeutiger Weise zu verstehen, daß er seine sträflichen Beziehungen zu Ilse vor ihr nicht zu verbergen brauche. Aber daß er, für dessen Streben sie immerhin Respekt bekundete und mit dem sie immerhin von gleich zu gleich verkehrte, sich mit »so etwas« abgäbe, das unterlag schärfster, verachtungsvollster Geringschätzung. »So etwas«, das war keine Frau, das war bestenfalls eine Studentin. Das taugte zu nichts, weder zu einer rechtschaffenen Arbeit noch zu einem rechtschaffenen Mann ins Bett und am allerwenigsten zu Gott. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund, und wenn Richard sich auch sagte, daß er auf das Urteil dieser idiotischen Person nichts geben müsse, so dachte er doch an Erna Magnus: da könnte Susanne nicht dieses verächtliche Gesicht ziehen. Er dachte an das schwarze Schwimmtrikot, das Erna Magnus getragen hatte. Er dachte an Hilde Wasmuth. Er bemühte sich, an seine einstigen niedrigen Liebesabenteuer zu denken, deren er sich kaum mehr entsann. Und er war überzeugt, daß all dies vor Susannens Augen eher bestehen mochte als eben Ilse Nydhalm. Man brauchte bloß Susanne zu betrachten: die Art, wie sie gelassen dasitzt, in ihrem schwarzen Kleid, umgeben von ihren Heiligenbildern, den strengen Kopf über einem zu fetten Körper, und wenn sie dann einen schrägen Blick aufwärts sendet und das Weiße in ihren Augen sichtbar wird, hintergründig belustigt von etwas, das einem zwar unbegreiflich bleibt, so begreift man dennoch, daß Ilse Nydhalm vor ihr keine Gnade finden kann.
Von hier aus besehen: »so etwas« taugte gerade noch für Karls Nachhilfestunden.
Es war also gewissermaßen eine Ovation für Susannens Autorität, wenn Ilse zur Erteilung von Nachhilfestunden degradiert wurde, aber das blieb ihr ebenso wie Richard selber verborgen, ja, ihr erst recht, denn die Stunden machten ihr Spaß: sie wollte sich vor Richard beweisen, ihr aufgestachelter Ehrgeiz wollte alle mathematischen Talente in ihrem Schüler erwecken, und so war letzten Endes Karl Wohlfahrt zum eigentlich Leidtragenden des seltsamen Mechanismus geworden, den Richard Hieck zwischen Susanne und Ilse in Gang hielt.
Sowenig aber Richard solchen Mechanismus durchschaute, er fühlte, daß er Ilse Nydhalm, daß er der Liebe etwas schuldig blieb und daß dies durch mathematische Gespräche nicht zu ersetzen war, auch wenn Ilse sich ihm anpaßte und mit ihm gemeinsam eine mathematische Welt zu errichten trachtete, in der er der König sein sollte. Das war keine Welt, die sich mit der Susannens hätte messen können, das war überhaupt keine Welt, es war bestenfalls eine kleine isolierte und darum sündige Verstandesgemeinschaft. Und in der Anstrengung, diese Welt trotzdem für Ilse Nydhalm und mit ihr zu errichten, schien ihm die Liebe oder das, was sich an ihrer Stelle befand, wie eine Kurve, die in die Unendlichkeit sich schwingt, das Unendliche ewig annähernd, nie es erreichend. Und alle Anstrengungen zur Erfüllung solch hoffnungsloser Aufgabe, sie waren gleichzeitig ein Versuch, jene unbekannte Schuld an die Liebe oder an Ilse – was hier dasselbe bedeutete – abzutragen, Ilses Verzeihung zu erringen für etwas, das ihm ebenso unaussprechlich bleiben mußte wie das einfache Wort Liebe.
Die Tage wurden kürzer. Noch war es warm. Am lichtblauen Abendhimmel standen schwarze silbergeränderte Wolken. Unbewegt.
In die dämmernde Wohnstube, in der Ilse und Karl ihre Stunden abhielten, trat Katharine Hieck:
»Für heute könnt ihr wohl Schluß machen, es wird dunkel.«
»Jawohl«, sagte Karl erfreut und klappte das Heft zu.
Katharine Hieck beugte sich über den Tisch, auf dem die Schulbücher und Hefte lagen, strich Karl über die krausen blonden Haare. Er wurde rot und blaß, aber das sah man nicht, es war schon zu dunkel.
»Wirklich, sollen wir schon Schluß machen? wir waren gerade im besten Zuge …« Ilse Nydhalm brach ungern die Stunde ab, erstens weil Karls mathematisches Talent noch immer nicht geweckt war, zweitens weil sie die Wohnung ungern verließ.
Otto war seiner Mutter gefolgt. Er hörte bloß den fürsorglichen Ton, den sie für Karl hatte, ahnte in der Dunkelheit die fürsorgliche Gebärde. Allein das genügte:
»Der arme Karl wird sich die Augen verderben«, sagte er böse.
»Wie sind Sie mit dem Kinde zufrieden, Ilse?« fragte Katharine.
Ilse machte eine schüchterne und gehemmte Bewegung mit dem erhobenen Finger: »Oh, es geht, wir werden bald durch sein.«
Otto erhaschte diese Geste. Sie gefiel ihm. Alles, was Frauen taten, gefiel ihm. Doch zugleich ärgerte er sich, daß dieses Mädchen mit dem dicken Richard in Verbindung stand, allerdings in einer nicht ganz durchsichtigen Verbindung, – und mit der kleinen neugierigen Bosheit, die ihn in solchen Fällen auszeichnete, sagte er düster: »Richard sitzt bei Susanne drüben. Haben Sie schon Susannens Kapelle gesehen? Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«
Er zog sie mit sich. In der Küche, durch die sie mußten, um in Susannens Kammer zu gelangen, zupfte er sie am Kleide: »Das ist ein hübsches Kleid, das Sie da anhaben.« Werbend lächelte er. Aber dann öffnete er die Türe, ließ sie eintreten, knipste das Licht an. »Da ist die Kapelle«, sagte er. Und dann drehte er sich auf den Hacken um und lief leise zur Wohnstube zurück, in die er unvermittelt hineinstürzte –: es hatte sich nichts geändert.
Karl packte seine Sachen zusammen, und in gemäßer Entfernung saß die Mutter. Es gab nichts Auffälliges.
»Du begleitest wohl deinen Freund.« Katharine Hieck stand auf, gab Karl einen leichten Stüber, sagte noch: »Leb wohl, Karl«, und verließ den Raum.
»Schau, was ich da habe«, sagte Otto, als sie draußen war. Er hielt auf der flachen Hand einen dünnen Eisenhaken mit Endring. Es war ein einfacher Dietrich. »Selbst in der Werkstatt fabriziert«, erklärte er stolz.
Karl nahm das Instrument, betrachtete es.
»Willst du ihn haben?« bot Otto an.
