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Stahlblau und leicht, getrieben von einem leisen Gegenwind, waren die Wellen des adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt, als dieses sich der calabrischen Küste genähert hatte, und jetzt, da es, die flachen Hügel zur Linken, langsam dem Hafen Brundisium zusteuerte, jetzt, da die sonnige und doch so todesahnende Einsamkeit der See sich immer mehr ins friedvoll Freudige menschlicher Tätigkeiten wandelte, genähert dem menschlichen Sein und Hausen, jetzt, da die Gewässer sich mit vielerlei Schiffen bevölkerten – mit solchen, die gleichfalls dem Hafen zustrebten oder die von dorther kamen – und die braunsegeligen Fischerboote bereits die weißbespülten Ufer, die kleinen Dörfer, die kleinen Molen verließen, um zum abendlichen Fang auszuziehen, da war das Wasser beinahe spiegelglatt geworden; perlmuttern war darüber die Muschel des Himmels geöffnet, es war Abend, und man roch das Holzfeuer der Herdstätten, sooft die Töne des Lebens, ein Hämmern oder ein Ruf von dorther herbeigetragen wurden.
Von den sechs Triremen, die in entwickelter Kiellinie einander folgten, trug die zweite, die größte und reichste von ihnen, mit bronzebeschlagenen Wänden und unter Purpursegeln das Zelt des Augustus, und während die erste und die letzte dem Transport der Leibgarden dienten, hatten die übrigen das Gefolge des Cäsars an Bord. Doch auf jener, die der augusteischen folgte, befand sich der Dichter der Aeneis, und das Zeichen des Todes stand auf seiner Stirne geschrieben.
Hatte er jemals anders als im Angesicht des Todes gelebt? War ihm die perlmutterne Schale des Himmels, war ihm das Singen der Berge, war ihm das lenzliche Meer, war ihm der Flötenton des Gottes in der eigenen Brust je etwas anderes gewesen als ein Gefäß der Sphären, das ihn bald aufnehmen sollte, ihn zur Ewigkeit zu tragen? Ein Landmann war er gewesen, einer, der den Frieden des irdischen Seins liebt, und doch hatte er bloß an dessen Rand gelebt, am Rand seiner Felder, und er war ein Ruheloser geblieben, einer, der den Tod flieht und den Tod sucht, der das Werk sucht und das Werk flieht, ein Liebender und dennoch ein Gehetzter, der ein Leben lang durch die Landschaften geirrt war und den es schließlich als Fünfzigjährigen, Sterbenskranken nach Athen getrieben hatte, als könnte ihm, nein, dem Werke dort eine letzte Erfüllung und Vollendung werden. Wer vermag inneres und äußeres Schicksal zu unterscheiden? Das Schicksal in seiner Dunkelheit hatte es so gewollt, und Schicksal war es gewesen, daß er dem kaiserlichen Freund in Athen begegnet war, so sehr Schicksal, daß die Aufforderung des Augustus, mit ihm in die Heimat zurückzukehren, wie ein Befehl der unabweislichen Gewalten gewesen war, der Unabweislichen, denen man sich zu unterwerfen hatte. Vergil, den kranken Leib auf das Lager gebettet, über dem die Segelrah mit der von Zeit zu Zeit dröhnenden Leinwand in den Tauen knarrte, sah die weißbesäumte Strandlinie vorbeigleiten, er spürte den Takt der zweihundert Ruder unter sich, er hörte das gleitende Schäumen des Kielwassers und den silbernen Guß, der mit jedem Herausheben der Ruder einsetzte, er hörte ihr Wiedereintauchen, und gleich einem Echo klang das nämliche von dem vorausfahrenden kaiserlichen und von dem nachfolgenden Schiffe herüber; er sah auch die Menschen auf dem Deck, die Leute des Hofstaates, die mit ihm fuhren, trotzdem nicht mit ihm, denn sein Reiseziel lag ferner als das ihre.
