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Zweiter Teil

 

1

In den letzten Wintermonaten klärte sich manches für Richard Hieck; es war eine Art Erleuchtung, er wußte plötzlich, was er tun wollte. Oder er wußte ein Stück davon. Oder er glaubte, es zu wissen. Mittelbar verdankte er dies Kapperbrunn.

Er war Kapperbrunn für alles mögliche verpflichtet. Die Stelle an der Sternwarte hatte er mit seiner Hilfe erhalten. Am Fortschritt der gruppentheoretischen Arbeit nahm Kapperbrunn nicht nur allen Anteil, sondern er verabsäumte auch nicht, Weitprecht mit Andeutungen über deren physikalische Auswertbarkeit zu füttern. Und so war es auch sein Werk, daß der allen Amtsgeschäften abgeneigte und überdies kränkliche Weitprecht, anstatt in gewohnter Weise die Dissertation monatelang herumliegen zu lassen, in einem Akt der Selbstüberwindung das für die Sternwartestellung nunmehr doppelt wichtig gewordene Doktorat Hiecks jetzt selber beschleunigte.

Bei dieser Fülle äußerer Abhaltungen ging es übrigens bloß langsam mit der gruppentheoretischen Arbeit vorwärts, und es wurde März, ehe Richard das fertige Elaborat auf Kapperbrunns Tisch legen konnte.

»Anständige Arbeit«, sagte Kapperbrunn, nachdem er sie zwei Tage bei sich behalten hatte, »gediegenes Handwerk mit goldenem Boden, wir wollen es bei Crelle einreichen.«

Ansonsten führte Kapperbrunn zynische Reden:

»In der Wissenschaft gibt es zwei Wege, etwas zu erreichen: entweder den Weg des hysterischen Fortschritts und der hochfliegenden Gedanken, Typus Weitprecht, oder den der gesunden Reaktion. Ich, für meinen Teil, ich habe mich für den letzteren entschieden. Ich bin jederzeit bereit, mich bis auf Newton, ja, wenn Sie wollen, bis auf Descartes zurückzuziehen und alles, was nachher kam, als hysterisches Hirngespinst abzutun.« Er lachte schlau: »Überdies auch ein Weg zum Ordinariat.«

Richard wußte, daß es Kapperbrunns Leidenschaft war, die Leute durch überpointierte Skepsis zu verblüffen. Nichtsdestoweniger erfüllten ihn diese Reden mit dumpfer Empörung, einer Empörung, aus der plötzlich die Erkenntnis durchbrach:

»Sie glauben selber nicht daran, Herr Dozent.«

»Na, wissen Sie denn, woran Sie selber glauben?«

»Es handelt sich …« Richard suchte nach Worten, er fuhr sich über den schweren Schädel, ein ungeschicktes Lächeln spielte um den harten Mund, »es handelt sich nämlich auch für Sie um die Wirklichkeit.«

»Das verstehe ich nicht.« Kapperbrunn stellte sich dumm.

Richard strengte sich noch mehr an. Wie war es mit der Mathematik? ein helles Netz leuchtender Wirklichkeit, unendlich lag sie vor ihm, und man mußte von Knoten zu Knoten sich weitertasten, ja, so ähnlich war es, ein kompliziertes Himmelsgeflecht wie die Welt selber, ein Geflecht, das man auflösen mußte, um der Wirklichkeit habhaft zu werden.

»Überall ist die Mathematik drin«, sagte er schließlich, und zur Überraschung Kapperbrunns wurde er pathetisch: »schon daß ich die Dinge zählen kann, ist ein Stück Mathematik, das in der Wirklichkeit steckt.«

»Da hätten Sie Dichter, aber nicht Mathematiker werden müssen«, meinte Kapperbrunn, »na, Sterndeuter sind Sie ja ohnehin schon.«

Daß Kapperbrunn ihn damit verletzte, das merkte Hieck allerdings nicht, im Gegenteil, er fühlte eine starke Überlegenheit; Kapperbrunn stellte sich dumm und war trotzdem noch ein Stück dümmer. Was Richard Hieck seiner Mutter, aber auch den Geschwistern gegenüber immer empfand und was ihn eigentlich vor den meisten Menschen befiel, das kam, wenngleich in abgeschwächtem Grade, nun auch Kapperbrunn gegenüber zum Vorschein: die haßerfüllte Verwunderung über die Ausdrucksfähigkeit des Menschen, über seine ruchlose Fähigkeit, Worte zu halbwegs geordneter Sprache zu verbinden ohne Ahnung von dem Wesentlichen, auf das allein es ankommt und das allein ausdruckswürdig ist. Die Sünde des Nichtwissens! die Verstocktheit des Nicht-wissen-Wollens! Und vielleicht nur, weil er in diesem Augenblick von solcher Wut gegen Kapperbrunn erfüllt war, daß er ihn hätte ermorden mögen, und weil es seinem Geist gemäß war, alles sofort in theoretische Erkenntnis umzusetzen, begriff Richard Hieck, daß es stets das Nicht-wissen-Wollen war und stets das Nicht-wissen-Wollen sein wird, das die Menschen zu Mord reizt oder zumindest sie fähig macht, gleichgültig dem Tod des andern zuzuschauen.

Aber er machte noch einen Vorstoß; er wollte Kapperbrunns Mitarbeit an seinen eigenen Gedankengängen erzwingen:

»Alles, was geschieht, vollzieht sich nach logisch gebauten Gesetzen …«

»So?« sagte Kapperbrunn, »das habe ich noch nicht gefunden.«

»Immer ist es das Gesetz, mögen Sie es nun Kausalgesetz oder sonstwie nennen …«

»Das Kausalgesetz ist unser modernstes altes Eisen.«

»Das ist ja gleichgültig … wenn das Kausalgesetz nicht mehr gilt, so ist es, weil die Logik dawider ist … wenn wir die Logistik erst richtig ausgebaut haben werden, dann haben wir die Wirklichkeit in der Hand.«

Mit düsterm Triumph schaute er auf Kapperbrunn; er hatte zum ersten Male formuliert, was so lange in ihm rumorte. Kapperbrunn nickte. Und in der Erleuchtung dessen, der viel mehr weiß, als er auszusprechen vermag, schloß Richard Hieck ab:

»Logik und Mathematik aber sind identisch.«

»Ja, ja, die Logistik …« Kapperbrunn machte eine ironische Pause, er, dessen Gewandtheit auch mit der Logistik fertig wurde und sich in ihr leichthin tummelte, war nun voller Widerborstigkeit, »… auch so eine neue Erfindung.«

Richard fühlte sich entsetzlich vereinsamt. Was galt ihm das Institut und alles, was hier geschah? es war, als sei das, was draußen lag, wesentlich wichtiger. Dort draußen heulte der Märzsturm. Der Winter war überaus streng gewesen, und winterlich war es noch immer, trotz des astronomischen Frühjahrsbeginns. Aus dem mütterlichen Schoß der Nacht dringt alle Erkenntnis, aus ihr entspringt alle Wirklichkeit der Welt, alle Helligkeit wird im Dunklen vorgeformt. Kapperbrunn wollte davon nichts wissen. Richard warf einen schrägen Blick nach aufwärts zu den Büchergestellen, auf denen die Büsten Newtons und Gauß' standen. Wer hatte diesen Schmuck gekauft? der Staat? es war eine Frage, die er sich noch niemals vorgelegt hatte. Die neue Hellsichtigkeit wirkte sich offenbar auch im kleinen aus.

Kapperbrunn, der für heute genug Skepsis produziert hatte, fragte versöhnt:

»Sie wollen also jetzt wieder Logistik treiben, statt bei der Astronomie zu bleiben?«

»Nein …«, sagte Hieck, und nach einer Weile, »… ja.«

»Hm, Sie sind ein präziser Mensch, Hieck.«

»Es läßt sich ja beides vereinen … die Arbeit an der Sternwarte ist grauenhaft mechanisch.«

»Weiberarbeit, wie alles, was wir treiben«, sagte Kapperbrunn mit der Stereotypie des Menschen, der sich eingerichtet hat. Und damit fand er sich freudig vor ein Lieblingsproblem gestellt: »An der Sternwarte habt ihr keine Osterferien? natürlich nicht …«, er schaute Hieck treuherzig und bedauernd in die Augen, »… das einzige Universitätsinstitut, das keine Ferien hat, bloß Urlaub einmal im Jahr.«

»Die Hilfsarbeiter haben nicht einmal Urlaub«, bekräftigte Hieck.

»Mja, die Sterne kreisen und kreisen, möcht' wissen, warum … ach, Hieck, was sind wir für arme Luder, ich wollte, ich wäre schon in Pension.«

Wie immer, wenn Kapperbrunn sein Privatleben in den Vordergrund brachte, wurde es Hieck unbehaglich zu Mute. Er sagte:

»Ich muß noch zu Weitprecht.«

»Tun Sie dies, wenn Sie durchaus müssen … er ist ohnehin in seinem Zimmer.«

Weitprecht empfing ihn mit der gewohnten abweisenden Liebenswürdigkeit; man sah es ihm an, daß er sich erst mit Mühe zurechtfinden mußte und unausgesetzt nach dem Namen seines Besuchers fahndete.

»Herr Professor haben mich für heute bestellt.«

»So, so, für heute … irren Sie sich nicht?« Mit einiger Nachhilfe kam er darauf, daß es sich noch um das Rigorosum handelte und daß er sich mit dem Mitprüfer ins Einvernehmen hatte setzen wollen.

»Diese ewigen Formalitäten«, jammerte er, freilich etwas heuchlerisch, denn er war viel zu ängstlich, um sich über irgendeine Vorschrift hinwegzusetzen. Über der entstellenden Halbbrille erhob sich eine schmale, an den Schläfen beinahe eckig abgebogene Stirne, leicht sommersprossig und umrahmt von angegrautem wirren Blondhaar. Der Mund war für einen Mann in diesem Alter merkwürdig frauenhaft und empfindsam. Kapperbrunn mochte recht haben, wenn er schadenfroh immer wieder behauptete, daß Weitprecht in seiner Ehe greulich tyrannisiert werde. Richard Hieck erinnerte sich der kleinen unschönen Frau, die zuweilen im Institut erschien, um den Gatten abzuholen. Manche Studenten grüßten dieses Stück Privatleben ihres Lehrers; Richard tat dies nie, ihm war es unangenehm.