Karl überlegte, dann sagte er:
»Nein, behalt ihn nur, ich brauche ihn jetzt nicht.«
»Nun ja, wenn du ihn nicht brauchst …«, sagte Otto mit verengter Stimme, »… nun ja …«, und er ließ Karl allein weggehen.
In Susannens Zimmer betrachtete währenddessen Ilse die Heiligenbilder an den Wänden. Sie fürchtete sich. Sie fürchtete sich vor den Bildern, fürchtete sich vor Susanne, die Richard ähnelte und doch ihm nicht ähnelte und die, stumm mit ihrer Strickerei beschäftigt, sie mit forschenden Augen beobachtete.
»Gefälltes Ihnen?« fragte Richard. Die Bilder waren ihm wie Symbole einer undurchsichtigen Algebra.
»Ja«, sagte Ilse schüchtern, »sehr schön.« Sie spürte, daß dies ein Stück Welt war, das Richard trotz aller Bemühung, sich zu offenbaren, bisher vor ihr geheimgehalten hatte, weil er selber nicht wußte, wie sehr es zu ihm gehörte.
Susanne nickte: »Wer den ganzen Tag an der Universität sitzt, hat kein Verständnis dafür.«
Warum mußte sie Ilse beleidigen? Richard fiel neuerdings der Unterschied zwischen der asketenhaften Schärfe ihres Kopfes und der Massigkeit ihres Rumpfes auf, es war der gleiche Unterschied, der bei ihm bestand. Und wie immer, wenn er sich dieser Diskrepanz bewußt wurde – und dies geschah regelmäßig in den Augenblicken des Zweifels und in jenen Situationen, in denen Körper und Geist miteinander ringen –, schien es ihm am vorteilhaftesten und wünschenswertesten, daß solcher Kopf mit einem glatten Schnitt von dem ungebärdigen Körper getrennt werden sollte. Ob dieser Wunsch sich jetzt auf den eigenen Kopf oder auf den Susannens bezog, das vermochte er nicht zu entscheiden. Sich abwendend, brummte er:
»Was willst du von der Universität, sie ist, wie sie ist, weder Fräulein Nydhalm noch ich haben sie gemacht.«
Ilse fühlte dankbar, daß es ein Versuch war, sich von der unbekannten Welt Susannens loszuringen und sich zu ihr zu stellen. Dennoch erschrak sie: welche Welt hatte sie selber dieser unbekannten geheimnisvollen Heiligenwelt entgegenzustellen? was konnte sie ihm bieten? das bißchen Mathematik? War Susanne ihr nicht von vornherein überlegen?
Susanne lachte gutmütig. Sie hatte es Ilse gegeben und war jetzt befriedigt:
»Es war ja nicht böse gemeint … vielleicht gerate ich auch noch an die Universität; Richard meint, daß ich ganz gut studieren könnte.«
Versöhnlich, obwohl im Herzen noch gekränkt, antwortete Ilse: »Wir wissen doch alle, daß es was Wichtigeres gibt … etwas, das jeder sich allein erkämpfen muß und zu dem keinerlei Studium verhilft.« Und sie beneidete in diesem Augenblick Susanne, beneidete sie mit der ganzen Kraft einer zarten und eifersüchtigen Seele.
Wäre Susanne statt Ilse an der Universität, dann wäre alles gut, dachte Richard. Ilse im Kloster? Eine groteske Vermengung der Sphären, eine Vermengung des Oben und Unten.
Otto kam herein; sein Gesicht war weniger gespannt als vorher. »Alle Geschwister beisammen«, sagte er anzüglich und vergnügt.
Ilse lächelte ihm zu. Es war angenehm, dem Kreise der Geschwister zugezählt zu werden. Ihr Leben lang hatte sie eine Schwester oder einen Bruder haben wollen, und nichts war so schön gewesen, als wenn der Vater mit ihr Bruder und Schwester gespielt hatte; im Zuge dieses Spiels hatte sie auch Lesen gelernt. Richard, ihr großer Bruder, es war ein beruhigender und freundlicher Gedanke.
Von der Wand grüßte der Spruch:
Du bist der Herr,
ich bin Dein Knecht.
Ihr Lächeln bemerkend, warf sich Otto in Positur; die eine Hand in der Tasche seiner weiten Hose, wies er großartig auf die Dekoration des Zimmers: »Das alles habe ich arrangiert«, sagte er werbend und auf Lob erpicht.
Kein Zweifel, Otto ließ sich von Susanne nicht stören, für ihn galt »so etwas«, wie Ilse es war, als richtige Frau, für ihn hatte sie nichts an Weiblichkeit eingebüßt: die Welt brennt in uns, nicht außer uns, mußte Richard denken, und unheimlich war es ihm, Ilse zu betrachten, unheimlich dieser unvorstellbare Schoß, unheimlich, daß dieser unvorstellbare Schoß ein Kind tragen könne, es war wie Blindheit, unheimlich und unvorstellbar, und eine wehe und blinde Zärtlichkeit war es, die ihn überkam; die Liebe als unendliche Aufgabe, ja, und als Knecht ihr zu dienen, wie man der Erkenntnis zu dienen hat!
Wie immer roch es ein wenig nach Weihrauch und Lavendel in Susannens Stube. Über dem weich und hoch aufgeschichteten Bett – es war ja auch Susannens Bettzeug eingebettet – lag eine waffelförmig gewebte weiße Decke, von der lange Fransen fast bis zum Boden herabhingen.
Ilse sagte: »Ja, das ist herrlich arrangiert … wenn ich mal eine Wohnung haben werde, müssen Sie sie mir einrichten, Otto.«
Und Richard sagte halb ironisch, halb wohlwollend: »Ja, unser Haustapezierer.«
Die letzte Begründung der Mathematik liegt außerhalb der Mathematik und doch in ihr, das göttliche Ziel des Seins liegt außerhalb des Seins, das letzte Ziel der Liebe liegt außerhalb der Liebe und ist doch die Liebe – oh, lichte Braut, oh, dunkler Tod, seltsame Vermengung der Sphären.
Der Gedanke an Flucht, an ein Zueinanderflüchten war beinahe gleichzeitig in Richard und Ilse aufgekeimt. Das Flackernde, das unsichtbar Drohende, es hatte mit dem Flügel der Angst nun auch Ilses Herz gestreift, aber im Hauch dieser Angst ward der Klang einer leisen Hoffnung mitgetragen, Botschaft aus einer Welt, die ihr allein gehörte und nicht Susanne, Hoffnung auf einen Weg, der ihr allein beschreitbar war und nicht Susanne, Hoffnung auf einen Auftrag, den sie allein erfüllen würde und nicht Susanne. Und im Zusammentreffen ihrer Gedanken mit den seinen fiel Richard plötzlich das Ehepaar Curie ein und die Möglichkeit gemeinsamer wissenschaftlicher Entdeckungen.