Schon sank die Dämmerung, als man Brundisiums schmale fjordartige Einfahrt erreichte; vor den Kastellen links und rechts des Kanales war zu Ehren des Caesars die Besatzung aufgestellt, ihre Begrüßungsrufe flogen auf, flatterten in dem grauen Licht, beinahe verwelkt in herbstabendlicher Feuchte, und Vergil, aus müden Augenwinkeln hinblinzelnd, war von einem roten Punkt in dem Grau gefesselt; und obgleich es sich nur als das rote Vexillum eines Fahnenträgers erwies, der am Flügel seiner Manipel postiert, im Takt der Rufe die Stange mit dem Feldzeichen hochstieß, so war dieses im Dämmernebel vergehende Rot weit mehr ein Abschiednehmen denn eine Begrüßung. Doch unterhalb der Befestigungen bis herab zum steinigen Ufer war der Hang mit Sträuchern bewachsen, und gleichsam nach ihrem Laube greifend, streckte der Kranke die Hand aus. Wie weich war die Luft, Bad des Innen und Außen, Bad der Seele, fließend aus dem Ewigen ins Irdische, Wissen vom Kommenden im Diesseitigen und im Jenseitigen! Am Bug des Schiffes sang ein Musikantensklave, und Lied wie Saitenspiel, Menschenwerk beides, waren in sich beschlossen, menschenentfernt, menschenentlöst, Sphärenluft, die sich selber singt. Die Töne in sich eintrinkend, atmete Vergil, die Brust schmerzte ihn, und er hustete.
Dann wurde die Stadt im Innern der Bucht sichtbar, die hellerleuchtete Reihe der Häuser am Kai, eine Osteria neben der anderen, und davor die Menge, die sich angesammelt hatte, um der Ankunft des Caesars beizuwohnen; vielleicht fünfzigtausend, vielleicht hunderttausend Menschen, ein gewaltiges schwarzes Summen, das auf- und abschwoll. Auch auf vielen der verankerten Schiffe ringsum gab es schreiende Menschen, beleuchtet von festlichen Fackeln, und doppelt dunkel wuchsen die Mäste und Taue und die gerefften Segel, ein sonderbar finsteres, verkreuztes und verwirrtes Wurzelwerk aus dem Wasser in den noch lichten Himmel hinauf. Vorsichtiger und langsamer wurden nun die Ruder eingetaucht, das Kaiserschiff war schon bis an den Kai geglitten, wo es an dem vorbestimmten, von Bewaffneten freigehaltenen Platze anlegte, und es war der Augenblick, den das dumpf brütende Massentier erwartet hatte, um sein Jubelgeheul ausstoßen zu können, endlos, erschütternd, sich selbst anbetend in der Person des Einen.
Immer war Vergil vor der Masse zurückgeschreckt; nicht daß sie ihm Furcht einflößte, aber er empfand die Bedrohung, die in ihr lag, die aus ihr geboren wurde und das Menschliche gefährdete, eine Bedrohung, die Mitleid einflößte und zugleich zur Verantwortung aufrief, ja zu einer so großen Verantwortung, daß er oftmals schon gedacht hatte, unter ihr zusammenbrechen zu müssen, krank und todesnah von solcher Last geworden, mitunter freilich meinte er, daß diese Verantwortung nicht seine Sache wäre, vielmehr, daß sie ausschließlich den Augustus anginge, aber allzu genau wußte er, daß die Verantwortung, die der Augustus auf sich genommen hatte, von ganz anderer Beschaffenheit war: Spanien war besiegt, die Parther hatten sich unterworfen, die Bürgerkriege lagen weit zurück, das Reich schien gesicherter, befriedeter, wohlhabender als es je gewesen war, und doch war das Drohende vorhanden, ein drohendes Unheil, das auch der Augustus nicht abzuwenden vermochte, trotz seines Priesteramtes, ein sogar den Göttern unerreichbares Unheil, das von keinem Massengeschrei zu übertäuben war, eher noch von jener schwachen Seelenstimme, welche Gesang heißt und die, das Unheil ahnend, das Heil verkündet. Wieder ertönte das Jubelgebrüll, Fackeln wurden geschwungen, Befehle durchhallten das Schiff, dumpf flog ein vom Lande geschleudertes Tau auf die Deckplanken, und zwischen dem Getrappel der vielen eiligen Füße lag der Kranke, aber in seinem Herzen war das Wissen um die Hölle.
