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Der trübe Vorsommer war unmittelbar in dröhnende Hitze übergegangen. Die Anlagen in der Stadt wurden matt und überflüssig, sie waren keineswegs mehr das Lebendige im toten Steinmeer, das sie sein sollten, sie waren selber gestorben. Der Nadelwald um die Sternwarte stand trocken, der Feuchtigkeitslack der Nadeln war verschwunden, zäh quoll Harz an den Stämmen. Braun und leblos der Nadelboden des Waldes.
Man näherte sich den Ferien. Weitprecht war im Kolleg noch lange nicht mit dem Stoff zu Ende; er wollte eine Woche dranhängen. Aber niemand hatte das Ausspannen nötiger als er, man sah es ihm an.
Kapperbrunn sagte:
»Das ist die Hitze, er klappt im Sommer immer zusammen. Aber es ist eine leere Hoffnung, er liest weiter.«
Der Diener Anton Krispin hatte seine Weste abgelegt. Er trug den Laboratoriumskittel auf dem bloßen Hemd. Die silberne Uhr baumelte an ihrer Kette von einem Regal im Laborantenzimmer.
Soweit es ihm der Dienst an der Sternwarte erlaubte, arbeitete Hieck im Institut weiter. So wollte er es auch fürderhin halten. Er besuchte einige Seminarien, hatte Referate übernommen und hielt Vorträge. Es handelte sich vor allem um logistische und mengentheoretische Themen. Seine Stellung war ehrenvoll geworden; er zählte zu den Prominenten. Sein Beitrag in Crelles Journal war erschienen, für die kleine Welt des Institutes ein immerhin beachtliches Ereignis.
Eines Tages rief ihn Weitprecht zu sich.
Auf dem Tisch häufte sich Papier. Auch auf den Stühlen lagen einige Stöße. Weitprecht stand müde und hilflos davor:
»Ich muß Ordnung machen, Doktor Hieck …, wer weiß, wie es nach den Ferien aussehen wird, und es wäre schade um all das Material.«
»Ja«, sagte Hieck und wußte nicht, worauf das hinauslaufen sollte, obwohl es doch klar war, daß Weitprecht seinen Nachlaß jemand zu vermachen beabsichtigte.
»Sie bleiben doch über die Ferien hier?« fragte Weitprecht.
»Ja«, sagte Hieck.
»Kapperbrunn fährt nämlich fort.«
Sie schwiegen eine Weile.
Weitprecht hob wieder vorsichtig an:
»Meine Frau besteht nämlich darauf, daß wir abreisen … der Arzt hat ein Herzbad indiziert … meine Frau denkt an Nauheim.«
Hieck wußte nicht viel damit anzufangen.
»Ja, und da wollte ich Sie fragen, ob Sie diese Papiere sichten könnten, soweit es Ihre Zeit zuläßt, natürlich … Sie sind ja mit meinen Arbeiten vertraut, es wird Ihnen leicht fallen.«
Hieck sah ziemlich hoffnungslos auf die Papierstöße.
Beruhigend sagte Weitprecht:
»Es ist alles chronologisch bezeichnet. Die wellenmechanischen Arbeiten tragen außerdem in der rechten Ecke ein W. Und die quantentheoretischen tragen ein Qu … da, sehen Sie, es ist ganz einfach … alles übrige ist analog, man muß nur manchmal auf den innern Zusammenhang achten … es ist ganz einfach.«
Man roch den alten Papierstaub; Hieck hatte Lust, in der Nase zu bohren, aber er kratzte bloß sein Kinn.
»Die zugehörigen mathematischen Arbeiten sind in jenem Schrank«, gab Weitprecht als Draufgabe dazu und wies schüchtern auf die offenstehenden Fächer eines Schrankes.
»Ja«, sagte Richard.
»Allerdings«, Weitprechts Gesicht wurde noch sorgenvoller, »… eigentlich müßte die laufende Versuchsreihe noch abgeschlossen werden … da ist aber Fräulein Magnus daran, nur wäre es gut, wenn sie kontrolliert würde.«
Als Richard herauskam, feixte Kapperbrunn ihn an:
»Ich gratuliere zur Ferienarbeit.«
Hieck war ziemlich fassungslos:
»Weiß der Himmel, wie ich das schaffen werde.«
Kapperbrunn beruhigte ihn:
»Na, kränken Sie sich nicht … wir werden schon einen Neger beistellen.«
»Was?«
»Na, einen Neger, oder wenn Sie lieber mögen, eine hübsche Negerin, Sie werden das doch nicht wirklich alles selber besorgen wollen … irgendeins von den Mädchen wird sich eine Ehre daraus machen, man darf es bloß nicht dem Weitprecht sagen.«
Kapperbrunn war in diesen Dingen wirklich unersetzlich. Aber Hieck fragte trotzdem mißtrauisch:
»Warum haben Sie's dann nicht selber übernommen?«
»Ich? … Natürlich weil ich wegfahre, und weil ich Ihnen auch was gönne. Und da habe ich den Alten eben auf Sie gehetzt. Ich wollte bloß ein bißchen Ihre Überraschung genießen, sonst hätte ich es Ihnen schon vorher gesagt.«
Kapperbrunn zwinkerte ihn durch die Brille an. Jetzt mußte sogar Hieck lachen.
»Also, wen wünschen Sie sich, Hieck?«
Hieck griff nach dem Nächstliegenden:
»Fräulein Magnus soll ohnehin noch die Versuchsreihe abschließen.«
»Vorausgesetzt, daß Krispin dem beistimmt, aber er wird die durchaus berechtigte Meinung vertreten, daß die Welt nichts verloren hat, wenn dies im Herbst geschieht.«
»Um so eher könnte sie über die Papiere gehen.«
Kapperbrunn schnitt ein Gesicht:
»Der Magnus kommt es bloß auf das Doktorat an … am Tage, an dem sie mit der Versuchsreihe fertig ist, geht sie auf und davon, darauf können Sie sich verlassen … die ist ein gescheites Mädel.«
Hieck wagte sich vor:
»Und Fräulein Wasmuth?«
»Tja, die Hilde Wasmuth … wenn Sie durchaus darauf bestehen … wenn ich ehrlich sein soll, bin ich nicht dafür; mir wäre die Wasmuth zu ehrgeizig, die wird einerseits vor lauter Genauigkeit nicht fertig, andererseits spielt sie sich als die geniale Nachlaßverwalterin auf, und Sie haben dann Schwierigkeiten … na, ob die Wasmuth oder eine andere, ich werde Ihnen schon eine verschaffen.«
»Ich danke Ihnen sehr, Herr Doktor Kapperbrunn.«
Hieck war merkwürdigerweise noch immer nicht völlig einverstanden.
»Ogottogott, die Hitze«, jammerte Kapperbrunn, »ich werde heute in Schwimmhosen Seminar halten … kommen Sie hin?«
»Nein, ich muß heute zur Sternwarte.«
Die Leinenvorhänge waren heruntergelassen, die Fensterkreuze zeichneten ihre Schatten darauf ab, Kapperbrunn hatte recht, es war zum Ersticken.
»Ich werde mit dem Seminar in den großen Hörsaal übersiedeln, dort ist es luftiger.« An etwas anderes schien Kapperbrunn nicht mehr denken zu können.
Der Hitze wegen fuhr Richard mit der Straßenbahn zur Sternwarte hinaus. Er stand neben dem Fahrer, der Wind strich ihm entgegen, die Bäume der Allee liefen vorüber. Die Buden waren geöffnet, an der Schattenseite saßen Leute, tranken rote und gelbe Limonaden und Bier. Beim Strandbad wurde der Wagen leer. Man sah das Bassin und die Kabinen, es wimmelte von nackten Leibern, Geschrei summte hell herüber, manchmal hörte man das plumpsende Aufrauschen, wenn einer vom Turm ins Wasser sprang.
Richard überlegte, ob er aussteigen solle. Er hätte noch Zeit zu einem Bad gehabt. Kapperbrunn wäre an seiner Stelle selbstverständlich ausgestiegen. Aber während er noch überlegte, fuhr der Wagen an, und Richard war froh, der Entscheidung enthoben zu sein. Er will lieber des Morgens schwimmen gehen. Otto ist natürlich drüben im Wasser. Er hat um vier Uhr Arbeitsschluß, kann also mit dem Rad schon hier sein.
Der leere Wagen wippte jetzt beträchtlich, der Beiwagen rumpelte. Sie überholten einen Lastkraftwagen, auf dessen Warenballen faul die Packer lagen; sie wurden von Luxuswagen überholt, in denen weiße geschlechtslose Gestalten mit Sonnenbrillen saßen. Lastkraftwagen und Autos kamen ihnen entgegen und waren im Nu vorüber. Sonnig dehnte sich die Ebene bis zum Bergrand hin, glasig von der Hitze verhangen.
An der Endhaltestelle standen zwei gelbe Trambahnwagen. Die Schaffner und Fahrer saßen auf der Bank vor der kleinen Wartehalle und schwatzten mit groben Stimmen. Die Taxichauffeure hatten ihre Wagen in die schattige Seitenallee gebracht, saßen schlafend auf ihren Führersitzen. In den beiden Gartenwirtschaften wurde für den Abend gerüstet. Mit geschlossenen Läden lagen die Villen in ihren Gärten, bisweilen hörte man Kinderstimmen aus dem Gartenschatten.
Langsam ging Richard durch die Villenstraßen. Am Sims eines Souterrainfensters, durch das man zwei polierte Bettenden und an der Wand Heiligenbilder sehen konnte – offenbar dem Hauswart der Villa gehörig – lag zusammengekrümmt ein Dackel. Als er Richards ansichtig wurde, bellte er schläfrig auf und schaute ihm nach.
Das Leben war überall eindeutig, eindeutig wie Kapperbrunn, so eindeutig wie der Sommer, ein Zahn griff in den andern, fahrplanmäßig verkehrten die Trambahnen, fahrplanmäßig bellten die Hunde, fahrplanmäßig bewegten sich die Sterne. Schläfrig und lautlos drehte sich der schwingende Raum um die Achse der Welt, und milchig stand ein halber Mond im milchigen Blau des Himmels.