Otto hatte einen bunten Glühlampenkranz um das Madonnenbild oberhalb des Bettes eingerichtet, und den ließ er jetzt aufflammen.
»Das ist prächtig, Otto«, sagte Ilse, ein wenig kurzsichtig mit den Augen zwinkernd, und setzte ihre Brille auf. Ihr Gesicht hatte nun wieder den über alle Maßen altklugen und kindlichen Ausdruck, und sogar Richard bemerkte dies.
Susanne schämte sich ein bißchen: »Nun ja, Ottos Firlefanz … aber das Bild ist geweiht, und da hat es doch seine Bedeutung.«
»Das Sichtbare ist nur Symbol«, antwortete Ilse.
Vereinigung der Sphären im Symbol? es war Susannens Sprache im Munde Ilses, – noch war es nicht das Endgültige, noch war es selber Symbol und Abbild, doch die Welt wurde still in Erwartung des Endgültigen, einkehrend in sich selbst, das Wort befreiend aus der Ruchlosigkeit des Unzulänglichen. Richard hätte gerne Ilses Hand genommen. Und wie sie nun neben Otto stand, sie beide schlank, jungenhaft, geschwisterlich, da wünschte er Otto zum Teufel.
In der Küche trafen sie auf die Mutter: »Sie gehen schon, Ilse«, sagte sie leichthin. Otto antwortete vorlaut: »Leider.« Aber Richard empfand es als wohltuend, daß die Mutter einfach »Ilse« gesagt hatte.
Auf der Straße begann er allerdings wieder einmal mit großer Leidenschaft von den erkenntnistheoretischen und logischen Grundlagen jeglicher Forschung zu sprechen, zeigte wieder einmal, daß sogar die Mathematik und die Physik trotz ihrer scheinbar unanfechtbaren Exaktheit immer aufs neue zu diesen letzten Grenzproblemen der Erkenntnis hinführten und daß dies die Probleme seien, für die allein es sich lohne, ein den Wissenschaften hingegebenes Dasein zu leben, ja überhaupt zu leben.
»Ja«, sagte Ilse. Sie gab ihm recht, aber sie sah Susannens hochaufgeschichtetes Bett vor sich.
Denn hinter allem stünde die Welterkenntnis, fuhr er fort, und er zeigte, nicht etwa vage, sondern mit aller wünschenswerten Präzision, wie er seine eigenen Forschungen und wie weit er selber das Wissen um die Welt fördern werde. Ja, er war voller Zuversicht, – beglückt sah er auf sie, die klein und schmal, den Kopf leicht gesenkt, neben ihm einherschritt.
Ein einzelner, schwachbesetzter Trambahnwagen fuhr vorbei.
Und wieder glaubte Richard, daß mit der Größe und Höhe der Welterkenntnis, daß mit der Entfaltung und Preisgabe seiner Ziele auch seine Hingabe an die Liebe wachse und daß er damit eine Schuld abtragen könne.
Wie aus weiter Ferne sagte Ilse: »Ich liebe dich.«
Vielleicht war es wirklich Verzeihung. Vielleicht hatte sie gefühlt, daß er sich um die Hingabe quälte. Und doch war gerade damit sein Verbrechen klar zutage getreten. Denn es war das erstemal, daß zwischen ihnen das Wort »Ich liebe dich« fiel, und es war sie, die es zuerst ausgesprochen hatte.
Ich liebe dich. Zarte und furchtbare Bitte an das andere Sein, daß es sich öffne. Bitte um Aufnahme, zartes und furchtbares Angebot des eigenen Ichs.
Ich liebe dich. Augenblick der Freiheit zwischen der Knechtschaft der Vergangenheit und der Knechtschaft der Zukunft.
Ich liebe dich. Aber nicht Ilse Nydhalm war es, die das magische Wort ausgesprochen hatte, sondern das Phantom ihrer Zukunft war es gewesen und hatte sie herausgehoben aus ihrem eigenen Sein, sie schmerzlich entreißend dem versinkenden Nebel, der bisher Ilse Nydhalm hieß.
Den einsamen Klang dieses einsamsten Wortes in den Ohren, schritt Richard an Ilses Seite dahin. Er nahm es für Verzeihung, doch die ganze Ungesetzlichkeit der Welt hatte sich neuerdings aufgetan. Wäre jemand entgegengekommen, der ihm den Kopf vom Rumpfe hätte spalten wollen, er hätte ihn als Freund begrüßt.
Professor Weitprecht war heimgekehrt. Richard erhielt eine Postkarte ins Institut mit der Bitte, ihn aufzusuchen: er selber könne leider noch nicht ausgehen, sein Befinden habe sich noch nicht so weit gebessert.
Es mußte übel um Weitprecht bestellt sein, wenn er nicht imstande war, ins Institut zu kommen; das war sonst unweigerlich sein erster Weg. Und in der Tat, als Richard bei ihm eintrat, erhob er sich bloß mühselig von seinem Platz hinter dem Schreibtisch, und an dem unbeschriebenen Papier sah man, daß er den Bleistift bloß müßig in der Hand gehalten hatte.
»Ja«, sagte er, »Sie wundern sich über dieses Wrack.«
Unter seiner Wehmut spürte man zwar noch immer seine alte drängende und ängstliche Höflichkeit, und mit der alten unsicheren Schärfe suchte der Blick noch immer über die Halbgläser der Brillen hinweg in den Zügen des Besuchers.
»Ich danke Ihnen sehr für Ihre Berichte, Herr Doktor Hieck.«
»Die Arbeit von Fräulein Magnus hat recht erfreuliche Resultate gezeitigt.«
»Ja, ja«, sagte Weitprecht zerstreut, »recht erfreuliche Resultate.«
In der dünnen Luft des Vorherbstes zwitscherten die Vögel auf den Straßenbäumen.
»Die Sichtung Ihrer Aufzeichnungen ist nun auch so gut wie beendet, Herr Professor, ich hoffe, daß Sie zufrieden sein werden.«
Aber Weitprecht schien dem Vogelgezwitscher zu lauschen. Dann sagte er:
»Ja, ich wollte darüber mit Ihnen sprechen … aber sehen Sie, eigentlich kommt es gar nicht darauf an.«
Hatte Weitprecht auch schon Kapperbrunns Skepsis angenommen?
