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Huguenau

I

Wurde Odysseus in vorgerückten Jahren, als er nur mehr täglich sich vor den Palast bringen ließ, um sein erkaltendes Blut auf der besonnten, verwitterten Steinbank, neben dem Tore zu wärmen, nach seinen Lebensschicksalen gefragt, da war es ihm, als wäre das wechselvolle und lärmende Geschehen, in dessen Mittelpunkt er doch einst gestanden, irgend eine überflüssige und vergessenswürdige Geschichte, die er in müßiger Stunde von einem der orientalischen Märchenerzähler gehört haben mochte. Ja, wenn er etwas über sich aussagen konnte, so war es wohl, daß er stets ein Kerl gewesen sei, der sich in der Welt zurechtfand, dem es an allerlei Klugheit nicht fehlte und den es auch auf die Dauer nicht auf einem Fleck ließ: und in seiner Greisenweisheit war es ihm klar –, sprach er es auch nicht aus –, daß das zufällige Geschehen als rechte Nebensächlichkeit zum Charakter hinzutrete, daß mit Recht jenes vergessen werde, dieser aber unantastbarer Bewußtseinsbesitz bleibe, ja, daß man nicht einmal eine Art Wechselwirkung zwischen jener äußeren und dieser wahrhaft menschlichen, inneren Welt annehmen könne. Wären jene etwas dummen, homerischen Ereignisse, deren er sich eigentlich irgendwo schämte, nicht gewesen, so hätte er gewiß (er dachte an Hamsun) auch sonst allerlei Landstreicherisches, dessen er sich nicht minder geschämt hätte, begangen: aber die Gespräche zwischen dem Sau- und dem Rinderhirten wären schon die nämlichen geblieben und schließlich wäre er auch dann, von seinem Dämon getrieben, zur Scholle und ins Bett Penelopes zurückgekehrt, hätte den Boden ererbten Gutes geküßt und alles wäre so geworden, wie es jetzt ist – Ordnung in die verlotterte Wirtschaft gebracht, Hypotheken zurückgezahlt, das Haus in Stand gesetzt und verschönt. Und für ihn, der unter der gleichen, wärmenden Sonne, mit den gleichen Falten im grabesnahen Gesicht, auf der gleichen Bank nun sitze, wäre es das gleiche Leben gewesen.

Wenn man also bedenkt, wie viel schlechte Literatur schon mit Hilfe lärmender und formidabler Ereignisse, besonders solcher historischer Natur und gar des Weltkrieges verfertigt worden ist, so wird man auch unser Bedenken gegenüber der Annahme verstehen, der Krieg habe dem Lebenslauf Huguenaus eine entscheidende Wendung gegeben, hätte ihn aus seiner Bahn vorgeschriebener Bürgerlichkeit geführt, in der er ungestört verblieben wäre, wenn er von den Begebenheiten der Jahre 1914–19 nicht erfaßt worden wäre. Wiewohl zuzugestehen ist, daß solche Annahme nicht zu fernab liegen würde.

Denn Huguenau, dessen Vorfahren wohl Hagenau geheißen hatten, bevor die Truppen Condés 1692 das elsässische Land besetzten, hatte durchaus den Habitus eines bürgerlichen Alemannen. Er war beleibt, trug seit seiner Jugend, oder präziser seit der Zeit, da er in Schlettstadt die Handelsschule besuchte, Augengläser, und als er sich zur Zeit des Kriegsausbruches seinem dreißigsten Jahre näherte, waren alle Züge der Jugendlichkeit aus seinem Gesicht und seinem Gehaben verschwunden. Seine Geschäfte betrieb er im Badischen und in Württemberg, teils als Filiale des väterlichen Unternehmens, teils auf eigene Rechnung und als Vertreter elsässischer Fabriken, deren Erzeugnisse er in jenem Rayon absetzte. Sein Ruf in Branchekreisen war der eines strebsamen, umsichtigen und soliden Kaufmannes.

II

Und trotzdem lag es durchaus in der Linie seines Lebens, war es wohl seinen inneren Gesetzen adäquat, als er in Flandern kurzerhand das Schlachtfeld verließ.

Er war in der zweiten Kriegshälfte zu den sogenannten Waffen gerufen worden, hatte diese Tatsache zwar mit einigem Murren, jedoch wie die übrigen Fakta seines Lebens ohne weitere Auflehnung entgegengenommen, wenn ihn auch sein kaufmännisches Ethos eher dem zeitgerechteren Schleichhandel verpflichtet hätte. Die Kasernenzeit ließ er sogar mit gewissem Humor über sich ergehen. Vieles erinnerte ihn an das Leben in der Schule: die Disziplin, die Angst vor dem Vorgesetzten und seiner offenbaren Ungerechtigkeit, das Bestreben, dennoch seine Liebe und Gunst zu erringen. Daß sie überdies in einem Schulhaus untergebracht waren, die schwarze Tafel, die zwei Reihen Gaslampen, die er noch im Einschlafen über sich sah, der Mangel jedweder Reinlichkeit, die Prävalenz des defäkalen Elements, lauter Dinge, mit denen man sich über alles Erwarten leicht abfand, verstärkten den scholaren Eindruck. Auch als sie endlich zur Front abgingen, kindische Lieder singend und mit Fähnchen geschmückt, primitive Unterkünfte in Köln und Lüttich beziehend, war er der Vorstellung des Schulausfluges völlig verhaftet.

An einem Abend wurde seine Kompagnie an die Front gebracht. Es war eine ausgebaute Schützengrabenstellung, der man sich durch lange, gesicherte Laufgänge näherte; in den Unterständen war beispielloser Schmutz; der Fußboden war mit trockenem und frischem Tabakspeichel allenthalben bespuckt, an den Wänden gab es Urinstreifen; ob es nach Fäkalien oder Leichen stank, war nicht zu unterscheiden: hätte Huguenau biologische Kenntnisse besessen, so hätte ihm hier deutlich werden können, wie der Ekel des Menschen nur ein Teil ist seiner Angst vor dem Tode, ja daß vielleicht alle Reinlichkeit und aller zivilisatorische Fortschritt bloß darauf angelegt ist, Verwesungsgerüche dem Lebenden fern zu halten. Und immer wenn der Mensch das Zivilisatorische abzustreifen genötigt ist, und wäre es sogar in ekstatischer Liebesvereinigung, in der doch immer ein Stück überwundenen Ekels steckt, packt ihn die Angst vor dem Tode.

Aber wenn Huguenau sich auch solches nicht rational zum Bewußtsein bringen konnte, so erfüllte ihn wie seine Kameraden die geschilderte Umwelt, in die sie versetzt waren, mit großer Abneigung.

