Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil

 

1

Der Physiksaal mit seinen weißlackierten Bankreihen und den weißen Fliesen an den Wänden erweckte einen hygienischen Eindruck. Auf dem langgestreckten Katheder am Fuße des Amphitheaters stand eine Garnitur merkwürdig gekrümmter Glasgefäße, und der Laboratoriumsdiener Anton Krispin war eben daran, sie wegzuräumen. Er war ein kleiner schlechtrasierter Mann, der schwarze Clothkittel hing fleckig und ungebügelt von seinen Schultern, auf der karierten Weste baumelte eine silberne Uhrkette, und jetzt, da er die von der Vorlesung noch kreuz und quer mit mathematischen Formeln beschriebene schwarze Tafel abwaschen wollte, mußte er sich auf die Zehenspitzen stellen. Einige Studenten saßen noch in den Bänken, sahen zu, wie die Tafel unter den breiten feuchten Strichen schwarz und glänzend wurde, wie das Kreidewasser weißlich heruntertropfte, und wenn der Diener schließlich am untern Tafelrand mit einem horizontalen Abschlußstrich die noch in Bewegung befindliche Tropfenschicht auffing und wegwischte, so hatten manche der Zuschauer angenehme Empfindungen. Zum Beispiel wurde Richard Hieck durch die schwarzglänzende feuchte Tafel an den Samt des Nachthimmels gemahnt.

Richard Hieck schob sich aus einer der oberen Bänke heraus. Er trug gleich dem Diener einen schwarzen Laborantenkittel, freilich soutanenhaft bis zum Halse zugeknöpft, und er ermangelte also der nachlässigen Flottheit, die den Diener auszeichnete, vielmehr war er ein großer und schwerfälliger Mensch, der sorgsam seinen Kittel zusammenhielt und trotzdem nicht verhindern konnte, daß sich dieser in den Klappsitzen verfing. Aber ungeachtet solch massiger Unbeholfenheit, ja geradezu ihr widersprechend, war der starkknochige Schädel vorn mit einem Gesicht versehen, an dessen Fettlosigkeit und Schärfe man erkennen konnte, daß es sich mit der Zeit – entsprechenden Lebenswandel vorausgesetzt – in die asketische Härte eines Antlitzes spanischer Prägnanz verwandeln würde. Durch die Fenster des Korridors, der den gewohnten Anblick jeder Vorlesungspause bot, blinkte Wintersonne herein, überhellt vom Schnee der gegenüberliegenden Dächer; von den Heizkörpern unter den Fenstern stieg Wärme empor, wolkig hing Zigarettenrauch im einfallenden Sonnenlicht, promenierende Schritte schlurften über den Steinholzboden, Zigarettenstummel lagen in den Winkeln, aus den geöffneten Türen der Hörsäle drang stickige Luft, und es roch staubig. Hieck mit seinem unbewegten steifen Gang, die rechte Schulter stets ein wenig hochgezogen, steuerte auf das Zimmer Professor Weitprechts zu. Es handelte sich um seine Doktordissertation.

Die Tür zum Prüfungsraum, der gleichzeitig als Vorraum zu Weitprechts Zimmer diente, stand offen. Die Handbibliothek des Instituts war hier untergebracht, von den Wänden grüßten einige Professorenbildnisse, und an dem von gelben Stühlen umgebenen Prüfungstisch saß Doktor Kapperbrunn, der mathematische Assistent Weitprechts. Als reiner Mathematiker verachtete er den physikalischen Betrieb. Und weil Hieck von der reinen Mathematik zur Physik abgeschwenkt war, bedachte er ihn mit besonderem Hohn. Er sah von den tabellarischen Rechnungen auf, an denen er gelangweilt arbeitete.

»Hallo, Hieck … sagen Sie, können Sie noch addieren?«

»Nein«, sagte Hieck ernst, »ein richtiger Mathematiker braucht nicht addieren zu können.«

»Brav«, sagte Kapperbrunn, »aber schön wäre es, wenn Sie mir den Dreck da abnehmen würden.«

»Bitte«, sagte Hieck höflich, »darf ich es ansehen?«

Kapperbrunn stand auf. Er hatte ein fröhliches und unwissenschaftliches Gesicht, alles an ihm war ein bißchen rundlich, wohlvorbereitet für den künftigen Bauch, den er vorderhand mit vielerlei Mitteln abwehrte.

»Gut, daß morgen Sonntag ist«, sagte er, »Sie fahren natürlich nicht Ski?«

Hieck, über die Tabellen gebeugt, deren er sich sofort bemächtigt hatte, sagte:

»Hier ist ein Fehler oder ein Wunder.«

»Hoffentlich ein Wunder«, meinte Kapperbrunn uninteressiert.

»Ein solcher Unterwert ist nicht möglich … das müßte doch Professor Weitprecht schon aufgefallen sein.«

»Ja, er erwähnte was davon«, gab Kapperbrunn zurück, »aber schließlich können auch Ordinarien sich irren, besonders wenn ihnen der Irrtum in den Kram paßt.«

Hieck schaute zur Türe, die in Weitprechts Zimmer führte.

»Nein, nein, er ist nicht drinnen, aber ich habe es ihm auch schon ins Gesicht gesagt … übrigens fahre ich heute abend auf die Kloberhütte und bin erst Sonntagnacht retour.«

Hieck sagte: »Wenn es stimmt, ist es eine Revolution der Physik.«

»Es hat schon viele Revolutionen gegeben«, sagte Kapperbrunn.

Weitprecht kam herein. Über seine Halbbrille hinweg musterte er die Anwesenden mit scheuer Fahrigkeit, aber auch mit einer gewissen lauernden Intensität in dem scharfen Vogelgesicht:

»Stimmt es, Doktor Kapperbrunn?«

»Rechnungsgemäß wird es stimmen, Herr Professor.«

»Nun ja … hören Sie, Doktor Kapperbrunn, mir schwant immer, daß man dem Phänomen gruppentheoretisch beikommen müßte.«

Kapperbrunn horchte auf:

»Das müßte man sich überlegen.«

»Ja, bitte tun Sie das …« Weitprecht wollte in sein Zimmer, blieb aber nochmals stehen: »Das könnte eigentlich sehr aufschlußreich werden?«

Kapperbrunn wies auf Hieck:

»Da haben wir ja einen alten Zahlentheoretiker … Sie haben doch schon was Zahlentheoretisches publiziert vor Ihrem Sündenfall, was meinen denn Sie dazu?«

Hieck sagte:

»Ich kann es noch nicht überblicken, aber ich möchte mich gerne damit befassen.«

»Wie heißen Sie?« fragte Weitprecht rasch, und dann setzte er hinzu: »Ach ja, Herr Hieck, verzeihen Sie.«

»Herr Professor, ich wollte mich eigentlich erkundigen, ob Herr Professor meine Arbeit schon durchgesehen haben«, brachte Hieck seine Frage an.

»Ihre Arbeit? Ihre Arbeit? …« Weitprecht sann angestrengt nach, »… ja … Kunz ist darüber … na, sie wird schon in Ordnung sein … aber Sie könnten sich inzwischen wirklich ein wenig mit Doktor Kapperbrunn über die gruppentheoretische Behandlung unterhalten … das wäre mir wirklich sehr wichtig.«

Und er verschwand in sein Zimmer.

»Tja«, sagte Kapperbrunn, als Weitprecht draußen war, »so sieht also der bequeme Posten aus, den ich mir da vorgestellt habe. Wenn ich mal Ordinarius sein werde, werden meine Assistenten ein geruhsameres Leben haben, darauf können Sie sich verlassen.«

Hieck sagte langsam: »Es ist aber eine bestechende Idee … vielleicht war's doch kein Beobachtungsfehler.«

»Ein wirbeliger Chef ist eine Pest … und bestechende Ideen sind erst recht eine Pest … ich werde mir die Sache auf der Kloberhütte überlegen …«

»Ich habe im letzten Jahr bloß mengentheoretisch gearbeitet«, sagte Hieck.

»Sie können's ja auch mengentheoretisch probieren.«

»Das ist nicht Ihr Ernst?« meinte Hieck.

»In der Wissenschaft werden plötzlich die absurdesten Dinge ernst.« Kapperbrunn hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute auf den Schnee hinaus. »Zumindest in aller Wissenschaft, die nicht reine Mathematik ist … in der Mathematik geht es immerhin noch am reinlichsten zu.«

»Ja«, sagte Hieck.