Weitprecht bemerkte Richard Hiecks Verwunderung. Er fuhr sich mit der Hand in den Kragen, als müßte er sich Luft verschaffen, obwohl keine Krawatte ihn behinderte und der Kragenknopf offenstand. Richard hatte ihn bisher bloß mit Stärkwäsche und einem korrekten kleinen schwarzen Schlips gesehen. Weitprecht lächelte mit schmal und weich gewordenem Greisenmund:
»Sie müssen nicht erschrecken, Doktor Hieck … ich vertrete meine Arbeiten nach wie vor mit der gleichen Überzeugung, sie sind mir nur etwas weniger wichtig geworden.«
»Die Wichtigkeit Ihrer Theorien steht doch außer jedem Zweifel, Herr Professor.«
»Die objektive wohl, mein lieber Doktor Hieck, so will ich's wenigstens hoffen, aber die subjektive Wichtigkeit hat nachgelassen … ja, ja … sehen Sie, wenn man mich nicht nach Nauheim geschickt hätte …«, er verfiel in einen zänkischen Ton, »… wenn meine Frau nicht darauf bestanden hätte … nun ja, sie hat es gut gemeint, aber es war eine Torheit … ja, wenn das nicht gewesen wäre, dann wäre ich heute wahrscheinlich noch der Alte …«, er sah furchtsam und geärgert nach der Türe, die zum Nebenzimmer führte.
»Herr Professor werden sich gewiß wieder völlig erholen«, warf Hieck ein.
Weitprecht schlug einen geheimnisvollen Ton an: »Das ist es ja eben, ich will ja gar nicht … es ist ja gut so, wie es gekommen ist … die anderen wissen das nur nicht …« Es war eine Mischung von Weisheit und kindischem Eifer in seinem Gehaben. Aber es war der gleiche Eifer, mit dem er früher seine wissenschaftlichen Gedanken vertreten hatte; damals war es bloß verbrämter gewesen, jetzt war es nackter.
Richard wartete, was weiter erfolgen würde; er hatte noch nichts verstanden.
»Sehen Sie, Doktor Hieck, auch Sie haben Ihren wissenschaftlichen Ehrgeiz … ja …« Weitprecht erinnerte sich: »Sie haben ja Bemerkenswertes in der Gruppentheorie geleistet … ich bin doch recht?« Weitprecht schien stolz auf sein Gedächtnis, er lachte ein wenig und nickte Richard zu.
»Das ist nicht weiter bemerkenswert, Herr Professor, das waren sozusagen Nebenarbeiten.« Richard war trotzdem geschmeichelt.
»Schön … wenn es Nebenarbeiten waren, dann werden Sie immer mehr leisten und immer mehr …«, er wurde offenbar müde, »… und immer mehr … und vielleicht werden Sie auch mehr Glück haben als ich.«
Richard schüttelte den Kopf, und Weitprecht wurde böse: »Glück ist doch keine Schande … sehen Sie, auf das richtige Arbeitsgebiet treffen, das ist schon Glück, und nicht zu früh und nicht zu spät kommen, das ist Glück … sehen Sie, das ist das Glück des Genies … Ideen hat bald einer, die Ideen liegen in der Luft … aber zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, das ist Genie …« Er hielt die Hand auf sein Herz gepreßt und sagte matter: »Sehen Sie, dieses Glück hat mir gefehlt …«
Richard wußte wenig zu sagen: »Vieles im Fortschritt der Physik bestätigt jetzt nachträglich Ihre Annahmen, Herr Professor.«
Weitprecht fuhr sich durch die Haare, die noch immer spröd und wirr um seine Glatze standen: »Vorläufer zu sein, ist eine tragische Angelegenheit, Herr Doktor Hieck, das habe ich erfahren, und ebendas wünsche ich Ihnen nicht.«
Aber er hatte einen empfindlichen Punkt bei Richard getroffen, und es war nun Richard, der sich ereiferte: »Aber das ist doch nicht das Wesentliche, ob zu früh oder zur rechten Zeit … das Wesentliche ist doch die Erkenntnis …«
»Ja, ja, die Erkenntnis«, nickte Weitprecht und lächelte wieder sein kindisch weises und beinahe pfiffiges Greisenlächeln, »ja, die Erkenntnis … das habe auch ich bisher geglaubt … und es ist auch was Wahres dran …«, und wieder geheimnisvoll werdend: »… das ist es ja eben … an die Erkenntnis habe ich geglaubt, und ich habe viel Unrecht im Namen der Erkenntnis verübt …«, er nickte bedeutungsvoll »… ja …«
»Unrecht im Namen der Erkenntnis? … das gibt es nicht, Herr Professor.«
»Doch …« Weitprecht schaute wieder zur Türe, »und deshalb war es gut, daß sie mich nach Nauheim geführt haben … und daß ich jetzt … na, wie soll man's denn sagen … daß ich jetzt meine Strafe erhielt.«
»Sie sind doch nur überarbeitet, Herr Professor.«
»Kommen Sie mir auch mit dem Unsinn … beklage ich mich denn? … ich sagte Ihnen doch, daß ich's gar nicht anders will … es ist gut, wie es gekommen ist … es gehört zum Leben, so wie der Tod zum Leben gehört.«
»Aber Erkenntnis und Unrecht, Herr Professor!«
Weitprecht war müde, er nickte nur leise und deutete auf sein Herz:
»Wo man gesündigt hat, da wird man gestraft.«
Das hätte Susanne sagen können, dachte Richard; sollte Weitprecht auch noch eine Betschwester werden? Erstaunt sagte er bloß:
»Ja, aber … wissenschaftliche Erkenntnis …«
Still sagte Weitprecht:
»Lassen Sie nicht ab in Ihrem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis … auch sie ist heilig …, doch es ist die Heiligkeit des Lebens, und der Tod wird darüber vergessen … hören Sie, die Heiligkeit des Todes … wer an der wissenschaftlichen Erkenntnis arbeitet, arbeitet mit siebzig genau so, wie er mit dreißig gearbeitet hat … und schließlich wird er gefällt, mittendrin gefällt, aber an keinem Ende, weil er seines eigenen Todes vergessen hat … ein böser Mensch mit einem bösen Herzen … ja, ja, lieber Freund, mit einem bösen Herzen, das im Namen der Erkenntnis viel Unrecht geübt hat …« Er hielt erschöpft inne.
Richard konnte zu fragen sich nicht enthalten: »Sie meinen die Religion, Herr Professor?«
Weitprecht schien nun völlig verfallen. Aber hinter der Maske seiner Greisenhaftigkeit und Verfallenheit schimmerte es nun wieder pfiffig, und es gab ein kleines, brüchiges Lachen: »Das muß jeder mit sich selber abmachen … Gauß war gläubig, Kant war gläubig … alles in allem …«, er dozierte ein wenig, wie er auf dem Katheder doziert hatte, »… wer alt wird, ohne den Sinn seines Todes zu erfassen, der stirbt als schlechter Mensch … ohne Erkenntnis … auch wenn er noch so viel erkannt und gearbeitet hat …« Er erschrak, denn die Türe tat sich auf.
Frau Professor Weitprecht kam herein:
»Er spricht zu viel, Herr Doktor«, sagte sie mißbilligend zu Richard gewendet.