Waren ihm die Sinne geschwunden? Sicherlich hätte er sich gerne dem Gejohle der Menge verschlossen, das vulkanisch und unterirdisch und trägwellig über den Platz flutete, aber er klammerte sich an das Bewußtsein, klammerte sich daran mit all der Kraft desjenigen, der das Bedeutsamste seines irdischen Seins nahen fühlt und voller Angst ist, daß er es versäumen könnte, und nichts entging ihm, weder die hilfreichen Gesten und Worte des Arztes, der auf Befehl des Augustus an seiner Seite war, noch die dumpf befremdeten Gesichter der Träger, die mit ihrer Sänfte an Bord gekommen waren, ihn abzuholen, und weder die Stadt, die er mit allen Sinnen aufnahm, den kellerkühlen Hall ihrer engen Gassen und den vertrauten Gestank der Mietkasernen und ihres Unrates, noch der Urwaldgeruch des Massentieres, das ihn umtoste, nichts entging ihm, mehr noch, die Dinge waren ihm näher und deutlicher und wacher, als sie es ihm jemals gewesen waren, und bei aller Reisemattheit verlor er nichts von seiner stillen Würde, und er dankte freundlich für jede Handreichung, die ihm erwiesen wurde. Allerdings, es war eine schwebende Nähe, so schwebend, wie er es selber auf hocherhobener Sänfte war, es war die Nähe einer gleichsam schwebend gewordenen und entrückten Zeit, es geschahen die Dinge gewissermaßen unter Aufhebung jedweder Gleichzeitigkeit, und das im Fackellicht und im Lärme tosende Brundisium war ebensosehr das brennende Troja, so wie er, der durch die Flammen getragen wurde, der flüchtende und heimkehrende Anchises war, blind und sehend zugleich in seinem Schweben, getragen von dem Sohne. Und auch als man ihn im Palaste zur Ruhe gebracht und gebettet hatte, hielt diese schwebende Wachheit an, blieb er weiter an solche Wachheit geklammert: draußen tobte die Straße, und in den Sälen des Palastes tobte das Fest, das die Stadt dem Augustus, der Augustus der Stadt gab, der alte müde Caesar, gefangen von seinem Amte und von seiner Macht, geklammert und angekettet an beide und an ihren Augenblick, und es war, als flössen Straße und Fest bis an das Krankenlager, als flösse das Gleichzeitige und Augenblickliche bis in die innerste Seele, sie durchfließend ohne sie zu erreichen, da sie im Schweben war, schwebend im Gewesenen und Zukünftigen, hingegeben einem Warten, das ebensowohl nach vorwärts wie nach rückwärts gerichtet war, und die Augen des Vergil sahen bloß das milde Ölflämmchen der Nachtlampe.