»Wissen Sie«, sagte Kapperbrunn, »die Mathematik ist so eine Art Verzweiflungstat des menschlichen Geistes … an und für sich braucht man sie ja wirklich nicht, aber sie ist so eine Art Insel der Anständigkeit, und deshalb mag ich sie gern.«

Hieck wußte nicht viel zu entgegnen. Kapperbrunn erschien ihm zynisch, Kapperbrunn übte Verrat an irgend etwas, doch man wußte nicht, was er verriet. Die Mathematik? Die war für Hieck etwas sehr Aufregendes, doch auch darüber ließ sich nichts Rechtes aussagen, man wußte nicht, warum sie aufregend war. Und dabei sprang Kapperbrunn schon wieder ab.

»Wirklich ernst nehmen es bloß die Weiber«, er wies durch die offengebliebene Türe auf den Korridor hinaus, wo ein paar Studentinnen sichtbar waren, »man sollte die Wissenschaft ausschließlich von den Weibern betreiben lassen. Früher haben sie doch auch die Feldarbeit verrichtet. Aber die Männer … Sie, Hieck, mit Ihrer Statur hätten eigentlich Holzfäller werden müssen.«

Hieck war nicht der Mensch, der so leicht auf eine andere Gedankenbahn zu bringen war. Er mußte an die primitive Zimmermannsaufgabe denken, aus einem Stamm das größte Balkenvolumen herauszuschneiden. Eine Maximumaufgabe, dachte er, aber es gibt eine Faustformel dafür. Nun hörte er Kapperbrunn sagen:

»Nehmen Sie sich ein Mädel da draußen, sofern es eine hübsche gibt, und schnallen Sie sich für zwei Tage die Bretteln an. Seien Sie froh, solange Sie keine Respektsperson sind, man wird es nur allzubald.«

»Ja«, sagte Hieck und dachte an die Bibliothek, in die er jetzt gehen mußte. Er wußte nicht recht, wie wegkommen, und darum machte er plötzlich eine unvermittelte und schülerhafte Verbeugung und war draußen.

 

2

Ohne daß es jemand ahnte, ohne daß er es selber wußte, hatte Hieck eine schwere Jugend gehabt. Sicherlich waren es nicht die bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, denn zu essen hatte es immer gegeben, wenigstens bis zur Kriegszeit. Und da war er zu bäuerlichen Verwandten gebracht worden, bei welchen er es nicht eben schlecht gehabt hatte. Nein, das war es nicht, oder das war es doch, denn das Bedrückende und Unsägliche dieser Jugend lag in dem eigentümlich Flackernden, das vom Vater ausging, etwas, das sich dem ganzen Hause mitteilte und alles, was geschah, in eine Atmosphäre unfaßbarer Unsicherheit brachte. Und sogar jetzt noch, wo er nun schon seit sieben Jahren tot war, wirkte dieser unsichtbare und unheimliche Feuerschein noch so sehr nach, daß Richard Hieck niemals das Gruseln gänzlich verlor, das ihn als Kind stets verfolgt hatte; immer wieder wurde er von dieser pochenden Angst erfaßt, und besonders, wenn er vor der Tür der elterlichen Wohnung in der Kramerstraße stand.

Der Vater war ein stiller Mensch gewesen, beinahe zart, mit einem kurzen dunklen Vollbart um das asketische Gesicht, er war irgendeinem stillen Beruf nachgegangen, den man niemals hatte ergründen können und der bloß »das Amt« hieß, aber so still dieser Mann gewesen war, gerade diese Stille und Unbemerktheit, mit der er ging, mit der er unvermutet wieder auftauchte, machte das Haus unheimlich. Amtsstunden konnte dieses Amt kaum gehabt haben, denn manchmal kam er ganz spät nachts nach Hause, und war man auch zu Bett gelegt worden, man getraute sich nicht einzuschlafen, ehe man seinen Schritt gehört hatte; und wenn er, was er nie verabsäumte, ins Zimmer trat, dann betrachtete er lange die scheinbar Schlafenden, so lange, daß man es kaum mehr aushielt, oder er öffnete das Fenster, daß das Mondlicht breit über die Betten rieselte, und leise pflegte er sich dann auf einen Stuhl zu setzen, um unabsehbar zu verweilen. Es geschah nie, daß er wie andere Väter einen Spaziergang mit seinen Kindern machte, und als einmal – es war ein Sonntagnachmittag – die Mutter davon sprach, gar sehnsüchtig, weil in der Welt draußen so schöner Frühling sei, da hatte er, der sonst kaum ein Lächeln zeigte, ganz freundlich aufgelacht und gesagt: »Die Welt brennt in uns, nicht außer uns.« Und diese Begebenheit, selber weiter brennend, unauslöschlich, unvergeßbar, hatte sich für ewig eingeprägt, weniger der Worte halber, obzwar die sonderbar genug geklungen hatten, als wegen des hintergründig belustigten Blickes, der sie begleitete und der jeden Gegenstand, auf den er fiel, ablehnte, dennoch ihn seltsam verändernd; es war ein Ablehnen alles dessen, was zutage lag, und es war der Blick und das Auge eines Nachtmenschen, von dem man nicht wußte, wann er eigentlich schlief, wunderte man sich doch stets aufs neue, daß er Speisen zu sich nahm. Ja, ein Nachtmensch, der bloß zufällig in den Tag geraten war, und als er einige Zeit später in einer verdeckten Mondnacht nach dem Abendbrot den Ältesten, es war Richard, bei der Hand nahm, und mit ihm zu eben jenem Ausflugsort hinauswanderte, von dem die Mutter damals gesprochen hatte, so war die Nächtlichkeit dieses Ersatzes für den verweigerten Nachmittagsspaziergang nur ganz natürlich. Richard hatte keine Furcht verspürt, obwohl die Bäume das Tal schwarz säumten, die Frösche am Bachrand quakten und es unfaßbar war, daß der Vater plötzlich die nebelschwere Wiese betrat und Blumen zu pflücken begann. Wirklich unheimlich wurde es erst, als sie in die Stadt zurückkamen, denn da hatte der Vater die Blumen, die er bisher sorgsam in der Hand getragen hatte, so daß man meinen mußte, sie seien für das Haus oder für die Mutter bestimmt gewesen, da hatte er die Blumen von der Brücke aus in den Fluß geworfen; »Sterne im Wasser«, hatte er dazu gesagt. Und so war es immer, nichts war eindeutig, alles war ins Flackernde gezogen, und sogar die Mutter, die ihrer Natur und ihrer bäuerlichen Abstammung gemäß sicherlich einem weniger verwobenen Leben zugekehrt gewesen wäre, sie hatte etwas Schattenhaftes unter dem Einfluß dieses Mannes bekommen, dieses schattenhaften Mannes, unter dessen Blick sich das Gefüge aller Beziehungen auflöste, so daß man schließlich nicht mehr wußte, was diese Familie zusammenhielt, warum man überhaupt das Kind dieser Eltern, Geschwister dieser Geschwister, ja ob man überhaupt war. Niemals wurde im Hause vom Vater gesprochen, und als er gestorben war, erinnerte kein Bild an ihn, vielleicht weil dieser Tod ebensowenig eindeutig war wie das Leben dieses Menschen, es war ein Gestorbensein, das bloß einen graduellen Unterschied bedeutete, eine etwas dichtere Nebeldecke, ein richtiger Scheintod nach einem richtigen Scheinleben, ein Weg, der von vornherein durch die Nacht geführt hatte und der keinen Abend kannte.

So eigentümlich verschattet war diese Jugend gewesen, und wenn es sich auch bei den verschiedenen Kindern verschieden ausgewirkt hatte, es trug ein jedes der Geschwister Stücke dieses Schattens mit sich. Bei zweien von ihnen zeigte es sich in einer unbändigen Unrast; der zweiundzwanzigjährige Rudolf war in Südamerika und ließ nichts von sich hören, und die um ein Jahr jüngere Emilie war nach einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte richtig durchgebrannt, trieb sich in Berlin oder sonstwo herum. Die zweite Schwester dagegen, Susanne, in ihrem Äußeren Richard am ähnlichsten, ein schweres Mädchen mit hartem Gesicht, bereitete sich seit Jahren auf den Eintritt ins Kloster vor und ließ sich durch nichts von diesem Vorhaben abbringen. Wohin Otto, der jüngste – dazwischen war ein Kind gestorben –, sich wenden würde, war noch nicht zu erkennen: die Mutter sagte, daß der schöne, schlanke Knabe dem Vater gliche, doch sein heiteres und freches Gehaben hatte nichts von dessen Nächtlichkeit an sich, selbst dann nicht, wenn er mit übertriebener Resignation darauf hinwies, daß er wegen des mangelnden Geldes gezwungen gewesen sei, auf den ersehnten Beruf eines Kunstmalers zu verzichten und statt dessen die Stellung eines Lehrlings in einer graphischen Werkstätte anzutreten.