Myriaden und aber Myriaden von Einzelleben, Myriaden und aber Myriaden von Einzeldingen waren um ihn versammelt, ein beängstigendes Schwimmbad von Dingen, die lautlos aufstiegen und sich fallen ließen, Myriaden und aber Myriaden von Leben und Dingen waren in seinem schwitzenden Körper versammelt, Myriaden und aber Myriaden schwängerten sein Denken und fielen ins Nichts. Richard setzte Fuß vor Fuß, Schuh vor Schuh und begann langsam den Aufstieg zur Sternwarte, um seinen denkenden Körper fahrplanmäßig dort einlangen zu lassen.
Richard hatte sich übrigens geirrt: Otto schwamm an jenem Nachmittag nicht im Strandbad, sondern am entgegengesetzten Ende der Stadt, nämlich im Stadtweiher. Er liebte Abwechslung in seinen Bäderbesuchen.
Wegen des schwankenden Wasserspiegels im Stadtweiher konnte dort keine Badeanstalt eingerichtet werden, aber er war, wenn er Wasser führte, ein beliebtes Freibad. Seit den regnerischen Junitagen war der Spiegel um etwa zwei Meter gefallen, und am nördlichen Flachufer hätte man weit durch den Schlamm und Lehm waten müssen, um ins Wasser zu gelangen, am Steilhang unterhalb des Fußballplatzes hingegen war es ganz passabel.
Überdies war es äußerst bequem. Man zog sich im Klub aus und rannte dann über den Platz hinüber. Und so hielten es Karl Wohlfahrt und Otto auch diesmal.
Als sie im Wasser waren und das erste Schwimmvergnügen hinter sich gebracht hatten, wurde es Otto langweilig:
»Warum?«
»Keine Mädchen.«
»Tja …«
»Wenn man ein Motorrad hätte, könnte man am Fluß hinunter in die Gleuringer Au fahren; da käme jede gerne mit.«
»Kannst du dir ein Motorrad kaufen?«
Das Gespräch kam auf das Geld, das sie brauchten. Karl war noch immer nicht zu seinem Sparkassenbuch gelangt, und noch viel weniger war es Otto geglückt, den so großartig projektierten Raub auszuführen; er hatte auch nicht das geringste dazu unternommen. Sie schmiedeten Pläne ins Blaue hinein:
»Es handelt sich bloß um den ersten Verdienst; dann gebe ich das Geschäft auf und werde Maler.«
»Ein Maler verdient nichts.«
»So? … fast jeder Maler fährt im eigenen Auto.«
Er hatte plötzlich einen nicht zu bezähmenden Hunger nach dem Geld. Und gleichzeitig verlangte gebieterisch etwas in ihm, daß ein anderer es ihm verschaffen müsse, gebieterisch und spielerisch hatte es ihn gepackt, daß Karl derjenige sein müsse, der der Mutter das Geld abzugaunern hätte. Es beängstigte ihn und lockte ihn zugleich.
»Mir scheint, ich kriege einen Wadenkrampf«, sagte er und legte sich auf den Rücken, »ich muß aus dem Wasser.« Er wurde weiß im Gesicht. »Wenn ich untergehe, pack mich an den Haaren.«
»Quatsch«, sagte Karl und ruderte heran.
Wirklich, es hätte nicht viel gefehlt, Otto kam gerade noch zurecht ans Ufer. Als er Boden unter den Füßen spürte, verging der Krampf augenblicklich.
»Sowas, uff.« Er krabbelte atemlos heraus.
Von den Geldprojekten wurde nicht weiter gesprochen. Aber als sie Abschied nahmen, wurde Otto wieder käsweis und sagte gepreßt:
»Eigentlich könntest du mich mal abholen. Magst du morgen um fünf?«
Es war nicht anders als damals, als er zum ersten Male zu einer Frau gegangen war, und er wußte nicht, was ihn jetzt überkommen hatte. Es war ja über nichts geredet worden, und nichts war geschehen. Doch es war ein Wissen von etwas da, das ihn lockte und würgte und das er nicht benennen konnte. Und obwohl er sich nichts anmerken ließ, war es ihm wie das Geständnis eines Verbrechens, als er seiner Mutter von dem bevorstehenden Besuch Mitteilung machte.
Frau Hieck war ein wenig erstaunt:
»Du sagst ja sonst nie was, wenn wer zu dir kommt.«
»Ich möchte ihm aber gerne einen Kaffee geben.«
Die Arme unter der Brust verschränkt, lächelte Frau Hieck zufrieden:
»Am Ende wirst du jetzt häuslich. Brav.«
Am nächsten Tag erschien Karl in der Kramerstraße, wurde vorgestellt und erhielt in der Wohnstube Kaffee. Die grünen Jalousien machten das Zimmer dunkel, die Luft war von eingesperrter Kühle. Es roch nach Obst.
Katharine Hieck saß bei den Jungen. Ihre weißen Arme lagen auf dem Tisch. Mit wasserheller Stimme und der ganzen Routine der Kleinbürgerin fragte sie Karl nach Haus- und Schulverhältnissen, nach Herkunft und Zukunftsplänen. Karl starrte auf ihre weißen Arme.
Sie duzte ihn.
»Also auf der Gewerbeschule bist du, was lernt man denn dort?«
»Viel Mathematik und so.«
»Mathematik? da könnte dir der Richard helfen.«
Dunkel wie eine Klosterfrau kam Susanne herein und setzte sich dazu.
»Schau, er ist viel größer als Otto. Stellt euch einmal nebeneinander.«
»Ach ja, er ist einen Kopf größer«, brummte Otto, »da braucht man nicht zu messen.«
»Sie sind ebenso alt wie Otto?« sagte Susanne.
»Eigentlich müßte ich zu ihm auch Sie sagen, so einem großen Burschen«, meinte Katharine.
Der Junge errötete bis unter die blonden Haare.
Otto, der es sonst sicherlich nicht verabsäumt hätte, ihn darob aufzuziehen, schwieg diesmal.
Doch es schwiegen auch die anderen, Susanne, weil sie in ihre Dunkelheit zurückgefallen war, Katharine, weil sie den Blick des Jungen auf ihren Armen und Brüsten spürte und nicht geistesgegenwärtig genug war, um von Belanglosem sprechen zu können. So steckten sie alle die Nasen in die Kaffeetassen.
Kleinbürgerliche Verzauberung, dennoch Verzauberung. Und neben der massiven und schwarzen Susanne sah Katharine zeitlos weltlich aus, ohne Alter wie eine Rubensfrau, ewige Gebärerin, dennoch kinderlos, da nur ihr Geliebter ihr Kind sein kann. Und sich selber Kuchen in den Kaffee brockend, brockte sie auch dem neben ihr sitzenden Karl Kuchenstücke in die Tasse. Mit dem Löffel fischten sie dann die schwammigbraunen Stückchen heraus.
Susanne war die erste, die sich erhob:
»Ich glaube, daß man schon die Fenster öffnen kann«, sagte sie, indem sie sich den Mund abwischte.
Licht fiel herein, Hitze strömte herein; auf dem blonden Nacken Katharinens standen kleine Schweißperlen. Karl sah sie.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte er, »schönen Dank, Frau Hieck.«
»Komm bald wieder«, sagte sie, »und wenn du was brauchst, kann der Richard dir helfen.«
»Gehen wir noch schwimmen?« fragte Otto.
»Natürlich«, sagte Karl rasch, als sei er froh, wegzukommen.
Unten holten sie die neben der Stiege verstauten Räder und fuhren ab. Karl voran, Otto hinterdrein. Rhythmisch und mit leiser Präzision klackten die Ketten, die Sättel quietschten manchmal. Das war alles bekannt und angenehm. Sie glitten sanft und elegant über den Asphalt und schwiegen, sie schwiegen erst recht, als sie über das rundköpfige Pflaster der Innenstadt holperten, aber am Domplatz fuhr Otto vor und schrie »Wohin?«
Karl deutete nach links, wo die Straße zum Stadtweiher hinausführte. Otto schüttelte den Kopf: »Fahren wir ins Strandbad.« – »Warum? wegen der Mädchen?« – »Nein, aber draußen ist's jetzt dreckig, und gestern wäre ich fast ersoffen.« – »Blödsinn, du bist nicht ersoffen.« – »Doch, beinahe, ich gehe nicht mehr hin.« Schließlich gab Karl nach, und sie fuhren ins Strandbad hinaus. Wieder schweigend. Nur manchmal zielte Otto scharf und fuhr in voller Geschwindigkeit auf Karls Hinterrad los, die beiden Pneumatiks prallten leise aneinander, beide Räder erhielten einen sanften und doch scharfen Stoß, und es war ein Spiel, das sie nicht lassen konnten, obwohl sie beide merkwürdig bedrückt waren und sich lieber gemieden hätten. Und so war es nur richtig, daß knapp vor dem Stadtausgang Karl den nachfahrenden Otto herankommen ließ und ihn fragte: »Triffst du Louise draußen?« – »Vielleicht.« – »Dann brauchst du mich ohnehin nicht, ich habe nämlich kein Geld fürs Strandbad.« Ohne den Einspruch Ottos abzuwarten, wendete er und fuhr in entgegengesetzter Richtung davon.
Allein schon zwei Tage darauf erschien er wieder, um Otto abzuholen; sie hatten es nicht verabredet gehabt, dennoch wartete Otto bereits auf ihn. Und als ob sie es verabredet hätten, fragte Karl nicht nach Frau Hieck, und Otto sagte seiner Mutter nichts von dem Gast. Von Kaffee war nicht mehr die Rede, vielmehr setzten sie sich sofort auf die Räder und fuhren ins Strandbad hinaus. Sie waren beide sehr glücklich.
So machten sie es einige Male, bis Frau Katharine zufällig darauf kam. Die beiden wollten eben zur Türe hinauswischen.
»Was heißt das?« rief sie ihnen nach, »warum brennt ihr denn durch?«
Otto jagte weiter, Karl war stehengeblieben. Seine Kehle war trocken, die Knie versagten; er mußte stehenbleiben, ob er wollte oder nicht.
»Guten Tag, Frau Hieck«, brachte er schließlich hervor.
»Was lauft ihr denn so? du hast ja keinen Kaffee bekommen.«
»Wir werden beim Schwimmen erwartet«, log Karl.