Und da er sich und seine Gedanken zurückschickte, da bemerkte er, daß er zwar zu dem kleinen Jungen auf dem Bauernhof in Andes zurückzukehren vermochte, ja daß es eigentlich gar keine Rückkehr war, vielmehr ein unverändertes Weiterbestehen, so daß er jeden Herzschlag, den er damals erlebt, jeden Grashalm, den er damals gesehen hatte, jetzt ohne weiteres hätte beschreiben und aufschreiben können, und es ihm bloß verwunderlich deuchte, daß er, inzwischen gewachsen, als erwachsener siecher Mann hier liegen mußte, daß aber alles, was seit der Kindheit geschehen, immer schütterer wurde, immer verschwindender und vergessener, nicht nur der Gutshof in Nola mit seinen Bauern, seinen bergumsäumten Feldern und den sanften Tieren, sondern auch die vielen sonnebeglänzten Tage in Neapel waren vergessen, und sogar die Werke, die er geschrieben hatte, damit sie das Bleibende würden, waren verblaßt und kaum mehr dem Titel nach zu erinnern. Nichts von den Bucolica, noch weniger von den Georgica, und wenn überhaupt etwas verharrte, so war es die Aeneis, doch auch diese nicht, wie er sie gedichtet hatte, sondern als ein Geschehen, das von ihm geschaut und nur sehr mangelhaft eingefangen worden war. Warum war dies so? für wen hatte er gearbeitet? für welche Menschen, für welche Zukunft? stand nicht das Ende aller Dinge vor der Türe? war die Vergessenswürdigkeit des Geschaffenen nicht ein Beweis für den Zeitenabgrund, der sich nunmehr auftun wollte, die Ewigkeit zu verschlingen? Betrunkene Horden im Palast und auf der Gasse; noch trinken sie Wein, doch bald werden sie Blut saufen, noch leuchten sie mit Fackeln, doch bald werden ihre Dächer brennen und flammen, brennen, brennen, brennen. Und desgleichen werden die Bücher mit in dem Rauch aufgehen. Mit Recht, mit Recht, mit Recht. In der Brust des Kranken brannte es, allein die Lippen des Schriftstellers lächelten ein wenig, denn der Brand würde auch die Bücher Horazens und Ovids kaum verschonen, und man mußte sagen, ebenfalls mit Recht. Keiner wird bestehen bleiben. Was aber dann? was vermöchte die Menschen noch zu retten, auf daß sie weiterlebten? Hieß es nicht zurückkehren in die Jugend der Menschheit, in die schlichte und sanfte Derbheit des bäuerlichen Lebens, von dem er selber seinen Ausgang genommen hatte und nach welchem er sich ein Leben lang hoffnungslos, ach so hoffnungslos zurückgesehnt hatte? was wußte der Augustus davon? er hatte das Reich gesichert, er hatte Bauten errichtet, er hatte ihn selber geschützt, er hätte es nicht tun sollen, der müde alte Mann, der immer noch lebte, heute noch unbedroht, der vielleicht so lange zu leben verpflichtet war, bis das Drohende auch an seine Türe pochen würde, an die Pforte der Paläste, die einstürzen werden, den Augustus und all seine Pracht, all die ewigen Kunstwerke unter sich begrabend. Oh, überflüssig sind die Kunstwerke, überflüssig all die Schönheit, die der Augustus und der Maecenas um sich angesammelt haben, und sie sind dem Untergang geweiht. Auf der Gasse schrien sie Augustus Retter und Augustus Vater – wird er es nicht büßen müssen? Schlaf? wer wollte schlafen, da Troja brennt!