Damals wurde von den verschiedenen Generalstäben gemeldet, daß am flandrischen Abschnitt völlige Ruhe herrsche. Auch die abgelöste Kompagnie hatte ihnen versichert, daß nichts los sei. Nichtsdestoweniger begann nach Einbruch der Dunkelheit eine, angeblich allnächtliche, beiderseitige Artillerieschießerei, augenscheinlich bloß veranstaltet, um die respektiven Nachtruhen zu stören. Wohl hätte Huguenau an den Lärm der Kanonaden von seinen letzten Hinterlandstationen gewöhnt sein können, doch kann es nicht Wunder nehmen, daß in seiner neuen Umgebung der Lärm und der feuerwerkartige Himmel ihm einen besonderen Eindruck machten. Man hatte ihn einst als Schüler in Colmar ins Museum geführt und ihm Grünewalds Altarwerk gewiesen. Die Bilder waren ihm damals völlig gleichgültig und waren es auch geblieben; sie hatten ihn bloß mit einem gewissen Unbehagen erfüllt; insbesondere war ihm der in einer Orangewolke auffliegende Herr mit der erhobenen Hand durchaus unsympathisch. Jetzt, da er zitternd und mit Leibschmerzen auf einer Art Pritsche saß, drängten sich jene Bilder mit sonderbarer Ostentation in sein Bewußtsein. Auf seinen Reisen hatte er einmal auf einem erzwungenen Sonntagsaufenthalt in Nürnberg mit Interesse die Folterkammer besichtigt; dort war auch ein Stich zu sehen, der einen Mann, angekettet an eine Art Pritsche zeigte, und der, wie die Beschreibung sagte, einen Pastor im Sächsischen mit vielen Dolchstößen ermordet hatte und nun dafür auf dieser Pritsche die Strafe des Räderns erwartete. Über den Vorgang des Räderns konnte man sich an den andern Ausstellungsstücken eingehend orientieren. Der Mann hatte ein vollkommen gutmütiges Aussehen, und es war ebenso unverständlich, daß er einen Pastor erstochen haben und gerädert werden sollte, wie daß Huguenau in Leichengestank auf seiner Pritsche sitzen mußte. Sicherlich hatte auch er Leibschmerzen und mußte sich, weil er angekettet war, beschmutzen. Folterkammer und Unterstand tauchten dabei in die etwas schmutzigen und doch leuchtenden grün-blauen Töne des Grünewaldschen Altars, und während draußen im aufzuckenden Orangelicht des Kanonenfeuerwerkes Bäume ihre nackten Äste zum Himmel reckten, schwebte ein Mann mit aufgehobener Rechten in die so erleuchtete Kuppel.

Als das erste Morgengrauen kalt und käsig anbrach, bemerkte Huguenau am Grabenrand Gras und einige vorjährige Gänseblümchen. Da kroch er heraus und entfernte sich. Kann man es als Feigheit bezeichnen? er wußte, daß er von den englischen Linien ohne weiteres abgeschossen werden konnte und daß er von jedem deutschen Soldaten, den er treffen mochte, bedeutende Unannehmlichkeiten zu erwarten hatte. Aber die Welt lag wie unter einem Vakuumrezipienten oder, wie es in ihm aufzuckte, unter einer Käseglocke, madig und vollkommen tot in unverbrüchlichem Schweigen.

III

Es gehört zu den bemängelten Zufälligkeiten dieser Erzählung, daß Huguenau Elsässer ist. Er sprach also nicht nur ein verständliches Französisch, sondern hatte auch im vorhinein Sympathien bei der belgischen Bevölkerung zu erwarten. Allerdings war er auch von dem Glück seines schlafwandlerischen Zustandes und dessen spezifischer Sicherheit begünstigt. In Handwerker- und Bauernhäusern nächtigend und verborgen, trieb er sich bei Tage, soferne er nicht abgeschiedene Gebirgswege ging, womöglich dort herum, wo er in dem Durcheinander von Soldaten, wie etwa bei Etappenkommandos, untertauchen konnte.

Dabei war es bemerkenswert, daß er keineswegs direkt aufs Hinterland zusteuerte, sondern, wie gefesselt von der ihn umgebenden Gefahr, vielleicht aus einem undeutlichen Schuldgefühl, ein Verbrecher, der den Tatort nicht verlassen kann, sich im Etappenraum längs der Front fortbewegte. Irgendwo war er dabei auch von der Überlegung geleitet, daß die relative Unordnung und Verwirrung in diesen Regionen ihm förderlich sein könne. So kam er durch Südbelgien, wo er bei passender Gelegenheit die Uniform gegen bürgerliche Kleidung vertauschte und ein Handköfferchen erstand, kam durch die Eifel und in die Trierer Gegend. Das bürgerliche Gewand erweckte sein kaufmännisches Gewissen und mahnte ihn um so dringlicher, für Gelderwerb zu sorgen, als die patriotisch-belgischen Unterstützungen nunmehr zu fließen aufgehört hatten. Es war der Ernst des Lebens, der in neuer und veränderter Form an ihn herantrat, und Huguenau hatte das Gefühl, als sei eine Ferienzeit zu Ende gegangen. –

IV

Das Städtchen lag von Weinbergen umgeben in einem Nebental der Mosel. Oben auf den Höhen steht der Wald. Die Weinberge waren bereits bestellt, geradlinig waren die Stöcke gerichtet, manchmal unterbrochen von rötlichem Felswerk. Huguenau bemerkte mißliebig, daß manche Besitzer das Unkraut in ihrem Grundstück nicht ausgerodet hatten, so daß so ein vernachlässigter Garten wie eine gelbe, rechteckige Insel zwischen der grau-rosa Erde der übrigen lag. Daß er Sinn für Ordnung und Wohlanständigkeit wiedergefunden, erfüllte ihn mit Behagen und einer leichten Sicherheit. Mit Genugtuung sah er das stattliche Militärkrankenhaus vor der Stadt, dessen lange Front im Schatten der Frühlingssonne lag, fand es angemessen, daß alle Fenster wie in einem südlichen Sanatorium geöffnet waren und stellte es sich als angenehm vor, wie die laue Frühlingsluft die weißen Krankensäle durchflutet. Er fand es richtig, daß das Dach des Krankenhauses mit einem großen roten Kreuz versehen war, und hatte im Vorbeiwandern ein wohlwollendes Auge für die Krieger, die in ihren grauen Kitteln teils im Schatten, teils in der Gartensonne ihrer Genesung entgegenreiften. Drüben, jenseits des Flusses, lagen andere militärische und offizielle Etablissements: die Kaserne und die Strafanstalt in ihrer üblichen ärarischen Bauweise. Freundlich und bequem senkte sich die Straße zur Stadt hinab, und als er durch das mittelalterliche Stadttor ging, sein Köfferchen in der Hand wie einst den Musterkoffer, da war es nicht anders als sonst, da er die württembergischen Orte zwecks Kundenbesuch als kaufmännischer Eroberer betrat.

Wenn also auch vieles, und seiner eigenen Vorstellung gemäß sogar alles, dafür sprach, sein Leben dort wieder aufzunehmen, wo man es ihm abgerissen hatte, wenn ihn also eigentlich alles dazu trieb, seiner kaufmännischen Pflicht zu genügen und als Kettenhändler von Butter und Textilien das Geld auf der Straße aufzuheben, so fühlte er trotzdem und zu seinem eigenen Befremden, daß er bloß mit Widerwillen an Buttertonnen, Kaffeesäcke und Textilgewebe zu denken vermochte, und um so eindringlicher wurde er hievon befremdet, als er ja seit seiner Knabenzeit doch nichts anderes getan hatte, als Geschäft und Geld zu reden und zu denken. So ist es nicht verwunderlich, daß er sich mit einiger Beschämung in Knabenhaftigkeit zurückversinken fühlte, für ihn dennoch verwunderlich, weil sich eigentlich nichts in ihm gegen solche Abnormität und Sinnlosigkeit auflehnen wollte. Früher war ihm jeder Sonntag zu einer Qual, die bloß mühselig und mit einiger Alkoholhilfe zu überbrücken war. Er mußte wieder sich des erzwungenen Nürnberger Ferientages erinnern, als er die altertümlichen Straßen durchschritt. Hier in Kurtrier hatte der pfälzische Krieg nicht so erbarmungslos gewütet, wie sonst westlich des Rheins: unversehrt standen die Häuser des XV. und XVI. Jahrhundertes in der mauerumgebenen Stadt, am Markt das gotische Rathaus mit dem Renaissanceaufbau und dem Turme und die Prangersäule. Und Huguenau, der auf seinen Geschäftsreisen manchen schönen, alten Ort besucht, aber noch keinen bemerkt hatte, war seltsam angeheimelt von einem Gefühl, das, würde es sich nicht um Huguenau handeln, bloß als ein ästhetisches zu bezeichnen wäre. Denn eng verschwistert ist das ästhetische Gefühl mit dem der Freiheit, so daß man kaum mehr entscheiden kann, ob die Freiheit die Seele der Schönheit öffnet oder aber die Schönheit ihr die Ahnung ihrer Freiheit verleiht. Doch da alles Licht der Welt mit der Freiheit anhebt, da erst in ihr die sonntägliche Heiligung des Lebendigen sich ergibt, ist sie wohl auch der Schönheit vorangegangen; und ein Schimmer jenes höheren Lichtes ward auch Huguenau zu Teil in jenem Augenblicke, da er aus dem Graben kroch, zum ersten Male herausgehoben und losgelöst von aller menschlichen Verbundenheit, zum ersten Male dem Sonntag geschenkt.