»Also Sie sind jetzt an der Sternwarte«, sagte Weitprecht, stolz, sich derartig glänzend zurechtgefunden zu haben.

»Ja«, sagte Hieck, und da Höflichkeit nicht eben seine Sache war, brauchte er einige Zeit der Besinnung, um hinzuzusetzen: »Und ich bin Ihnen, Herr Professor, für Ihre Fürsprache dort sehr dankbar. Eine sehr angenehme Stellung.« Er war von so viel Höflichkeit recht erschöpft.

»Gerne geschehen, gerne geschehen«, lächelte Weitprecht mit entschwindendem Gedächtnis und hatte gleichzeitig das Gefühl, sich mit dieser Fürsprache ins eigene Fleisch geschnitten zu haben; er wurde besorgt: »Da werden Sie wohl keine Zeit mehr für unsere gemeinsame gruppentheoretische Arbeit finden?« Sein Lächeln wurde werbend und gewinnend.

Das Bild der Wissenschaft als des Netzes, von dem Masche um Masche gelöst werden mußte, stand wieder vor Richards Auge. Aber es hatte seinen beglückenden Aspekt verloren. Es schien ihm jetzt ein dürres Geflecht, an dem eine Schar von Blinden in unsinniger Weise beschäftigt war. So ähnlich mußte es Kapperbrunn meinen, wenn er die Wissenschaft ein infantiles Gesellschaftsspiel für Zurückgebliebene nannte: manchmal steckte doch etwas hinter Kapperbrunns Aussprüchen, auch wenn man sie nicht gleich verstand. Hieck schob den Gedanken beiseite.

»Selbstverständlich arbeite ich weiter, Herr Professor.«

Weitprecht lächelte ein wenig irr: »Dann wird es schon werden.«

 

2

In das Phantom seines Ichs versunken, taumelte er durch den jähen Frühling, der über die Welt gekommen war. Und noch niemals war Richard Hieck so viel unterwegs gewesen. Die Sternwarte lag auf einer bewaldeten Anhöhe, an deren Fuß sich eine Villenkolonie angesiedelt hatte. Es waren zwei Kilometer von der Stadtgrenze heraus, aber Richard benützte aus Ersparnisgründen fast niemals die Tram, und wenn er Nachtdienst hatte, war der Verkehr ohnehin schon eingestellt.

Mit astronomischen Beobachtungen hatte er wenig zu tun. Sie lagen ihm auch nicht sonderlich. War schon die Experimentalphysik seinem spekulierenden Verstand eine nicht genehme Fessel, so konnte er sich mit den Verrichtungen der astronomischen Instrumententechnik, mit der photographischen Handwerksarbeit und allem, was da drum und dran hängt und doch gelernt werden muß, noch viel weniger abfinden. Richard war keine romantische Natur, und er hatte von allem Anbeginn gewußt, daß Astronomie mit Sternenpracht kaum etwas zu schaffen hat, ja, daß man vom Nachthimmel verhältnismäßig wenig zu sehen bekommt. Ob man ein Ultramikroskop oder einen Refraktor einstellt und fixiert, ist ziemlich gleichgültig, der ganze Unterschied besteht in der geringeren Elastizität der astronomischen Praxis, so daß die Arbeit im Laboratorium in mancher Hinsicht sogar vorzuziehen war. Und auch im Beobachtungsmaterial als solchem wäre wenig Unterschied zu merken gewesen, denn das unendlich Große ist schließlich nicht verwunderlicher als das unendlich Kleine, und doch gab es hier von irgendwoher das erregende Bewußtsein übergroßer Dimensionen, jener übermächtigen Dimensionen, die sonderbarerweise in die Seele eines jeden Menschen die Spur göttlicher Ewigkeit einprägen, immer wieder ihn überwältigend, selbst denjenigen, der berufsmäßig schon an sie gewöhnt sein müßte – hätte man nicht dieses Bewußtsein unvorstellbarer Lichtjahre gehabt, unvorstellbar der menschlichen Seele und dennoch ihr bedeutungsvoll, es wäre die ganze Astronomie schlechthin langweilig zu nennen gewesen, und sehr oft war sie es auch wirklich.

Aber er liebte den Heimweg unter dem nächtlichen Himmel. Lind hing der Frühling in den Tannenbäumen, es roch staubig vom nadelbehäuften Waldboden, und es war ein sanfter und kühlender Geruch. Das kleine Wirtshaus, an dem man vorbeikam und dessen Tische unter den Bäumen standen, war um diese Zeit zumeist schon geschlossen; bloß eine Dachkammer, vielleicht die einer lesenden oder liebenden Kellnerin, hatte stets ein beleuchtetes Fenster. Sonntags allerdings gab es Betrieb, da saßen die Leute an den Tischen, während um die Glühlampen, die an weitgespanntem Draht über ihren Köpfen baumelten, die Schmetterlinge und Mücken schwärmten. In einer dieser Sonntagsnächte – es war damals, als der ganze Wald scheinbar voller Liebespaare steckte und Richard gleich einem Zwölfjährigen es vor Einsamkeit nicht mehr aushielt –, da hatte er sich hingesetzt, ein Glas Bier getrunken und die Liebespaare beobachtet, wie sie verwirrt aus dem Wald ins Helle traten, und war doch selber verwirrter als jene. Er verglich seinen eigenen massigen und ungelenken Körper mit dem der jungen Burschen, die da in kreuzweiser Umschlingung mit den Mädchen aus dem Dunkel auftauchten, und es erschien ihm unmöglich, daß je eine Frau liebend den Arm um seinen ungefügen Körper legen könnte. Das war nicht zu erwarten, und mochte er ein noch so berühmter Mathematiker werden. Doch diese ihm nicht unbekannten Gedanken wurden unterbrochen, als ein Mann, doppelt so groß und breit als er, in den Wirtshausgarten trat, ein zartes dunkles Mädchen an der Seite, und als die beiden unweit von ihm sich niederließen: zuerst folgerte er, daß dieser Mann das zarte Mädchen mittels Geldes oder schnöder Gewalt in Besitz genommen habe, indes mußte er bald feststellen, daß das Mädchen hoffnungslos in den Riesenkerl verschossen war, und diese Beobachtung, die eigentlich etwas Tröstliches für ihn hätte haben können, steigerte seine Verwirrung so sehr, daß er nicht nach Hause ging, sondern nochmals zum Observatorium hinaufstieg – ein unbezähmbares Bedürfnis nach freier Luft und freier Ausschau hatte ihn befallen. Dort oben vor dem Observatoriumseingang gab es eine kleine Gartenanlage, gab es Bänke am Rande eines geradlinigen Holzschlags, der – ein Streifen von etwa hundert Metern – von hier aus bis zum Fuß des Hügels reichte, und aufseufzend ließ sich Richard Hieck auf eine dieser Bänke nieder, um in die Ebene hinauszuschauen. Geradlinig stand der Wald links und rechts neben dem mit Rasen bewachsenen Streifen, hell leuchtete der Zickzackweg, der über diese Lichtung heraufführte, und still lag die Ebene unter einem leichten, kaum merklichen Nebelschleier, beleuchtet von einem Mond, der noch hinter dem Hügel verborgen war, dennoch licht genug, daß weit in die Ebene hinaus die weißblühenden Obstgärten gleich schneeigen Inseln im Perlmuttergrau des Landes schwammen. In noch weiterer Ferne aber sah man die Randberge des Tals, auf deren Höhen die Sterne aufsaßen wie verstreute Wachtfeuer, indes schütter ausgesät im Tal die Sterne der Wohnlichter blinkten. Geradlinig strebte die Lichterreihe eines Zuges der Stadt zu, deutlich vernehmbar sein rhythmisches Klappern, der Pfiff, mit dem er die Brücke über den Fluß begrüßte, das dumpfe Rollen, mit dem er über sie hinwegfuhr, er selbst schon unsichtbar, da seine Lichter von dem vorspringenden Waldhügel verdeckt wurden. Doch der ungeheuere Raum zwischen der Perlmutterebene und der samtenen Schale der Sterne darüber, das ungeheuere Gewölbe war vom Frühling ausgefüllt, zum Bersten ausgefüllt, es drang der Frühling mit jedem Atemzug in Richards Körper ein, er wurde von ihm ausgeatmet, mild und breit flutete das Leben, fluteten die Sterne oben und unten.

Richard, Füße in den Schuhen, Sockenhalter um die dicken haarigen Waden, saß vornübergebeugt, und er sah hinaus in das wogende Tal flutender Dunkelheit, in das die Sterne tauchten. Die Nacht, aus der er gekommen war, alle Nächte, die er je gelebt, die Nächte, die vor seinem eigenen bewußten Leben lagen, die ahnte er in sich, da nun die Nacht in ihn einströmte und seine Lungen füllte, einen Engel darin erweckend, der anatomisch zwar nicht feststellbare, immer jedoch vorhanden gewesene, geduckte und beleidigte Engel des Kindes, der vor lauter Geducktheit sentimental und schüchtern geworden war. Und Richard, noch immer in großer Verwirrung, begann die Position der Sterne festzustellen, gewiß keine schwierige Aufgabe für einen Astronomen, rekapitulierte Sternentfernungen, als müßte er sich auf ein Examen vorbereiten.