Und als die Nacht schon weit vorgeschritten war, da sah Vergil viele zerstörte Städte und Heiligtümer vor sich, Städte, von denen er nicht einmal den Namen kannte und die ihm doch so bekannt waren wie die Stadt seiner Jugend, die Mantua hieß; er sah Babylon und Niniveh, er sah ein verwüstetes Theben und das oftmals zerstörte Jerusalem, und er sah das verödete Rom, ein Rom, durch dessen Gassen die Wölfe streiften, ihre Stadt wieder in Besitz zu nehmen, und er sah die Ohnmacht der Götter. Und dann trat ein Engel an sein Lager, seine Fittiche waren so kühl wie der Septembermorgen, welcher anbrechen sollte, und der Engel sagte: »Wachse nun, kleiner Knabe«, sagte es, als wäre es ein Trost, und es war einer, obgleich darin die Verkündigung des Todes enthalten war. »Gut«, antwortete Vergil und versuchte die Züge des Engels zu erkennen, »gut, dann will ich jetzt schlafen.«
Der Morgenwind strich das Fenster, und Vergil träumte von den Feldern im blondwogenden Erntekleid, er träumte vom Rinde, das neben dem Löwen lagert, er träumte den Frieden des Lebens, einen größeren Frieden als den, der vom Augustus der Welt geschenkt worden war, und er träumte davon, daß der Engel auch den Augustus besuchen werde. Denn durch all dieses Träumen hindurch schwebte ein Wissen, und wenn es auch keinen Namen hatte, sondern nur ein Bild war, ein Bild glückseligen Landes, nicht minder bekannt als die Bilder der rauchenden Städte, so war das namenlos Gewußte doch die wissende Namenlosigkeit der Liebe, einer männlich mütterlichen Liebe, die in die schmerzlich wartende, leidende, ihr geöffnete Welt ersehnt und sehnsüchtig einziehen sollte. Gerne hätte Vergil nach dem Namenlosen gefragt, doch als er die Lider aufschlug, da war das Gemach voll warmer Septembersonne, und statt des Engels stand flügellos und eher ein wenig beleibt der Maecenas vor ihm, ein besorgtes Lächeln in dem gutmütig tüchtigen, genießerischen Gesicht, und Vergil schloß rasch wieder die Augen, der verlorengegangenen Musik nachlauschend.
Weil aber das Singen sich nicht wieder einstellen wollte, rief er, noch immer geschlossenen Auges, nach seinem Besucher, und dieser antwortete: »Ja, mein Vergilius, ich bin hier.«
»Es ist schön, daß du gekommen bist«, sagte Vergil.
»Ich wußte um eure Ankunft; dich und den Augustus, sein Name sei gepriesen, einzuholen, eilte ich hierher.«
Vergil nickte: »Ja, du bist mich holen gekommen … das ist recht, du weißt den Platz am Posilip, der auf mich wartet.«
Von Gräbern wollte Maecenas nichts hören: »Du bist nicht älter als ich«, wehrte er ab.
Der Dichter blickte seinen Gast groß an, und in seinen Augen war unverkennbar die gewichtige Antwort zu lesen. »Höre, Maecenas«, sagte er, »ich bereue es nicht.«
»Oh, mein Vergilius, was hättest du wohl auch zu bereuen! du, der Dichter Roms!«
»Wäre ich bloß der Dichter Roms, ich hätte es zu bereuen!«
Maecenas schüttelte den Kopf, und seine Augen wurden feinschmeckerisch: »Du, der Dichter der Schönheit!«
»Wäre ich der Dichter der Schönheit, ich würde mich schämen, und meine Reue wäre groß.«
»Bist du nicht der Dichter der Götter?«
»Nein … glaubte ich an sie, wie sie es befehlen, ich hätte nie und nimmer dichten müssen …«
»Doch du sangest zu ihrem Preis …«
»Nein, ich sang, sie zu suchen … und ich habe sie nicht gefunden, ich fand anderes …«
Der genießerische Ausdruck in dem Gesicht des Maecenas verstärkte sich: »Dann wirst du uns singen, was du gefunden hast … es wird herrlicher sein als alles Bisherige.«