Es versteht sich, daß Huguenau eine solche Auffassung seines Verhaltens – nähme er sie überhaupt zur Kenntnis – als närrisch ablehnen, vielmehr sich darauf beschränken würde, darzulegen, daß ein Mann mit ungenügenden Ausweispapieren und ohne Kundenstock es nicht leicht habe, sich am Platz einzuführen, geschweige für größere Transaktionen Kredit zu finden. Vorderhand also sähe er nichts als Schwierigkeiten, doch müsse er sich vor allem diese Sache überschlafen. Es kann also wohl darauf verzichtet werden, ihn über die tieferen Motive seiner Haltung aufzuklären und er möge dem Genuß des Moselweins überlassen bleiben, dem er sich an diesem Abend im Gasthofe hingab, bevor er sein Bett aufsuchte.

V

Am nächsten Morgen erwachte er mit einem, zwar nicht präzisen, doch auch nicht aussichtslosen Plan. Der Krieg hatte sicherlich im Kreise der Weinbauern empfindliche Lücken gerissen und anderen war wohl die Bestellung ihres Gutes durch die staatliche Preisbeschränkung verleidet: nicht umsonst zeigten doch viele Gärten die Spuren der Vernachlässigung und minderen Pflege. Was also war näherliegend, als daß gar manche Witwe und mancher verarmte Besitzer geneigt sein würden, sich ihres Anwesens zu sehr mäßigem Kaufschilling zu entäußern. Huguenau wußte von seinen Schlauchverkäufen an innerdeutsche Großweinhandlungen, daß diese oft Interesse bekundeten, gute Weinlagen zu erwerben. Aber es mußten sich für die prima Kapitalsanlage dieser Moselgärten, die doch nach dem Kriege wieder ihren vollen Preis haben würden, auch sonst genügend Interessenten finden und für den Vermittler solcher Geschäfte mußte ein ansehnlicher Gewinn bleiben.

Als Mann raschen Entschlusses setzte er sofort eine entsprechende Kaufanzeige auf und während er sich dann die Haare auf gewohnte, germanische Art schneiden ließ – wenige Restbestände auf des Hauptes Gipfel dienten zur Errichtung eines Scheitels, – besah er die Zeitungen: den in der Stadt erscheinenden »Kurtrierschen Boten« (mit der Sonntagsbeilage »Landwirtschaft und Weinbau des Mosellandes«) befand er als das geeignete Organ seines Manifestes.