»Na, wenn's so dringend ist, dann lauft halt, aber das nächste Mal melde dich.«
»Ja, danke schön.« Karl flitzte die Stiege hinunter, hochrot im Gesicht. Als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her, traten sie in die Räder.
Aber es nützte nichts, es war stärker als er: am nächsten schulfreien Nachmittag war Karl in der Hieckschen Wohnung, noch ehe Otto von der Arbeit kam.
Dank der Erlaubnis des Dieners Krispin durfte Fräulein Magnus die Versuchsreihe zu Ende führen. Sie war also den Juli über beschäftigt, und Kapperbrunn mußte für Hiecks Sortierarbeit einen andern Neger auftreiben. Er fand ihn in der Person Fräulein Ilse Nydhalms, Physikstudentin im sechsten Semester.
Zu Ehren der Ferien hatte Krispin nunmehr auch den schwarzen Laborantenkittel abgelegt; im bloßen Hemd wirtschaftete er in den Korridoren und Hörsälen herum. Der Kittel hing an der Tür im Laborantenzimmer.
Das Institut hatte die Stille einer Telephonzelle. Wenn Krispin im dritten Stock mit Papier raschelte, so hörte man es im Erdgeschoß, manchmal hörte man einen einsamen Glaston im Laboratorium, manchmal das Knistern einer elektrischen Apparatur. Richard liebte diese Stille. Sie war wie eine ins Weiße und Sonnige transponierte Nacht. Beinahe tat es ihm leid, daß er Ilse Nydhalms Arbeit nicht selbst besorgte.
Er hatte ihr vorerst ein paar Tage Zeit zum Einarbeiten gelassen. Als er dann hinkam, fand er sie verzweifelt vor dem Papierwust, der sowohl Weitprechts Schreibtisch als den Mitteltisch des Zimmers bedeckte; sie war dem Weinen nah:
»Dazu brauche ich drei Jahre.«
»Aber nein, Fräulein Nydhalm.«
Braunhaarig mit mattem Teint und grauen Augen, mittelgroß und schlank, so stand sie vor ihm. Über der Nasenwurzel bildete sich eine kleine Denkfalte:
»Wenn ich es bloß so ordne, wie Herr Doktor Kapperbrunn gemeint hat, wäre es freilich leicht, aber ich bin überzeugt, daß Professor Weitprecht damit unzufrieden wäre.«
Richard war überzeugt, daß Weitprecht, der in seinem Leben schon so viele Enttäuschungen hatte schlucken müssen, sich auch mit der geringeren Leistung zufrieden gegeben hätte.
Es war glühend heiß trotz der herabgelassenen gelben Leinenvorhänge. Durch einen Vorhangspalt zeichnete die Sonne einen bunten Spektralstreifen an die Zimmerdecke.
Ein wenig kurzsichtig blinzelnd, fuhr Ilse Nydhalm fort:
»Das wäre außerdem eine ganz langweilige bürokratische Arbeit, man muß es doch von innen her anpacken. Ich glaube, daß Herr Doktor Kapperbrunn sich das gar nicht richtig überlegt hat.«
Das sah Kapperbrunn durchaus ähnlich; flink im Zugreifen und im Erfassen jeglicher Aufgabe, wäre er durch nichts in der Welt zu bewegen gewesen, einen Schritt über die erste Lösungsgrenze hinaus zu tun. In diesem Falle hätte natürlich auch die bürokratische Lösung mehr als genügt, aber Richard Hieck tat es in der Seele wohl, daß dieses Mädchens Forderungen über Kapperbrunns Konzept hinausgingen. Er sagte also:
»Ja, da haben Sie recht, Fräulein Nydhalm.«
»Wie aber, um Gottes willen, soll man sich da zurechtfinden!« Sie machte eine hilflose Gebärde über all das Papier hinweg.
»Mna ja …« Sein stets sprungbereites Gehirn begann in Bewegung zu geraten.
Eben weil er in seiner ganzen Denkstruktur ein Antipode Kapperbrunns war, hatte er es noch niemals über sich gebracht, eine Aufgabe um ihrer selbst willen zu lösen, ja, es erschien ihm geradezu unmoralisch, eine Aufgabe anders als im Zusammenhang des Gesamtsystems zu sehen und von diesem aus zu begreifen. Und wenn es jetzt galt, sein Organisations- und Einfühlungsgeschick in den Dienst des Weitprechtschen Oeuvres zu stellen, so wurde ihm dieses automatisch zu einer Gesamtheit, zu einer Problemeinheit, in der alle Probleme zusammenzufassen waren, ehe man daran gehen durfte, sich um deren Einzelverständnis zu bemühen. Er hatte sich nun lange genug mit Weitprechts Themen herumgeschlagen, trug also ihr Gesamtbild schon längst fix und fertig mit sich herum, jetzt aber, da ihm oblag, es zu entwickeln, wurde es ihm erst zur Gänze klar mit all seinen Unzulänglichkeiten und mit seiner immer wieder aufschimmernden Genialität. Es wurde gleichsam ein Nachruf von seltener Eindringlichkeit, den er auf Weitprecht hielt, und Ilse Nydhalm mit zart zusammengezogenen Brauen über der Nasenwurzel hörte gespannter und gespannter zu, bis sie schließlich ihre Brille aufsetzte und Notizen zu stenographieren begann. Als er geendet hatte, sagte sie befangen und leise:
»Ja, so ist es, so ist es gewiß.«
Von ihrer Zustimmung angefeuert, ging er sofort daran, Hauptgruppen vorzuzeichnen und einen Ordnungsplan zu entwerfen, auf dem er mit rotem und blauem Stift Verbindungslinien zog:
»So, jetzt kann die Sache losgehen.«
Sie lächelte:
»Wirklich, jetzt kann es losgehen, danke schön, Herr Doktor.«
Unter der Brille hatte ihr Gesicht einen kindlich altklugen Ausdruck.
»Da ist nichts zu danken, Fräulein Nydhalm«, erwiderte er barsch und entfernte sich bald darauf. –
Jeden Vormittag erschien er im Institut. Eine Stunde lang etwa arbeitete er mit Fräulein Nydhalm und begab sich sodann ins Laboratorium zu dem rotwangigen Fräulein Magnus hinüber, um – sehr zu Fräulein Magnus' Mißvergnügen, denn sie faßte es als Kontrolle auf – nach den neuen Versuchsresultaten zu fragen. Wenn er ins Institut kam und Krispin begegnete, salutierte dieser und meldete: »Zwei Damen im Dienst, Herr Doktor.«
Er blieb Respektsperson. Und mit der ganzen Befangenheit, die man nebst dem schuldigen Respekt einer solchen zollt, trat Ilse Nydhalm ihm auch weiterhin entgegen. Er war aber selber viel zu befangen, um dies zu bemerken, die Arbeitsgemeinschaft war ihm ungewohnt und unheimlich, und als einmal eine Ansichtskarte aus dem Gebirge von Kapperbrunn mit Grüßen »an Sie, lieber Hieck, und Ihre schöne Mitarbeiterin« eintraf, da versteckte er die Karte und bestellte die Grüße erst einige Tage später.
Ilse Nydhalm war gelehrig und hatte Ideen. Seine Hilfe benötigte sie bald nicht mehr, und immer öfter benützte sie seine Anwesenheit, um ihn über mathematische Dinge auszuholen. Es war die Form ihrer Unterordnung und gleichzeitig das Mittel, ihre Beklommenheit zu verdecken. Und er hielt lange Vorträge, stets vom Problemmittelpunkt ausgehend und bis zu den Problemgrenzen vorstoßend, den Weg aufzeigend, den die Forschung bisher verfolgt hatte und den sie zu verfolgen haben wird, wenn sie ihre selbstgestellte Aufgabe erfüllen will. Seine Vorträge hatten auch hier denselben Fehler wie im Seminar; aggressiv und autoritär, duldete er weder Zwischenfragen noch Einwände. Denn es waren Auseinandersetzungen mit sich selbst, und er schwitzte dabei weidlich, und zwar weit mehr aus Aufregung als wegen der herrschenden Hitze: jedes Klarmachen der wissenschaftlichen Situation war ihm immer auch eine Erhellung der eigenen Ziele, und daß er solche Erhellung gewinnen und äußern konnte, das war wie eine Befreiung von dem, was hinter ihm lag, es war wie ein beginnendes Aufatmen und wie die Verheißung eines Lichtes, – aber daß er davon sprechen mußte, mehr noch, daß er vor einem Mädchen davon sprechen mußte, daß sich die befreiende und beglückende Erhellung erst im Sprechen vollzog, das war wie ein Verrat nicht nur an der Mathematik, sondern auch an dem Wesentlichen seines Lebens, denn was hier bloßgelegt wurde, das hatte – so meinte er – mit dem eigentlichen Ziel dieses Lebens und mit dem der Mathematik nichts zu schaffen, und strikte lehnte er es ab, die objektiven Ziele der Wissenschaft mit subjektiven Empfindungen zu verquicken. Ein buntes Spektralband spielte auf der Zimmerdecke, und die Gespräche mit Ilse Nydhalm standen in sonderbarem Gegensatz zu den Abenden, die er in der Stube Susannens verbrachte. Es war ein sehr komplizierter und völlig undurchsichtiger Verrat, den er da beging, der ihn auf sehr verwickeltem Pfad ins Sündige und dunkel Anarchische zurückführte! o unhörbarer einsamer Klang im Weltall. Aber jeder unbefangene Beobachter hätte bemerken müssen, daß Richard Hieck seit einiger Zeit mehr Wert auf seine äußere Erscheinung legte.
Des Morgens ging er zumeist ins Strandbad.
Er hatte die sechs Badlängen – eine selbstgegebene Vorschrift, die er strenge einhielt – soeben durchschwömmen und kroch die schleimig-rissigen Holzstufen aus dem Bassin heraus. Dann setzte er sich auf den Betonrand, ließ die Füße ins Wasser baumeln und betrachtete die weiße Fahnenreihe der Badewäsche, die, leicht gebläht von der Morgenbrise, an zwei weitgespannten Stricken am jenseitigen Ufer aufgehängt war. Ein Stück weiter sah man die Allee mit den gleichmäßig vom winterlichen Weststurm abgebogenen Bäumen. Die gelben Trams flogen morgendlich wippend vorüber und rasselten.