Vergil lächelte: »Ich werde nicht mehr dichten, Maecenas, und selbst wenn mir dazu Zeit vergönnt wäre, ich möchte es nicht mehr …«
Die Aufmerksamkeit, mit der Maecenas den Worten des Freundes und Dichters lauschte, wurde wehmütig, und er zitierte: »Nie mehr singe ich Lieder, und nicht mehr bin ich euer Hüter … oh, Vergilius, soll es wahrlich so sein?«
»Das Lied wird erschweigen, Maecenas, und die Bildwerke werden gestürzt werden; doch du sollst darob nicht trauern, denn was zu künden sein wird, ist die Wahrheit, eine Wahrheit, an die keine Kunst heranreicht und vor der die Kunst verstummen muß …«
Maecenas war verletzt: »Oh, niemals wird die Schönheit verstummen«, ereiferte er sich, »vor keiner Wahrheit wird sie erschweigen, und immer wird sie es sein, die die Wahrheit kündet … schmähe nicht die Kunst, die der Gott dir geschenkt, Vergilius …«
Wieder lächelte Vergil: »Ich schmähe sie nicht, ich beginne bloß, mich ihrer nicht mehr zu entsinnen … aber ich bereue es nicht, Maecenas … freilich nicht um der Schönheit willen …«
Ehrfürchtig vor dem Dichter, ehrfürchtig vor dem Tode, wagte Maecenas keinen Einwand mehr, und er seufzte bloß. Vergil aber, geschlossenen Auges sprach weiter, und er sprach nicht mehr für den Maecenas, er sprach für sich: »Was nur um der Schönheit willen geschieht, das ist nichts und ist verdammenswürdig … was aber um der Ahnung willen geschieht, das vermag das Herz des Menschen erklingen zu lassen, so daß es bereit wird für die kommende Verkündigung … bereit wie eine Leier, die unter dem Winde singen wird … es ist die Reinheit des Herzens.«
Straße und Hof erschollen von Pferdegetrappel; es waren die Boten, die kamen und gingen, es waren die Vorbereitungen für den baldigen Aufbruch des Augustus, es war das staatlich höfische Getriebe, das den Palast erfaßt hatte. Dazwischen hörte man das Ächzen ländlichen Fuhrwerkes, das Schlurfen der Sandalen auf dem Pflaster, immer wieder übertönt vom schweren Tritt der Militärstiefel, und aus der weiteren Ferne war ab und zu das Geschrei des Marktes vernehmlich. Und von solchem Alltag zu dem Maecenas zurückgeführt, sagte Vergil freundlich: »Du bist in Staatsgeschäften zum Augustus gekommen, und es will mich dünken, daß die Geschäfte schon recht sehr lärmen … komme wieder zu mir, ehe ihr abreist …«
»Auch der Augustus will dich besuchen«, bestellte Maecenas, indem er sich traurig und, bei aller Elegance, ein wenig schwerfällig erhob, nicht ohne dabei die Falten seines Gewandes zurechtzuzupfen und in die richtige Lage zu bringen.
»Gut«, stimmte der Kranke zu, »kommt beide zu mir … soferne es die Geschäfte erlauben … und bis dahin sage dem Augustus, daß ich ihn liebe …«
Unschlüssig war Maecenas stehengeblieben, als erwarte er noch etwas Feierliches, zu dem die Stunde und die Freundschaft und die Ehrfurcht verpflichtet hätten, und auch Vergil spürte dies, aber er ließ es sich nicht anmerken; er lag da und schwieg, obwohl ihm der Abschied weh tat und erst als der Maecenas sich entfernte, auf Zehenspitzen davonwippend und durch solch ungewohnten Gang in seiner Würde, die er trotzdem aufrechtzuhalten sich bemühte, wesentlich beeinträchtigt, da blinzelte ihm Vergil unter den Lidern nach, und wenn der Maecenas sich umgewandt hätte, so hätte er eine große Rührung in den Zügen des Dichters entdecken können, freilich auch eine ebenso große Verwunderung: Vergil befand sich in einer großen Verwunderung, einer Verwunderung, über die er sich erst jetzt Rechenschaft abzulegen begann, erstaunt über den Schmerz, den er um des Maecenas und des