Das Haus lag in einer der zum Flusse führenden Seitengassen, ein Fachwerksbau, in dem ersichtlich seit Jahrhunderten allerlei Handwerk geübt worden war. Durch einen schmalen, gangartigen Flur, in dem er über die Falltüre der Kellerstiege stolperte, vorüber an der Mündung der Wohnungstreppe, kam er in einen überraschend geräumigen Hof, der von dem Charakter des einstigen Besitzers zeugte. An den Hof schloß sich der Garten an, in dem einige Kirschbäume blühten und hinter dem sich der Blick auf das schöne Berggelände weitete. In einem offenkundig ehemaligen Stallgebäude sah man durch ein nüchternes Eisenfenster, das die ganze Breite der einstigen Stalltüre einnahm, eine Druckmaschine arbeiten. Der Mann an der Maschine wies Huguenau in den ersten Stock, wo er Herrn Esch finden werde. Zu diesem Zwecke war eine hühnersteigartige Holztreppe an der Außenseite des Gebäudes zu erklettern, die wohl zu den früheren Knechtkammern geführt hatte, und hier leitete Herr Esch, den Gast empfangend, die Redaktion und Administration des »Kurtrierschen Boten«, dessen Besitzer und Herausgeber er war. Es war ein hagerer Mann, dessen faltenreiche, graugestrickte Socken in unförmigen, schwarzen Halbschuhen steckten, die sonderbar nicht mit Schnürriemen, sondern mit einer eigenen, an Sattelzeug gemahnenden Schnalle verschlossen waren. Im Verhältnis zu diesem Schuhwerk war sein Anzug aus zu feinem und recht abgetragenen Tuch; unter der Weste kroch ein grober Leibgurt hervor. Huguenau bemerkte ein durch mannigfache Unachtsamkeit heller verfärbtes linkes Hosenbein, im Geiste konstatierend, daß derartige Flecken durch keine chemische Reinigung verschwänden, wohl aber, wenn sich Esch entschließen würde, die Hose schwarz oder dunkelblau einfärben zu lassen. Das Gesicht nahm er eigentlich erst im Laufe des Gespräches wahr: es war durch zwei lange, scharfe Wangenfalten auffallend, zwischen denen ein, gerne sarkastisch grimassierender, beweglicher Schauspielermund mit etwas vorhängender glatter Unterlippe lag. Unter hakiger Nase gab es schüttere Schnurrbarthaare. Das überreichte Inserat wurde wie ein Manuskript und mit der Miene eines Untersuchungsrichters geprüft. Huguenau griff nach der Brieftasche, der er einen Fünfmarkschein entnahm, sozusagen andeutend, daß er diesen Betrag für das Inserat anlegen wolle. Aber der andere gab darauf nicht acht, sondern fragte unvermittelt: »Sie wollen wohl die Leute hier auspowern? spricht sich wohl schon herum, das Elend unter unseren Weinbauern? na, wenn es auf mich ankäme … aber ich kann es ohnehin nicht hindern. Wie groß soll das Inserat sein? eine Achtelseite sechsemmfünfzig.« Es versteht sich, daß Huguenau ob der unvermuteten Aggression verdutzt war; aber eben vor ihr erwachte die Erinnerung an ähnliche Situationen, an ungezählte, in Comptoirs geführte Kämpfe, und automatisch richtete er sich auf kalten Widerstand ein: »Kein Rabatt?« Esch fuhr ihn an: »Rabatt wollen Sie auch noch haben! Herr, wissen Sie, wozu ich mich für sechs Emm hergeben soll? daß Sie Leute, kreuzbrave, arme Leute von Haus und Hof treiben wollen … wissen Sie, was Abschiednehmen heißt? lieber Gott, und alles, damit irgend so ein Kriegsgewinnler noch mehr Profit hat! Lieber Freund, hier haben Sie Ihr Inserat, ich bringe es nicht.« – Huguenau konnte es nicht als ernsthaft nehmen, daß irgendjemand auf irgendein Geschäft verzichten wolle; er hielt es für einen Trick und parierte – und wie er meinte, geschickt –, indem er vor allem die Differenz der 50 Pfennig festnagelte: »Sie sagen also 6 Mark, ich kann gleich bezahlen« und brachte noch ein Markstück zum Vorschein. »Danke, ich sagte Ihnen doch, daß ich das Inserat nicht bringe. Haben Sie sich schon den Kopf darüber zerbrochen, was feile Presse heißt … sehen Sie, ich bin für Ihre sechs Emm nicht feil«, war die überraschende Antwort. Huguenau wurde es immer wahrscheinlicher, einem gerissenen Geschäftsmann gegenüberzustehen. Aber eben deshalb durfte er nicht loslassen; die Anbahnung eines Kompagnieverhältnisses erschien nicht unvorteilhaft: »Hm, ich habe gehört, daß solche Insertionsgeschäfte auch gerne auf perzentuelle Beteiligung gemacht werden … wie wäre es mit 2% Provision; allerdings müßten Sie dann die Annonce mindestens dreimal bringen … Natürlich steht Ihnen auch öfter frei …«, er riskierte ein Lachen des Einverständnisses und setzte sich auf den Rohrstuhl neben den Tisch. Aber Esch hörte ihm schon nicht mehr zu, sondern ging mit schweren Schritten, die seiner Hagerkeit schlecht anstanden, im Zimmer auf und ab. Huguenau sah sich indessen im Zimmer um. Es war ein einfenstriger großer Raum mit gescheuertem Fußboden, der so schadhaft war, daß in seinen Löchern der Mauerschutt sichtbar wurde. Auf einem wackligen Regal lagen Papiere und zusammengeschnürte Zeitungsstöße; ein weißgescheuerter Tisch in der Mitte des Zimmers war Herrn Eschs Arbeitsplatz. An der gelbgetünchten Wand hing an einem Nagel, den man einst wohl zu anderem Zwecke an diesem Platz eingeschlagen hatte, ein kleines, vergilbtes Bild in schwarzem Rahmen, den deutschen Kaiser Wilhelm II. darstellend: der Kaiser tritt, wahrscheinlich vom Frühstück kommend, aus einer Zimmertür, schreitet die Front seiner jugendlichen Prinzen ab, die zwischen 3 und 11 Jahre alt, in Paradeuniform und die hohe Kürassiermütze auf dem Kopfe, die Hände salutierend daran gelegt hatten, und, so mußte man sich das vorstellen, mit schöner Präzision unisono, scharf und skandiert die Unterschrift des Bildes hersagten, nämlich »Guten Morgen, Majestät.« Huguenau überlegt, daß sich ein solches Bild auch recht gut in seinem Büro ausnehmen würde – aber das lag so ferne und fremd, und als er seiner sonstigen Tätigkeit dort zu gedenken versuchte, versagte die Vorstellung. So kehrte sein Blick wieder zum Schreibtisch Eschs zurück, und während er die leere Kaffeeschale, an der eingetrocknet und braun die Spur des trinkenden Mundes zu sehen war, betrachtete, und die Petroleumlampe, deren weißer Docht im Glasgefäß ihn von fernher und unartikuliert an einen Foetus oder einen Bandwurm in Spiritus erinnerte, hörte er wieder die Stimme Eschs: »Mein Gott, der Jammer und das Elend … man muß es nur einmal in der Nähe gesehen haben … zu mir kommen die Leute … geradezu Verrat wäre es … ja, warum sitzen Sie überhaupt noch hier?« Natürlich hätte Huguenau weggehen können – aber wohin? ein neuer Plan war nicht so leicht zu fassen; auch fühlte er sich wie von einer unbekannten Macht auf Schienen gesetzt, die nicht ohne weiteres und auch nicht ungestraft zu verlassen waren. Also blieb er ruhig sitzen und putzte seine Brille, wie er es in schwierigen kaufmännischen Unterhandlungen zu tun pflegte, um seine Haltung bewahren zu können. Es verfehlte auch nicht seine Wirkung, denn Esch, gereizt, platzte weiter los: »Von wo kommen Sie denn eigentlich? warum hat man Sie denn hergeschickt – von hier sind Sie nicht und Sie werden mir nicht einreden, daß Sie selber hier Weinbauer werden wollen – Sie wollen ja hier nur spionieren!« Er pflanzte sich vor Huguenau auf. Was will dieser Mann von mir? sagte sich Huguenau, will er mich tatsächlich hinauswerfen? aber dann braucht er doch nicht erst einen Streit zu provozieren, den er doch offenbar sucht – er will also, daß ich hierbleibe, um mit mir streiten zu können. Aber im selben Augenblicke dämmerte es ihm ahnend auf, daß dieser Mann Furcht habe. Ja, sie hatten beide Furcht, und Huguenau fühlte eine sympathische Zusammengehörigkeit. Aber wenn ihm auch die aufquellende Sympathie und die abergläubische und ängstliche Sorge um die eigene Person eigentlich geboten hätten, einen Gefährten zu schonen, so war das Gesetz der kaufmännischen Zivilisation doch stärker: unbeschadet darum, ob die Angst seines Partners bloß die Projektion seiner eigenen sei, oder ob er sie tatsächlich erfühlt und erkannt hatte, war er gezwungen, die vermeinte Unsicherheit des andern für sich auszunutzen. Einlenkend wollte er sich also vergewissern: »Herr, Herr Esch, nicht wahr – ich habe Ihnen ein loyales Geschäft gebracht, und wenn Sie es ausschlagen wollen, so ist es Ihre Sache. Wenn Sie mich aber bloß beschimpfen wollen, so hat unsere Unterhaltung weiter keinen Zweck.« – Die Brille zusammenklappend, lüftete er ein wenig seinen Sitz, solcherart mit dem Körper symbolisierend, daß er auch weggehen könne – man brauche es bloß zu sagen. Esch schien nun tatsächlich keine Lust zu hegen, die Unterhaltung abzubrechen; er hob begütigend die Hand, und Huguenau vertauschte die symbolische Hockstellung wieder mit seinem Sitz, fortfahrend: »Wenn Sie sagen, daß ich hier nicht Wein bauen werde, so haben Sie wahrscheinlich recht – obwohl auch dies nicht ausgeschlossen wäre. Man sehnt sich ja nach Ruhe. Aber kein Mensch will auspowern, und ein Makler ist ebenso ehrenhaft wie jeder andere Mensch. Ein richtiges Geschäft muß beide Teile befriedigen; dann hat auch der Makler seine Freude daran.« Esch war beschämt. »Na, ich wollte Sie ja nicht beleidigen – aber wissen Sie, manchmal steigt mir der Ekel zum Halse und dann muß es heraus. Wenn Sie das erlebt hätten, was ich in diesem letzten Jahr mitgemacht habe, Sie würden auch anders reden.« – »Jeder macht seine Erfahrungen«, sagte Huguenau. Esch hatte seine Promenade im Zimmer wieder aufgenommen, und Huguenau betrachtete wieder Wilhelm II. und seine sechs Söhne. Esch brach schließlich das Schweigen. »Auswandern sollte man. Irgendwohin. Wäre ich jünger, ich würde alles hinschmeißen und von vorne anfangen …«, er blieb wieder vor Huguenau stehen, »aber Sie sind ein junger Mann, – wieso sind Sie eigentlich nicht an der Front?, wie brachten Sie es zuwege, sich hier herumzutreiben?!« Jäh war er wieder aggressiv geworden. Huguenau wünschte nicht, darauf einzugehen, wohl aber Esch zum Weiterreden zu bringen, und so meinte er, es sei doch unbegreiflich, daß ein Mann in angesehener Position und an der Spitze einer Zeitung stehend, umgeben von einer schönen Gegend und der Achtung seiner Mitbürger und überhaupt, jetzt in vorgerückten Jahren Auswanderungspläne hege. Esch grimassierte sarkastisch, »Achtung meiner Mitbürger, Achtung meiner Mitbürger – wie die Hunde sind sie hinter mir her …«, Huguenau meinte, er könne so etwas gar nicht glauben. »Sie können es nicht glauben – nehmen wohl gar auch Partei für diese Gesellschaft – schließlich wundern würde es mich nicht …« Huguenau steuerte sein Schiff wieder ins Oberwasser: »Schon wieder diese vagen Anwürfe, Herr Esch – wollen Sie sich wenigstens konkreter ausdrücken«. Aber Herrn Eschs sprunghaftes und reizbares Denken war nicht so leicht zu bändigen. »Konkrete Ausdrücke, konkrete Ausdrücke – auch das wieder so ein Gerede – Ihr glaubt Ihr könnt die Dinge beim Namen nennen junger Mann. Sie werden erst etwas wissen, wenn Sie erkennen werden, daß alles falsch ist«, schrie er ihm ins Gesicht, »und nicht einmal die Kleider auf Ihrem Leib sind richtig.« Schließlich aber, nach allerlei Umwegen, erfuhr man, daß Huguenau schon Vorgänger gehabt habe, daß nämlich ein Kölner Baumeister sich durch Aufkauf von Hypotheken und ähnliche Machinationen in den Besitz vieler Häuser und Grundstücke gesetzt habe, daß dieses Beispiel auch Einheimische verlockt hätte, und erst kürzlich der Apotheker ein Weingut, um einen Pappenstiel an sich gebracht hätte. »Und weil ich diese Art der Bereicherung als üble Folge des Krieges gebrandmarkt habe, werde ich hier als Kommunist verschrien.« Nichts als Feinde umgäben ihn, oft und oft hätte die willfährige Behörde jede Andeutung eines freien, männlichen Wortes in seinem Blatte konfisziert, und sein einziger Trost wäre es, daß einfache, gute Leute seinen hilfreichen Willen erkannt hätten. Aber es sei furchtbar und herzbrechend, die Klagen des gequälten Volkes anzuhören. Huguenau fragte, ob die Auflagenziffer durch die Ereignisse gelitten habe. Nein, das nicht, der »Bote« hätte seine Stammkundschaft, die Friseure, die Kneipen und vor allem die Dörfer draußen. Die Anfeindungen beschränkten sich auf gewisse Kreise der Stadt, aber er habe es satt, sich damit herumzuschlagen; wenn er, so habe er oft seiner Frau gesagt, die ganze Pastete verkaufen könnte, er täte es; das Haus würde er behalten – er habe schon daran gedacht einen Buchhandel einzurichten. Und habe Herr Esch schon eine Preisidee? Ja doch – 20 000 Emm sei das Blatt und die Druckerei sicher unter Brüdern wert. Überdies wolle er die Räumlichkeiten auf längere Zeit, sagen wir 5 Jahre kostenlos zur Verfügung halten. »Nun«, sagte Huguenau, »ich frage ja nicht aus bloßer Neugierde – ich sagte Ihnen ja, daß ich Makler sei, und vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Sehen Sie, lieber Esch«, – und er klopfte dem Zeitungsmann wohlwollend auf den knochigen Rücken –, »wir werden doch noch ein Geschäftchen miteinander machen; man soll eben doch nie vorzeitig jemanden hinauswerfen. Aber 20 000 müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Phantasie zahlt heutzutage kein Mensch mehr.« Selbstgewiß und jovial kletterte er die Hühnersteige hinab.