Er erhob sich. Ein ungeschicktes, ein wenig höhnisches und doch weiches Lächeln lag über dem gelben Asketengesicht. Es war gut, daß Otto ihn nicht sah, es war gut, daß Kapperbrunn ihn nicht sah, sie hätten beide nicht verstanden, was er hier trieb, und sie hätten sich bloß über ihn lustig gemacht. Olivenfarbig unter dem höhergestiegenen Mond senkte sich die Fläche des Grasabhanges, an dessen Rand er nun vorgetreten war, vom Tal stieg ein lauerer Hauch herauf, bewegte leise die Gräser. Richard wandte sich zum Gehen. Er mußte an Hilde Wasmuth denken. Gut, daß sie ihn nicht sah. Im Walde rieselte von Zeit zu Zeit der Wind in den Nadeln. Richard hatte Bier im Bauch und die Sterne über dem Haupt, und der Engel in seiner Brust hatte die Flügel gefaltet. So stieg er langsam, eng und ein wenig schwerfällig zu dem Wirtshaus hinab. Man hatte bereits geschlossen, der Platz lag verödet zwischen den Tannen, und auch der Riesenkerl mit dem Mädchen war schon fort. Unterhalb des Nadelwaldes begannen die Villengärten. Die ersten Rosen blühten, farbig im Lichte der Straßenlaternen. Die Häuser schliefen. An der Endstation der Straßenbahn lehnte ein Polizist, auch er vom Frühling umspült. Und dann durch die gepflasterte Allee, neben der auf eigenem Damm das Straßenbahngeleise lief, zwischen Feldern, Laubenkolonien, Baugeländen, vorbei an einzelnen Häusern und Verkaufsbuden marschierte Richard Hieck der Stadt zu. –

Während dieser Zeit war auch sein Bruder Otto nicht untätig geblieben. Der Nachtdienst Richards war für ihn ein richtiges Gottesgeschenk geworden. Kaum daß es im Hause ruhig wurde, entschlüpfte er und verfügte sich in ein Café, nicht nur weil dort der von ihm begünstigte Fußballklub »Marathon« seinen Sitz hatte, sondern auch weil in den Souterrainräumlichkeiten des Lokals an jedem zweiten Wochentag und überdies am Sonntag getanzt wurde. Mit seinen weiten Hosen, Gürtel um den Hosenbund, ohne Weste, mit offener Jacke und einem schwarzen Künstlerschlips im weichen Kragen des Hemdes, verwegene Mütze auf dem kunstvoll heraushängenden Schopf, so erschien er im Lokal, kindlich und gerissen zugleich. Seitdem er einen Schnellkarikaturenzeichner gesehen hatte, galt es für ihn als ausgemacht, daß er solches gleichfalls zustande brächte, und tatsächlich gelang es ihm, sich damit einen Erwerb zu schaffen, der ihm die Mittel zu seinen Eskapaden lieferte. Er streunte von Tisch zu Tisch, bot für geringes Entgelt das Zeichnen von Karikaturen an, die mal so, mal so ausfielen; aber da er visuelle Komik und Sinn für Humor besaß, lachten die Leute über ihn, auch wenn sie ihn manchmal einen unverschämten Bengel nannten, und die Frauen nahmen sich seiner an, gerührt ob seiner frechen Zartheit und seiner Neigung zu einer sanften Verlotterung. Otto war mit alldem sehr zufrieden, und nur der Zwang, vor Richard daheim eintreffen zu müssen, ging ihm wider den Strich. Glücklicherweise hatte Richard einen geordneten Fahrplan.

In den Straßen der Stadt hatte sich der Frühling sommerlich verdichtet. Unbewegt ruhte die Luft zwischen den Häusern, eine Säule unbewegter Wärme, die zu den Sternen hinaufreichte.

Den Kopf im Schoße einer Frau, die er kaum kannte, lag Otto auf der harten Sitzfläche einer Bank im dunkleren Teil des Stadtparks. Er schnupperte an dem unbekannten mütterlichen Körper, und in plötzlichem Erlahmen seines Begehrens nahm er die Hände der Frau, schob sie sich unter den Kopf, und ein wenig hin und her wetzend, bis er den richtigen Platz gefunden hatte, blieb er, in die Sterne schauend, ruhig liegen. Es war ihm zum Heulen zumute, und wenn es einen Grund dafür gegeben hätte, er hätte losgeweint. Die Frau über ihm wagte nicht, sich zu bewegen, sie hielt den zarten Knabenkopf wie ein fremdes Geschenk in ihren Händen, ja, sie wagte nicht einmal, ihn um ein geringes zu heben, obwohl sie ihn gerne an ihre Brust gebettet hätte.

»Liebst du mich?« fragte sie.

Der Knabe in ihrem Schoß antwortete nicht.

Sie fragte nochmals und noch leiser:

»Liebst du mich?«

»Nein«, gab er leise zurück in einer weichen Starrheit, die nun auch sie umhüllte. Dann aber legte er sein Gesicht an ihre milde Brust, sie preßte ihn an sich und spürte, wie ihn lautloses, hemmungsloses, hoffnungsloses Schluchzen durchschüttelte.

Dann war er davongelaufen.

Zu Hause anlangend, hatte er den Vorfall beinahe vergessen. Er war froh, daß Richard noch nicht da war, er beeilte sich, ins Bett zu kriechen, denn es war später als sonst geworden. Als er gewohnheitsgemäß zum Einschlafen die Hände unters Gesicht legte, merkte er den Duft der fremden Frau. Das war so erregend, daß er wieder völlig wach wurde. Durch das offene Fenster sah man einen Ausschnitt des Nachthimmels, und der Mond schnitt ein schräges weißes Prisma in das Zimmer. Wo mochte Richard heute bleiben? Otto schnupperte an den Handflächen; sie waren ein wenig klebrig; eigentlich hätte er sich waschen sollen. Aber da war er auch schon eingeschlafen.

 

3

Daß die Temperatur in einem Raume stets zu einem Gleichmäßigkeitszustand hinstrebt, daß nicht ein Punkt des Raumes glühend heiß, der andere weltallskalt ist, daß der zweite Hauptsatz der Wärmelehre gilt, daß die Welt nicht plötzlich explodiert, daß die Sonne morgen wieder aufgehen wird, daß uns das Fleisch nicht mit einem Male grundlos von den Knochen fällt, daß unser Gehirn heute noch nach Gesetzen arbeitet, die immerhin als normal zu bezeichnen sind (soferne wir uns ein Urteil darüber erlauben dürfen):

dies alles ist Ergebnis eines ungeheuren Zufalls, dies alles ist nicht sicher, sondern bloß nach dem Gesetz der großen Zahlen halbwegs wahrscheinlich,

wobei das Gesetz der großen Zahlen auch nur wahrscheinlich ist und jederzeit von einem andern Gesetz abgelöst werden könnte,

denn auch dieser Satz ist bloß von Menschenhirnen entdeckt worden, über deren Normalität nichts Sicheres auszusagen ist.

Dies ist der Zustand der Welt, und er war Richard seit jeher bewußt gewesen, und es hatten an die zwanzig Jahre vergehen müssen, ehe die Physik ihm die theoretische Bestätigung dessen brachte, was er einstens am eigenen Leibe erfahren hatte. Heute freilich hatte er seine Jugendeindrücke vergessen, und die stolze Befriedigung, mit der er konstatierte, daß das Bild der Welt unzuverlässig und jederzeit abänderbar sei, erschien ihm als reine Folge seiner wissenschaftlichen Kenntnisse und seiner präzisen physikalischen Einsichten.

Doch in diesem Frühling brach die Scholle der Erinnerung auf.

Denn es war beinahe so, als würde mit der fortschreitenden Aufhellung des Lebenszieles in gleich zunehmendem Maße eine Aufhellung der Vergangenheit erfolgen: je mehr Richard von den Absichten wußte, in deren Verwirklichung sein Leben bestehen sollte, je mehr er sich klarmachte, daß es sein Ziel sein müsse, alle Lebenserscheinungen zu umfassen, mathematisch und berechenbar zu umfassen, weil er durch diese Fülle mathematisierter Welterkenntnis zur Totalität des eigenen Lebens gelangen werde, je klarer ihm dies wurde, desto größer und heller wurde auch das Fenster der Erinnerung.

Er erinnerte sich, daß er als Kind die feinen Juwelierläden im Stadtzentrum geliebt hatte. Auf schwarzem Samtgrund lagen im Schaufenster sternfunkelnde Brillanten. Aber er erinnerte sich nicht, wann dies gewesen sein konnte, denn er war bloß selten in die Stadt gekommen. Aber jetzt blieb er oftmals vor den Schaufenstern stehen.

Er erinnerte sich, daß er den Geruch in der Kammer Emiliens und Susannens geliebt hatte. Seitdem suchte er diesen Geruch.

Er erinnerte sich eines Traums, aus dem er nach der Mutter schreiend aufgewacht war. Er hatte geträumt, daß er blind geworden sei, und als die Kerze endlich aufleuchtete, wollte er es nicht glauben.

Er erinnerte sich, daß er seitdem gemeint hatte, der Vater müsse erblinden, weil er die gleichen Augen wie er und Susanne hatte. Und all dies brachte er in einen Zusammenhang mit dem hassenswerten Nachtleben des Vaters.

Aber er erinnerte sich nicht des Ereignisses, das ihm die Unsicherheit der Welt dargetan hatte, ehe er noch von der Existenz der Physik etwas wußte, jenes Ereignisses, das eine unauslöschliche Skepsis in ihn eingepflanzt hatte. Er konnte nur feststellen, daß diese Skepsis von ganz anderer Art war als die Kapperbrunns, da sie ihn nicht von der Erkenntnis abhielt, sondern immer weiter vorwärts trieb in die Unermeßlichkeit des Wissens: nein, er glich nicht Kapperbrunn, der sich spielerisch in sein Ignorabimus zurückzog, sondern er war von diesem Ignorabismus zu immer neuen Vorstößen angestachelt, tief erregt und beunruhigt von der schwankenden Unsicherheit, in die er sich hineinbewegte, und stets gewärtig, auf Überraschungen zu stoßen, die aller Wahrscheinlichkeit widersprechen würden. Allerdings hatten die erwarteten Überraschungen für ihn stets den Charakter mehr oder minder bedrohlicher Katastrophen, und dieses konstante Auf-der-Hut-Sein vor Katastrophen begleitete ihn nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung, sondern überall im Leben; er wartete gewissermaßen bei jedem entgegenkommenden Menschen auf einen aggressiven Irrsinnsanfall, aber nirgends war dieses Gefühl stärker als auf dem täglichen Heimweg zur elterlichen Wohnung, und sooft er die Treppe hinaufstieg, zweifelte er ein wenig daran, ob er die Wohnung droben überhaupt vorfinden würde.