Der Schwimmeister Vinzenz Ulreich in weißen Leinenhosen, nacktarmig und muskulös im blaugestreiften Trikot, fischte mit einem kleinen Netz an langer Stange gelbgrüne Blätter aus dem Bassin. Das Wasser schwappte leise an die Betonwände.
Plötzlich wurde Doktor Richard Hieck beim Namen gerufen. Die Stimme kam aus dem Wasser.
Es waren nur wenige Badegäste da. Das Wasser glitzerte streifenweise; Richard blinzelte und konnte nichts erkennen. Jemand kam im Freistil auf die Treppe zugeschwommen, neben der er saß. Die Gestalt setzte sich auf die Stufen und wiederholte:
»Guten Morgen, Doktor Hieck.«
Von oben gesehen, war am Busenausschnitt mit Sicherheit festzustellen, daß es sich um ein weibliches Wesen handelte. Aber der Kopf in der weißen Schwimmhaube hätte ebensogut der eines Jungen sein können.«
»Guten Morgen«, sagte Richard unsicher.
Das Wesen gab sich zu erkennen: »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, ich heiße Erna Magnus.« Sie hatte die Beine heraufgezogen und hielt die Knie umklammert. Alles an ihr war lichtbraun wie heller Kaffee.
»Oh, Fräulein Magnus«, Richard schämte sich seiner Blöße und ließ sich neben der Stiege ins Wasser plumpsen. Jetzt schaute er von unten zu ihr hinauf und prustete. Lächerlicherweise gemahnte ihn ihr schwarzer Badeanzug an die Tracht Susannens.
»Danke«, sagte sie, »jetzt haben Sie mich tüchtig angespritzt.« Sie planschte mit ausgestreckten Beinen, »so, das ist die Revanche. Aber warum sind Sie ins Wasser. Kommen Sie, wir wollen in die Sonne gehen.« Sie war ausgesprochen respektlos.
Nun stand sie oben. Das Trikot glänzte schwarzfeucht, scharf hoben sich die Busenknospen ab, leichtgewölbt das frauliche Dreieck zwischen den Schenkeln.
»Ihr Flirt ist nicht da?«
»Wie, bitte?«
»Na, Ihr täglicher mathematischer Flirt.«
Verdrossen kam Richard heraus und setzte sich neben sie in den Sand. Nachdem er seine Füße eingegraben hatte, fühlte er sich weniger nackt.
»Ich könnte nicht arbeiten, wenn ich keinen Sport triebe«, erzählte sie.
Verächtlich mußte er an Kapperbrunn denken; das war dessen Rezept. Trotzdem spürte er leisen Stolz, weil er Kapperbrunn nun auch hierin nicht nachstand. Die Unberechenbarkeit der Welt war wieder manifest, der Fittich des Anarchischen berührte ihn aufs neue, und angesichts dieses schwarzen Schwimmkostüms kreisten seine Gedanken neuerdings um Susanne. Ilse Nydhalm würde sicherlich ein weißes Badekleid tragen. Der Himmel wurde bleifarben.
Langsam sagte er:
»Sonderbar, daß wir einander noch nicht getroffen haben; ich bin beinahe täglich hier.«
»Ich bin sonst noch zeitiger dran.«
Sie hatte ihre weiße Schwimmhaube abgenommen. Sie hatte rötlichblonde Haare. Susanne war beinahe schwarz. Und auch Ilse Nydhalm war dunkel.
Mit einem Male wurde ihm klar: das Sündige in der Welt ist das Unberechenbare. Was aus dem kausalen und gesetzlichen Zusammenhang gelöst ist, und sei es bloß ein einsam im Räume schwebender Klang, das ist sündig. Das Isolierte ist sinnlos und sündig zugleich.
Sein Asketengesicht zog sich zusammen.
Erna Magnus betrachtete ihn:
»Wenn Sie etwas mehr Sport treiben würden, tät's Ihnen auch nicht schaden. Sie könnten eigentlich sehr gut aussehen.«
»Glauben Sie, daß Gauß ein guter Skiläufer gewesen ist?« Er war für gewöhnlich nicht halb so schlagfertig, aber es war ein Einwand, den er gegen Kapperbrunn innerlich schon oft genug vorbereitet hatte, um ihn bei der Hand zu haben.
Sie lachte belustigt:
»Fahren wir miteinander ins Institut?«
Der Klang der Kirchenglocken steht einsam im Raum und ist nicht sündig, darf nicht sündig sein. Etwas stimmte da nicht, und trotzdem stimmte es und war richtig: was Susanne trieb, konnte aus einem allerdings undurchschaubaren Grund nicht gutgeheißen werden.
Es schien unmöglich, mit Fräulein Magnus zusammen im Institut einzulangen.
»Nein, ich muß zur Sternwarte.«
»Die könnten Sie mir eigentlich einmal vorführen.«
Wenn sie lächelte, zeigte sie alle Zähne und ein Stück Zahnfleisch. Es war ein Mund, der sicherlich schon viel geküßt hatte. Hieck mußte an das Waldwirtshaus unterhalb der Sternwarte denken.
»Na, Wiedersehen, Doktor Hieck.«
Sie erhob sich. Ihr Gang schwang weiblich in den Hüften.
Richard zog die Füße aus dem Sande und legte sich lang auf den Rücken. Seine Finger scharrten in dem feinen Sand, der leise knirschte und unter die Nägel drang. Er bemühte sich, das Geschehene umzudeuten, es zu retuschieren: Erna Magnus gehörte zu den Physikstudentinnen, ihre Geschlechtsmerkmale hatten also von ihr abzufallen. Sie taten es aber nicht. Er warf einen schrägen Blick nach aufwärts. Auf dem Sprungturm stand ein einsamer Mensch, ein junger Körper mit einer bunten Kappe; durchgebogenen Kreuzes hob er gestreckt die Arme und sprang ab, elegant sich überschlagend. Zwei Sekunden später hörte man das rauschende Aufzischen des Wassers.
Hieck kam erst am Nachmittag ins Institut.
Ilse Nydhalm sagte mit schmalen Lippen:
»Fräulein Magnus war vorhin da … ich glaube, daß sie Sie gesucht hat.«
Richard fiel bloß das Wort »Schlange« ein. Er sagte bedrückt:
»Ich habe sie heute ohnehin schon getroffen.«
Ilse Nydhalm antwortete nicht, sondern exzerpierte weiter, ohne die Nase zu heben.
Sie schwiegen. Nach einer Weile sagte er:
»Möchten Sie sich nicht einmal die Sternwarte ansehen?«
Ihre grauen Augen wurden groß.
»Wirklich?«
Richard ging diesmal, ohne die Laboratoriumsarbeit kontrolliert zu haben.
Wenn Katharine Hieck heute gern den Satz verwendete: »Ich mache mir keine Illusionen mehr«, so ist dies wohl als Reaktion auf eine Überbeanspruchung der Illusionen und der Phantasie zu betrachten, auf eine Überbeanspruchung, die sich zweifelsohne in der Ehe mit Hieck ergeben hatte. Denn als sie heiratete, da standen die Begriffe von Erwünschtem und Unerwünschtem, von Lobens- und Tadelnswertem, von Richtigem und Unrichtigem, Erlaubtem und Unerlaubtem in Katharine Hieck bereits fest, sie waren von ihrer ländlichen Kindheit bestimmt, waren sicherlich älter als ihr bewußtes Denken, und an ihnen war nicht mehr zu rütteln: als sie sich aber für Hieck entschlossen hatte – noch immer verstand sie nicht, wie dies geschehen –, da war es dieses völlig andersartige Wesen, das sie zu ihren eigenen Idealen umdeuten mußte und das sie trotzdem zwang, sich von all den festgewurzelten Begriffen loszureißen. Dies hatte eine ungeheuere, kaum zu bewältigende Phantasiearbeit gekostet, die zwar niemals ins Bewußtsein gedrungen, dennoch so quälend war, daß Katharine Hieck die Wirrnis und Dunkelheit ihres Ehelebens als Strafe für den Verrat an ihren eigenen feststehenden Idealen zu begreifen trachtete, um so mehr, als die gerechte Verteilung von Schuld und Sühne gleichfalls zu diesen Idealen gehörte. Und eine solche Gedankenreihe pflegte sie mit einem »Jetzt mache ich mir keine Illusionen mehr« zu beschließen.
Und seitdem Karl Wohlfahrt ins Haus kam, schwiegen sogar ihre Heiratsillusionen. Sie hatte eine gewissermaßen zusätzliche Mütterlichkeit gefunden, unbelastet von dunkler Herkunft war dieses Gefühl, eine gewissermaßen leichter disponible und freiere Mütterlichkeit als jene, die sie etwa Otto gegenüber aufbrachte. Mag sein, daß das bäuerliche Blut, das in Karls Adern rollte, die Wahlverwandtschaft bedingte, mag sein, daß dieser vom Lande stammende, zu den städtischen Großeltern verbannte Knabe ihr als Spiegelbild eigenen Schicksals diente, genug an dem, sie fütterte ihn mit Kaffee und Kuchen.
Otto, welcher all dies beobachtete, stand den Dingen mit Eifersucht und Unbehagen und Angst gegenüber, aber er schwieg.
Im Gegenteil:
Karl war avanciert. Er war der erste aus dem Juniorennachwuchs, der in die zweite Mannschaft übernommen wurde und beim nächsten Freundschaftsspiel gegen einen der Konkurrenzklubs, den »Sturmfittich«, mittun durfte. Lauernden Blicks lud Otto die Mutter ein, mit ihm das Wettspiel zu besuchen. Das war noch nicht vorgekommen. Und Katharine Hieck bezähmte die Abneigung, die sie gegen das Fußballspiel hegte, und nahm nicht nur die Einladung an, sondern ließ sich sogar erzählen, daß Karl rechter Centerhalf sei, ja, es erschien ihr dies als eine besondere Würde.
Die erste Halbzeit war vorbei. Es stand 2:1 zugunsten Sturmfittichs.