In der vom Vater ausgehenden Auflockerung alles Seins wären die Kinder wahrscheinlich beruflos geblieben. Und es war gewissermaßen eine Umkehrung seines Einflusses und des väterlichen Wesens, daß sich Richard so verbissen an die Schule und an das Studium geklammert hatte: in der Schule und ihrer Regelmäßigkeit hatte er wenigstens einen Teil der Eindeutigkeit gefunden, die ihm als Kind genommen worden war. Und wohl ebendeshalb hatte er bald eine geheime Zuneigung zu klaren und mathematischen Dingen gefaßt, eine Zuneigung, die sich in der Mathematikstunde zu der Vorstellung verdichtete, daß er selber einstens diese beglückend eindeutigen Dinge der Klasse vermitteln werde. Noch immer lebte diese Vorstellung in ihm, und sogar heute noch sah er eine lauschende Klasse und darin sein eigenes Kindergesicht, aufschauend zu dem Katheder, auf dem er selber stand: es war sein Lebensplan geworden, und eindeutig war er dabei geblieben – er bereitete sich auf das mathematische Lehramt vor. Einstweilen gab er Nachhilfestunden. Und er war, das hatte er bereits einsehen gelernt, in seiner Unduldsamkeit kein guter Lehrer. Doch er machte billige Preise, und so fand er immer noch genug Schüler, um nicht nur sein eigenes Taschengeld zu verdienen, sondern auch der Mutter zum Haushalt beisteuern zu können. Die Mutter freilich hatte seit dem Tode des Vaters eine langsame, dennoch merkliche Wandlung durchgemacht, eine Rückwandlung sozusagen zu ihrem eigenen Selbst. So schwer auch das äußere Leben geworden war, es wurde nunmehr diese Frau, die ihr fünfundvierzigstes Jahr schon überschritten hatte, eigentlich immer heiterer, ja, sie war in ihrer beschaulichen Heiterkeit beinahe hübscher geworden, als sie es je gewesen war. Und mochte sie sich über Emiliens Lebensweise auch kränken, beinahe neiderfüllt schaute sie auf diese Tochter, die ihr zweifelsohne viel näher stand als Susanne mit ihren Klosterabsichten. Man konnte diesen fortschreitenden Prozeß der Verweltlichung und der inneren Verjüngung nicht übersehen, nicht einmal Richard, so sehr er auch in seine eigenen Probleme eingesponnen war, brachte dies zustande, wenngleich er – und das bemerkte er gelegentlich sogar selber – immer wieder und beinahe mit Haß die Augen abwandte, um die Veränderung der Mutter nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen.

 

3

Richard hatte die Ergebnisse der Weitprechtschen Versuchsreihe vor sich liegen und bemühte sich um eine gruppentheoretische Ausdeutung. Die Lampe über dem Tisch war mit einer Zeitung abgeblendet, um Otto, der bereits im Bette lag, nicht zu stören. Es war das gewohnte allabendliche Bild, und es war Richard seit vielen Jahren genau so vertraut wie der Geruch der Wohnung und wie ihre Geräusche. Er kannte nicht nur den Geruch eines jeden einzelnen Zimmers zu den verschiedenen Tageszeiten, er wußte nicht nur, bis zu welcher Tapetenblume der Schatten des Spiegelrahmens reichte, sondern er kannte auch die Geräusche des Fußbodens, wenn man sich auf dem Stuhle bewegte, und wenn er scharf genug hinhorchte, so konnte man an dem Zustand der Möbel und der Luft erkennen, ob einer im Zimmer schlief oder nur still lag und Schlaf vortäuschte.

Die Fenstervorhänge waren nicht vorgezogen; es war das altgewohnte Bild.

Das Schweigen spannte sich in dem Raum zu immer schärferem Bogen. Richard spürte, daß Otto wach lag. Sie waren Brüder, dennoch jeder in sich verschlossen, und jeder für sich mußte mit der Aufgabe fertig werden, das in ihn versenkte Erbgut zum eigenen Sein umzugestalten. Richard ahnte etwas von dieser Aufgabe, und er beneidete Otto: vielleicht würde es der Kleine weniger schwer haben, vielleicht wird es ihm weniger schwer fallen, zum eigenen Sein zu gelangen, da es nicht wie bei ihm selber unter so viel klobiger Ungeschicklichkeit versteckt lag. Es war jedoch nicht nur das, was das Schicksal Ottos leichter erscheinen ließ – in allen praktischen Belangen, und gar dort, wo Geldinteressen auftraten, da wurde Otto, trotz aller äußeren Ähnlichkeit mit dem Vater, zum Sohn seiner Mutter, zupackend und nüchtern, jederzeit bereit, aus dem Gegebenen das Beste herauszuholen, und immer wieder staunte Richard, daß es dem Jungen gelungen war, sich mit dem unerwünschten praktischen Beruf abzufinden, und immer wieder war er geneigt, dies auf die von der Mutter stammende irdische Genußsucht zurückzuführen. Aber weil ihn solche Überlegungen beim Arbeiten störten, sagte er plötzlich in die Stille hinein:

»Du könntest jetzt endlich einmal einschlafen.«

»Das geht nicht auf Befehl«, sagte Otto.

»Wenn du nicht schläfst, kann ich hier nicht arbeiten.«

Otto hatte sich im Bette aufgesetzt. Man sah es nicht in der schattigen Ecke, in der das Bett stand, aber Richard spürte es:

»Leg dich hin«, sagte er.

»Ich liege sowieso«, war die Antwort, ganz offen und schamlos gelogen, denn nun hörte man, woher der Schall kam.

Richard machte sich wieder an die Arbeit. Er hatte plötzlich unzüchtige Gedanken. Auch hier war etwas nicht in Ordnung, auch hier war es nicht eindeutig. Frauen waren Nachtmenschen, wenn es wirkliche Frauen waren oder sie als Frauen gelten sollten, denn die Kolleginnen in den lichten Hörsälen konnten nicht als solche gelten. Kapperbrunn hatte schon recht, wenn er diese als wissenschaftgeeignet, aber auch als wissenschaftverseucht bezeichnete. Ein paar von ihnen waren ja wirklich sehr tüchtig. Und vielleicht mochten sie auch zum Skilaufen taugen. Eine wirkliche Frau hingegen mußte aus der Nacht geboren sein, aus der Nacht plötzlich auftauchend, geschlossenen Auges wie die Nacht selber, auf daß man in sie versinken könne, hineinstürzen wie in die Schwärze des Nachthimmels.

»Gute Nacht«, sagte der Kleine und legte sich geräuschvoll hin.

»Na also«, sagte Richard, »jetzt schlaf.«

Die unzüchtigen Bilder wurden von Bildern einer freundlichen Zukunft abgelöst –: vorausgesetzt, daß Weitprechts Theorie von den Quanteninterferenzen wider Erwarten doch Hand und Fuß haben sollte, und vorausgesetzt, daß sich hierzu eine ausreichende gruppentheoretische Erklärung finden ließe, und vorausgesetzt, daß man von hier ausgehend eine umfassende Anwendung der Gruppentheorie auf die übrigen physikalischen und sonstigen Lebensphänomene würde folgern können, so wird nicht nur Weitprecht den Nobelpreis bekommen, sondern es wird auch der Name Richard Hieck zu einem der berühmtesten im Wissenschaftsbetrieb werden.

Natürlich wußte er, daß man mit Phantasien in der Wissenschaft nichts erreicht. Aber die dienten für den Augenblick einem andern Zweck: denn wenn er einmal auf anerkannte Leistungen würde hinweisen können, wenn er einmal eine Respektsperson – aber nicht im Sinne Kapperbrunns – sein würde, dann würde das klobige Kleid seines Daseins von ihm abfallen, es wird sein Ich durch das eklige Fett seines körperlichen Daseins hindurchleuchten, rein und klar und licht gleich der mathematisch durchleuchteten Welt, und ledig aller Vorstellungen von den Nachtfrauen und ihren idiotischen verschlossenen Gesichtern wird er auf einem sonnigen Abhang mit einem richtigen hübschen Mädchen Ski fahren. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit begann er leise zu pfeifen.

»Du pfeifst ja«, sagte Otto und stieg aus dem Bett.