Im Grunde war ihm Weitprecht sympathischer als Kapperbrunn. Ohne Weitprechts sprunghafte Ängstlichkeit zu teilen, lag ihm diese immerhin noch näher als Kapperbrunns Lebenssicherheit, besonders aber war es der ans Unberechenbare grenzende Wunderglaube des Ordinarius, der in ihm eine verwandte Note anklingen ließ, und diese innerliche Zustimmung ging so weit, daß er mit einer Art gegen sich selbst gerichteter Schadenfreude bis zu der Prophezeiung sich verstieg, Weitprecht werde ihm selbstverständlich einen Strich durchs Doktorat machen. Und er war ehrlich erstaunt, als sich die Sache glatt abwickelte und plötzlich die Promotion da war.

Wie sich's gehört, waren die Mutter, Susanne und Otto bei dem feierlichen Akte anwesend, natürlich auch Kapperbrunn, der, wie es nicht anders von ihm zu erwarten war, die Hände in den Hosentaschen, mit unsolennem Feixen dastand. Heiß schien die Sonne in den Promotionssaal. Richard schwitzte unter dem väterlichen Gehrock, den man herausgeholt hatte und der trotz Reparaturen an allen Enden zu kurz und zu klein war. Da sich unter den Doktoranden einige Korpsstudenten befanden, hatten die Verbindungen Delegierte geschickt; in Brille und Wichs mit gezücktem Schläger hatten sie neben der Estrade Aufstellung genommen. Gelangweilt und doch ein wenig an die Kirche gemahnt, vernahm Richard und mit ihm wohl auch die ganze Versammlung die glorreichen lateinischen Worte des Dekans. Jetzt bin ich Doktor, dachte Richard, als ihm vom Dekan das Diplom eingehändigt worden war, und konstatierte, daß sich an seinem schwitzenden Körper keinerlei Veränderung vollzogen hatte; er bewegte die Zehen im Schuh, das steife Plastron des Hemdes wurde langsam weich, scheuerte aber trotzdem an den Brustwarzen, der Kragen klemmte. Mit einem schrägen Blick sah der neue Doktor zur Decke empor: dort thronten, umrahmt von barockalem weißen Stuck als Deckengemälde, die Sapientia, die Alma mater, die Sagacitas, die Scientia, und Mars wie Apollon dienten ihnen in maßloser Verkürzung, während die Historia ihnen ernsthaft zuschaute. Unterhalb dieser Szene wurden Schläger in der Luft gekreuzt, damit irgendwer hindurchschreite.

Er erinnerte sich einer unsagbar langweiligen und erregenden Oper, zu der er aus irgendeinem Zufall als Kind mitgenommen worden war. Er saß auf der Galerie und betrachtete den gelben Stuck der Decke, während unten eine endlose Ouvertüre gespielt wurde. Vielleicht auch war es eine Operette gewesen.

Er erinnerte sich eines Liedes, das ein Leiermann unter ihren Fenstern zu spielen pflegte. Manchmal hatte man ihm eine in Papier gewickelte Münze hinunterwerfen dürfen. War man ihm auf der Straße begegnet, so war es stets herrlich gewesen, die auf den Leierkasten gemalte Mondlandschaft zu betrachten, den Ritter, der zum Schlosse aufschauend die Laute schlug, und an dem Kasten war ein Blechgefäß für die Aufnahme der gespendeten Münzen angebracht.

Er erinnerte sich zweier prunkvoller barockaler Nachttöpfe im Schlafzimmer seiner Eltern. Zwischen ornamentalen Goldleisten waren Blumenstücke abwechselnd mit Schäferszenen gemalt. Die Kinder hatten bloß weiße Nachtgeschirre. Er erinnerte sich des matten Glockenklangs, mit dem nach Beendigung der Feierlichkeiten der schwere Holzdeckel auf den Topf aufgesetzt wurde.

Die Bewegung unter den Anwesenden zeigte, daß auch hier die Feier ihr Ende erreichte. Richard, der noch an der Estrade stand, fühlte seine Hand ergriffen, und es war Weitprecht, der ihm gratulierte, freilich ohne zu wissen, wen er vor sich hatte, denn Richards mühselige Dankesworte quittierte er mit einem befremdeten Blick über die Halbbrille hinweg, als würde er ihn nicht erkennen. Schließlich lag dies im Wesen Weitprechts, aber es lag auch im Wesen dieses ganzen Betriebs, und Richard erinnerte sich Maxwells, der angeblich seine berühmten Gleichungen vergessen hatte, um Jahre später sie nochmals zu entdecken. In der Vielfalt der Welt verirren sich Erinnerung wie Vergessen; und in der Vielfalt der Erkenntnis, in der unübersehbaren Masse der Sachverhalte wird es gleichgültig, woher der Mensch kommt und wohin er strebt, Herkunft und Ziel verwischen sich. Richard suchte im Gedränge nach seiner Mutter, wurde jedoch statt ihrer Kapperbrunns gewahr, der auf ihn zutrat und aller Würde bar ihm auf die Schulter klopfte:

»Na, wie fühlen Sie sich jetzt nach dieser Entbindung, Hieck?«

»Danke, Herr Dozent«, sagte der neue Doktor unangenehm berührt, »aber da ist meine Mutter.«

Nicht einmal »Doktor Hieck« hatte Kapperbrunn sagen können, und die Mutter machte ein Gesicht, als hätte sie nicht viel von dem begriffen, was da vor sich gegangen war, weder von dem ganzen Gepränge noch von den Witzen Kapperbrunns, der an ihrer Seite blieb.

Langsam schob man sich zum Ausgang hin. Zwischen den Köpfen der Leute glaubte Richard einen Augenblick lang die Züge Hilde Wasmuths zu erblicken. Aber sie war es nicht. Hingegen wies Kapperbrunn in irgendeine Richtung: »Sieh mal an, da ist die Erna Magnus.« Man kam nur schwer vorwärts. Es roch nach staubigen Kleidern und nach dem erstickten Schweiß ungelüfteter Zimmer. Eine Frau mit hochrotem Antlitz küßte ihren doktorierten Sohn, der in elegantem Frack, das Cerevis schief auf dem blonden Scheitel, den künftigen juristischen Beamten ahnen ließ. Richard bemerkte nichts von alldem, dies besorgte an seiner Stelle Otto, der die Masse der Menschen als freundliches und ihm gemäßes Element empfand. Otto, der den Geruch in sich einsog und die Frauen beobachtete, bemerkte alles. Er beneidete Richard, der hier zu den Hauptpersonen zählte. Die vielen Füße schlurften auf dem Parkett und dann auf den Fliesen des Stiegenhauses.

Susanne fragte mit hintergründig belustigtem Blick:

»Wird man hier auch Doktor der Theologie?«

»Weiß nicht, mag sein«, gab Richard zurück. Er war enttäuscht. Susanne hatte wieder ihr idiotisch verschlossenes Gesicht. Wo war die Himmelsbraut? war es die Scientia da droben? Sie gingen langsam die ungewohnt breiten Marmorstufen der Freitreppe hinab. Die weißen Stukkaturgewölbe widerhallten von Menschenstimmen und Schritten. Wenn die richtige Schwingung zufällig getroffen wird, kann ein Haus einstürzen. Die Brücke von Freiburg, die vom Gleichschritt einer Kompanie eingestürzt ist. Es gibt auch gefälschte Doktordiplome. Es gibt Punkte des Zufalls, bei denen jede statische Berechnung versagt. Wenn die Stiege einstürzte, sie purzelten alle in ein ungeheures barockales Gefäß, in eine Sparbüchse des Teufels fielen sie, kunterbunt durcheinander, die Mutter und er und Susanne und Kapperbrunn. Ein Gespenstertopf. Nun war er Doktor. Wo ist die Wirklichkeit?

 

4

Gewiß, er hatte ein Gefühl unmerklicher Verwandtschaft für Weitprechts eigensinnig regellose und phantastische Forschungsmethoden, gewiß, er rechnete selber stets mit einem gleichsam logisch-rationalen Wunder innerhalb der Wissenschaft, jenem Wunder eben, dem Weitprechts antilogische Irrationalität unablässig entgegenhoffte, aber Richard Hieck besaß auch einen scharfen und kritischen Verstand, der wissenschaftliche Möglichkeiten sehr wohl abzuschätzen wußte, und so hatte er trotz seiner geheimen, man konnte beinahe sagen sündigen Neigung einiges von Kapperbrunns Verachtung für den Ordinarius übernommen, zu der freilich dessen Gehaben immer wieder herausforderte.

Da er nun zu dem engern Mitarbeiterkreis Weitprechts zählte, war es schicklich, ihm nach dem Doktorat eine Dankesvisite abzustatten. Hieck wäre wohl nicht auf diese Idee gekommen, wenn Kapperbrunn ihn nicht aufgefordert hätte:

»Wenn in Ihnen ein Funke Lebensart steckte, Hieck, so würden Sie Ihre Pflicht erfüllen und unsern alten Herrn mit Ihrem Besuch belästigen.«

Hieck wandte ein:

»Er vergißt mich ja doch von einem Mal aufs andere.«

»Bloß Ihr Gesicht … von den übrigen Körperteilen ganz zu schweigen.«

Sonntag vormittags machte sich Richard Hieck auf den Weg. Er trug wieder den väterlichen Bratenrock.