Weitprecht machte sich klein: »Ich habe mit Doktor Hieck die Ordnung meiner ganzen Papiere im Institut durchsprechen müssen.«
»Ach, immer diese Papiere …«, sagte sie unwillig, »hast du schon die Tropfen genommen?«
Mit der Hemmungslosigkeit des Greises keifte Weitprecht: »Ja, meine Papiere … ich weiß, wie wichtig dir meine Arbeiten sind …«
Richard fand es an der Zeit, sich zu empfehlen. Aber als die Frau Professor sich umwandte, um ihn zu verabschieden, zwinkerte ihm Weitprecht, der inzwischen leise weitergebrummelt hatte, pfiffig und verständnisinnig zu.
Die Luft glitzerte, als er auf die Straße trat. Der Herbst führte gläserne Schnitte durch die Sommerwärme. Was Weitprecht gesagt hatte, schmeckte nach Susanne und war doch tröstlicher. Rechtfertigung des Wortes durch das Endgültige. Oh, einsamer Klang des Todes.
Mit warmen Gewittern hatte der Wettersturz eingesetzt, doch schon nach vierundzwanzig Stunden waren sie von kaltem Dauerregen abgelöst worden, und jetzt fegte ein übereilter und blindwütiger Herbst durch die noch sommerlich gerüstete und grüne Natur. Die Schwimmbäder waren mit einem Schlage verödet, der Waldweg von der Sternwarte war nachts unpassierbar, so glatt war der Boden geworden. Richard, ausgerüstet mit Gummimantel und Stock, mußte jetzt immer die Fahrstraße nehmen. Die Schaffner auf der Trambahn trugen ihre dunklen Winterblusen. Der Stadtweiher, der beinahe bis zum Grunde entleert gewesen war, füllte sich innerhalb weniger Tage wieder bis zum Rande. Über den Fußballplatz strich schräg und eisig der Regen.
Durch die Ungeduld dieses verfrühten und entscheidungsreifen Herbstes schritt Ilse. Wenn sie in ihrem adretten Regenmantel, einen Ledergürtel umgeschnallt, mit aufgestelltem Kragen die Straße daherkam, sah sie erwachsen und fraulich aus. Dann geschah es, daß sie sich in plötzlicher Aufwallung im Treppenhaus küßten, und obwohl es scheue trockene Küsse waren, unwürdig einer erwachsenen Frau und eines jungen Mannes, Küsse von Fünfzehnjährigen, blieb es alles in allem eine unberechenbare Sphäre der Welt.
Ilses Nachhilfestunden mit Karl fanden jetzt jeden Montag und Donnerstag am frühen Nachmittag statt. Das hatte sich so ergeben, vielleicht aus Katharinens Hauseinteilung. Otto war um diese Zeit selten daheim, er mußte um zwei Uhr zur Arbeit. Begegnete er Karl trotzdem, so wechselten sie zwar den üblichen Rippenstoß, aber Otto trabte davon, und wenn es niemand sah, gab er Karls Rad, das unter der Stiege stand, einen Tritt in die Speichen, daß es klirrte.
An einem solchen Montag war Ilse nach der Stunde dageblieben, um mit Richard ein neues Buch über Mengentheorie – die Materie, in die er sie jetzt einführte – durchzunehmen. Wie gewöhnlich vollzog sich dies an dem Tisch vor dem Fenster, Richards allnächtlichem Arbeitsplatz, und Ilse freute sich hier zu sitzen. Susanne, die es sonst nie unterließ, von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen, war ausgegangen, doch das hatte wenig zu bedeuten, denn die beiden saßen Hand in Hand, auch wenn Susanne hereinkam, und im übrigen waren sie ihrer Arbeit hingegeben. Außerdem war Katharine Hieck zu Hause.
Otto kam in gewohnter Weise mit plötzlichem Aufreißen der Türe ins Zimmer geschossen. Ilse tat einen kleinen Schrei, Richard sah auf:
»Du bist schon hier? ist denn die Arbeitszeit schon um?«
»Mir war übel«, log Otto.
Otto fauchte Unverständliches und suchte im Zimmer herum. Schließlich fragte er:
»Ist Karl hier?«
»Meines Wissens dürfte er schon längst fort sein.«
»Susanne ist auch fort?« Ottos Stimme war heiser.
»Schon längst, mein Söhnchen, wozu brauchst du sie denn?«
»War Karl nicht drüben?«
»Wo drüben?«
»Drüben … bei … bei der Mutter …« Ottos Augen waren voller Angst.
»Was soll er bei der Mutter machen … was willst du eigentlich?« fragte Richard ärgerlich.
»Otto, mit dir ist was los …«, sagte Ilse.
»Ja, daß er zu viel lumpt«, sagte Richard gutmütig.
Otto riß Schubfächer, riß den Schrank auf.
»Was suchst du denn gar so wild?«
»Nichts … ein Schlüssel … war Karl im Zimmer?«
»Soll Karl ihn etwa weggenommen haben? … wozu braucht er denn ausgerechnet deinen Schlüssel?«
»Ja … kann sein … vielleicht …« Das Gesicht in den Händen, sank er auf einen Stuhl.
»Ist dir so übel, Otto?«
»Nein … laß mich.«
Richard wurde ungeduldig: »Otto, wir müssen hier arbeiten.«
»Du hast mich nicht immer hinauszuwerfen … draußen regnet es … ich habe auch ein Recht.«
Ilse sagte begütigend: »Wenn dir der Schlüssel so wichtig ist, kannst du ihn doch bei Karl holen.«
»Ich sehe schon, daß ihr mich nicht brauchen könnt«, sagte Otto und verließ das Zimmer.
»Er ist jetzt ganz verrückt«, sagte Richard besorgt. Kein Zweifel, Ottos Verhalten war lästig, im Grunde wünschte er ihn zum Teufel – ja, das hatte er schon einige Male getan; irgendwie hing das mit Ilse zusammen, mit Ilses sonderbar weiblicher Unweiblichkeit; die ganze drohende Unberechenbarkeit der Welt lauerte dahinter, da mochte sich der Teufel auskennen, undurchschaubar war es auf jeden Fall. Es war gut, daß der kleine Narr draußen war. Und Richard wiederholte: »Er ist verrückt, aber auch lästig.«
Er küßte sie geistesabwesend. Er küßte ihre Haare. Aber dabei blieb es. Otto machte ihm Sorgen.
Als er dann abends zur Sternwarte hinaufstieg, überfiel ihn wieder die vieldeutige Unsicherheit des Seins. Freilich, was im Kopf vor sich geht, das ist berechenbar, das ist hell und erstrebenswert, und was unterhalb des Kopfes geschieht, ist dunkel und nächtlich in seiner Unberechenbarkeit. Erfassung des Unberechenbaren durch das Berechenbare, darauf allein kommt es an, und wenn dies nicht gelingt, so bleibt nur scharfe Trennung der beiden Teile übrig. Wie konnte man richtig handeln, wenn mittendurch die Trennungslinie ging. Dann dachte er an Weitprechts sonderbare Rede vom Herzen, mit dem man sündigt und an dem man gestraft wird, dachte, daß das Herz wie eine Resultante in einem Kräfteparallelogramm zwischen oben und unten lag, und obwohl dies halbwegs plausibel war, konnte er sich doch nichts dazu vorstellen. Besser, die Kräfte separieren. Mit einem raschen glatten Schnitt.