»Himmelherrgott, ja …«

Otto war zum Tisch gekommen. Eitel, wie er war, hatte er sich nicht mit den traditionellen Nachthemden begnügt, sondern die Mutter dazu gebracht, ihm Pyjamas zu nähen. Allzu herrlich waren sie ja nicht ausgefallen, faltig und schlappig hingen Jacke und Hose um den schlanken Körper, und außerdem war die Hose zu kurz. Aber die offenstehende Jacke ließ die braunelfenbeinerne Haut auf der Brust des Knaben sehen, und dies allein war es, was Richard bemerkte. Es war die gleiche Haut, die gleiche haarlose knochige Jünglingsbrust, wie sie der tote Vater gehabt hatte, als man seinen Leichnam wusch.

»Was machst du da?« fragte Otto überflüssigerweise.

»Du siehst es ja.«

»Ist das schwer?«

»Ja … nein.«

Otto zog den zweiten Stuhl herbei:

»Du hast es gut, du kannst in der Nacht arbeiten.«

»Ich muß auch bei Tag arbeiten.«

»Ja, aber … es ist etwas anderes.« Otto dachte angestrengt nach, er konnte es nicht ausdrücken, es war zu schwierig, denn es war der Bruch in der Seele dieses verhinderten oder künftigen Malers: das Unsichtbare in der Welt manifestiert sich in der Nacht, in der Nacht ergreift das Denken Besitz von der Welt, doch wer die Welt mit den Augen bewältigen will, der ist auf die Sonne angewiesen. Und weil er es nicht ausdrücken konnte, sondern lediglich spürte, daß es mit dem Malen zusammenhing, sagte er schließlich nur: »Ich lerne jetzt Kupferstechen.«

»Das braucht doch kein Mensch mehr.« Das war eine etwas grausame Antwort, und Richard Hieck milderte sie auch sofort: »Ich meine, daß die photographischen Methoden heute viel wichtiger geworden sind. Es ist doch so?«

»Wir brauchen es ja auch nicht im Geschäft, aber es gehört mal dazu.«

Und auf einmal mußte Otto lachen, ein unmotiviertes und eigentlich idiotisches, dennoch fröhliches dummen jungenhaftes Lachen. Er hatte sich auf den Tisch geschwungen und schlenkerte mit den Beinen.

Richard war irgendwie angenehm berührt, wenn es ihm auch nicht gelang, in diese Fröhlichkeit einzustimmen:

»Nanu, was ist denn jetzt so komisch?«

»Weil du da rechnest, und Susanne geht ins Kloster; wir sind eine komische Familie.«

Und weil dies schließlich auch die Meinung Richards war, erwachte ein brüderliches Gefühl in ihm. Barsch und väterlich sagte er, sich über die Rechnungen beugend:

»Laß mich arbeiten.«

Otto tat, als wollte er ihm helfen, und hätten sie ihre beiden nebeneinander über den Tisch gebeugten Gesichter sehen können, es wäre ihnen aufgefallen, wie ähnlich sie einander waren, beide leidenschaftlich, das eine bereits männlich, schwer und inquisitorisch, das des Jungen aber zart und von einer gewissermaßen aufgelockerten und beinahe lasziven Glut.

Richard fand nicht gleich in seine Berechnungen zurück, es hatte sich etwas in seinem Innern gelöst, und er gab sich dem Gefühle hin. Aber vielleicht ebendeshalb wurde es ihm nun möglich, sich leicht und langsam in die Arbeit gleiten zu lassen, und er ahnte in zart vernebelter Ferne, daß sich ein gruppentheoretischer Weg finden werde. Mit ausgestrecktem Finger berührte er vorsichtig die nackte Brust des Knaben:

»Du, geh jetzt wirklich schlafen.«

Otto, selber wohl schon müde geworden, gehorchte diesmal. Und als die Atemzüge seines Schlummers leise vernehmlich wurden, da lichtete sich für Richard der Nebel, er sah eine kristallische Landschaft vor sich – anders hätte er das nicht benennen können – eine erleuchtet sternenhafte Landschaft, in der die Zahlengruppen zwar nicht als solche zu sehen, wohl aber so leicht einzuordnen waren, daß man die den Zahlen geöffnete, mit Zahlen sich erfüllende Landschaft in eine beglückend logische und gleichzeitig ein wenig karussellhafte Bewegung versetzen konnte. Und wenn es auch noch nicht die Lösung der Weitprechtschen Aufgabe war, die aus den derart bewegten Abwandlungen der Zahlenkonstellationen sichtbar wurde, so vollzog sich damit in dem schweren und unschönen, von kurzen Haaren ungleich bewachsenen Schädel Richard Hiecks doch etwas, das als Vorstoß in mathematisches Neuland zu gelten hatte, es vollzog sich ein Stück schöpferischer Aufhellung, und es wurde ein Stück der komplizierten unendlichen und niemals ausschreitbaren Gleichgewichtskonstruktion bloßgelegt, die an sich aus leeren Beziehungen besteht und trotzdem das Wunderwerk der Mathematik ist.

 

4

Man näherte sich den Weihnachtsferien.

Auf dem Korridor wurde Doktor Kapperbrunn vom Laboratoriumsdiener Krispin mit kollegialer Hochachtung angesprochen:

»Herr Dozent, wie lange wird der Weitprecht heuer lesen?«

Kapperbrunn zwinkerte ihm zu:

»Na, was glauben Sie?«

Krispin grinste:

»Wenn es nach ihm ginge, hätten wir am heiligen Abend Seminar. Können Sie da nichts machen, Herr Doktor?«

»Ich? Ich streike einfach.«

Für Weitprecht war jeder Ferientag eine unangenehme Leerstelle des Lebens. Unter dem Vorwand nichtabbrechbarer Experimente erzwang er sich regelmäßig eine Verlängerung des Laboratoriumsdienstes, und es hatte noch keine Ferien gegeben, von denen er mit seinen Vorlesungen nicht ein paar Tage abgeknappt hätte. Und so sehr er bereit war, jeden, der ihm bei seiner Arbeit nützen oder schaden konnte, mit einer an Unterwürfigkeit grenzenden Höflichkeit zu behandeln, dem Laboratoriumsdiener Krispin gegenüber nützte ihm solches Verhalten nichts, bei diesem war er in Ungnade.

Krispin sagte:

»Sie haben leicht streiken, Herr Dozent, aber wann soll reingemacht werden?«

Und unwillig begab er sich in sein Kabinett. Sogar der Kittel hing beleidigt an seinem Rücken herab.

Kapperbrunn schaute ihm belustigt nach. Er hatte Seminar über Vectorrechnung zu halten, und seine kurze Pfeife rauchend, schritt er langsam zum kleinen Studienraum hinüber. Das Seminar machte ihm Freude. Er hatte ein natürliches pädagogisches Geschick, und er ließ es gerne glänzen. »Nur wer der Wissenschaft genau so gleichgültig gegenübersteht wie die Studenten, nur der kann ein guter Lehrer sein«, pflegte er zu sagen, »die Jugend liebt es nicht, einen Besessenen agieren zu sehen, und wenn wirklich mal einer von ihnen besessen sein sollte, so braucht er überhaupt keinen Lehrer.« Absichtlich kehrte er den Routinier der Wissenschaft heraus, aber wenn er sich auch immer rühmte, daß er in Ski und Tennis mindestens ebensoviel leiste wie in der Mathematik, wenn er auch, wo immer es anging, den in allen Sätteln gerechten Mann mimte, so steckte in seiner Routine doch eine gute Portion zwar nicht schöpferischen, sicherlich aber echten Könnens, und im geheimen tat er sich nicht wenig darauf zugute.

Zwei Studentinnen standen vor der Türe des Seminars, und Kapperbrunn ging jovial auf sie zu:

»Noch immer keine Weihnachtsferien gemacht? Sie sind eine perverse Jugend, das muß ich schon sagen.«

Hilde Wasmuth lachte:

»Damit Sie uns dann die Seminarbestätigungen vorenthalten, Herr Doktor.«

»Ach, die verschaffen Sie sich einfach dann hintenrum durch Krispin … wir wissen doch, wie's gemacht wird.«

Hilde Wasmuth war ein adrettes aschblondes Mädchen. Immer trug sie einen frischgewaschenen sorgfältig geplätteten weißen Laboratoriumsmantel, immer trug sie Blusen mit großer bunter Masche, die sie aus dem Mantelausschnitt heraushängen ließ.

Hieck kam daher. Als er Kapperbrunn mit den beiden Mädchen erblickte, stellte er sich in sichtbarer Entfernung auf.

Es war vier Uhr nachmittags, der Himmel war schneeverhangen, und es dunkelte bereits. Krispin erschien und drehte die Lampen an.