Weitprecht wohnte in einer netten, etwas entlegenen Straße. An den Gehsteigen war eine Reihe Bäume gepflanzt; die Häuser hatten schmale Vorgärten, die von keines Menschen Fuß je betreten wurden. Richard, längs der Eisengitter marschierend, war – des Bratenrocks halber – mit einem sonderbar gerollten Regenschirm bewaffnet, denn der Himmel war von großen übereinandergeschobenen Wolkentafeln in allen Grauschattierungen bedeckt. Es war schwül und stickig. Richard Hieck fand das Haus.

Auf dem Schild stand: Heinrich Weitprecht, Dr. phil., o. ö. Professor. Hieck schellte. Der vergitterte Glasflügel der Türe wurde geöffnet, das Gesicht eines Dienstmädchens wurde sichtbar. Richard fragte, ob der Herr Professor zu sprechen sei.

Der Flügel wurde geschlossen. Nach einer Weile erschien abermals das Gesicht des Mädchens. Wie der Herr heiße? Richard erinnerte sich mit Mühe seines Doktortitels. Das Mädchen verschwand wieder. Nun dauerte es länger, bis neuerlich Schritte hörbar wurden, aber dafür wurde er dann nicht nur eingelassen, sondern er sah sich nun auch der Frau Professor selbst gegenüber.

»Mein Mann ist ausgegangen«, sagte sie.

»Doktor Hieck«, stellte er sich nochmals vor.

»Ja, mein Mann wird sehr bedauern.«

Richard war unschlüssig, denn auf diesen Fall hatte ihn Kapperbrunn nicht vorbereitet.

»Ist es etwas Wichtiges?« sagte sie, da sie sein betretenes Gesicht bemerkte.

»Ich habe kürzlich doktoriert …«, war alles, was er zu antworten wußte.

»Ach, Sie sind ein Schüler meines Mannes«, sagte sie freundlicher, und als Richard nickte, »vielleicht warten Sie, es wird nicht gar so lange währen.«

»Ja, danke«, sagte Richard erleichtert.

Er wurde in eine bürgerliche Wohnstube geführt. Ein Schreibtisch stand dort. Zum Unterschied von dem in Weitprechts Institutszimmer herrschte darauf die korrekteste Ordnung. Aber es war Weitprechts Schreibtisch; Richard erkannte die dünne schüchterne Handschrift auf einem Stoß sorgsam geschichteter Blätter.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Frau Professor Weitprecht, und mit der Gewandtheit einer stehenden Formel: »Ich gratuliere zum Doktorat.«

Richard, bereits sitzend, den Regenschirm und den steifen Hut in der Hand, zog den Bauch ein und machte mit dem Oberkörper einen Ruck nach vorn, was Danke bedeuten sollte.

»Sie schlagen die akademische Laufbahn ein?«

»Ich bin wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Sternwarte … vorderhand.«

»Ich warne alle jungen Leute vor der akademischen Laufbahn.«

Sie hatte ein fahles Gesicht, sorgenvolle und kummerbereite Augen und einen bissig verkniffenen Mund, in dem man das hellweiße Perlenporzellan falscher Zähne bemerkte. Aber sie dünkte Richard sehr elegant angezogen; ihr Kleid war aus blauer Seide.

Unvermittelt seufzte sie: »Ach ja.« Und hierauf ließ sie ihn allein.

Richard betrachtete die Bücher, die geradlinig und sauber abgestaubt in den Regalen standen, erkannte einige, die Weitprecht ihm privat geliehen hatte. Dann hörte er die Flurtüre gehen, und gleich darauf trat der Hausherr ein.

Daß Weitprecht ihn erst verständnislos über die Halbbrille ansehen werde, das war er gewohnt und hatte er erwartet, daß er aber bloß kurz »Guten Tag, guten Tag« sagte und sich sofort zum Schreibtisch begab, um die dortliegenden Papiere durchzusehen, das war eine neue Nuance. Und ebenso, daß er sofort wieder zur Türe stürzte:

»Grete«, rief er hinaus, »Grete.«

Frau Professor Weitprecht kam aus dem Nebenzimmer:

»Was willst du von dem Mädchen, Heinrich, es ist beim Zimmermachen.«

Weitprecht deutete hilflos zum Schreibtisch:

»Hier fehlen zwei Blätter.«

Frau Weitprecht ging zum Schreibtisch:

»Und das?« sagte sie scharf, indem sie unter einem Briefbeschwerer zwei Blätter hervorzog und sie hochhob, »sie sind einzeln gelegen, und da haben wir den Briefbeschwerer darauf getan.«

Im Gesicht Weitprechts erschien etwas Verprügeltes, aber gleichzeitig schimmerte die Freude über die wiedergefundenen Blätter als ein unsichtbares und beinahe jungenhaftes Lächeln um den Mund.

»Hast du Herrn Doktor Hieck schon begrüßt?« Ihre Stimme hatte einen Nebenklang von Verzweiflung.

Allsogleich wandte er sich mit seiner ganzen Liebenswürdigkeit dem Gaste zu und streckte ihm beide Hände entgegen:

»Verzeihen Sie … ich freue mich, was führt Sie zu mir?«

Er erkennt mich nicht, dachte Richard und stoppelte seinen Dank zusammen.

»Ja«, sagte Weitprecht und lächelte freundlich, »vor Ihnen liegt das Leben, das ganze lange Leben … ja …«, und dann nahm er rasch eine Akademieabhandlung, die vor ihm auf dem Tische lag: »Haben Sie das schon gelesen? die neue Mitteilung von Bohr.«

Nein, er hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen.

»Sehr bedeutsam, sehr bedeutsam«, sagte Weitprecht, »von allen Seiten fügt es sich zusammen, es geht alles auf das gleiche Ziel los.«

Er spielte selbstverständlich auf seine eigenen Arbeiten an. Richard war hier im Bilde. Er sah keinen Zusammenhang. Aber er nickte.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Weitprecht, und leiser, wie eine nebensächliche, aber notwendige Feststellung, die einmal geäußert werden muß: »… ich habe nämlich nicht mehr viel Zeit.«

In menschlichen Dingen begriff Richard langsam. Er rechnete die Zeit bis zu den Sommerferien. Als hätte er Sand unter den Füßen, begann er mit dem Regenschirm auf dem Parkettboden zu kratzen. Unbehaglich sah ihm Weitprecht zu, die Metallspitze des Schirmes war scharf; schließlich sagte er zögernd: »Meine Frau …«, verstummte aber sofort, als Richard, zu ihm aufschauend, seine Tätigkeit einstellte. Das abwesende und doch freudige Lächeln wurde wieder sichtbar: »Hätte ich noch Zeit vor mir, ich würde mich mit mengentheoretischen Funktionen befassen … sagten Sie nicht, daß Sie dies getan hätten?«

»Ja«, sagte Richard, »das habe ich getan.«

»Arbeiten Sie weiter«, sagte Weitprecht. Hieck glaubte, daß nun eine neue Aufgabe kommen werde; indes Weitprecht, die Akademieabhandlung in nervösen Händen, sprach ausnahmsweise nicht von den eigenen Untersuchungen: »Arbeiten Sie weiter, ehe es zu spät ist, wir Physiker dürfen uns nicht mehr auf unser Gebiet beschränken, man bewältigt es sonst nicht …«

Von ferne ahnte Richard das reiche und doch verpfuschte Leben dieses Mannes. Er hatte kein Mitleid mit ihm; er verachtete ihn, verachtete ihn jetzt erst recht. Er war viel zu sehr eingesponnen in sich selbst, um einen andern zur Kenntnis zu nehmen, um mit ihm Mitleid zu haben. Er warf einen schrägen Seitenblick auf den Lehrer, der freundlos dasaß und einen Freund suchte. Merkwürdigerweise fiel ihm zu alldem bloß der Vater ein; niemand war bei dem Vater gewesen, nicht einmal die Mutter, als er starb. Im Nebenzimmer rumorte die Frau Professor, und er stellte sich vor, daß sie dies ebenso tun würde, während Weitprecht hier sterben würde.

»Ja«, sagte Weitprecht, »Sie kennen wohl Kapperbrunns Ausspruch, die Mathematik sei nicht die Magd der Physik, sondern ihre Königin … da hat er eigentlich recht.«

»Vieles ist vom Experiment aus entdeckt worden«, sagte Hieck, »beinahe alles.« Obwohl dies tatsächlich stimmte, war es eine Erkenntnis, die ihm, der alles vom mathematischen Denken her bewältigen wollte, wider den Strich ging, und er sagte es auch bloß, weil er das Tasten nach einem persönlichen Kontakt, das er in Weitprechts Reden unbestimmt fühlte, als unheimlich empfand. Er wollte ins gewohnte Gleis zurück, und so sagte es sich gewissermaßen ganz von selbst: »Die Gruppentheorie zum Beispiel …«

Weitprecht sprang richtig ein:

»Ja, kommen Sie damit zu Rande …?«

Richard sagte wahrheitsgemäß:

»Das Thema erweitert sich immer mehr und mehr … Doktor Kapperbrunn hat die bisherigen Ergebnisse meiner Arbeit an Crelles Journal geschickt …«

Weitprecht nickte:

»Ich weiß … ja, ich glaube, Sie sprachen doch davon …«, und mit einem furchtsamen und bösen Blick: »Wir werden's nicht zu Ende bringen … es wird nicht mehr gehen.«

Er sah verfallen und alt aus. Er war zu lange jung geblieben.

Hieck empfahl sich. Weitprecht begleitete ihn hinaus. Es regnete in dicken senkrechten warmen Fäden. Unter dem schwarzen Baumwollschirm ging Hieck nach Hause.

 

5

Das Wetter blieb nun trüb. Der Fluß führte beinahe so viel Wasser wie sonst nur im Vorfrühling. Der Stadtweiher, der große Stauteich der alten Stadtmühle, war bis zum Rande gefüllt. Über das Wehr bei seinem Ausgang stürzte ein dichter glatter Wasservorhang.