Der Regen hatte ausgesetzt. Die Wolkendecke war zerrissen, Mondlicht kam schräg durch helleren Wolkensaum. Auf der feuchten Straße erkannte man die gerillte Radspur eines Autos. Richard nahm den Gummimantel übern Arm. Er dachte an den kommenden Winter, an die Einkehr der Welt in sich selbst, an die Schneelandschaft, die er hier unter den Wintersternen durchqueren würde. Er dachte ans Älterwerden, er dachte an Weitprecht und ans Sterben. Und plötzlich fiel ihm der Vater ein: der Vater hatte gleichfalls vom Tode gesprochen, er hatte den Tod gemeint, als er die Nacht liebte. Einsames Lachen des Todes. Doch still und klar schimmerte Ilses Lächeln; weiße Blumen im nächtlichen Wasser.
In der Sternwarte gab es nicht viel zu tun. Er ging zu Doktor Loßka hinüber, der verzwickt und nervös lächelte und eine Zigarette nach der andern rauchte. Er sollte nächste Woche auf Urlaub gehen und betrachtete das Wetter als persönliche Beleidigung, die ihm vom Kosmos angetan wurde. Zehnmal wiederholte er: »Dabei ist der September laut dem langjährigen Durchschnitt der stabilste Monat.« – »Es gibt eben bloß statistische Naturgesetze«, sagte Richard und dachte an die Unberechenbarkeit der Welt, dachte an die unumstößliche Korrektheit des geistigen Geschehens, an die Überkonkretheit der Mathematik. Angst befiel ihn wieder.
Das Unbehagen hielt an. Er kam früh heim. Vor dem Hause verstärkte sich das Unbehagen in üblicher Weise, wurde zur Angst vor dem Unerwarteten. Doch das Unerwartete bestand darin, daß Otto bereits im Bette lag und fest schlief. Das war schon lange nicht vorgekommen.
Die Fenster waren geöffnet. Die Konturen der gegenüberliegenden Dächer waren sichtbar, darüber die Sterne, von dahinziehenden Wolken immer wieder überdeckt. Richard setzte sich auf den Stuhl neben der Türe und betrachtete Otto, der braun und schlank, mit geballten Fäusten, regelmäßig atmete. Von ferne huschte das Bild Ilses vorbei, aber es hatte die weiße Jacke an, die sie damals getragen hatte, als sie von der Sternwarte in die nächtliche Stadt zurückgekehrt waren; auch damals hatte es geregnet.
Er saß lange. Dann ging er gleichfalls zu Bett.
Er wurde aus dem ersten Schlaf durch einen Aufschrei Ottos geweckt. Er fuhr empor und sah im Mondlicht, daß Otto in aller Eile seine Kleider zusammensuchte und sich anzog.
»Was ist, Otto, bist du krank?«
»Er war da«, keuchte Otto.
»Wer?«
»Die Flurtüre ist zugeschlagen worden.«
»Wer? … so rede doch … wer soll sie zugeschlagen haben?«
»Wer … wer …« Otto war bereits in den Schuhen. »… Karl natürlich … wer denn sonst …« Man vernahm das Knirschen von Ottos Zähnen.
Nun war auch Richard aus dem Bette.
»Du bist verrückt … was willst du heute immer mit Karl …«
»Ich weiß, was ich weiß …« Otto war bei der Türe.
Richard hielt ihn am Rock: »Du träumst, Otto … wach auf …«
Aber Otto riß sich los: »Ich hab' es gehört … ich hab' es gehört … laß mich, ich muß ihn einholen …«, und lief davon, Richard, unbekleidet wie er war, ihm nach. Im Flur feuerte ihm Otto die Türe vor der Nase zu. Als Richard hinaustrat, hörte er nur noch, wie Otto unten sein Rad hervorzog und das Haustor hinter sich zufallen ließ.
Schwerfällig tappte er auf seinen nackten Sohlen durch den dunklen Vorraum zur Wohnstube zurück. In seiner Verwirrung vergaß er Licht zu machen. Aber die Wohnstube war bereits erleuchtet, und die Mutter trat ihm entgegen. Er konnte sich's nicht zusammenreimen, daß sie plötzlich dastand, sogar schon im Schlafrock, und er war so überrascht, daß er bloß hervorbrachte: »Du bist schon angezogen?«
»Was ist geschehen?«
»Otto …«
»Ist er wieder so spät heimgekommen? sicherlich war er wieder im Café.«
»Nein, nein …« Richard deutete zur Türe, »fort …«
Hatte sie's noch nicht begriffen, so begriff sie es jetzt. Sie weckten Susanne, und in der undeutlichen Sorge, in der sie sich befanden, und in ihrer Angst, es könne diese Undeutlichkeit jeden Augenblick zur krassen Deutlichkeit durchbrechen, waren sie nahe daran, mit Susanne ins Streiten zu geraten, als diese, schlaftrunken, auf die Nachricht von Ottos Flucht nichts anderes zu sagen wußte als: »Er ist vom Bösen besessen.« – »Begreif doch, er ist davongelaufen!« Und Katharine Hieck versuchte, sie wachzurütteln. Susanne, noch immer schwer von Schlaf, steckte die Füße unterm Oberbett vor und stand langsam auf, argwöhnisch die Mutter beobachtend, ob diese nicht mehr wüßte, als sie verriet. Aber Katharine Hieck kam immer wieder nur auf ihren ursprünglichen Gedanken des Cafés zurück, und da doch etwas geschehen mußte und hier immerhin irgendeine konkrete Möglichkeit bestand, so rannte Richard, der sich mittlerweile bekleidet hatte, zum Marathonklub ins Café. Otto war nicht da, Richard rannte zur Polizei. Dort zuckte man die Achseln, vor dem Morgen würde sich nichts machen lassen. Das war einzusehen. Er kehrte zu den Frauen zurück. Sie verbrachten die Nacht in Warten.
Am nächsten Morgen fand der Schleusenwärter des Stadtweihers die Leiche Ottos am Wehr angeschwemmt. Und unterhalb der Böschung des Fußballplatzes lag sein Rad im Wasser. Er war, wie die Radspur zeigte, in vollem Schwung in den Stadtweiher hineingefahren.
Vormittags kam die Nachricht. Ein Mann von der Polizei brachte sie. Richard war nicht daheim, er war, um vielleicht dort etwas in Erfahrung zu bringen, in Karls Wohnung gegangen, ohne Hoffnung freilich, bloß weil es ihn zu Hause nicht litt.
Ja, man hätte natürlich sofort Wiederbelebungsversuche angestellt, Frau Hieck könne versichert sein, es sei nichts versäumt worden. Jetzt – der Mann brachte es bloß schwer heraus – in der Totenkammer. Leider. So jung. Ein Unglück.