Kapperbrunn bemerkte den wartenden Hieck. Er wandte sich ihm zu:

»Hallo, Hieck, was machen Sie denn hier? Wollen Sie auf Ihre alten Tage nochmals mit Vectorrechnung beginnen?«

»Nein, das nicht, aber ich möchte Sie gerne sprechen, Herr Doktor, jetzt oder nachher …«

»Wenn es sich um Ihre gruppentheoretische Sache handelt … ich habe nachgesehen, es ist so, wie ich Ihnen sagte, in Crelles Journal aus dem Jahre 23, warten Sie mal, ja, Heft 1, finden Sie einen Beitrag von Gurwicz zu Ihrem Thema.«

Das war seine Stärke. Er hatte ein stupendes Gedächtnis für alle Publikationen der letzten zwanzig Jahre. Hieck war etwas unangenehm berührt: niemand wird gerne in seiner Entdeckerfreude beeinträchtigt, der Artikel von Gurwicz war überflüssig.

Er schüttelte den Kopf:

»Danke vielmals, Herr Doktor, aber es ist was anderes.« Die beiden Mädchen standen noch immer bei der Türe, er konnte seine Sache nicht anbringen. »Vielleicht haben Sie nachher ein paar Minuten Zeit.«

»Schön«, sagte Kapperbrunn, »dann langweilen Sie sich vorerst mal eine Stunde mit uns.« Er komplimentierte die beiden Damen in den Seminarraum hinein. Hieck folgte ihnen.

Es war eine durchaus wichtige Sache, die er mit Kapperbrunn besprechen wollte. An der Sternwarte sollte angeblich die Stelle eines wissenschaftlichen Hilfsarbeiters ausgeschrieben werden, und ein solcher Posten hätte bei aller Bescheidenheit des Salärs für Richard und seine prekären Vermögensverhältnisse immerhin etwas bedeutet; außerdem gab es künftige Avancementsmöglichkeiten. Nun hatte er wohl das astronomische Kolloquium bei Professor Maier abgelegt, aber es fehlte ihm das astronomische Praktikum, denn er hatte sonderbarerweise niemals an eine solche Karriere gedacht. Er verstand es selber nicht, denn jetzt schien ihm gerade die Astronomie der tiefere Sinn seines mathematischen Studiums gewesen zu sein. Hatte er nicht mit dem Vater immer zum Nachthimmel emporgeblickt? War es nicht der Vater gewesen, der ihm als erster die Sternbilder gezeigt hatte, ihn den Orion lieben gelehrt hatte und die rötlich schimmernde Venus? Fast dünkte ihn sein Leben verfehlt, und klar wurde ihm, man könnte wohl sagen, schreckhaft klar, daß es eben des Vaters Liebe zum Nachthimmel gewesen war, die ihn von der Astronomie wie von einem verbotenen Land ferngehalten hatte: nicht seinen Kindern, sondern der Nacht hatte die Liebe jenes Mannes gegolten, und immer noch bewirkte sein unheilschwangerer Einfluß, daß das Zwiespältige nicht durch das Eindeutige ersetzt werden durfte, die Tiefe der nächtlichen Sphäre und ihr dunkles Licht nicht durch die Helle der Erkenntnis.

Indes – glücklicher Zustand des Menschen, der einem Objekt hingegeben ist –, da Richard Hieck nun am Seminartisch saß, vergaß er seine trüben Gedanken: er bewunderte neidlos die Geschicklichkeit, mit der Kapperbrunn dieses Vorbereitungsseminar den Zwecken der allgemeinen Relativitätstheorie anpaßte und um ein einziges Vectorbeispiel herum das ganze Gebiet von Lorentz bis Weyl in Bewegung zu bringen verstand, er ließ sich willig von Kapperbrunn einfangen, und ohne sich um dessen sichtliche Amüsiertheit zu scheren, arbeitete er, vor Aufregung schwitzend, sozusagen unter Aufgebot seines ganzen massigen Körpers mit. Und als noch überdies Hilde Wasmuth, von Kapperbrunn boshaft unterstützt, pedantische Zwischenfragen stellte, die jeden vernünftigen Menschen zur Raserei bringen konnten, da artete die Angelegenheit aus: fünf Uhr war längst vorüber, Krispin war schon einige Male mißbilligend hereingekommen, und es war beinahe sechs, als endlich geschlossen wurde.

»Sie sind ein mathematischer Tank, Hieck«, sagte Kapperbrunn auf dem Wege zu seinem Zimmer, »ich sagte Ihnen schon einmal, daß Sie zum Holzfällen geboren sind.«

»Ja, ja …« Hieck war verwirrt, und dann platzte er heraus: »Ich möchte astronomischer Assistent werden.« Und nun erst recht schwitzend, brachte er sein Anliegen und seine Bitte um Kapperbrunns Protektion hervor.

»Hm«, sagte Kapperbrunn, »ich habe auch schon von dem Posten was läuten hören, aber ich meine, daß wir vorsichtshalber erst Krispin fragen sollten, ob es verläßlich ist.« Und tatsächlich rief er Krispin herbei.

Krispin bestätigte das Gerücht. Der Herr Sauter (das war der Sternwartendiener) habe die Ausschreibung vor vierzehn Tagen ins Rektorat getragen, aber es sei was nicht in Ordnung gewesen. Jetzt liege sie fertig auf dem Tische Maiers (womit der Sternwartedirektor Professor Maier gemeint war). Der Maier würde es schon noch ein paar Tage liegen lassen.

Kapperbrunn freute sich:

»So, jetzt ist die Sache verläßlich … und Sie wollen, daß ich mit Maier spreche, lieber Freund Hieck?«

Ja, darum wollte Hieck bitten. Denn Kapperbrunn mit seinen vielfältigen akademischen Beziehungen war auch auf irgendeine Weise mit Maier verbunden, und ehe Kapperbrunn seine Dozentur erhalten hatte und zu Weitprecht ging, hieß es sogar, daß er Assistent im astronomischen Institut hätte werden sollen.

»Bitter«, sagte Kapperbrunn, »bitter, denn wenn ich mit ihm spreche, kann ich bei seinem nächsten Abend nicht absagen. Und Sie bedenken nicht, daß der Mann zwei unverheiratete Töchter hat.«

Das war ein Gedankengang, auf dem Hieck nicht mehr folgen konnte. Er sah hilflos und ohne Verständnis drein.

»Ja, sehen Sie, Hieck, das ist höhere Mathematik, und von der verstehen Sie nichts. Aber wir wollen auch Weitprecht einspannen. Nur muß man dem vorgaukeln, daß Sie seiner gruppentheoretischen Illusion auf der Spur sind. Dann geht er für Sie durchs Feuer.«

 

5

Daß Susanne es in der Weihnachtszeit besonders arg trieb, das war in der Familie bekannt, und man war darauf vorbereitet. Ihre Kammer, die sie einstmals mit der Schwester gemeinsam bewohnt hatte und in der noch Emiliens Bett stand – sie selbst schlief nach wie vor auf dem Kanapee –, hatte sie längst zu einer Art Kapelle umgewandelt, das fiel niemand mehr auf, aber jetzt, da der 1926. Geburtstag des Himmelsbräutigams bevorstand, bekam die Kapelle, wie alljährlich, Ähnlichkeit mit einem Brautgemach: denn wurde Emiliens Bett auch nicht benutzt, so häuften sich – daran war zum Teil die Architektonik der Kammer schuld, die hier die größten Mauerflächen bot – gerade im Bettwinkel die Heiligenbilder an den Wänden, und Susanne hatte sie jetzt alle mit weißen Spitzendraperien geschmückt; das wirkte wie Brautschleier.