Otto war selbstverständlich in den Ankleideraum gegangen. Es herrschte Hochbetrieb. Auf den Bänken im breiten Mittelgang saßen die Spieler, zum Teil in jener entspannten Haltung, die ihnen von den Boxern im Kino bekannt war: die Beine gespreizt von sich gestreckt und die Arme lax hängend. Die Brausen im Duschraum rieselten. Der Trainer Ritter, ein Präzeptor Germaniae im großkarierten Anzug, brüllte mit dem Kapitän und den Stürmern wegen schlechter Kombination. Der, Kapitän Werner Huschinski, verteidigte sich auch nicht eben leise. Die Sturmfittiche, denen der Erfolg zu Kopf gestiegen war und die den Sieg vor sich sahen, höhnten ihre Gastgeber. Georg Bäcker hatte eine Fußverletzung und ließ sich verbinden. Kurzum, es herrschte Hochbetrieb. Und Otto, stolz dazuzugehören, wenn auch voll Neid auf Karl, schnupperte die schweißgeschwängerte scharfe Luft ein, dieses Gemenge von Gesundheit, Wäschegeruch, Wasser- und Kloakendunst.
Karl hatte die gelbblaue Bluse, die Uniform der Marathons ausgezogen. Mit einem gespannten Handtuch rieb er sich den nackten Rücken.
Ritter bemerkte Otto:
»Raus mit dir, hier wird nicht gekiebitzt.«
Otto feixte, deutete auf Karl: »Ich muß ihn massieren.« Und er nahm das Handtuch und begann Karls Rücken zu behandeln.
Der Schiedsrichter im weißen Pullover kam mit der ganzen Würde der offiziellen Persönlichkeit:
»Pause rum. In zwei Minuten gestellt sein.«
»Mach's gut, Karl«, sagte Otto wohlwollend und fachmännisch, »und immer dem Krause zuspielen, wenn du in der Klemme bist.«
Er ging hinaus, zündete mit großer Gebärde eine Zigarette an, warf mit großer Gebärde das Streichholz weg.
Nach englischem Muster betraten die Mannschaften im Trab das Spielfeld. Von der Tribüne tönte dünner Applaus.
Frau Hieck saß auf der Tribüne. Es waren nicht allzuviel Leute da. Die beiderseitigen Klubfunktionäre, die geschäftsmäßig und mit nebensächlicher Wichtigkeit an den Vorgängen Anteil nahmen. Dann die üblichen jungen Leute mit Sportmützen und schließlich eine Anzahl behäbiger Herren aus dem Mittelstand, die man überall anderswo eher denn hier vermutet hätte, die aber von einem unerklärlichen Schicksal zu einer unerklärlichen Begeisterung für den Fußballsport getrieben worden waren und sich kein Spiel entgehen ließen. Für Frau Hieck war das ungewohnte Bild anregend. Neugierig saß sie da und ließ sich von Otto Erklärungen geben.
Die Geschehnisse waren nun wieder in vollem Gang. Es wurde schärfer als in der ersten Halbzeit gespielt. Gleich nach dem Abstoß hatte Marathon ausgeglichen, es stand zwei zu zwei, und jetzt wurde es ernst. Die beiden Linienrichter hatten zu tun, sie liefen hin und her, ihre weißen Klappstühle blieben unbenutzt. Jeden Augenblick flog der Ball über die Linie. »Elf-Meter-Stoß«, kündigte Otto an.
Die Fähnchen an den Spielecken flatterten. Karl in gelbblauer Bluse lief vorüber. Er wurde von einem violetten Sturmfittich hart angegangen, fiel hin, blieb liegen. Frau Hieck schrie auf.
»Das gehört dazu«, erklärte Otto ruhig.
Inzwischen hatte man Karl kunstgerecht die Beine hochgezogen und ihn nach ein paar Atemübungen auf die Füße gestellt; mit einem Klaps auf den Rücken wurde er wieder ins Spiel geschickt. Das Publikum applaudierte pflichtgemäß.
Frau Hieck war entsetzt:
»Das gehört dazu? das ist dir auch schon passiert?«
Aber Otto hörte nicht mehr. Zu ihrer erschreckten Verwunderung mußte sie sehen, daß er zu tanzen begonnen hatte, wozu er unausgesetzt »Huschinski« schrie. Aber nicht nur er gebärdete sich so wahnsinnig, sondern der größere Teil des Publikums war von dem gleichen Paroxismus ergriffen, und auf dem Felde schienen sie es währenddessen ebenfalls hübsch eilig zu haben. Immer mehr steigerte sich der Paroxismus und endigte in einem Geheul, aus dem das unverständliche Wort »Goal, Goal« herauszuhören war. Dann beruhigte sich die ganze Aufregung überraschend schnell.
»Ausgeschlossen, daß du da weiter mittust«, sagte Frau Hieck dezidiert, »so etwas Grausames!«
»Drei zu zwei für uns«, sagte er befriedigt, »jetzt holen sie nimmer auf … verdammt … Karl, halt ihn …«
Das Gejohle, wenn auch etwas schwächer, hatte wieder eingesetzt.
»Was ist los?« fragte Frau Hieck jetzt selber ein wenig interessiert.
»Uff … da hätte nicht viel gefehlt …«
Das Feld bewegte sich wieder nach rechts auf das Tor der Sturmfittiche zu. Der Tormann der Blaugelben lümmelte wieder am Pfosten.
»Hast du den Karl jetzt gesehen … tadellos?« Otto lächelte halb stolz, halb boshaft zu seiner Mutter hin.
»Nein«, mußte sie gestehen; in dem Gewühl war wirklich nichts zu erkennen.
So ging es eine halbe Stunde weiter, und als das Spiel abgepfiffen wurde, hatte die zweite Mannschaft der Marathons über die der Sturmfittiche 4:2 gesiegt.
Frau Hieck fuhr mit der Straßenbahn heim, die beiden Jungen folgten auf den Rädern. Sie wurden mit einer wohlvorbereiteten groß angelegten Ermahnung empfangen, die im allgemeinen gegen das Fußballspiel gerichtet war, im besondern die Besorgnis für die Gesundheit der beiden Jungen kundtat – weil aus solchen Roheiten nichts Gutes erwachsen könne – und in einem Hinweis auf Richards geringe Sportbetätigung gipfelte: »Seht euch den Richard an, der hat keine Zeit für solche abscheuliche Roheiten gehabt, und er hat's auch zu etwas gebracht.« Karl hatte sich nach seinem Sieg anderes erwartet. Otto sagte bloß: »Sport ist Sport«, und Karl nickte.
Später, als sie allein waren, zeigte Otto flüchtig auf einen Schrank: »Hier hebt sie immer das Geld auf. Unsicherer Verwahrungsort, so ein Wäscheschrank.«
Im übrigen trieb er es jetzt ärger als je. Jeden Abend entwischte er. Unausgeschlafen, mit Ringen unter den Augen, schlich er tagsüber umher, gereizt gegen jedermann und in steter Abwehr.
Die Verlegenheit Richard Hiecks war nicht gering. Erna Magnus hatte ihm die Idee des Sternwartenbesuchs gegeben, und eigentlich wollte er diese Idee mit Ilse Nydhalm verwirklichen. Über dieses Dilemma vergingen nahezu zwei Wochen. Er löste es mit Gewalt, indem er schließlich mit Ilse Nydhalm allein hinfuhr. Aber er empfand es als einen Rechtsbruch.
Sie fühlten sich beide nicht besonders wohl in ihren Kleidern, und Frage wie Antwort gelangten über das Astronomische nicht hinaus. Schon auf der Straßenbahn begann er den Einsteinschen Makrokosmos zu entwickeln. Sie hörte gespannt zu, doch daneben empfand sie es als beglückend, daß sie sich in einer Geheimsprache unterhielten.
Ihnen gegenüber saß ein Mann mit den gespreizten Beinen des Korpulenten und las eine Zeitung: von Zeit zu Zeit hob er das graubärtige Gesicht und sah durch seine Brille zu ihnen herüber. Er war ein freundlicher Mann, und er zögerte mit dem Umblättern, denn er meinte, daß sie die Rückseite seiner Zeitung mitlesen wollten, während sie in Wirklichkeit bloß die Allgemeinverständlichkeit der Zeitung mit der Isolierung ihrer eigenen Verstandesgemeinschaft verglichen. Hieck zog ein Blatt Papier heraus und ging daran, Formeln zu schreiben.
Es dämmerte bereits. An der Strandbadhaltestelle drängten sich die Leute, welche auf den in die Stadt zurückkehrenden Wagen warteten. Im Vorbeifahren erhaschte Richards Blick ein Stückchen vom Wasserspiegel des Bassins, überragt vom Sprungturm, dessen Gestänge sich scharf gegen den hellen Abendhimmel abhob. Sein schlechtes Gewissen erwachte aufs neue. Und um irgend etwas zu entschuldigen, sagte er:
»Bei unseren europäischen Sternwarten gibt es wenige Nächte mit klarer Sicht … deshalb lohnt es sich auch kaum, bei uns wirklich ganz große und kostspielige Instrumente aufzustellen … heute freilich wird es ausnahmsweise gutes Beobachtungswetter geben.«
»Da habe ich Glück gehabt«, sagte Ilse Nydhalm.
»Ja«, sagte er und war stolz, als hätte er das Wetter gemacht, »im übrigen sind wir in der Sternschnuppenzeit.«
Darauf sagte Ilse Nydhalm etwas Unastronomisches:
»Da kann man sich etwas wünschen.«
Aus der Nacht der Erinnerung brach ein goldener Schaft. Wunder des Wunsches, Wunder der Erfüllung, herausgehoben aus dem Gesetz, aus dem Nichts kommend, in das Nichts fallend, gestaltlos im Dasein, dennoch leuchtend. Oh, Mensch.
Zögernd, weil er wußte, daß es nicht am Platze war, sagte er:
»Es ist wahrscheinlich, daß die Mondkrater durch riesige Meteoritfälle entstanden sind.«
Als sie anlangten, hatte der Schaffner das Licht im Wagen bereits angeknipst, und hellerleuchtet stand der Gegenwagen an der Endstation. Zwei Leute saßen darinnen.
Der Graubärtige mit der Zeitung hatte sie gegrüßt und war ächzend abgestiegen. Jetzt verschwand er in der dämmerigen Seitenallee. Richard nahm nicht den Waldweg, sondern die Fahrstraße, die an der Ostseite des Hügels in zwei großen Serpentinen zur Sternwarte hinaufführte.