Die beiden Frauen hörten die Nachricht an. Sie suchten zu begreifen, und es gelang nicht. Katharine Hieck nahm die Hand, die sich ihr entgegenstreckte, und sagte: »Dankschön.« Der Mann fragte, ob er etwas tun könne, ob sie vielleicht mitkommen wollten … es wäre notwendig, leider. Katharine Hieck antwortete neuerdings: »Dankschön«, wandte sich ab und ging in das Zimmer, in dem Ottos Bett noch so dastand, wie er es verlassen hatte. Wortlos begann sie das Bett zu machen.
Der Mann und Susanne standen sich nun stumm gegenüber. Und dann schlug Susanne die Hände vors Gesicht, wandte sich um und lief in ihre Stube, wo sie auf den Betschemel niederfiel und mit gerungenen Händen und schief emporgerecktem Kopf in ein rasend gestammeltes Beten geriet, unterbrochen von immer wilderen Schreien: »Gott sei seiner armen Seele gnädig.« Durch die offenstehenden Türen hörte man das Gellen bis in den Vorraum, in dem das Amtsorgan geblieben war, unschlüssig, was es nun tun sollte. Es war ausgesprochen erfreut, als Richard daherkam.
Richard war atemlos, er hatte das Geschehene schon vernommen, die Nachricht hatte sich schon herumgesprochen. Was ihm nun von Amts wegen mitgeteilt wurde, war nur mehr traurige Bestätigung. »Ich komme gleich mit Ihnen«, sagte er und ging zur Mutter hinein. Sie hatte das Bett gemacht, sah sich im Zimmer um, und was sie von Ottos Sachen herumliegen fand, räumte sie säuberlich in den Schrank. Aus einer Hosentasche fiel ein Dietrich, sie nahm ihn und legte ihn ins Schubfach zu Ottos Malutensilien.
»Mutter«, sagte Richard.
Sie unterbrach ihre Tätigkeit nicht, und indem sie einen Rock ausbürstete, sagte sie nebenbei und wie zur Erklärung: »Otto ist tot.«
Er faßte sie bei den Schultern: »Mutter.« Und jetzt erst löste sich ihre geschäftige Erstarrung, löste sich in jenem tierischen Aufheulen, das den Menschen überkommt, wenn ihm der Tod ein Stück Fleisch herausgerissen hat. Denn die Würde und Erhabenheit des Todes wächst unmittelbar aus dem Tierischen, ernst und gewaltig das Tierische in der menschlichsten Klage der Mutter, und da sie sich jetzt umfangen hielten, da war es das Stück Tier, das sie einst geboren hatte und an das sie sich jetzt anklammerte, und da war es der Leib, der ihn einst ausgestoßen hatte und über dessen Kopf er sich beugte, schmerzverzerrten Mundes den blonden Scheitel zu küssen.
»Ich gehe jetzt zu ihm«, sagte er, »komm inzwischen zu Susanne.« Sie nickte.
Susanne lag noch immer auf den Knien und ließ von ihren Anrufungen nicht ab. Und obwohl ihm im Augenblick anderes wichtiger war, staunte Richard, daß in Susannens Welt und in ihr System sogar der Tod gesetzlich sich einfügte. Doch er packte die Betende recht unsanft am Arm:
»Willst du dich nicht endlich um Mutter kümmern?«
Sie drehte ihnen ein tränenüberströmtes ekstatisches Antlitz zu:
»Mutter, bete mit mir.«
Vielleicht war es ungerecht, aber es schien ihm das Gehaben Susannens nicht anders, als wenn er jetzt Mathematik triebe, die Person schien ihm jetzt im besten beruflichen Zuge zu sein, und ob nun gerecht oder ungerecht, oder bloßer Ausfluß seiner furchtbaren Spannung und Übernächtigkeit, er brüllte sie an:
»Deine Privatspäße kannst du später erledigen, koch der Mutter einen starken Kaffee, sie bricht sonst zusammen … ihr habt beide nicht geschlafen und nicht gefrühstückt, und dir wird's auch gut tun.«
Er hatte recht. Katharine Hieck schluchzte jetzt kindlich und hilflos vor sich hin, schluchzte über das Kind, das sie verloren hatte, und schluchzte doch über das eigene Dasein, das verfehlt gewesen war und nun abbröckelte, ehe das wirkliche Leben noch begonnen hatte. Und es dünkte sie, als hätte Otto sterben müssen, bloß weil er ein Stück eines verfehlten Lebens gewesen war.
Richard ging mit dem Amtsorgan zur Polizei und in die Totenhalle.
Da lag Otto in dem kahlen, etwas grauen Raum, in dem es gleichzeitig nach Hygiene und nach Verwesung roch, nach frischem Kalk und ein wenig nach Kloake. Drei Tische auf Steinfüßen und mit polierten Marmorplatten standen gleich Altären in der Mitte. Auf dem einen lag ein nackter brauner Körper, die Lenden mit einem schmalen Tuch bedeckt. Altar Nummer zwei und drei waren leer. An einer Wand tropfte ein Wasserhahn.
Aus den beiden hoch angebrachten großen Fenstern floß gelbes Sonnenlicht auf Otto. Ja, es war Otto, er war einwandfrei zu agnoszieren. Da er nur kurze Zeit im Wasser gelegen hatte, war er kaum verändert, und mochte auch der Leib ein wenig aufgetrieben scheinen, am Brustkorb sah man trotzdem die Rippen, wie einstens beim lebendigen Otto; nur daß sie unbeweglich blieben. Otto war eine Sache geworden, unbeweglich – es war so, er atmete nicht. Noch nicht in offizieller Leichenpositur, war der Kopf ein wenig zur Seite gedreht, und aus den halbgeöffneten Augen blickte das Weiße schräg nach aufwärts. Der blinde Blick des Todes, den sie alle schon bei Lebzeiten besaßen. Otto hatte zu seinen Vätern heimgefunden.