Der fast unbewegte, ein wenig ölig schimmernde dunkle Spiegel des Weihers – ein bleiern punktiertes Sieb, wenn es regnete – war von feuchten Wiesen umgeben, auf denen Disteln und Dotterblumen wuchsen. Am Südufer gab es eine etwa zehn Meter hohe Böschung, auch sie dicht mit Grün bewachsen, mit einem vor Feuchtigkeit so satten Grün, daß es ins metallisch Stahlblaue spielte. Die Maulwurfhügel im Gras waren weich und samtig. Einige Haselbüsche standen am Abhang.

Es war eine für Otto wichtige Gegend. Einesteils weil oberhalb der Böschung der Fußballplatz seines Klubs lag, andernteils weil den Ufern des Stadtweihers traditionsgemäß eine bedeutende Rolle im erotischen Leben der Stadt zukam, verklärt von der romantischen Erinnerung an Selbstmörderinnen, welche die feststehende Drohung, in den Stadtweiher zu gehen, wahrgemacht hatten. So sehr auch die beiden Schwestern Susanne und Emilie verschieden gewesen sein mochten, in ihren düsteren Vorstellungen und Erzählungen vom Stadtweiher hatten sie übereingestimmt und in Otto ein herrlich begeistertes Publikum dafür gefunden. Und wenn im Herbst der Teich gekehrt wurde, hatte Emilie niemals verabsäumt, den kleinen Bruder an der Hand zu nehmen und mit ihm hinauszuwandern, lüsterner Erwartungen voll, es würde aus dem grünen Schlamm und gelben Lehm der Arm oder das Bein einer vergessenen Selbstmörderin herausragen. Die Gepflogenheit solch erwartungsvoller Teichinspektion war von Otto beibehalten worden auch dann noch, als Emilie schon längst die Stadt verlassen hatte.

Zu diesem primitiven, aber soliden Grundstock an Phantasien gesellten sich später üppigere Träume, die sich gleichfalls um den Mühlweiher rankten: da war zum Beispiel das reiche Mädchen, das zur Not auch eine reiche Witwe sein durfte und zu deren Obliegenheiten es gehörte, in rasendem Liebesschmerz um den jungen und genialen Kunstmaler Otto Hieck den unerbittlichen Weg in den Weiher anzutreten, auf daß sie mit einem hinterlassenen Testament die Zukunft und die römische Ausbildung des jungen Genies sicherstelle. Dabei blieb unentschieden, oder richtiger, es blieb je nach Laune zu entscheiden, ob der Selbstmord bei Nacht und Nebel oder vor den Augen des Geliebten zu erfolgen hätte. Die erste Alternative bot den Vorteil der späteren Leichenauffindung anläßlich der Teichkehrung, die zweite jedoch gab dem kühnen und edlen jungen Mann die Gelegenheit, sich in die Fluten nachzustürzen und einen mutigen Rettungsversuch zu unternehmen, der nun wieder einerseits glücken, andererseits mißglücken konnte. Otto wählte stets mit Bedacht unter diesen Möglichkeiten: er konnte mit seinen glühenden Küssen und seiner leidenschaftlichen, unter den Kleidern kosenden, leichenschänderischen Hand die bereits Leblose dazu bewegen, die Augen aufzuschlagen und, im Himmel sich wähnend, die Arme um seinen Hals zu schlingen, so daß sich auf der Böschung das vollzog, was sich seit Menschengedenken stets dort vollzogen hatte; aber da nach so viel Todesgefahr und Errettung eine nachfolgende Eheschließung unausbleiblich schien, um so mehr als bei Weiterbestand der Dame bloß deren Gatte in den Genuß des erstrebten Vermögens treten konnte, und da Otto sogar in seinen Phantasien solch eheliche Eindeutigkeit scheute, entschloß er sich zumeist, die Dame im Zustand des Todes zu belassen, sie vielleicht mit Hilfe der Klubgenossen auf den Anger zu betten oder sie zum Klubhaus hinaufzutragen und nur noch mit raschem Stift die edlen Züge des toten Mädchenantlitzes auf den Zeichenblock zu bannen, im übrigen aber die Eröffnung des Testaments und die Erbschaft abzuwarten.

Freilich, das blieben häusliche Phantasien, und wenn Otto im Weiher badete oder droben auf dem Fußballplatz sich befand, da waren die erotischen Fähigkeiten des Weihers verblaßt.

Die Ankleideräume des Klubs waren in der primitiven Zuschauertribüne untergebracht. Der Eingang befand sich an der Schmalseite: es war ein langer und breiter Korridor, der tunnelartig das ganze Gebäude durchzog, die Decke stieg, den Sitzreihen entsprechend, stufenförmig aufwärts, und links lagen die Ankleidekojen, die Duschen und der Ruheraum. Durch die Ritzen der Holzdecke konnte man an manchen Stellen das Tribünendach sehen.

Es war Trainingsspiel der Juniorenmannschaft gewesen, und Otto stand jetzt unter der Dusche. Laukühl floß das Wasser über seinen braunen schlanken Körper, er stand mit gespreizten Beinen, bog sich vor und zurück, sah, wie das Wasser, zu einem schmalen Bach gesammelt, zwischen seinen Beinen auf das Lattengitter hinabrieselte und darunter auf dem braunen Betonboden eine kleine Lache bildete, ehe es gurgelnd durch den Ablauf verschwand. Er spürte, wie der Geruch des Schweißes davongeschwemmt wurde, er legte die Wange an seine glatte Schulter und gab der Schulter einen Kuß, worauf er sich umsah, ob dies auch niemand bemerkt hatte. In den Kojen und auf dem Korridor draußen wurde gelärmt. Die Tritte hallten auf dem Bretterboden. Zwei Stimmen bemühten sich, in Doppelklang »Ich küsse Ihre Hand, Madame« zu singen.

Walter Ritter von der ersten Mannschaft, der Trainer für die Junioren, trat in den Duschraum. Splitterfasernackt, bloß mit seinem Rasierzeug ausgestattet. Athletisch gebaut, mit schmalem Becken und breiten Schultern, die starken Beine etwas gekrümmt und nach einwärts gestellt, war er über und über behaart. Seine Haut stank nach zoologischem Garten, seine Fußballerfüße waren merkwürdige und gewalttätige Gewächse, wie zwei selbständige Wurzelgnome, die ihn spazierentrugen. Otto schauderte, daß seine eigene glatte Frauenhaut auch einmal zu solch rauhem stinkenden Leder werden könnte; er hob abwechselnd das rechte und das linke Knie, um die Schenkel berieseln zu lassen, in Wirklichkeit aber, um seine Blöße zu decken.

Ritter zog an der Schnur der zweiten Dusche, benetzte seinen Rasierpinsel und begann sich einzuseifen.

»Wie lang wirst du da noch herumtanzen, du Arschgesicht«, sagte er freundlich und blies die linke Wange zum Rasieren auf.

Otto bückte sich und ließ das Wasser über den Rücken spülen.

»Kommst du abends ins Café?« gab er zur Antwort, um seine Gleichberechtigung zu dokumentieren. Ritter fehlte niemals dort; es gab immer eine Reihe von Weibern, die ihm, dem Star, dessen Bild in allen illustrierten Zeitungen zu bewundern war, beharrlich nachliefen. Otto verstand diese Frauenhuldigung, aber er verstand sie trotzdem nicht, wenn er an die Haut Ritters dachte und an die schadhaften Zähne in seinem widerwärtigen Mund. Der Mund war grob geschlitzt, die Lippen bräunlich und schmal wie aus altem Kautschuk. Die kurze Nase darüber zeigte zwei schwarze Löcher. Er hielt sie jetzt hoch, weil er die Oberlippe rasierte.

Sein Handtuch vom Haken nehmend, verließ Otto den Duschraum. Ritter schrie ihm nach:

»So ein Lausbub wie du hat im Café überhaupt nichts verloren, aus euch kann kein Teufel eine anständige Mannschaft machen.«

Otto zog sich an. Seine übertrieben weiten Knickerbockerhosen reichten beinahe bis zum Knöchel. Ein grellgelber rotgeränderter Pullover ohne Ärmel vervollständigte seine Toilette. Er sah wie ein Papagei aus. Glatt nach rückwärts gestrichen, klebten seine langen nassen Haare am Schädel. Beim Ausgang zündete er eine Zigarette an. Karl Wohlfahrt erwartete ihn bereits.

Der späte Juniabend hing trüb und niedrig über den Wiesen. Die beiden Burschen gingen rauchend über den feuchten Fußballplatz und debattierten technische Details des heutigen Spiels.

»Verflucht, es wird wieder regnen«, sagte Karl und deutete auf den Flug der Schwalben.

Otto schmiß die Zigarette fort und atmete die graue Abendluft ein. Mild und feucht füllte sie seine vom Tabak häßlich gegerbten Lungen. Er beschloß, nie mehr zu rauchen. Der süße Abend machte ihn traurig, die gesunde Sentimentalität der Mutter erwachte in ihm:

»Weißt du, was der schönste Tod ist?«

»Ja, gehenkt werden … du weißt schon warum.« Karl lachte dreckig.

Otto hatte was anderes gemeint, obwohl es irgendwie ähnlich war, nur etwas weniger mörderisch, sondern mehr dahinschmelzend in einem Ewigkeitskuß. Aber wahrscheinlich ist es das nämliche, und deshalb schwieg er.

Sie überschritten die weiße Outline, sprangen über die Holzbarriere des Platzes. Der Boden war hier von den Füßen der Zuschauer kahlgetreten und lehmig. Dann kamen sie zur Böschung, die zum Stadtweiher hinunterführte. Sie versuchten, sich gegenseitig hinunterzustoßen, und dann setzten sie sich in Trab und kamen in langem Auslauf unten an.