Von hier aus hatte man den Blick auf die Stadt. Mit einem Bodensatz von staubigem Nebel bedeckt, lag die Ebene zwischen Hügel und Stadt, schnurgerade führte die Allee zu ihr hin, dunkel der Streifen ihrer Baumkronen, doch dazwischen flimmerte ungewiß wie das Licht in einer Röntgenröhre der Streifen des Straßenpflasters, erleuchtet von den in den Bäumen verborgenen Laternen. Weiß schimmerte vom Strandbad her das Halbrund der Kabinen, doch der Wasserschimmer des Bassins verschmolz bereits mit dem Dunst der Luft. Noch waren die Konturen der Stadt, waren die Türme des Doms, der Turm der Universitätskirche und der von St. Anna zu erkennen; in rascher Aufeinanderfolge entflammten die Lichter in der Häusermasse, und dazwischen gleich Blinkfeuern wechselten einige Lichtreklamen von Gelb zu Rot. Geradlinig am Stadtrand die Reihen der Straßenlaternen.
»Gute Sicht«, sagte Richard, zum Himmel aufblickend, in dessen Farblosigkeit die ersten Sterne sich zeigten.
Auf dem Feld neben der Straße standen Strohgarben, trocken das Feld, trocken die Sträucher und Bäume an den Wegbiegungen. Dämmerung in ihrem nachthellen Gesicht.
Warum ist uns das so wichtig? wo ist das Leben, das vorüberrauscht? ist es in der Stadt? fließt es dahin in den Sternen?
»Wir sind gleich oben«, sagte Richard beruhigend, obwohl Ilse den Weg doch kennen mußte.
Der Hügel war von der Kuppelkontur der Sternwarte beherrscht; die Kontur schwang in den Tannenwipfeln aus.
Welk und trocken und starr. Beinahe vorsichtig hing die welke Luft und umgab die Starrheit der Dinge.
Dann waren sie droben.
Richard zeigte Ilse sein Arbeitszimmer. Es war ein sehr gewöhnliches Zimmer, es hätte ebensowohl das Büro eines Steuerbeamten sein können; aber es gefiel ihr.
»Sogar ein Sofa haben Sie hier.«
Ja, ein Ledersofa stand da; er hatte es nie benutzt. Und in einem jähen unbehaglichen Gefühl sagte er:
»Jetzt wollen wir aber zu den Instrumenten.«
»Fein«, sagte Ilse und setzte sich die Brille auf.
Sie hatte erwartet, daß er sie sofort zum Hauptrefraktor bringen würde, daß man hoch hinaufsteigen würde wie in einen Turm, um gleichsam im Gewölbe des Türmers das Wesentliche zu erblicken. Richard Hieck aber hatte sich einen systematischen Rundgang in den Kopf gesetzt: erst durch das Studiengebäude hinauf zum Meridiansaal, dann hinüber zum Refraktor, während der Rückweg durch die Bibliothek führen sollte. Und so stiegen sie erst die stillen Treppen hinauf, passierten den Meridiansaal, der schweigend und dunkel dalag, und traten von dort auf eine Dachterrasse hinaus.
»Hier haben wir einen Kometensucher«, sagte Richard und wies auf ein verhülltes Instrument, »natürlich ist auch der nicht mehr ganz modern.«
Es war völlig dunkel geworden. Man sah über die schwarzen Wipfel der Tannen hinweg; schwarz stachen sie in des Raumes Dunkelheit, aus der ein leiser Wind hauchte. In den Betonboden der Terrasse war ein flaches Geleise eingelassen.
Ilse wäre gerne auf der Terrasse geblieben, doch Hieck in merkwürdiger Ungeduld drängte weiter. Durch eine Glastüre gelangten sie in einen engen Korridor, und dann öffnete Hieck eine gewöhnliche schmale Türe, und nun war man plötzlich in dem Kuppelraum, eine leichte Überraschung, denn man sah nicht in die Höhe, sondern hinunter: man stand nämlich auf einer kleinen Galerie und schaute von da in einen verhältnismäßig kleinen, beinahe brunnenartigen Raum hinein; und keineswegs ein Turm, sondern in mäßiger Höhe wölbte sich die Eisenkonstruktion der Kuppel. Vor sich sah man schräg und glänzend die mächtige Röhre des Refraktors stehen, unten im Brunnen befand sich die Instrumenten- und Sucheranlage mit dem ledergepolsterten Beobachtersitz. Es roch kühl, trocken, kellerig.
Ein Mann schraubte an dem komplizierten Mechanismus da unten herum, es war nicht Professor Maier selber, wie Hieck eigentlich erwartet hatte, sondern Doktor Loßka, der erste Assistent der Sternwarte.
»Guten Abend, Herr Doktor Loßka«, sagte Richard, »dürfen wir hinunterkommen?«
Sie stiegen die kurze Wendeltreppe von der Galerie zum Beobachtungsstand hinab.
Doktor Loßka, mit dem stets beleidigt verkniffenen Gesicht des Nervösen, sah mit halbem Lächeln auf. Es war ein Gesicht, von dem man erwartet hätte, daß es jeden Augenblick von einem nervösen Zucken befallen werden müßte. Daß das Zucken ausblieb, war geradezu unangenehm.
Richard Hieck stellte Ilse als künftige Astronomin vor.
»Guten Tag, Herr Doktor Loßka«, sagte Ilse und streckte Loßka die Hand hin. Sie lachte und wurde dabei rot, denn an die Möglichkeit einer astronomischen Berufswahl hatte sie bis jetzt noch nie gedacht; auf der Herfahrt hatte sie zum erstenmal davon gesprochen. Und von irgendwoher dämmerte es ihr, daß Richard da etwas verraten hatte, das für ihn ganz allein bestimmt gewesen war.
Loßka wollte etwas Liebenswürdiges sagen, geriet aber etwas daneben:
»Man sollte es nicht glauben, wohin überall die Frauen eindringen.«
Ilse schaute etwas betreten auf Richard. Doch Richard hatte nichts bemerkt, und wenn er es bemerkt hätte, er hätte Loßka recht gegeben. Er starrte nämlich das ragende Teleskop an, als hätte er es noch nie gesehen, es war ihm überraschend peinlich, und er bedauerte, Ilse hergeführt zu haben.
»Eigentlich ist es wirklich kein weiblicher Beruf«, sagte Ilse und sah scheu im Raume umher. Und nach einer kleinen Weile sagte sie: »Schade.«
Nein, es war wirklich kein weiblicher Beruf. Richard war durchaus dieser Ansicht. Und wenn Kapperbrunn die Wissenschaft als weibliche Domäne bezeichnete, so war das absurd und nichts weiter als einer von Kapperbrunns paradoxen Aussprüchen. Ein für alle Male, Studentinnen konnten nicht als Frauen gelten. Erna Magnus bildete eben eine Ausnahme. Richard starrte neuerdings auf den Refraktor. Wäre Erna Magnus an Ilses Stelle hier, so wäre es weniger peinlich. Das war freilich höchst befremdend.
»Ja, das ist also unser Hauptrefraktor«, sagte er und erwartete, daß Loßka nunmehr die Führung übernehmen werde.
Statt dessen sagte dieser: »Merkwürdig, Sie sind heute dienstfrei.« Er hatte die Kassette mit den photographischen Platten zur Hand genommen und sah unschlüssig darauf.
»Zum Astronomen gehört sicherlich auch eine besondere Begabung«, sagte Ilse, »es genügt wohl nicht, daß man's einfach interessant findet.«
Loßka war geschmeichelt und bequemte sich zu einigen Erklärungen. Zeigte den Sucher, den automatischen Fortbewegungsmechanismus, und dann wurde er von dem gleichen verschämten Hauspatriotismus wie Richard befallen:
»Eine wirklich moderne Anlage brauchte natürlich auch eine automatische Beobachtertribüne.«
»Und die haben Sie nicht?«
»Ah«, machte Loßka wegwerfend und beleidigt.
»Auch die Kuppel muß bei uns von Hand bewegt werden.«
Die beiden Herren kamen in Feuer. Loßka schellte nach dem Diener.
Die Kuppel wölbte sich braun und ein wenig unheimlich: die Eisenkonstruktion warf ihre Schatten in die Krümmung hinein. Unterhalb ihres Randwulstes blitzte eine Kreisschiene, auf der sie mit Rollen aufsaß.
Loßka trommelte nervös mit den Fingern:
»Wo der Diener nur wieder bleibt«, sagte er herrisch.
Richard sagte beflissen:
»Ich will's lieber gleich selber machen.«
Aber inzwischen war der dicke Diener Sauter eilig eingetreten, und mit einem etwas verachtungsvollen Blick auf den Gast begann er ohne weitere Aufforderung einen Kurbelmechanismus an der Wand in Funktion zu setzen. Der Spalt in der Kuppel schob sich langsam und mit leisem Knirschen auseinander. Ein Streifen Nachthimmel.
Der Refraktor war genau auf den Spalt gerichtet.
Ilse blickte hinauf. Der Streifen Nachthimmel machte sie schaudern. Sie wußte nicht warum.
»Alles in Ordnung, Herr Doktor«, sagte Sauter im Abgehen.
»Ja, ja, Herr Sauter«, murmelte Loßka, doch Sauter war schon draußen.
Loßka war nun ganz bei der Sache. Alle Nervosität schien von ihm abgefallen, er war in seinem Element. Ohne daß er hinschaute, betätigten seine Finger – selber ein nervöser präziser Mechanismus – die Stellschrauben, und als alles in Ordnung war, lud er Ilse ein, nun an seiner Statt auf dem ledergepolsterten Beobachtersitz Platz zu nehmen.
Ilse tat es mit Herzklopfen.
»Sehen Sie etwas?« fragte Loßka.
Ilse sah ein milchiges Etwas mit ungenauen Rändern, die sich leicht zu bewegen schienen.
»Ja«, sagte sie begeistert.
Hernach verließen sie den Refraktorraum programmgemäß durch den unteren Ausgang und gingen, begleitet von Loßka, der sich aus unerfindlichen Gründen angeschlossen hatte, zum Bahnsucher hinüber.