Dies war wirklicher Tod, kein Scheintod, er war so wirklich, wie das Leben Ottos ein wirkliches gewesen war. Durfte dieses Leblose hier noch Otto genannt werden? Aber angesichts dieses Todes begann etwas in Richard zu leben. Es war das nämliche, das sich damals gemeldet hatte, als er den Vater tot vor sich hatte liegen sehen. Jetzt erinnerte er sich, wie er, noch ein Junge, sich vor dem entseelten Körper hatte fürchten müssen – zum Teil wohl auch, weil man ihn gelehrt hatte, daß man jeden Toten für alles angetane Unrecht um Verzeihung zu bitten habe – und wie aus dieser Furcht, sie verstärkend und doch sie überdeckend, die Frage aufgekeimt war, ob er an der Unerbittlichkeit jenes nicht erfaßbaren Sterbens mitschuldtragend gewesen wäre, mitschuldig durch Gleichgültigkeit und Nichtwissenwollen, mitschuldig durch Verharren in der eigenen schlechten Einsamkeit, und damals schon hatte ihn die lebendige Stimme in seinem Innern freigesprochen. Und auch jetzt, da er sich fragte, ob er kein schlechter und verständnisloser Bruder gewesen sei, ein Bruder, der das Unglück hätte verhüten können, wenn er nur vorsorglicher gewesen wäre, auch jetzt meldete sich die Stimme des Lebens, vernehmlicher als in jener Jugendzeit, und sagte: ja, selbst wenn du ihm Unrecht getan hättest, Unrecht um der eigenen Erkenntnis willen, selbst wenn du um deiner eigenen Ziele willen ihm nicht jene Hilfe warst, die er vielleicht von dir verlangt hat, selbst dann wärst du frei von jeglicher Schuld. Denn gegen den Tod kann keinerlei menschliche Gewalt etwas ausrichten, und du kannst nicht die Tode der anderen sterben, ehe du mit deinem eigenen Tod ins reine gekommen bist. So sprach die innere Stimme seines erwachenden Lebens, sie sprach recht plausibel und vernünftig und wäre doch nicht überzeugend gewesen, hätte nicht Ferneres und Größeres mitgeschwungen, etwas Wesentliches, das bei aller Ferne trotzdem ganz nahe schien und an den Stimmklang des zu seinem Tode hinsterbenden Weitprecht gemahnte, erfüllt von ein wenig Pfiffigkeit und von ein wenig Weisheit.
Als Richard aber dann hintrat und gewissermaßen aus Konvention die Hand des Toten ergriff, Abschied zu nehmen, Verzeihung zu tauschen, und als er diese erstarrte Hand in der seinen hielt, da stiegen aus den tierischen Urgründen des Seins die Tränen auf, und er schämte sich nicht, sondern ließ den Tränen ihren Lauf. Und wenn es seine tierische Existenz war, die solcherart aufschrie, lautlos und doch befreiend aufschreien durfte, so war der Wunsch, das denkende Haupt vom tierischen Rumpf getrennt zu erhalten, nun plötzlich erschwiegen, war nicht nur nicht vorhanden, sondern war befreiend weggehoben, ohne daß man wußte, was da weggehoben war, dennoch Befreiung von einem Alp:
denn in dem Animalischen, das da aufgeschrien hatte, und in der Furcht, deren Schrei alles Animalische durchzittert, war ein Wissen durchgebrochen, vom Animalischen getragen und doch die Furcht überdeckend, ein sonderbares und einmaliges Wissen, das in keinerlei System stand und daher auch nicht beweisbar war, vollkommen isoliert, trotzdem Leben, trotzdem Erkenntnis, und in gleicher Weise vom Animalischen wie vom Erkennen gespeist. Und wenn man auch meinen mochte, daß es sich mit diesem Wissen bloß um Otto handelte, daß es bloß Ottos Sein war, wie es bestanden hatte, wie es vielleicht noch weiter besteht und das solcherart begriffen und erkannt wurde, es war ein Wissen, das, über Otto und über Ottos Tod weit hinausreichend, die Ganzheit der Welt umfaßte und bei aller Unbeweisbarkeit, bei aller Isoliertheit eindeutig, hell und bestimmt war, befreit von aller Mehrsinnigkeit, befreit vom Flackern der brennenden Dunkelheit. Gewiß, die Erscheinung währte nicht lange, bald verschwand sie wieder – mag sein, daß sie bloß eine einzige Sekunde gewährt hatte –, aber sie war, wie jede Wahrheit, unabhängig von der Zeit, unabhängig von der Dauer, sie war unauslöschlich vorhanden, kein Traum, sondern unverlierbares Wissen um den unräumlichen Weltraum einer jeden Seele. Es war Erkenntnis, oh, man konnte es nicht anders als Erkenntnis nennen, da es aus der Bereicherung der Welt stammte und aus jenem Geöffnetsein vor der Welt, durch das allein die Welt bereichert wird, aber es war eine Erkenntnis einsamsten Klanges, Erkenntnis, die auf nichts anderes sich berief als auf sich selbst, einsam im Klang des Todes wie der Tod selber, von dem sie ihren Ausgang nahm, und allumfassend wie der Tod, der abgeschieden ist von jeglichem Leben und doch das Ziel eines jeglichen Lebens ist, in seiner Ganzheit es umfassend: denn es ist die Evidenz an sich, die vom Tod ihren Ausgang nimmt, und es ist nicht mehr dieses oder jenes logische Wissen, ja, es ist nicht einmal mehr das Wissen um das Sein dieses oder jenes Toten, möge er nun Otto oder sonstwie heißen, sondern es ist die einfältige und große Erkenntnis des Seins schlechthin, unabhängig von jedem Seinsinhalt, verbunden jeglichem Sein, verbunden jeglichem Leben, allumfassend in ihrer Einfachheit und in der Einsamkeit des Gefühls, letzte Evidenz des Logischen, das erst von hier aus seine Rechtfertigung findet. Und angesichts des toten Bruders und erfüllt von den aufsteigenden Tränen, wußte Richard, daß dieses Erkennen die Liebe sei und daß auch die Liebe nichts anderes ist als Erkennen.
Oh, Leben, Gewitterwolke des Lebens, rauschende, vorüberrauschende, heilige.
Auch die Wissenschaft ist heilig, auch sie trägt die Heiligkeit des Lebens. Lassen Sie nicht ab von ihr, hatte Weitprechts brüchige Stimme gesagt. Doch die Heiligkeit des Todes ist die Liebe: erst Tod und Leben zusammen bilden die Ganzheit des Seins, und das Gesamterkennen ruht im Tode. Nichts Pathetisches ist darin, dachte Richard, und eigentlich auch nicht sehr viel Religiöses. Und es war auch nicht sehr pathetisch, wie Otto dalag; da hatte er's im Leben pathetischer getrieben.
Richard erledigte noch die notwendigen Formalitäten, und dann ging er ohne Scheu zu Ilse. Es war nicht nur der Tod des Bruders, der ihm dazu die, Legitimation gab.
»Otto ist tot«, sagte er zu ihr, die ihm überrascht die Türe geöffnet hatte.
Und mit der Selbstverständlichkeit großen und entscheidenden Geschehens kümmerte sie sich nicht weiter um das verwunderte Gesicht ihrer Mutter, die nachgefolgt war, sondern sagte einfach: »Ich muß Richard Hieck begleiten.«
Sie schritten nebeneinander. Manchmal berührten sich ihre Finger. Verzeihung strömte herüber, hinüber. Er sah ihr kindlich ernstes Gesicht und die zarte Falte zwischen den Brauen, und er liebte dieses Gesicht. Er versuchte an Susanne zu denken, und er konnte sie nicht finden. Das Wetter befand sich in rascher Aufheiterung. Wenn er an den Häuserreihen aufwärtsschaute, glänzten die Fenster in der Sonne.