Karl zündete eine frische Zigarette an, Otto folgte seinem Beispiel. Weit und sanft geschwungen lag die Landschaft um sie, rechts die grauen Häuser der Stadt, links die Ebene, in der sich die Weidenreihe des Flußufers verlor. Ottos Malerauge war zweifelsohne ein Kreuzungsprodukt aus dem Unwirklichkeitssinn seines Vaters mit dem auf die Tatsachen des Lebens gerichteten und an den Tatsachen sentimental werdenden Geist der Mutter. Im Westen stand die Wolkenwand, sie war porzellanartig durchscheinend geworden, von strahlendem Schwarzblau bis zu einem appetitlichen Orange, das an die Bargetränke im Café gemahnte. Für den, der es sehen konnte, war es ein erhabener Anblick. Otto sah ihn.

»Das Sparkassenbuch ist auf meinen Namen«, sagte Karl beutelustig, »das Geld wird mir ohne weiteres ausbezahlt, wenn ich bloß das Buch habe.«

»Dreihundert Mark«, sagte Otto.

»Ja, beinahe.«

Karl war ein langer Bursche mit krausen blonden Haaren über einem länglichen und ein wenig farblosen Gesicht. Im gleichen Alter wie Otto, besuchte er die technische Gewerbeschule. Er hatte das Projekt eines Fußballwettbüros ausgeheckt, das er zusammen mit Otto führen wollte, sofern es ihnen gelänge, das notwendige Kapital aufzutreiben. Er lebte bei seinen Großeltern in der Stadt, und er wußte von einem Sparkassenbuch, das für ihn angelegt worden war.

Ottos realitätsbesessener Unwirklichkeitssinn war durchaus bereit, auf den anrüchigen Handel einzugehen. Er hatte kein Gefühl für Gut oder Schlecht. Wenn er einen Vorteil für sich witterte, war ihm jedes Argument recht; es war ihm gegeben, in jedes moralische System, und mochte es auch das des Satans selber sein, hineinzuschlüpfen, und er tat es, ohne es zu bemerken. Das Widersprechendste fand in seiner Seele Platz, man konnte sagen, daß er seit seiner Geburt ein Doppelleben führte, mehr noch, ein dreifaches, ein vierfaches Leben, das ungeachtet seiner praktischen Nüchternheit dennoch zum Objekt der Realität wurde, Untertan allen Realitätsfakten, wie immer sie sich darboten, und mit ihnen nur deshalb so sehr vertraut, weil sie in ihm zur Unwirklichkeit und zum Phantastischen umgeschmolzen wurden.

»Ja«, sagte er, »da hilft nichts, da werde ich eben auch dreihundert klauen müssen.«

»Hieck«, sagte Karl Wohlfahrt ernst, »ich klaue nicht, das Geld gehört mir.«

»Das ist alles eins«, sagte Otto überzeugt.

Louise Grubicht spazierte am Weiher entlang.

»Ach so«, sagte Karl, »jetzt verstehe ich, warum du da runter mußtest, na, was zahlst du, wenn ich euch allein lasse?«

Otto lächelte böse:

»Was? ich soll dir was zahlen …? Gib du nur fein acht mit deinem Sparkassenbuch.«

Es dauerte eine Weile, bis Karl Wohlfahrt die Infamie begriff.

»Schwein«, quittierte er sie.

»Selber eines«, lachte Otto und puffte ihn in die Rippen. Einträchtig gingen sie auf Louise zu, und Karl bedauerte sehr, daß er nun leider heim müsse. Er verabschiedete sich artig und erwachsen, doch ehe er sie verließ, gelang es ihm, Otto einen gehörigen Fußtritt zu versetzen. Klar und einfach war in ihrem Lausejungenverhalten das Bild der erwachsenen Infamie vorgezeichnet. Aber das wußten sie nicht. Sie schieden in Freundschaft, während Louise ebenso artig wartete.

Grün, nächtlich und groß schimmerte der Spiegel des Teiches, grün und groß und dunkel schimmerte der Abend, an dessen Rand sie dahinschritten.

Louise war Assistentin in einem photographischen Atelier, und sie hatte Otto beruflich kennengelernt. Sein Zeichentalent hatte mächtigen Eindruck auf sie gemacht. Sie war sechzehn Jahre alt, hatte braune Haare, veilchenblaue Augen, und für den Spaziergang hatte sie sich die Lippen geschminkt.

Otto hätte gerne gesagt: ich habe keine mit Haaren bewachsene Reibeisenhaut wie Ritter, ich bin unter meinem Hemd ganz glatt.

Und Louise hätte gerne gesagt: ich habe keine Hängebrüste wie meine Chefin, die immer mit Männern telephoniert, und die Haut in meinen Achselhöhlen ist rosa und nicht braun und faltig wie bei ihr.

Aber Otto sagte bloß: »Haben Sie auch schon den neuen Garbo-Film gesehen? … prachtvolle Sache.«

Und sie log: »Ja … eine große Künstlerin.«

Sie hatten ihn beide nicht gesehen.

Als es dunkler wurde, hielten sie sich an den Händen. Aus den feuchten Wolken wehte mild und sanft die Einsamkeit alles Menschlichen, die Nacht, aus der sie kamen und in die sie gingen.

 

6

Was Richard immer wieder erschütterte, war das Mißverhältnis zwischen Tun und Getanem. Ströme von Helligkeit gossen sich in sein Gehirn, verzweigten sich in den Nerven und in den Adern, machten sein Blut leicht und seine nach innen gerichteten Augen fernsichtig, jedoch das Resultat dieses glänzenden Aufwandes war bestenfalls irgendein wissenschaftliches Theorem geringen Umfangs, war etwas, das man einen mathematischen Satz nennen konnte – kaum der Mühe wert, daß man ihn veröffentliche –, war oftmals nur die Lösung einer kleinen, für den Zusammenhang eben notwendigen, an sich aber belanglosen Aufgabe. Und selbst wenn die kühnsten Lebenshoffnungen sich erfüllen ließen, wenn es gelänge, eine neue mathematische Disziplin zu erfinden, gleich Leibniz die Infinitesimalrechnung, gleich Cantor die Mengenlehre, wenn es gelänge, dem Wunder der Dimensionalität auf die Spur zu kommen, eine axiomlose Logik zu entdecken, was würde das schon besagen: das Erreichte, es bliebe immer nur ein geringer und geringfügiger Teil des unbezwinglichen Erkenntnisgebirges, es bliebe immer nur ein geringer Teil des ahnenden Erlebens und der unendlichen und kosmischen Fernsicht, ein kleiner beschreibbarer Teil des ewig Unbeschreibbaren. Wie überall hat die Natur im Produktionsprozeß ein ungeheures Aufgebot bestellt, das milliardenfach das schließlich erzeugte Resultat übertrifft.

Wenn er abends daheim beim geöffneten Fenster saß, wurden mit dem absterbenden Straßenlärm alle Töne traumhaft klar: eine Männerstimme oder ein Frauenlachen oder auch bloß das schwermütige Rollen eines Lastautos über das Pflaster oder ein einzelnes Hupensignal konnten dann ganz isoliert im Raum stehen, von nichts gehalten, von niemand hervorgebracht, und der solcherart selbständig gewordene Ton war so stark, daß man meinen mochte, es wäre dieser Ton die Nabe des Weltrads und der Raum kreise um ihn. Und verwunderlich und ohne sich eigentlich darum zu kümmern, wußte dann Richard, was der Glockenklang der Kathedralen über den Städten bedeutete und was Musik dem Menschen sein konnte. Aber er wollte darüber nicht nachdenken, er verschob es auf später. Sein Asketengesicht zog sich zusammen: zu reich war die Welt, erst mußte das Logische erledigt werden.

Nichtsdestoweniger war es nicht ganz ehrlich, und er wußte auch darum. Denn von den Stimmen des Irdischen, die er also zugunsten der reinen Spekulation ablehnte, lehnte er keine so sehr ab wie das Lachen der Frauen, wenn es durch das Fenster zu ihm heraufdrang. Und hätte er völlig ehrlich gegen sich sein können, so hätte er erkannt, daß es immer dieses Frauenlachen war, das ihm in allen Tönen der Erde mittönte, das ihm in aller Musik mitmusizierte, das er in allem Glockenklang mitklingen hörte. Aber so wenig er sich dies auch eingestand, er empfand es als sündig, und nicht nur, daß ihm das Mathematische als Rettung vor der Sünde erschien, sondern er war auch überzeugt, daß innerhalb des Mathematischen bloß von jenem Menschen etwas geleistet werden könne, der sich von allem Sündigen, oder wie man es sonst nennen wollte, rein hielt. Darum fand er sich auch stets bereit, Kapperbrunn, der allem Weltlichen so unverhohlen zugekehrt war, die letzte mathematische Würde abzusprechen, immerzu voller Argwohn, es verberge sich irgendein Schwindel hinter dem Können und den Leistungen des Dozenten. Ganz zu schweigen von den Studenten und Studentinnen im Kolleg, deren oftmals nicht sündefreies Treiben er aus nächster Nähe beobachtete und von denen ja tatsächlich sehr viele ohne innere Notwendigkeit und bloß deshalb sich der Mathematik zugewandt hatten, weil sich in dieser Disziplin augenblicklich die meisten freien Mittelschullehrerstellen vorfanden. Und der Gedanke ließ ihn nicht los, daß auch Kapperbrunn aus ähnlichen Gründen an die Mathematik geraten war.

Was aber die übrige und nicht mathematische Welt anlangte, so war seine Verachtung für diese vollständig und maßlos.