»Die Aufstellung ist nicht übermäßig günstig«, erklärte Loßka, »aber die Fundamentierung der Instrumente ist bei uns trotzdem ganz ausgezeichnet.« Und gegen seine sonstige Gewohnheit verbreitete er sich in einem längeren Exkurs über erschütterungsfreie Fundamentierung astronomischer Instrumente.
Und weil er so schön im Zuge war, wollte er noch einiges über den schädlichen Einfluß der Temperaturschwankungen auf die Beobachtungsgenauigkeit und über Temperaturschutz hinzufügen, als ihm von Richard Hieck glatt das Wort abgeschnitten wurde. Hieck fand plötzlich, daß Loßka schon zuviel geredet hätte, sowohl überhaupt, als im besonderen über Sternwarteeinrichtungen, und daß es durchaus gestattet und angebracht wäre, wieder ins Theoretische zurückzusteuern; also begann er unvermittelt und mit erhobener Stimme von den Methoden zur Errechnung der Sternentfernungen zu sprechen, durchaus bereit, sofort auch ein Beobachtungspraktikum anzuschließen.
»Sie entschuldigen mich, Herr Kollege«, sagte Loßka, der nun seinerseits ungeduldig geworden war und der auch tatsächlich zur Observation zurückmußte, »für mich wird es Zeit.«
»Ja, verzeihen Sie, wir wollen Sie nicht aufhalten«, sagte Richard verwirrt, »Fräulein Nydhalm will ja auch bald heimfahren.«
Loßkas Gesicht war wieder an der Grenze nervöser Zuckungen. Die kleinen, von Falten umrahmten blauen Augen schauten mit grundloser Gehässigkeit in die Welt, grundlos die Gehässigkeit, grundlos der Blick, grundlos die Welt.
Durch die halbbeleuchteten sanatoriumsartigen Korridore gelangten sie wieder zu dem steueramtlichen Arbeitsraum, in dem Richard seinen Hut und Ilses Jacke zurückgelassen hatte, und während er die auf seinem Tische vorbereiteten Papiere nochmals durchflog, lehnte sie, leise sich hin und her wiegend, an der halbgeöffneten Türe.
Eine außerordentliche Einfachheit war für Ilse Nydhalm – so schien es ihr – in die Welt eingezogen. Es war, als sei alle Undurchsichtigkeit des Geschehens mit einem Schlage aufgehoben worden, es war eine Wohlordnung eingetreten, die sie in ihrem einundzwanzigjährigen Dasein noch nicht erlebt hatte: es war, als ob alles Vorbereitung für diesen Augenblick gewesen wäre. Was war eigentlich geschehen? Richard Hiecks Darlegungen hatten ihr zum erstenmal die Kosmogonie der Relativitätstheorie klargemacht – und nun erinnerte sie sich auch der Beglückung, die sie als Kind empfangen, als sie plötzlich begriffen hatte, was die Buchstaben seien, was Lesen bedeute. Wohlordnung der Welt in neuer Kosmogonie! Aber so überzeugend es auch schien, daß das Gefühl großer und befreiender Ordnung aus solcher Erkenntnis und aus dem Wissen um solche Erkenntnis erfließe, es bestand daneben eine zartere und doch mächtigere Einsicht, gleichfalls im undurchschaubar Kindlichen wurzelnd, eine Einsicht, über die sich die Bäume eines längst vergessenen Gartens neigten, ein erinnerndes Wissen, das nicht des astronomischen Makrokosmus bedurfte, um zum Mikrokosmus der Seele zu gelangen, sondern viel eher den umgekehrten Weg genommen hatte und das Wesentliche im Weltgeschehen auf einen merkwürdig geringen Punkt der Gegenwart beschränkte: hier in einem hellen und neuen Sommerkleid zu stehen, leicht an eine Tür gelehnt, ein atmender junger Mensch, eingeordnet in das Geschehen der Welt, in das Atmen der Sterne, in den Herzschlag der Zukunft. Oh, Mensch.
Sie traten ins Freie. Richard hatte seinen Vortrag wieder aufgenommen und mündete nun in die Einsteinsche Hypothese vom gekrümmten Weltraum, dessen Expansion und Restriktion die Bewegung der großen Sternsysteme bedingen soll.
Ilse hörte zu und hörte nicht zu, sie begriff alles und begriff noch viel mehr. Der Zustand, in dem sie sich befand, war der einer Art mehrfachen Wissens: wenn Richard von den geometrischen Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieser radikalsten Raumhypothese sprach, so erfaßte sie es mit weitgeöffnetem Verständnis und wußte dennoch, daß hier der Kosmos für etwas bemüht wurde, das mit der mathematischen Formulierung recht wenig zu tun hatte, für etwas, das überkosmisch, übermächtig hinter aller präzisen Ausdrückbarkeit stand und dessen Vorhandensein ihr womöglich noch klarer war als der exakte astronomische Raum. Es war nichts Astrologisches und nichts Mystisches, und mochte auch die erschreckende Hypothese von dem sich weitenden und sich wieder zusammenziehenden Himmelsgewölbe den Vergleich mit dem menschlichen Atmen nahelegen, so war es mehr als ein äußerlicher Vergleich, wenn Ilse Nydhalm jetzt mit jedem Atemzug den unlöslichen Zusammenhang zwischen Gedachtem und Erlebtem, zwischen Denkbarem und Erlebbarem als ein neues und großes Aufklingen ihres ganzen Wesens empfand, denn das Erkennen, in dem dies geschah, schwebte einem vielfachen Echo gleich im Gewölbe des Seins, und die Worte, die es trugen, die Stimme, von der die Worte getragen wurden, sie schwebten in den Schalen der Sphären und doch in ihr selbst.
Zwischen ihren Brauen bildete sich wieder die zarte Denkfalte, und Ilse Nydhalm sagte:
»Eigentlich ist es fürchterlich, daß ein Mensch all dies wirklich erfunden und durchdacht hat.«
Aber über all der Furchtbarkeit des Gedankens schwebte noch furchtbarer die zweite Bedeutung der Welt, kaum mehr zu begreifen, weder mit mathematischen Formeln noch mit irgendeinem Wort ausdrückbar, dennoch über alle Furchtbarkeit emporgehoben, eine auffallende Kühle und Freibeweglichkeit des Gehirns, eine erregende Transposition in eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, die sich mit nichts mehr deckte und trotzdem die Evidenz vollkommener Wahrheit in sich trug. Es war wie ein schönes Schauen.
Manchmal knackte es brüchig im Geäst der Finsternis, die lautlos im Walde ruhte.
Ilse Nydhalm sagte: »Und es ist so furchtbar still … aber das ist wohl auch das Schöne.«
Richard Hieck hielt nun beim Zusammenhang der kleinsten nichteuklidischen Raumteile mit dem nichteuklidischen Gesamtraum. Er liebte keine Unterbrechungen. Auch wenn er mit seinen Darlegungen etwas anderes meinte. Oder ebendeshalb. Er sprach weiter.
Ein wenig gerührt lächelte sie über seinen Eifer, beinahe dankbar, daß er sich nicht aufhalten ließ, daß er auf dieser Form der Mitteilung bestand und daß es unentschieden blieb, ob die Mehrsinnigkeit der Welt in den Dingen selber lag oder in der Art, wie er sie vorbrachte, oder in der, wie man sie hörte. Ein wenig heiser und gedämpft klang seine Stimme, nicht so draufgängerisch wie im Seminar, es war eine Stimme menschlicher Erkenntnis, umwoben von Finsternis, sich rankend um das Geäst der Finsternis.
Die Bäume der Kindheit neigen sich über jede Nacht, und immer aufs neue ertönt die vergessene Stimme, vergessene Stimme der Geborgenheit.
Und als ob die entfaltete Nacht, als ob das schöne Schauen der Vielfalt nun auch ihm offenbar würde, stockte Richard in seiner Rede, und verwundert stehenbleibend, klappte er seinen alten steifen Strohhut, den er bisher in der Hand getragen hatte, sich auf den Kopf. Irgend etwas stimmte nicht, fast schämte er sich seines Verhaltens, schämte sich seines Vortrags – sein unduldsames Asketengesicht zog sich schmerzvoll zusammen, es war die Scham der Unzulänglichkeit, die ihn befallen hatte. Einen Augenblick mußte er an die Badeanstalt denken. Aber es war anders. Einen Augenblick lang hörte er die durchsichtige Stimme der Mutter. Das Wesentliche ist nicht ausdrückbar. Die letzte Wahrheit und die tiefste Sünde, Grenzen des Wortes. Er schaute in die nächtliche Ebene hinaus, er vermied es, dem Blick Ilses zu begegnen.
Die Liebe.
Plötzlich fiel ihm dieses Wort ein; schreckhaft fiel es ihm ein. Aber er vermochte keinerlei Vorstellung damit zu verbinden. Undeutlich entsann er sich menschlicher Paarungen, entsann sich noch dunkler, daß er selber schon bei Derartigem mittätig gewesen war, gleichzeitig fiel ihm Susanne ein, die aller Liebe abgeschworen hatte – das war wenigstens deutlich vorstellbar –, und der Nachthimmel leuchtete schwarz wie ein feuchter Badeanzug. Keine Verbindung zu dem, was hier wirklich geschah, obwohl die Ebenen des Erkennens ganz nahe beieinanderlagen und man immerzu meinte, von der einen zur andern gelangen zu können. Das Wort blieb isoliert, ohne Verbindung. Hell leuchtete das Kleid Ilses in der Dunkelheit.
Die Liebe.
Plötzlich war das Wort da, und Ilse Nydhalm erschrak so sehr, daß das Wort wieder verschwand.
In sich beschlossener, einsamer Klang.
Bestürzt riß Richard Hieck sich zusammen. Und er fing wieder an, von seinen eigenen Dingen zu sprechen und von dem Ziel, das ihn bewegte: die ganze Welt im Spiegel der Mathematik zu erfassen. Er sprach von sich, nur von sich, dennoch war es Flucht, Flucht vor dem blinden eigenen Sein in ein übergeordnetes, dennoch auch Flucht in dieses Sein zurück und in dessen hellsten Willenskern, es war in einem Ablehnung des Du und Hingabe des Ichs. Und als sie bei der schweigenden Waldwirtschaft anlangten, in der nur mehr das einsame Licht hinter dem Dachkammerfenster brannte, sagte er etwas, das er bisher noch niemals formuliert, ja, von dem er bisher nichts geahnt hatte:
»Wem es gelungen ist, so viel Erkenntnis zu erreichen, daß er das gesamte Geschehen umfaßt, der ist unsterblich … ich meine innerlich unsterblich.«
Gleich darauf schämte er sich:
»Wollen wir uns nicht ein wenig setzen?« sagte er und wies auf die bedrohlich dunkle Flottille der Tische und Bänke.