Augustus willen empfand, erstaunt, daß ihm dies so nahe ging, mehr noch, daß seine Augen dem Maecenas genau so nachblinzeln konnten, wie sie es stets getan hatten, daß sein Gehör noch die Geräusche der Stadt in sich aufnahm, verwundert des Geistes, der intakt geblieben war und in dem all dies sich abspielte! wahrlich, je brüchiger und je unsteter er in den vielen vergangenen Jahren sich selbst empfunden hatte, desto begieriger war er geworden, daß die Brüchigkeit fortschreite, desto mehr war seine Neugierde gewachsen, eine verwunderte und wunderliche Neugierde, die gerne die körperlichen Schmerzen und das Ungemach auf sich nahm, vielleicht sogar sie unterstützte, um das Ende zu beschleunigen, das Außergewöhnliche, das mit der Auflösung kommen mußte, damit sie Erlösung werde; und jetzt, da es so weit war, da war es noch immer das nämliche Schauen, das nämliche Hören, das nämliche Denken, wie es das ganze Leben stattgefunden hatte, und dies war verwunderlich. Nun war der Maecenas gegangen, froh, zu seinen Bildwerken heimkehren zu dürfen, zurück in die irdische Schönheit seines Palastes, ledig eines Mahners, der von solcher Schönheit nichts mehr wissen wollte, und fast schien es, als hätte der Maecenas recht, verwunderlich recht. Was wäre wohl an die Stelle der Schönheit zu setzen, da das Leben des Menschen nicht weiter reicht als sein Sehen und Hören? ach, das Herz vermag nicht weiter zu klingen, als es schlägt – warum also die Auflehnung gegen eine Schönheit, die es zur Reinheit seines Klingens bringt? Vergil versuchte darüber nachzudenken, indes, wieder waren es bloß Bilder, die sich einstellten, und wiederum waren sie voller Leid: mochten auch die Schlachtfelder des Reiches nun ferne sein, in Britannien, in Germanien, in Asien, es waren doch Menschen, die sich dort abschlachteten, und mochten die kaiserlichen Gerichte auch gerecht aburteilen, mochten es auch Verbrecher sein, die allenthalben auf den Richtstätten an den Kreuzen hingen und in ihren Schmerzen sich wanden, es waren doch Menschen, und Menschen waren es, die in den Arenen gehetzt wurden, zerstückelt, zerfleischt, Menschen, die einander töteten, blutvergießend, Blut, Blut, Blut, zum Ergötzen der Masse, Opfer, sinnlose Opfer zum Ergötzen des Massentiers und einer Irdischkeit, der auch der Augustus und auch der Maecenas, jeder auf seine Art, dienten, da sie alles so lassen wollten, wie es war, und höchstens nach Schönheit strebten, blind für die Dumpfheit, blind für den Blutdurst, blind für die Einzelseele, die im Ungezügelten, kaum Gebändigten zu versinken drohte. Was aber war all dem Blute, all den vielen Opfern, all den Qualen entgegenzuwerfen? Verse? waren Verse nicht zu wenig und doch zu viel? vermochten Verse eine solche Welt zu ändern? vermag der Mann, der die Folterungen begafft und sich ihrer freut, überhaupt noch Verse zu hören? bedarf es da nicht eines größeren Einsatzes, um sich Gehör zu verschaffen?! In der Tat, so ist es: wer nicht das Opfer überbietet, wer das sinnlos irdische Opfer nicht zum reinen Opfer des Überirdischen erhebt, wer nicht selbst in die Arena steigt, wer nicht selbst sich ans Kreuz heften läßt, wer nicht seine ganze Person, sein ganzes Leben darbringt, der kann nicht, der darf nicht, der soll nicht hoffen, daß es ihm jemals gelänge, das verwirrte und verstockte Menschenherz zu reinem Aufklingen zu erwecken! Er jedoch, wie hatte er selber gelebt? Er war geflohen! er war vor dem Opfer und vor dem eigenen Einsatz geflohen, er war geflohen von Landschaft zu