VI

Die grimmige und unduldsame, ja man möchte fast sagen, gezwungene Art, mit der Herr Esch seinen Zeitungsberuf ausfüllte und ihn ablehnte, findet eine weitgehende Erklärung, wenn man bedenkt, daß es eine Lebensform war, in die er erst spät und nicht durch eigene Wahl eingegossen worden ist. Denn bis zu Kriegsbeginn wirkte Herr Esch als Oberbuchhalter in einem bedeutenden Industrieunternehmen im Luxemburgischen. Als dieses – mangels ausländischer Rohstoffe – seine Betriebe still legte, fügte es sich, daß Esch kurze Zeit darauf im Erbgange nach einer, nicht einmal nahen, Verwandten in den Besitz des »Kurtrierschen Boten« und des zugehörigen Anwesens kam. Froh, das nahe Frontgebiet verlassen zu können, verlegte er gerne seinen Wohnsitz, gerne auch annehmend, in dem ruhigen, freundlichen Städtchen den befriedeten Lebensabend eines Pensionisten einrichten zu können. Als aber dann der bisherige Schriftleiter zur Vaterlandsverteidigung gerufen wurde und auch die Lebensbedingungen sich immer schwieriger gestalteten, so daß es dem natürlichen und buchhalterischen Sparsinn Eschs klar wurde, daß man wohl daran täte, die Regien des »Kurtrierschen Boten« einzuschränken, entschloß er sich, die Arbeit selber zu leisten.

Es war keine schwere Arbeit. Die Zeitung erschien zweimal wöchentlich, und alles Material hiezu wurde ihr, alter Gepflogenheit gemäß, durch eine Nachrichten- und Feuilletonkorrespondenz in Köln geliefert. Es galt bloß, unter den brennenden Tagesnachrichten die brennendsten herauszusuchen, manchmal unter den schöngeistigen Artikeln und Romanen den schönsten zu wählen. Nur die Lokalberichte galt es selber zu versorgen, und die bestanden zumeist aus »Eingesendet«.

Dennoch hatte es Esch nicht leicht. Solcher Schwierigkeiten Wurzel wäre wohl am tiefen Kern seines Wesens aufzuzeigen, aber wenn ihn diese tiefere Wesenhaftigkeit einst zum Buchhalterberuf geführt hatte, so kann jetzt der Hinweis genügen, daß man nicht ungestraft 30 Jahre Buchhalter sein kann. Denn ein Buchhalter ist ein Mensch, der in einer Welt eigener und außerordentlich präziser Ordnungen lebt. Er wendet die Seiten des Hauptbuches und vergleicht sie mit denen des Journals und des Saldokontos; lückenlose Brücken führen hinüber und herüber, sichern das Leben und das Tagwerk. Des Morgens bringt der Diener oder ein kleines Fräulein des Korrespondenzbüros die Buchungsbelege, und der Oberbuchhalter paraphiert sie, damit sie sodann von den jungen Leuten in die Strazza eingetragen werden. Hierauf kann er über die schwierigen Fälle in Ruhe nachdenken, gibt seine Weisungen, läßt nachschlagen. Wenn er dann im Geiste den schwierigen Buchungsfall geordnet hat, spannen und überspannen sich ihm neue gesicherte Brücken von Kontinent zu Kontinent, und dieses Gewirr von gesicherten Beziehungen zwischen Konto und Konto, dieses unentwirrbare und doch für ihn so deutliche Netz, in dem kein Knoten fehlt, symbolisiert sich schließlich doch in einer einzigen Zahl, die er jetzt schon voraussieht und mit der es in die Bilanz eingehen wird. Oh süße Aufregung der Bilanz, gleichgültig ob sie Gewinn bringt oder Verlust, denn dem Buchhalter bringt jedes Geschäft Gewinn und Zufriedenheit. Schon die monatlichen Rohbilanzen sind Siege der Kraft und Gewandtheit und sind dennoch nichts gegen die großen Buchabschlüsse am Halbjahrsende: in diesen Tagen ist er der Führer des Schiffes, und seine Hand verläßt nicht das Steuerrad: die jungen Leute der Abteilung sind gleich Ruderknechten an ihren Plätzen, und man achtet nicht der Mittagspause und des Schlafes, bis die Konti alle abgeschlossen; die Aufstellung des Gewinn- und Verlustkontos und des Bilanzkontos behält er sich selbst vor, und wenn er den Saldo eingesetzt und den schrägen Abschlußstrich gezogen, dann besiegelt er die Arbeit mit seiner Unterschrift. Wehe aber, wenn die Bilanz um einen Heller nicht stimmt. Neue, doch bittere Lust. Begleitet vom ersten Hilfsbuchhalter geht er mit den Augen des Detektivs die verdächtigsten Konti durch, und wenn es nichts nützt, werden unnachsichtig alle Buchungen des Halbjahrs neuerdings durchgerechnet. Und wehe dem jungen Mann, in dessen Arbeit der Fehler geschehen – ihn trifft Grimm und kalte Verurteilung, ja Entlassung. Sind aber die Tage ruhiger, dann geschieht es nicht selten, daß er auf gut Glück ein Buch aufschlägt, mit raschem Daumen die Seite glättet und die Kolonne der Ziffern zur Probe summiert, sich seiner Fertigkeit freuend, die es erlaubt, bei aller Sicherheit der ölig laufenden Rechnung die Gedanken fernab schweifen zu lassen, oder es geschieht, daß er über die neuen Systeme nachsinnt, die einzuführen zur Pflicht des modernen Buchhalters gehört, obwohl sie statt der geliebten großen Bücher nüchterne Karten gebrauchen, obwohl sie die persönliche Kunst durch Rechenmaschinen ersetzen.