Susanne allerdings ließ er trotzdem weiter gelten. Sooft es mit seiner Arbeit nicht recht vorwärtsgehen wollte, suchte er die Schwester in ihrer Kapelle auf, verachtungsvoll und doch mit einer leisen und vagen Hoffnung, etwas geschenkt zu erhalten, eine Kraft und eine Art Befruchtung, die – vielleicht ein Teil von Susannens großer Sicherheit – ihm aus dieser fremdesten Sphäre zuströmen würde. Susannens große Ruhe und Sicherheit: unverständliche Tierhaftigkeit innerhalb einer noch unverständlicheren Geisteswelt, es war verächtlich und geheimnisvoll zugleich, und selbst wenn Susanne manchmal Unbegreifliches oder einfach Dummes daherredete, so steckte immer noch mehr darinnen als in der durchsichtigen Gleichgültigkeit der Mutter. Für die Mutter war die Mathematik eine Beschäftigung wie jede andere, Susanne hingegen, die sicherlich auch nicht mehr von Mathematik verstand, sondern nur darauf wartete, daß er schließlich alles lassen und sich dem Religiösen zuwenden würde, Susanne wußte um die Wichtigkeit und den Ernst seines Strebens. Und obwohl er über sich selber lächelte, stets aufs neue lockte es ihn, seine mathematischen Probleme, seine wissenschaftlichen Ziele mit Susanne zu besprechen, mit ihr, die so meilenweit von diesen Dingen entfernt war, ja, es lockte ihn, sich ihr und ihrer Sicherheit unterzuordnen wie einem unbewußten Orakel. Er tat es nicht, und sie hätte sich auch niemals solches Urteil angemaßt. Und hätte sie es gewagt, er wäre ihr wahrscheinlich sehr bald über den Mund gefahren. Denn nur im verborgensten Teil seiner Seele stand die Schwester an der Pforte des Geheimnisses, ein unerschütterlicher Wächter, geschlossenen Auges, aus der Nacht auftauchend, dennoch Wächter, so wenig auch ihr Geheimnis das seine war. Einsamer Glockenklang der Seele, unbegreifliche Quelle der Kraft.

Aber sie sprachen von gleich zu gleich miteinander, vieles aneinander gering schätzend, vieles aneinander achtend.

»Nein«, sagte sie, »man dürfte den Kleinen nicht weiter so herumlaufen lassen, er verkommt sonst rettungslos.«

Richard zuckte die Achseln: »Ich kann ihn nicht mehr bändigen … aber sei versichert, daß er es leichter im Leben hat als wir beide.«

»Mit Mathematik allein läßt sich eben ein Mensch nicht erziehen … es gibt mehr«, sagte sie.

»Ich weiß«, gab Richard verträglich zu.

Die Stube war dunkel; doch an der Wand, noch im Lichtkreis der Lampe, war auf einem gestickten Hausspruch zu lesen:

 

Du bist mein Gott,
ich bin Dein Knecht.

 

Richard hielt seine Augen darauf geheftet: ja, ein Knecht ist auch er, doch wo ist der Gott, dem er dient? unentrinnbar zum Dienen angehalten, vorwärtsgestoßen in immer härtere Fron, in die Fron einer Erkenntnis, die er nicht zu erfassen vermochte, dies war sein Los. Lebten er und Susanne wirklich? führten sie nicht ein Scheinleben? mühten sie sich nicht um einen Scheintod? war es nicht Otto, der wirklich lebte? ach, Otto hatte es leichter.

Aus der Nacht kamen sie, in die Nacht gingen sie.

Susanne sagte:

»Mutter könnte etwas mehr achthaben auf ihn, aber sie ist in letzter Zeit so merkwürdig.«

»Sie hat ihn immer verzärtelt«, sagte er.

»Der Vater hat ihm gefehlt«, sagte Susanne.

Das war sein Glück, wollte Richard sagen, indes er verschwieg es. Als der Vater gestorben war, hatte die Mutter gesagt: Nun mußt du ihn bei dem Kleinen ersetzen. Es war etwas Unanständiges in dieser Aufforderung, und innerlich hatte er sie sofort mit aller Entschiedenheit abgelehnt, fühlte sich aber trotzdem schuldbewußt, ihr nicht nachgekommen zu sein.

Breithüftig, breithinterteilig, breitbusig saß Susanne da. So sahen die Frauen aus, mit denen er sich bisher abgegeben hatte, nur daß sie auch breite träge Gesichter hatten, während das Susannens scharf und streng war. Mit diesem Gesicht hätte sie ohne weiteres ins mathematische Seminar gepaßt, besser als die meisten der Gänse, die sich dort befanden und die ihm – bloß weil sie von der strengen und männlichen Luft der Wissenschaft eingehüllt waren – nicht als Frauen galten. Das böse Licht der Dunkelheit webte um Susanne, und gleichzeitig ruhte der Strahl der Helligkeit auf ihr.

Susanne schaute von der Strumpfstopferei auf, rieb sich die Augen: »Es ist spät geworden.«

»Er ist wieder nicht zu Hause, der Bengel«, sagte er.

»Wir haben alle an ihm gesündigt«, sagte sie stuff.

»Himmlischer Vater«, Richard warf einen schrägen Blick zu der bilderbespickten Wand.

»Du sollst nicht lästern«, verwies ihn Susanne.

Man merkte, daß sie sich offenbar als eine Art Repräsentanz einer übergeordneten Väterlichkeit fühlte, jenes Übervaters, der, in der Sternennacht thronend, die Sternennacht selber ist. Unsinniger Zusammenhang, dachte Richard und verspürte wieder die Einsamkeit des Klanges. Sterne im Wasser. In dieser kleinen Wohnung sitzen wir beisammen. Beinahe eine Million Lichtjahre ist es bis zum nächsten Spiralnebel. Otto sündigt, er ist noch nicht zu Hause. Einsamer Klang einer Stimme: o dunkler Schoß.

»Letzten Sonntag ist er mit mir zur Kirche gegangen«, sagte Susanne mit einigem Stolz.

»Er wird schon ein Mädchen dort gehabt haben«, Richard merkte, daß auch Kapperbrunn dies hätte sagen können.

Susanne wurde eifersüchtig: »Er war mit mir.«

Sie war verbissen, wie er selber: sie waren beide düstere Optimisten. Kapperbrunn in seiner Fröhlichkeit war pessimistisch. Das war Richard plötzlich klar: erst die Resignation macht heiter, wer aber noch hofft und strebt, dem ist keinerlei Heiterkeit vergönnt; die Totalität ist eine verteufelte Sache. Wahrscheinlich war der kleine Bengel auch schon resigniert.

»Eine verteufelte Sache«, sagte Richard, Kapperbrunns Diktion beibehaltend.

»Was?« sie hatte den hintergründig belustigten Blick, den er kannte und der ihn doch seltsam beunruhigte.

»Beim nächsten Kirchgang werde wohl auch ich noch mit dabei sein müssen.«

»Dir rede ich nicht zu, du wirst schon von selbst kommen.«

Das Strohgeflecht des Stuhles, auf dem er saß, knirschte, wie es schon an so vielen Abenden, an unzähligen Abenden geknirscht hatte. Drüben schlief die Mutter, wie sie immer geschlafen hatte, in ihrem kittelartigen zerknitterten Nachthemd, schlief in dem Bett, das der Schauplatz seiner Zeugung und Geburt gewesen war. Viele Bäche des Lebens waren seitdem in ihn eingeflossen, und ununterscheidbar flossen sie jetzt in ihm dahin. Er erinnerte sich an die Geburt Susannens, er zählte damals fünf Jahre, Rudolf und Emilie waren schon vorhanden, und er erinnerte sich der Angst, die damals über dem Haus gelastet hatte. Und dann, als die Angst sich gehoben hatte und man zur Mutter gerufen worden war, da war es nichts, bloß ein neues Geschwister war vorhanden gewesen. Und das war Susanne. Gottes Mühlen mahlen langsam, fiel ihm ein, vielleicht wird die Ursache der damaligen Angst noch wirksam werden, vielleicht wird es noch nachgetragen, und Susannens Frömmigkeit schien ihm fast wie ein Versuch, das bereits historisch gewordene Unheil abzuwehren.

»Man wird seine Sünden nicht so einfach los«, sagte er und stand auf. »Ich muß wieder an meine Arbeit.«

»Du wirst doch nicht meinen, daß der Glaube etwas Einfaches ist«, antwortete sie, neuerlich über das Stopfholz gebeugt, »Gott ist einfach.«

Gott ist in allem Sichtbaren und ist außerhalb des Sichtbaren, er ist die Kirche und ist über der Kirche.

Was ging in Susanne vor? Zwischen ihm und ihr bestand der gleiche Altersunterschied wie zwischen ihr und Otto, fünf Jahre, so alt war sie, als Otto zur Welt kam. Er war geneigt, sein Verhältnis zu ihr auf das ihrige zu Otto zu übertragen: Ähnlichkeit geometrischer Figuren, mußte er denken, obzwar er wußte, daß die Dinge des Lebens sich nicht so einfach abspielen und noch viel weniger sich so einfach abbilden lassen.

»Nichts ist einfach«, sagte er.

In die Stille der Nacht münden alle Bäche des Lebens, alle Bäche des Erinnerns und Vergessens. Auf die Erde hingeworfen, atmet der Mensch, und sein Traum steigt von der Erde aufwärts. Atmet der Raum? weitet er sich ins Milliardenhafte, zieht er sich zusammen auf jenen kleinsten Punkt, in dem der Raum unräumlich wird, sich in die Einsamkeit des Klanges wandelnd?

Susanne sagte: »Ich habe eine Tür gehen hören … ich glaube, es ist Otto.«

Otto war das Kind der fünfjährigen Susanne gewesen, so wie Susanne sein Kind gewesen war. So weit stimmte es, nichtsdestoweniger war es ihm nicht recht. Susanne gähnte mit der gleichen schlaffen Gebärde, die er an der Mutter kannte.

Nacht für Nacht zur Erde zurückkehren, ihren Glockenklang vernehmen, den Klang, der anschwillt zur Ganzheit, zum Ahnen der Ganzheit und doch nichts zurückläßt als eine kleine Erkenntnis: dies war alles, was man verlangen durfte. Eine Million Lichtjahre, tausend Millionen Lichtjahre, das ist eine Zahl wie jede andere.

Er berührte mit zaghaft ungeschicktem Finger ihre Schulter:

»Du, geh jetzt schlafen. Du bist müde. Gute Nacht.«


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