Landschaft, bis er brüchig und müde geworden war, und er hatte Verse geschrieben, die gleichfalls nur Flucht waren, Flucht in die Schönheit. Nein, er war nicht besser gewesen als der Augustus und der Maecenas, er hatte ihre Meinungen und Haltungen in keiner Weise widerlegt, weder durch sein Leben noch durch seine Werke, und mit Recht durften die beiden die Widmung seiner Georgica und der Aeneis für sich beanspruchen. Kein Zweifel, die Werke gehörten ihnen, sie mochten sie mit sich nehmen und sie behalten, sie waren sein Vermächtnis an sie, die Freunde, die er liebte und nun doch nicht mehr sehen wollte, wenn sie jetzt abreisen würden, kaiserlich feierlich nach dem irdischen Rom. Oder waren sie gar schon fort? Vergil lauschte: in dem Palast war es merklich stiller geworden, und auch der Lärm der Stadt klang wesentlich gedämpfter. Sollten t sie ihn tatsächlich ohne Abschied verlassen haben? eine Wolke des Unmuts ging über des Dichters Stirne: er hätte ihnen gerne noch gesagt, daß in all seinen Werken etwas Verborgenes wohnte, etwas, das mit eigentlicher Schönheit wenig zu tun hatte und das wichtiger als jegliche Schönheit war, etwas, das man freilich erst ergründen mußte, wie er ja selber erst heute diesem Sachverhalt auf die Spur gekommen war. Es wäre wohl der Mühe wert gewesen, ihnen dies noch zu sagen. Doch vielleicht waren sie noch gar nicht abgereist, vielleicht hatte man bloß, den Lärm abzudämpfen, die Straße mit Stroh bestreut und den Pferden die Hufe mit Tüchern umwickelt, weil man wußte, daß er krank hier daniederlag, daß die Brust ihm brannte und daß er über das Verborgene des eigenen Werkes nachsinnen mußte, lauschend einem Mittagslichte, das er nicht mehr sah. Und je schärfer er hinhorchte, desto verebbter und entfernter klangen die Geräusche des Lebens, sie waren wie Vorhänge, die sachte von einer Hand weggenommen wurden, einer nach dem andern, bis nichts übrigblieb als das, was zwischen den Worten und den Zeilen eingebettet gewesen war, und dies war die Gesinnung seines eigenen Herzens und des Herzens Ahnung, Schönheit auch sie, und doch des Herzens Opfer. Stiller und stiller wurde es, und es ward zu der Stille, die den Sänger empfangt, ehe er in die Saiten greift. Die große Stille der Menschheit, die nicht mehr Masse ist, sondern Gemeinde der Seelen, Atem der Klarheit, der hinüber- und herüberweht, das gemeinsame stumme Sphärenlied des Sängers und des Hörers, in beiden zugleich geboren, in beiden zugleich erklingend. Vergil, der Sänger, lauschte, er war gespannt, gespannt wie die Saiten einer Leier, ja, er war selber die Leier, und er erwartete die Hand, die nach seinem Herzen greifen würde, damit es in seiner reinen Spannung erklinge, sehnsüchtig erwartete er diese Hand, denn wenn es klingen würde, dann würde das Herz nicht mehr brennen. Und siehe, während er so lauschend lag und immer deutlicher es spürte, wie die mütterliche Hand der Liebe sich seinem Herzen näherte, und wie die Mittagsnacht immer stiller und dichter sich herabsenkte, erfüllt von dem Rieseln der Abendbäche, beschattet von den Eichen und Pinien, so daß Nymphen wie Hirten schon längst in der Dunkelheit entschwunden waren, oh, in dieser Landschaft des Abends, die er liebte, obgleich er sie längst nicht mehr sah, breitete Vergil die Arme aus, als wollte, als müßte er sich mit ihr verkreuzen und für immer in sie eingehen, denn er hörte aufs neue den Engel, und der sagte: »Wachse, kleiner Knabe, wachse, klinge und führe, Führer durch die Zeiten, ahnend im Zeitlosen.«