Die Mutter hatte für solches Gehaben noch am ehesten Verständnis, obwohl sie immerzu beleidigt war, daß sie da ein Wesen geboren hatte, das sich programmgemäß zu einer richtigen und kräftigen Frau mit mütterlichen Brüsten und mütterlichem Schoß entwickelt hatte, ausgestattet mit allen monatlichen Unzulänglichkeiten einer Frau, und das sich trotzdem seiner Bestimmung entzog und sein Bett mit einem Phantom teilen wollte: für Frau Katharine Hieck, die lange genug mit einem menschlichen Phantom zusammengelebt hatte, war die Kirche oder der Himmelsbräutigam, oder wie sonst man dies nennen wollte, erst recht ein Phantom. Nichtsdestoweniger und vielleicht eben infolge ihrer Ehe hatte sie nun nachträglich die Fähigkeit gewonnen, sich in ihre Kinder hineinzudenken; solange der Mann, mit dem sie die Kinder gezeugt hatte, an ihrer Seite war, erschien ihr das Vorhandensein dieses Nachwuchses, erschien ihr der gemeinsame Besitz an diesen Kindern als etwas Unverständliches und geradezu Gespenstisches, jetzt hingegen, da sie des Erzeugers zu vergessen begann, da wurden die Kinder ihr Alleinbesitz, da waren sie aus ihrem Schoße sozusagen ohne fremde Beihilfe hervorgegangen, und es war eine Gemeinsamkeit hergestellt, die sie früher nicht gekannt hatte. So verschieden die Kinder auch untereinander waren, sie erblickte doch in jedem von ihnen einen Teil ihres eigenen mütterlichen Seins, und wenn sie in Emilie und ihrem männersüchtigen Treiben die Erfüllung einstiger und noch immer schlummernder Wünsche bejahte, so gab es neben diesem Strom irdischer Bejahung noch ein schmales Bächlein, das man zwar nicht als überirdisch bezeichnen konnte, das aber immerhin in Sphären dahinfloß, die an Susannens Seelenlandschaft grenzten: vielleicht war es gerade das Vergessen ihres einstigen Ehestands und die Umdeutung der Geburten zu Resultaten unbefleckter Empfängnis, war es dieser an der eigenen Person erlebte mystische Prozeß, der eine dünne, von ihr selbst kaum bemerkte Verbindung mit Susanne und deren katholischer Einstellung zuwege brachte.

Allerdings, für Susanne gab es nichts eigentlich Mystisches – sie besaß das jedem Laien zugängliche Wissen um kirchliche Dinge, begriff die Bedeutung der Priesterweihe, begriff das Wunder der Eucharistie und des Meßopfers, sie hatte eine Ahnung von den Symbolen des Kultes und des Ornats, doch sie hätte es strikte abgelehnt, diesen Einrichtungen einen besonders geheimnisvollen oder gar mystischen Gehalt zu geben, vielmehr bewegte sie sich in einer Welt völliger Konkretheit, und die Verwandlung des Weins in das Blut Christi war ihr von ebenso einwandfreier und konkreter Kausalität wie der Satz, der die Erfahrung »Wenn es regnet, ist es naß« festlegt.

Und merkwürdig genug, so unreligiös Richard sich auch verhielt, so wenig er von religiösen und nun gar von kirchlichen Problemen berührt wurde, die Umwandlung des Geistigen und Symbolhaften in Konkretes war ein gemeinsamer Boden, auf dem er sich mit der Schwester traf. Denn die mathematische Welt, in der er sich bewegte, all ihre algebraischen Gebilde, ihre mengentheoretischen Beziehungen, ihre infinitesimale Unendlichkeit im kleinen wie im großen, diese ganze Welt war bloß in sehr roher Weise im Konkreten wiederzufinden, und selbst die physikalischen Feingebilde, wie sie von den kunstreich ersonnenen Experimenten geliefert werden, selbst die Berechenbarkeit dieser physikalischen Geschehnisse, all dies war bloß ein kleines und unzureichendes Abbild der gedanklichen Vielfalt, die die Mathematik ist, eingebettet in die Konkretheit der sichtbaren Welt als etwas Überkonkretes, nicht mehr Wegdenkbares, die Welt überspannend und doch in ihrer Wirklichkeit als eigene Wirklichkeit ruhend.

Otto hinwiederum – auch er durchaus weltlich gesinnt, sicherlich sogar noch weltlicher als der ältere Bruder – hielt gewisse dekorative Beziehungen zur Schwester aufrecht. Sie hatte zwar unter ihren Heiligenbildern mit sicherem Ungeschmack so ziemlich allen devotionalen Kitsch versammelt, der irgend aufzutreiben war, und auch die selbstverständliche Raffaelsche Madonna über dem Bette, durch millionenfache Kopierung selber bereits den Stempel echten Kitsches tragend, änderte nichts daran, aber Otto machte keine so feinen Unterschiede. Kunst war ihm in jeder Form recht, und ob nun Kitsch oder nicht, die Kapelle Susannens war der einzige Raum im Hause, in dem es etwas zu dekorieren gab. Fachmännische Miene im fachmännischen Antlitz, unterhielt er sich oft mit Susanne über die Ausschmückung der Stube, prüfte Jahr um Jahr die weiße Weihnachtsverschleierung, freilich stets bereit, die konfessionelle Tapeziererarbeit ins Groteske zu ziehen, irgendeine unmögliche Schleife an der elektrischen Birne anzubringen, um unter plötzlichem überlegenen Gemecker die verdutzte Susanne im Zweifel über das Gelingen des Gesamtarrangements zurückzulassen.

So machte sich jedes von ihnen, von der Mutter angefangen, über Susannens Tun lustig und war ihm doch nicht völlig fremd. Es geschah häufig genug, daß Richard sich zu der Schwester setzte, ihre Gebetbücher zur Hand nahm und darin nach einem logischen Zusammenhang zu suchen begann, der sich mit dem seiner mathematischen Bücher eigentlich hätte decken müssen, sofern man überhaupt an der Einheitlichkeit alles Logischen festhalten wollte. Und ließ sich auch keinerlei Anhaltspunkt für eine logische Ähnlichkeit finden, es erschien ihm das Ziel der Schwester doch um ein Erkleckliches ehrlicher und geradliniger als das seine: sie sprach wenigstens offen und ehrlich vom Himmelsbräutigam, für den der ganze kultische Apparat in Bewegung gesetzt und erhalten wurde, für den sie sich vorbereitete und für den sie das Bett schmückte und richtete – Susanne hatte ein klares Ziel! Er hingegen? Ja, was wollte er? Auch ihm ging es letzten Endes um eine lichte Braut, um eine Braut, welche die ganze Welt bedeuten sollte, indes, die Mathematik war sicherlich nicht diese Braut, die Mathematik war es nicht, und sie war bloß etwas Vorgeschobenes, obschon sie ganz danach angetan war, die gesamte Welt zu umfassen und sogar noch weit über sie hinauszugreifen. Er wollte mit der Mathematik etwas erzwecken, etwas, das so außerhalb der Mathematik lag wie Christus außerhalb der ihm dienenden Kirche, doch er gelangte niemals über die internen mathematischen Zwecke hinaus. Wo war sein Ziel? Wo war die Eindeutigkeit dieses Ziels?

Da saßen sie einander gegenüber, zwei junge, dennoch schwerfällige und unschöne Menschen, behaftet mit zu viel gelbem Fett auf ihren Körpern, sie atmeten stark und regelmäßig in diesen Körpern und steckten doch ein jeder darinnen wie in einem Gefängnis. Rudolf war in Südamerika, Emilie in Berlin oder vielleicht schon wieder woanders, – sie aber, die anscheinend so ähnlich und einträchtig hier beisammensaßen, wurden sie nicht ebenso in die Ferne getrieben? Denn weniger sinnfällig sicherlich, doch nicht minder wirklich, gingen sie zwei Wege, die immer weiter auseinanderstrebten, und sie alle flüchteten aus der Nacht des Vaters, und gleich ihm flüchteten sie wieder in die Nacht.

Richard sah in Susannens Augen und erschrak, weil es die gleichen Augen wie die seinen waren – welch ein Blick! schräg aufwärts, der plötzlich den weißen Augapfel und rote Äderchen entblößte, ein Blick, der unheimlich war und etwas Irrsinniges an sich hatte. Und ohne eigentlichen Zusammenhang entdeckte Richard, daß sich die Weihnachtszeit plötzlich in weißer Stille herabgesenkt hatte, eine plötzliche Aufhebung des Lärms, eine plötzliche Aufhebung des Normalen, und, von hier aus gesehen, ein freundlicher nach innen gewandter Irrsinn der Welt, ein Unstetigkeitspunkt in einer stetigen Kurve. Der Teufel mochte sich da auskennen.

Er fragte:

»Was schenkst du der Mutter?«

Sie brachte einen Kissenbezug zum Vorschein, den sie gestickt hatte: um ein loderndes Herz, in dessen Flammen das Kreuz und langgestreckt die Buchstaben INRI standen, rankte sich der Spruch »Wo Liebe wohnt, ist Gottes Segen«. Ein blasphemischer Zweck und eine scheußliche Ausführung, freilich von Richard nicht bemerkt.

»Schön«, sagte er; aus seinem eigenen Berufsgebiet vermochte er kein Geschenk zu formen.