Erfüllt von unbewegter heißer Luft, umrahmt von dem unbewegten Nadelwald, lag die Lichtung. Doch eine Wolkenwand schob sich von Norden her unter das Sternengewölbe.
»Eine Sternschnuppe«, rief Ilse.
Richard hatte sie nicht bemerkt; er sah die Wolken:
»Wir können nicht bleiben, es kommt ein Gewitter.«
Es war ein unbewegter Nebel aus Harzgeruch, durch den sie hinabschritten, und Ilse sagte:
»Ich habe mir etwas gewünscht …«, und als er wartend schwieg, fügte sie ungeschickt hinzu: »… daß Sie diese Unsterblichkeit erreichen.« Das klang ein wenig nach Festwünschen, wie sie sie einstens am Geburtstag des Vaters aufgesagt hatte, vielleicht nur ein bißchen herzlicher, und sie fürchtete beinahe, daß nun auch Richard Hieck sie väterlich in die Arme nehmen werde. Aber er empfing den Wunsch ohne Dank, allzu nahe war es dem eigenen Wunsch, und ruchlos war es, ihn in Worte zu fassen. Unbeschreiblich bleibt die kristallische Landschaft des Todes und der Unsterblichkeit, kein Wort vermag je sie zu erreichen. Und Richard seufzte bloß vernehmlich. Wortlos gingen sie weiter.
Als sie aus dem Wald herauskamen, wetterleuchtete es lautlos am Horizont. Doch als sie bei der Straßenbahn eintrafen, rauschte der Sturm bereits in den Baumkronen der Allee, und die ersten Blitze zuckten auf, vom Donner in immer kürzeren Intervallen gefolgt.
Ilse lachte: »Gerade zur rechten Zeit.«
Während der lärmenden Fahrt hörte man den Donner nicht, aber stets aufs neue wurde die Ebene weiß aufgehellt, eine ungeheuere Schüssel, bereit, den Regen und den dröhnenden Strahl des Blitzes zu empfangen. Erwartung und Erfüllung des Kommenden.
»So ein Guß tut schon gut nach der fürchterlichen Hitze«, sagte der Schaffner, der sich vor ihnen aufgepflanzt hatte und sich im Rhythmus der Fahrt auf den Beinen schaukelte. Es war nett von dem Mann, daß er mit ihnen redete.
Dann stiegen Leute ein mit tropfenden Hüten und nassen Flecken auf den Schultern. Und wer immer einstieg, sprach vom Wetter und vom bereits nachlassenden Regen. Und tatsächlich, in der Stadt regnete es kaum mehr. Neben den Gehsteigen lief das Wasser in raschen kleinen Bächen zu den Kanalgittern, stürzte hinein. Richard brachte Ilse Nydhalm, die ihre weiße Jacke angezogen hatte, nach Hause.
Es war Sonntag, und die Morgenluft war hellgolden flüssig, sie schmeckte angenehm und leicht. Aber Otto, der noch im Bette lag, schmeckte die Luft nicht. Er war verkatert, es war ihm heiß, er hatte die nackten Füße zum Bett hinausgestreckt.
Susanne trat ein:
»Wann wirst du endlich frühstücken kommen?«
»Laß mich schlafen.« Otto seufzte.
Sie stand vor seinem Bett, betrachtete den leichtgebräunten Körper und war ein wenig gerührt. Otto streckte ihr eine Fußsohle entgegen.
»Kein Wunder, daß du müde bist; glaubst du, ich weiß nicht, wann du heimkommst.«
»Wenn es dir der Richard erzählt hat, dann weißt du's eben.«
Er war nun drei Nächte hintereinander später als Richard heimgekehrt. Und jedesmal hatte es Krach gegeben.
»Kann ich nicht hier Kaffee haben?« bettelte er.
»Nein, so was wird nicht eingeführt«, entschied Susanne, »wer Frühstück haben will, muß aufstehen.«
Otto räkelte sich: »Wenn du nur schon in deinem Saukloster hocken würdest.«
Halbangezogen, ungewaschen, ungekämmt erschien er in der Wohnstube. Weinerlich konstatierte er:
»So'n schönes Wetter.«
»Deshalb stehst du wohl nicht auf?« Richard, ohne Rock und Weste, im weißen Sonntagshemd, die Füße in Pantoffeln, saß hausväterlich da und las das von Susanne abonnierte Diözesanblatt.
Otto sagte giftig: »Ja, deshalb stehe ich nicht auf.«
»Das begreife ich nicht«, sagte Susanne.
»Weil alle Burschen bei so'm Wetter auf ihren Motorrädern rausfahren.«
»Du hast wirklich keines?« meinte Richard, »verwunderlich.«
»Du dicker Kerl«, schrie Otto, »du hast leicht reden«, seine Brezel in der Hand, war er aufgesprungen, »da treibt sich so ein dicker Kerl mit seinen Mädchen an der Universität herum … du hast leicht reden … du hast es leicht.«
Richard hatte zwar keine Lust sich zu ärgern, aber es war ihm merkwürdig peinlich, daß in Susannens Gegenwart auch nur die Möglichkeit irgendeiner Mädchenbeziehung erwähnt werde, es war ihm, als bezichtige man ihn, und nicht einmal mit Unrecht, einer Treulosigkeit, und deshalb sagte er:
»Halt endlich deinen Mund, Otto, du bist nämlich langweilig.«
»Na, Otto, sei gut«, sekundierte Susanne.
Otto war nicht geneigt, sein Toben einzustellen, er war in Schwung und hatte seine besten Trümpfe noch nicht ausgespielt:
»Ihr, … ihr tut, was euch behagt … aber ich … habe ich Maler werden dürfen? … he?«
Frau Hieck kam aus der Küche:
»Was ist denn hier los?«
Der Anblick seiner Mutter machte Otto vollständig rabiat:
»Alles geht schief … ich wollte, ich wäre tot.«
Einsam der Klang des Todes, selbst dann noch, wenn er aus kindischer und hysterischer Seele tönt. Und Richard fuhr los:
»Jetzt ist's aber genug mit der kindischen Wichtigtuerei. Idiot, Kretin.«
»Wollt ihr mir nicht endlich sagen, was ihr habt?« Frau Hiecks wasserhelle Stimme klang auch nicht gerade gedämpft. Blond und jung stand sie inmitten der dunklen Geschöpfe, die ihre Kinder waren, und sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt: »Otto, warum schreist du wie ein Besessener?«
»Man muß die Fenster schließen, sonst läuft noch die ganze Straße zusammen«, sagte Susanne.
Am Fenster rankte sich ein Efeustock; im prallen Sonnenlicht glänzten seine Blätter.
»Du hast keine Rechenschaft von mir zu fordern, du nicht«, fauchte Otto seine Mutter an.
Unvermittelt gleich dem Wunder ist das Böse, ist das Irrsinnige in der Welt vorhanden, meteorgleich stürzt es ins Leben und trägt den Tod in sich, unerfaßbar allem Denken.
»Hast du ihm etwas getan, Richard?« fragte Katharine Hieck. Sie hatte das Gefühl, als ob nun auch das letzte und das ihr wesensnächste Kind von ihr weggleiten wollte ins Gefilde der Dunkelheit, dem es entstammte. Und doch konnte sie das nicht ernst nehmen: keines ging völlig verloren, mochten sie auch bis ans andere Ende der Welt verschlagen werden.
Richard lachte auf: »Nein, ich habe dem jungen Mann nichts getan.«
»Otto, sei ein guter Junge.« Frau Hieck hatte den Kleinkinderton angenommen und versuchte Ottos Gesicht an sich zu ziehen.
»Der gute Junge braucht ein Motorrad«, brummte Richard.
»Nein, so was!« Frau Hieck war erstaunt. »Ihr habt doch eure Fahrräder … ihr wollt doch heute einen Ausflug damit machen … na, sei gut, Otto, wenn Karl davon hörte, müßtest du dich ja schämen …«
Das schlug dem Faß den Boden aus. Entsetzt, irr und bösartig starrte Otto seine Mutter an und rannte aus dem Zimmer.
Die Erwachsenen blieben mit dem unbehaglichen Gefühl einer Verantwortung für ein Schicksal zurück, das – Teil ihres gemeinsamen Schicksals – aus den gleichen Quellen wie das ihre gespeist wurde und doch, von ihnen abgesondert, seine eigenen Wege und zu seinem eigenen Tod ging. Aber eben weil es die gleiche Dunkelheit war, fühlten sie sich beleidigt und gereizt.
»So ein Narr«, sagte Richard und griff wieder nach der Diözesanzeitung.
»Hat er wenigstens gefrühstückt?« fragte Katharine Hieck.
»Da kannst du beruhigt sein.«
Katharine Hieck lachte befriedigt.
»Was sind das für Mädchen an der Universität?« ließ sich Susanne vernehmen.
Es hätte nicht viel gefehlt, und Richard wäre ebenso wütend wie sein kleiner Bruder davongerannt. So sagte er bloß:
»Will mal sehen, was der kleine Narr macht.«
Hellgekleidet und mit weißer Schürze stand Katharine Hieck neben ihrer düsteren Tochter.
»Kannst du gelegentlich dem Karl Wohlfahrt ein paar Nachhilfestunden in Mathematik geben? … Du weißt, Ottos Freund.«
»Ja, warum nicht.« Auf seinen weichen Filzpantoffeln und unbewegten Ganges entfernte sich Richard, die eine Schulter ein wenig hochgezogen.
Otto stand vor dem Waschtisch, hatte den Kopf in die Schüssel gesteckt und prustete. »Na also«, sagte Richard und stellte den Fuß auf einen Stuhl und begann die Schuhe zuzuschnüren.
Das geschah vormittags. Am Nachmittag kam Karl Wohlfahrt und wurde von Otto mit aller Freundlichkeit empfangen.