Aus solchem Leben kommend, übernahm Esch die Zeitung, der er vorerst eine ordnungsgemäße Buchhaltung, wenn auch noch in alter italienischer Manier einrichtete. Aber es verstand sich, daß er auch in der eigentlichen Redaktionsarbeit seiner Methode der akriben Evidenzen und pedantischer Buchung nicht abtrünnig werden konnte. Die sozusagen neutrale, fast gläubige Hinnahme der Buchungsbelege gehört zum Wesen des Buchhalters, der eine Post bloß dann streichen kann, wenn sie ordnungsgemäß annulliert worden ist. Solche Annullierungen wurden aber von den Generalstäben gerne vermieden. So erfuhr man nie, daß die eroberten Forts von Verdun wieder geräumt worden waren, und als die Deutschen im Frühjahr 1918 zum zweiten Male die Marne überschritten und dort einen Brückenkopf errichteten, konnte man Wochen später, als die Franzosen schon längst ihrerseits über die Marne vorgestoßen waren, im Kurtrierschen Boten lesen: »Unentwegt harren unsere tapferen Helden am linken Marneufer, keinen Fußbreit feindlichen Bodens preisgebend, des Befehls weiteren Vormarschs.« Der Zensor, der sich früher um das kleine Blatt nie gekümmert hatte, fand nun immer häufiger Anlaß, die merkwürdigen Kriegsbetrachtungen Eschs durch weiße Flecken zu ersetzen, und er war hiezu um so angeregter, als Herr Esch auch durch verschiedene Reden im Wirtshaus und an den anderen öffentlichen Orten auffallend wurde. Und doch war es bloß eine Schraube ohne Ende: der Geruch des revolutionären und sarkastischen Geistes schwebte nun einmal, seitdem er sich mit den Konfiskationen auf ihn herabgesenkt hatte, um Herrn Esch, und es war solcherart kein Wunder, daß unzufriedene Elemente nun ihrerseits Anschluß an ihn suchten. Und da er durchaus nicht zu bewegen war, die Augen vor den Mißständen der Welt zu verschließen, sondern diese mit nicht minderer Genauigkeit in sich, wenn schon nicht immer in der Zeitung registrierte, wie die obrigkeitlich legitimierten Tatsachen, so wurde ihm nicht nur das allseits aufkommende Elend offenbar, sondern es wurden ihm auch jene Fakta zugetragen, die damals noch den meisten verborgen waren, all die Unzufriedenheit im Felde ob der sinnlosen Unmenschlichkeit des Krieges, die Unruhen in den Pulverfabriken und die Aufstände in Kiel und Bremerhaven. Dabei selbst mit den Behörden in Konflikt, fühlte er Brüderlichkeit zu der allseits getretenen Menschenkreatur in sich aufkeimen, ward solcherart ein Oppositioneller, ohne im Grunde es sich einzugestehen.

Treuester Sohn der Gemeinschaft, die ihm Ziel der Opposition und des Protestes ist, ist dem Rebellen die bekämpfte Welt eine Fülle lebendiger Beziehungen, deren Fäden bloß durch teuflische Bosheit in Verwirrung gebracht worden sind, und die zu entwirren und nach eigenem, besserem Plane zu ordnen, seine Aufgabe wird. So protestierte Luther gegen den Papst. Anders aber einer, der wie etwa Huguenau sich von jener Ordnung und Gemeinschaft, – sei sie gut oder schlecht, ihn kümmert es nicht –, losgelöst hat, wie der Jude aus dem Bunde Christi. Er ist nicht Oppositioneller und nicht Rebell, sowenig wie der Verbrecher Rebell ist. Außerhalb der Gesellschaft stehend, haben die Verbrecher kein Interesse daran, an ihrer Struktur etwas zu ändern: sie wollen bloß Grenzstreitigkeiten vermeiden und ihrem Beruf in Ruhe nachgehen. Sich den Forderungen der Gesellschaft, an deren Grenzen sie leben, anzupassen, ist ihnen Pflicht und Ehrgeiz; vielleicht lieben sie sie sogar. Geht der Dieb des Abends auf leiser Gummisohle sein Diebshandwerk ausüben, so wäre er betroffen, würde er auf dem Wege dem öffentlichen Ausrufer begegnen, verkündend, daß das Privateigentum aufgehoben sei. Ist ja sogar der Beruf des Mörders, der das Messer zwischen den Zähnen die unbequeme Mauer hinaufklimmt, um kargen Lohn zu verdienen, nicht gegen die Gesamtheit gerichtet, sondern bloß ein persönliches Geschäft, das er mit seinem Opfer auszumachen hat. Auch sind Vorschläge zur Verbesserung des Strafrechts niemals von den Verbrechern ausgegangen, obwohl es sie doch beträfe. Käme es auf die Verbrecher an, man würde noch immer Diebe und Falschmünzer an den Galgen hängen und die Mörder rädern. Und man wäre noch nicht einmal so weit, Mord und Totschlag zu unterscheiden, wenn auch die Verbrecher für Nuancen ihrer Berufsausführung ein feines Gefühl sonst haben und gerne es sehen, daß die Rechtspflege ihren differenzierteren Abschattungen sich anpasse: aber solches ist nicht Rebellion, sondern der Wunsch, die Möglichkeiten einer durchaus bejahten Welt auch für die eigene Grenzwelt spielen zu lassen, beide solcherart in schöner Wechselwirkung bereichernd. Und wenn die Verbrecher es lieben, daß für jene Tat der Galgen, für jene das Rad und die glühende Zange, für jene die Rute oder das Stockhaus erkannt werde, so ist dieser Wunsch doch nur Symbol für den umfassenden, dem eigenen Tun und Beruf den ihm zukommenden logischen Platz und eine reibungslose Wirksamkeit im Gesamtgeschehen zu sichern. Für die Verbrecher ist es nicht vonnöten, das System gewohnter Relationen zu ändern; ihnen genügt, mögen sie auch solch genügsamen Zweck mit aller Leidenschaft anstreben, das System eigener Gestalten und Funktionen lautlos einzupassen und einzuschalten in das bewegte Gebilde des Gewohnten. Also ist es auch nicht sinnlos, höchstens einer etwas subjektiven Traumsprache folgend, daß Huguenau die beiden Systeme als die beiden Teilgerippe eines zwar nicht einfachen, doch deutlichen Hebelgestänges gewahrte, eines Hebelgestänges, an dessen Scharnier und Drehpunkt die Zeitung Eschs saß. Hier in diesem Scharnier zeigte sich durchaus einleuchtend und plausibel, die Einpassung und die Sicherung seiner eigenen Funktion im Funktionsablauf des normalen Lebens, und so wurde es ihm klare Notwendigkeit, sich dieses Punktes zu bemächtigen und den »Kurtrierschen Boten« zu erwerben.