Susanne verstaute die Handarbeit unter einem Stoß ähnlicher Dinge, die sie für die Klosterfrauen vorbereitet hatte. Sie war von unerhörter Emsigkeit, denn da sie außer ihrer Arbeitskraft dem Kloster nur wenig mitbringen konnte, mußte sie diese Arbeitskraft zum äußersten anspannen. Sie war Handarbeitslehrerin, geprüfte Kindergärtnerin und bereitete sich jetzt auch auf die Krankenpflege vor. Sie tat es mit der professionellen Heiterkeit dessen, der durch die Art seines Tuns alle Möglichkeiten der ganzen reichen Gotteswelt bereits ausgeschöpft zu haben glaubt, mit jener Heiterkeit, die ebendeswegen auch zu ihrem erwählten religiösen Dasein gehörte.

Im Gegensatz zu Otto, der dieser schwesterlichen Heiterkeit mit allerlei uneingestandenem Mißtrauen begegnete, weil sie von anderer Herkunft als die seine war, vermochte Richard den Heiterkeitsunterschied nicht zu erkennen, und er beneidete Susanne, genau so wie er Otto um dessen Leichtigkeit beneidete. Er ahnte, daß alle Heiterkeit mit der Ausschreitbarkeit der Welt zusammenhing und daß es allein darauf ankam; jedoch die Mathematik als solche war unausschreitbar, und wenn sie auch große Teile des physikalischen Weltgeschehens zu decken vermochte, ja, wenn sie auch ganz neue Zugänge zur Erhellung des Logischen vermittelte und wenn auch die Sterne ihr Untertan waren, so gab es wohl die brennende Freude des Erkennens, aber heiter war es nicht. Wir alle kommen aus den Niederungen des Lebens, aus der Nacht des Mutterleibes, aus der unbegreiflichen zuckenden Nacht der Eltern, was wir mitbekommen, ist Nacht und Düsternis, und wir wollen alle zur Helle und zur Heiterkeit. Ja, so ist es. Und es war auch der Grund, der ihn immer wieder zu Susanne führte, obwohl ihm ihre Heiterkeit oftmals als leicht idiotisch erschien, es war wie ein von Jugend gewohntes Betreuen einer Schwester, die nicht ganz vollwertig zu nehmen war, und doch war es nicht minder wie ein Betreutwerdenwollen, es war ein sonderbar weit gespannter Rahmen, in dem sich dies ereignete, und doch waren die konkreten Formen solchen Geschehens bloß die einer kleinbürgerlichen Romantik, die unheimlich war, weil die Kammer, in der sie sich vollzog, im Unendlichen schwebte und die Nacht der Herkunft und die Helle unerreichbarer Zukunft in ihr wehte.

Also es war Weihnachten, und da die Institute geschlossen waren, konnte Richard einen der nächsten Vormittage für seine Einkäufe benützen. Man mußte sich nicht sehr anstrengen, um für Susanne ein Weihnachtsgeschenk zu finden; man brauchte bloß in irgendein Devotionaliengeschäft zu gehen, deren sich einige um den Dom herum befanden.

Es war eine blausilberne Wintersonnenstunde. Die gelben Trams, deren Linien sich auf dem Platz vor dem Dome kreuzten, waren vom Morgenschnee noch behangen, ihre Fenster waren vereist, die Leute, die drinnen saßen, waren wie dunkle Schatten, und wenn die Gleitbügel der Wagen an vereiste Stellen der elektrischen Oberleitung streiften, gab es knisterndes Tagfeuerwerk bläulicher Sterne. Die Kälte biß sich an die Nase und Ohren an, und wie die meisten Leute auf der Straße erzeugte Richard mittels nach innen gewendeten Schnaubens von Zeit zu Zeit ein kleines pneumatisches Vakuum, um die Tropfenbildung in die Nase zurückzubefördern. Ländlich und unvermittelt klingelte inmitten des mechanisierten Verkehrs ein einspänniger Schlitten vorüber, die Holzschaufeln der Reinigungstrupps schabten über den weißgepolsterten Asphalt, und Richard, der sich für den Einkauf eines Sterns von Bethlehem oder so etwas Ähnlichem entschieden hatte, stapfte schwerfälligen und engen Ganges über den hartgefrorenen, mit Sand bestreuten Schnee des Gehsteigs. Manchmal glitt er aus und mußte sich mit einem steifen Ruck der Wirbelsäule wieder ins Gleichgewicht bringen, wobei es ihn vor Schreck heiß durchflutete. Wenn er einen schrägen Blick aufwärts zum Dom hin warf, den Augapfel weiß und ein wenig irrsinnig herausgedreht, da sah er nicht die beschneite Gotik des Baus, sondern die Tauben, die sich auf dem Gesims zusammendrängten oder auf und ab marschierten. Richard Hieck fühlte sich wohler als sonst und dachte an nichts, zumindest an nichts Mathematisches.

 

6

Am Neujahrstag saß die Familie beisammen. Emilie hatte ein Telegramm geschickt. Aus dem Riesengebirge. Sicherlich lief sie dort Ski. Mit irgendeinem Kerl. Rudolf in Südamerika schwieg. Vielleicht hatten sie dort gar nicht Neujahr. Es war ja Sommer dort.

Frau Katharine Hieck sah beinahe jünger aus als ihre Tochter, die in soutanenhaft hochgeschlossenem Kleid dasaß und deren weiches gelbliches Gesicht nicht die Spuren der verflossenen, sondern aller kommenden Jahre aufwies. In der doppelten Stille des Winters und des Feiertags hatte die Häuseransammlung ihren städtischen Charakter verloren. Man wußte nicht recht, wo man sich befand. Am Anfang eines neuen Jahres. Das war in dieser Stille wie eine Ortsangabe. Die Poststempel tragen von heute an die Ziffer 27 und manche 1927. Katharine Hieck war über fünfundvierzig, aber ihr Nacken war der einer jungen Frau, er war eine weißgepolsterte kurze und elastische Säule mit einer kleinen Kanellierung in der Mitte, in der sich das noch blonde Haar kräuselte.

Unendlich lag das neue Jahr vor ihnen. Und weil mit diesem dunklen Block so wenig anzufangen war und man doch daran gehen mußte, ihn in irgendeiner Weise zu bewältigen, sagte Otto:

»Wir müssen auf das neue Jahr trinken.«

Sie hatten eine gebratene und fette Gans gegessen, und die Idee Ottos war also durchaus angemessen. Nichtsdestoweniger sagte Richard:

»Ich bin gegen jeglichen Alkohol.«

Dieser Meinung war auch Susanne. Aber Otto beharrte:

»Ihr habt keine Spur von Feierlichkeit.«

Nein, Susanne und Richard hatten wenig Sinn für irdische Feierlichkeit. Das Irdische und Konkrete und Sichtbare, das war ihnen bloß zufälliges Merkmal für ungeheuerliche Geschehnisse, deren Gewalt sie ahnten; und beinahe mit Haß nahmen sie es auf, wenn sie merkten, daß ein irdisches Fest um seiner selbst willen gefeiert werden sollte. Und obgleich auch sie menschliche Liebe und menschliches Beisammensein ersehnten, ihr nächtliches Sein trieb ihre Wünsche zu übermächtigen Gebilden, die kaum mehr die Züge des Menschlichen trugen, mochten sie nun aus dem Himmel oder aus der Hölle stammen. Ungeheuerlich lag das Jahr vor ihnen, das zu feiern ihnen zugemutet wurde.

»Ach«, sagte Katharine Hieck mit wasserheller Stimme, »einmal im Jahr kann man Wein trinken.« Und sie dachte an Emilie, die täglich Wein trank, doch während sie Geld für Otto herauskramte, damit er den Wein aus dem benachbarten Wirtshaus hole, erinnerte sie sich, daß der Junge manchmal seine Mädchen ins Haus brachte, um sie ihr vorzustellen. All dies verdichtete sich plötzlich zum Bilde eines Hochzeitmahls, bei dem sie sich selber mit einem neuen Gatten sitzen sah. Ihr gesundes Blut wallte auf, und sie wurde rot.

Otto hatte die Hand hingestreckt. Er und die Mutter, sie wußten nichts von ungeheuerlichen Gebilden, wie sie in den schweren Köpfen und Körpern der beiden älteren Geschwister wohnten, seine Welt war von menschlichen Dimensionen, seine Wünsche, seine Liebe, seine Freuden, seine Feste waren im Kreise des Erreichbaren eingeschlossen. Und daß zum Neujahr Wein gehörte, das lag innerhalb dieser Grenzen.

Alle ihre auseinanderstrebenden Wünsche hatten sich nun an den Wein geheftet.

»Kannst du dem Jungen niemals nein sagen«, nörgelte Susanne. Sie hatte das Erröten der Mutter gesehen und sofort als unzüchtig empfunden; es war ihr, als müßte sie ihre eigene Keuschheit noch verstärken, um dies aufwiegen zu können.

»Etsch«, machte Otto und zog ihr eine Fratze. Er hatte das Geld bekommen, polterte zur Tür hinaus und überließ die Erwachsenen jener unausgegorenen Feindseligkeit, von der Familien so häufig befallen werden, wenn man sie eines gemeinsamen Interesses beraubt. Aus diesem menschlichen Urzustand rettete sie Richard – er schlug sich mit zwei Fingern auf die vorgebaute Kuppel seiner Stirne:

»Daß man dem Bengel immer wieder aufsitzt: drüben haben sie eine neue Kellnerin, und die gefällt ihm.«

Die beiden Frauen sahen einander an, und Katharine brach in ein glückhaftes Gelächter aus, von dem schließlich auch Susanne angesteckt wurde: sie, die gleich ihrem Vater fast niemals lachte, stimmte mit dem auch ihm zu eigen gewesenen jähen Auflachen in die Heiterkeit Katharinens ein. Warum lachten sie? weil die geheimen und ruchlosen Träume des Jungen offenbar geworden waren? oder weil es nichts fruchtete, die eigenen privaten Wünsche verbergen zu wollen? lachten sie, weil sie im Grunde keinerlei Geheimnisse voreinander hatten? Und Richard, der die gleiche Befreiung spürte, sagte stolz:

»Das war kein Witz, es ist wirklich so.«

Katharine sagte mit ihrer wasserhellen Stimme:

»Ja, ja, aber du hast es so komisch herausgebracht.«

Otto erschien wieder. Er war ein wenig zu geschniegelt gekleidet, besonders in Anbetracht der dürftigen Mittel, mit denen er solche Eleganz bewerkstelligen mußte. Zu seiner übertrieben weiten Hose trug er die zu klein gewordene dunkle Jacke, die zu seinem Firmungsanzug gehört hatte.

»Da ist der Wein«, sagte er und stellte die halbgefüllte große Karaffe auf den Tisch.

»Warum ist der Krug im Sommer beschlagen, im Winter aber nicht?« prüfte Richard.

»Laß mich in Ruh'«, sagte Otto, »wir wollen anstoßen … wir müssen uns jetzt etwas wünschen.«

Der Neujahrswunsch! Der Meteor des Jahres war in sanftem Bogen am Firmament erschienen, und die vor ihm standen, sie sollten ihre Wünsche daran heften. Welche Fülle von Wünschen gibt es! und der Mensch, der des Morgens aus seinem Bett und in seine Schuhe gestiegen ist, der nach mancherlei Verrichtungen am Abend seinen Leib wieder in das Bett zurücklegt, hat tagsüber vieles zur Befriedigung seiner verschiedenen Wünsche unternommen, obwohl ihm die meisten unklar geblieben sind. Und wenn er sie angesichts eines Meteors plötzlich äußern soll, da wird er gar häufig sprachlos vor Schrecken über seine eigene Unklarheit, aber vielleicht auch über seine Gleichgültigkeit, die ihn unfähig macht, die Wünsche des andern zu erraten und sie durch einen Trinkspruch zu unterstützen. Schließlich fand Otto die befreiende neutrale Formel:

»Die Mutter soll leben.«

Und weil dies so einfach war, daß auch im verworrensten Menschen noch etwas Warmes anklingt, stießen sie mit den Gläsern an, als könnte der Klang des Glases ein Echo aus ihrem Herzen sein, sie lächelten auch ein wenig dazu, und eigentlich warteten sie, daß nunmehr das Wesentliche erfolgen müsse, das Wesentliche, um dessentwillen es sich verlohnt hatte, heute morgen aus dem Bett zu steigen und ein neues Jahr zu beginnen. Doch weil nichts dergleichen geschah, sagte Susanne hausfraulich:

»Man muß Kohle nachlegen.«

»Ja«, sagte die Mutter mit wasserheller Stimme.

Susanne erhob sich, klappte mit dem Schürhaken die Ofentüre auf; es lag noch Glut in der gelbgebrannten Ziegelhöhlung, und ein schmaler Strom Hitze blies ihr ins Gesicht. Spreizbeinig und gebückt, das ausladende Hinterteil dem Zimmer zugekehrt, verursachte sie gewaltiges Rasseln im Kohlenkübel, und wenn sie mit der Routine der geübten Heizerin eine Schaufel voll in die Glut beförderte, knisterte der Kohlenstaub in Funken auf. Susanne schlug mit dem Fuß die Ofentüre zu und begab sich wieder an ihren Platz.

Draußen irgendwo rauschte saftig und groß das Leben, und jeder von ihnen wollte einen Zipfel davon erhaschen, aber sie wußten nicht welchen, und sicherlich war es für jeden ein anderer.

»Wollte Gott, wir säßen nächstes Jahr wieder so im warmen Zimmer alle beisammen«, war endlich die Antwort Katharinens auf Ottos Trinkspruch; es war gewissermaßen ein lichter Moment, da sie damit einen Wunsch gefunden hatte, der sich ausnahmsweise auf die Gesamtfamilie bezog, wobei es allerdings unentschieden blieb, ob der Akzent auf »alle« oder auf »warm« zu legen war. Sie dachte selber darüber nach, und obgleich bei ihrer kargen Pension und ihren Zukunftssorgen die Heizungsfrage die größere Rolle spielte, ergänzte sie: »Vielleicht werden dann auch Emilie und Rudolf bei uns sein.«

Aber der Augenblick der Gemeinsamkeit hatte nicht vorgehalten. Susanne dachte schon an die bevorstehende Abendmesse und daß sie das nächste Neujahrsfest hoffentlich schon innerhalb der Klostermauern feiern würde, und auch Richard war mit seinen Gedanken woanders, sie schweiften zu einem Skiausflug, auf dem er vielleicht die nächsten Weihnachtsferien verleben wird, und erst als die Heizungsfrage ihm langsam ins Bewußtsein drang, empfand er es als Vorwurf, daß er noch immer an Mutters Tisch saß.

Deshalb knurrte er:

»Nächstes Jahr werde ich schon Schule halten, irgendwo in einer kleinen Stadt … oder weiß Gott wo.«

»Fein«, sagte Otto.

Groß und saftig rauscht draußen das Leben. Doch dunkel tobt der Kampf ums Dasein, der Kampf um den Platz an der Sonne, und selbst als Susanne jetzt sagte:

»Bei Sellinger sind Flanelle vom Weihnachtsverkauf zurückgeblieben; er gibt sie zum halben Preis ab«, war's Daseinskampf, denn er steckt in jedem einzelnen Warenpreis.

Da aber alle Zukunftshoffnungen für das neue Jahr nicht über den fürchterlichen Zwang der entfliehenden Zeit und über die Angst vor dem kommenden Alter hinwegtäuschen konnten, mußte Katharine Hieck immerzu an das seit der Jugend erhoffte Wunder der Liebe denken und an die Erfüllung, die sich jetzt sozusagen in letzter Minute doch noch einstellen sollte. Und besessen von dieser angstvollen Hoffnung tat sie etwas, was in diesem Kreise fast noch niemals geschehen war, sie erwähnte den Vater:

»Wenn Vater noch bei uns wäre«, sagte sie.

Das sagte sie, und so senkte sich im sanften Bogen des Meteors jenes Bild des Todes auf sie herab, das sie doch keinen Augenblick verlassen hatte. Und der Gast, den sie in mancherlei Gestalt für das nächste Neujahr erwarteten, er trug in den Falten seines Mantels den Hauch des Todes.

Katharine hatte keine Vorstellung mehr von dem dahingegangenen Gatten, aber unauslöschbar in ihrer Erinnerung war das Leben, das sie empfangen und empfangend weitergegeben hatte, und sie klammerte sich daran. Wohin war sie geraten? wohin wird sie noch geraten? Die Kinder, die hier saßen, waren dunkel und hatten fremde Züge, und die Kinder, die ihr ähnlich sahen, die ihre eigenen blauen Augen mitbekommen hatten, die waren weit fort. Und so sagte sie:

»Ich mache mir keine Illusionen mehr.«

Doch Otto sagte:

»Gibt's heute keinen Kaffee?«

»Schön«, sagte Katharine, »ich will Kaffee für euch kochen.«

Richard dachte plötzlich an die Gruppentheorie. Und dieses abstrakte und theoretische Gebilde, das war nun mit einem Male wie ein Zipfel des fernen und unsäglichen Lebens. Er ließ den Rest des Weins in den Magen fließen und hatte unter Weste und Speck ein angenehmes Gefühl.


 << zurück weiter >>