VII

Über das begreifliche Interesse hinaus, das Huguenau an und für sich für Uniformen hatte, mußte ihm beim Mittagsmahle das Gehaben eines weißhaarigen Majors auffallen, der an einem der Nebentische saß: als die Suppe ihm gebracht wurde, faltete der Major die Hände, beugte sich halbgeschlossenen Auges ein wenig über den Tisch, und erst als er solch unverkennbares Gebet beendigt, brach er das Brot. Huguenaus Frage wurde mit dem Bedeuten beantwortet, daß er in dem alten Major den Stadtkommandanten sehe, einen für Kriegsdauer reaktivierten Herrn aus Westpreußen, dem die Militärgewalt über die Stadt überantwortet sei. Zwar wären die militärischen Einrichtungen der Stadt von keiner besonderen Wichtigkeit, ein Verwundetenspital, eine Etappenverpflegestation und das Ersatzkader einer Minenwerferabteilung mit einem kleinen Munitionsmagazin, aber immerhin sei das Städtchen, wohl wegen des Bestandes jenes Magazins, bereits mehrmals Ziel von Fliegerangriffen gewesen, und wenn auch diese bisher nicht viel Schaden verursacht hätten, so sei es für derartige Fälle doch beruhigend, daß ein einheitliches Kommando vorgesehen sei. Der Major wohne schon seit Kriegsbeginn im Gasthof, seine Familie sei auf seinem Gute in Westpreußen verblieben und stünde mit ihm in täglichem Briefwechsel.

Angesichts dieses Mannes wollte Huguenau bereits den Entschluß fassen, seine Flucht fortzusetzen, mußte er ja doch in ihm seinen Henker sehen, in dessen Gewalt er fiele, wenn er als Deserteur verfolgt und hier ertappt werden würde. Dennoch erschien ihm solch mögliche Wehrlosigkeit als reizvoll, und mit einem fast lässigen Glücksgefühl schob er den weiteren Fluchtplan beiseite. Und da die menschliche Psyche stets in Antithesen sich bewegt, immer nur wieder ein Entweder-Oder kennt, so fühlte er sich mit dem Fluchtverzicht auch schon dem anderen Extrem, dem der Annäherung zugetrieben. Dank der wohl etwas verschobenen Geistesverfassung und der luzideren Realität, in der er sich seit seiner Desertion befand, erfolgten seine Handlungen wie unter Kurzschluß, eigentlich ohne Überlegungszeit; Huguenau wartete bloß ab, bis der Major sein Essen beendigt und, nachdem er wieder einige Sekunden im stummen Gebet verharrt war, seine Zigarre angezündet hatte; dann näherte er sich ihm schnurstracks und ohne jegliche Befangenheit. Er stellte sich geziemend vor und erklärte, dem Pressedienst zugeteilt zu sein. Die Haltung des »Kurtrierschen Boten« hätte nun zu allerlei Bedenken bereits Anlaß gegeben und er sei, ausgestattet mit entsprechenden Vollmachten, hergereist, um die Verhältnisse an Ort und Stelle zu studieren. Da nun die Zensurfragen in gewissem Sinne in das Ressort des Stadtkommandos fallen, halte er es für seine Pflicht, dem Herrn Major hiemit Aufwartung und Meldung zu machen. Dessen zwar höflichen, aber kühlen Einwand, daß hiezu eigentlich der Dienstweg angebracht sei, erlaubte er sich gehorsamst mit dem Hinweis zu entkräften, daß er nicht in offizieller, sondern bloß offiziöser Eigenschaft sich hier befinde, und daß die erwähnten Vollmachten keine staatlichen seien, sondern solche der patriotischen Schwerindustrie, welche ein Interesse daran habe, das Eindringen destruktiver Ideen ins Volk zu verhüten und daher einen Fond zum Aufkauf verdächtiger Zeitungen geschaffen habe. Er habe nun den Eindruck empfangen, daß der Aufkauf des »Kurtrierschen Boten« empfehlenswert sei und er habe die Befugnis, diesen Kauf durchzuführen. Wenn er bei dieser Gelegenheit dem Herrn Major ein Ersuchen vortragen dürfe, so gehe es, abgesehen von der selbstverständlichen Bitte um Diskretion, dahin, zuverlässige und begüterte, ortsansässige Herren, die dem Herrn Major ja zweifelsohne bekannt seien, selbstverständlich unter entsprechender Geheimhaltung an dem Projekt zu interessieren. Denn jene Industriellengruppe lege begreiflicherweise einen gewissen Wert darauf, daß bei einem derartigen Aufkauf von Lokalblättern auch lokale Interessenten an der Sache beteiligt seien, die solcherart die Exponenten der Zentralgruppe darstellen würden. Und da eine Verbindung mit der deutschen Großindustrie sicherlich vielen nicht unwillkommen sei und außerdem die hiezu notwendigen Kapitalien recht geringfügig wären, glaube er, speziell, wenn der verehrte Herr Major sich der Angelegenheit etwas annehmen wolle, daß an einem raschen und befriedigenden Erfolg der patriotischen Aktion nicht gezweifelt werden könne. Und wenn der Herr Major gütigst zu rauchen gestatte … und damit nahm Huguenau eine Zigarre aus dem Etui, putzte seine Augengläser und begann zu rauchen.

Da nun gegen diese Ausführungen wenig einzuwenden war, meinte der Herr Major, daß sich abends immer einige Herren der Gesellschaft im Gasthof einfänden, die er für das gedachte Projekt wohl in Aussicht nehmen könne, und daß er, da man seiner Meinung nach den Stier stets an den Hörnern packen solle, Herrn Huguenau einlade, gleich an einer gemeinsamen Besprechung teilzunehmen.

Huguenau dankte respektvollst, rückte aber noch ein Stückchen näher an den Major heran und bat um die Erlaubnis, in diesem Falle noch eine Mitteilung anfügen zu dürfen, die jedoch bloß für den Herrn Major persönlich bestimmt sei. Er habe nämlich bei seinen bisherigen Unterhaltungen mit dem Herausgeber jener Zeitung, einem gewissen Esch, von dem der Herr Major wohl schon gehört habe, den sicheren Eindruck empfangen, daß hinter der Zeitung eine ganze, wie möge er sich ausdrücken, submarine Bewegung subversiver Elemente im Gange sei. Manches scheine ja schon durchgesickert zu sein, wenn aber das Zeitungsprojekt tatsächlich durchgeführt werde, so wäre er wohl dann in der Lage, auch in jenes dunkle Treiben jenen Einblick zu gewinnen, der im Interesse des Volksganzen zu erstreben und notwendig sei. Er werde also zuversichtlich des Abends der so ehrenden Einladung Folge leisten.

VIII

Wie vorauszusehen, endigte der Abend mit einem positiven Resultat, zu dem nicht wenig beitrug, daß die Herren unter dem Eindruck standen, an einem geheimen und feierlichen Konventikel teilgenommen zu haben. Huguenau hätte mit Leichtigkeit die von Esch verlangten 20 000 Mark zeichnen lassen können, aber fast schien es ihm unangebracht, seinem Tanz auf dem gespannten Seil so übermäßig solide Fundierung zu geben. Außerdem mußte er sich aber sagen, daß er als Exponent der mächtigsten Industriegruppe des Reiches das Provinzkapital nicht in so weitem Maße heranziehen dürfe und schließlich stand es für ihn – aus gesunder kaufmännischer Gesinnung – fest, daß man Eschs Forderung nicht in voller Höhe bewilligen dürfe.

Da er aber diesen gebotenen und sicherlich nicht ausbleibenden Preisdruck auf Esch als sein legitimes Privatgeschäft betrachtete, beließ er es bei 20 000 Mark, allerdings mit der stolzen Erklärung, daß er von diesem Kapital bloß ein Drittel, mithin M 6660,- plazieren könne, und nahm die Überzeichnungen nur als Vormerkungen für einen künftigen Ausbau des Unternehmens entgegen. Für die Zahlungen sollten interimistische Anteilscheine ausgegeben werden; nach weiterer Fühlungnahme mit der Zentralgruppe würde das ausgebaute Unternehmen die Form einer G.m.b.H. oder gar einer A.G. erhalten. Man gedachte der künftigen Verwaltungsratssitzungen, und der Abend schloß mit einem Hoch auf die verbündeten Armeen und auf Seine Majestät den Kaiser.

Am nächsten Tage überfiel Huguenau den überraschten Herrn Esch mit den heftigsten Vorwürfen ob dessen schlechter Beleumdung. Ihm als Makler könne es doch gewiß gleich sein, aber es breche ihm das Herz, ja, es sei herzbrechend, wenn man zusehen müsse, wie ein gutes Geschäft so mutwillig zu Grunde gerichtet werde; eine Zeitung lebt von ihrem Ruf und wenn der Ruf pleite ist, ist sie selber es auch –; so wie die Sache liegt, hätte Herr Esch es zuwege gebracht, daß der »Kurtriersche Bote« ein schlechthin unverkäufliches Unternehmen geworden sei: »Sie müssen sich klar sein, lieber Esch, daß Sie dem Übernehmer des Blattes eigentlich etwas herauszahlen müßten, anstatt daß Sie noch Geld verlangen.« Überdies sei von einer Rentabilität keine Rede, und wenn man es zu einer solchen doch bringen wolle, so könne dies bloß mit Hilfe unerhörter Opfer, ja Opfer, lieber Freund, geschehen. Wenn, wie er glaube, sich unter seinen Freunden eine Gruppe opferwilliger Männer fände, die zu diesem völlig sinnlosen, weil idealen Vorhaben bereit wären, so könne Esch von Glück reden, einem Glück, das man vielleicht nur ein einziges Mal im Leben träfe. Dank seiner Vermittlung werde er Esch überdies eventuell noch 10 000 Mark herausschlagen, ein schönes Stück Geld, das einen Mann mit einem Schlag, wenn auch nicht eben reich, so doch wohlhabend mache, und wenn Esch es nicht annähme, so täte es ihm leid, sich derart uneigennützig mit den Eschischen Angelegenheiten, die ihn doch nichts, aber rein schon gar nichts angingen, befaßt zu haben. Esch brauche durchaus kein enttäuschtes Gesicht zu machen. Wenn man ihm 10 000 Mark herauszahle, so wäre sogar seine eigene phantastische Bewertung nicht nur akzeptiert, sondern sogar schon überschritten – denn mindestens 10 000 Mark müsse man zur Ausgestaltung des Blattes hineinstecken. Aus nichts werde nichts. Schließlich einigte man sich auf 12 000 Mark und hielt die Abmachung in einem Gedächtnisprotokoll fest:

§ 1 Herr Wilhelm Huguenau als Machthaber und Treuhänder einer Industriegruppe tritt dem Zeitungsunternehmen offene Handelsgesellschaft »Kurtrierscher Bote« als öffentlicher Teilhaber bei, so zwar, daß er Besitzer von 95% des Firmenvermögens, der bisherige Eigentümer, Herr August Esch, Besitzer von 5% des Firmenvermögens sein wird.

§ 2 Das Firmenvermögen besteht aus den Verlags- und sonstigen Rechten, sowie aus der gesamten Büro- und Druckereieinrichtung.

§ 3 Die Nettogewinne werden im Verhältnis von 95% und 5% zwischen den beiden Partnern aufgeteilt, soferne sie nicht einem Reservefond zugeführt werden. Die Verluste werden im gleichen Verhältnisse getragen.

§ 4 Herr Wilhelm Huguenau bringt ein Kapital von M 20 000 in die Firma ein, von dem ein Drittel sofort, je ein weiteres Drittel nach je einem halben Jahr zahlbar sind. D. i. also am 1. I. und 1. VII. 1919.

§ 5 Die Zahlungen des Herrn Huguenau per insgesamt M 20 000,- werden auf zwei Kontis u. zw. M 13 400,- auf Konto »Huguenau-Industriegruppe« und M 6600,- auf Konto »Lokalgruppe« verbucht werden.

§ 6 Herr August Esch als bisheriger Alleineigentümer erhält:

a. eine Abfertigung von M 12 000,- von denen M 4000,sofort, je weiter M 4000,- am 1. Jänner und 1. Juli 1919 auszuschütten sind. Die beiden ausständigen Raten werden mit 4% pro anno verzinst;

b. einen Dienstvertrag als Schriftleiter mit einem Monatsgehalt von M 125,-.

§ 7 Herr Huguenau fungiert als Herausgeber. Die kommerzielle und finanzielle Führung des Unternehmens ist ausschließlich ihm überlassen. Er hat ferner das Recht, Artikel für das Blatt ohne Befragung der Redaktion nach seinem Gutdünken aufzunehmen oder abzulehnen.

§ 8 Herr Esch hat das Recht und die Pflicht die Buchhaltung des Unternehmens zu besorgen.

§ 9 Die von der Zeitung im Hause des Herrn Esch bisher benützten Räumlichkeiten verbleiben dem Unternehmen für weitere 3 Jahre. Weiters stellt Herr Esch für die gleiche Zeit zwei gut möblierte Zimmer mit Frühstück dem Herausgeber im Vordertrakt des Hauses zur Verfügung. Er erhält hiefür vom Unternehmen eine Vergütung von M 25,- pro Monat.

§ 10 Bei einer späteren Verwandlung der offenen Handelsgesellschaft in eine G.m.b.H. oder A.G. sind die obigen Bestimmungen sinngemäß zu berücksichtigen.

Die kleine Beteiligung, welche Herrn Esch belassen wurde, erleichterte den Abschluß, doch war die Abfassung des Protokolls ein nochmaliges Messen der Kräfte. Geschickt verschob Huguenau aber die Diskussion auf ein Nebenthema, hier seinem Gegner nach hartem Ringen einen Scheinsieg mit der Zuerkennung der 4%igen Verzinsung für die ausständigen Raten klug überlassend. Aber war Esch auch von diesem Erfolg befriedigt, so war er von den in Aussicht stehenden komplizierten Buchungen geradezu geblendet und entzückt, so entzückt, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, die aushaftenden Raten könnten etwa nicht gezahlt werden, oder gar – würden sie durch ein Wunder doch gezahlt –, es könnte die Differenz zwischen den 12 000 Mark und den 20 000 Mark, mit ihren bestechenden Buchungsaussichten, dann automatisch in die fraudulös geöffnete Tasche Huguenaus fließen. Merkwürdig war nur, daß auch Huguenau sich dieses Umstandes selber gar nicht bewußt war und bloß in Ordnung es befand, daß ihm mit der Zahlung der lokalen Interessentengruppe eigentlich die Zeitung gekauft und geschenkt worden war. Wohl war die projektierte Umwandlung in die G.m.b.H. oder A.G. und die damit verbundene Pflicht zur öffentlichen Rechnungslegung eine Verlegenheit und wie und wo er dann die zweite und dritte Rate aufbringen würde, wußte er wahrlich nicht –, aber bis dahin war lange Zeit, die Kriegsverhältnisse bringen allerlei Unordnung, vielleicht gibt es schon Frieden, vielleicht wird die Zeitung jene Beträge selber in Verdienst bringen, vielleicht wird es notwendig sein, sie in Gestalt von Verlusten verschleiert verschwinden zu lassen, vielleicht würde Esch tot sein. Man wird sich schon helfen können und durchs Leben schlagen. So machte Huguenau sich wenig Gedanken und betrachtete das Ganze als ein durchaus legales Geschäft. Bloß daß es ihm freies Quartier und Frühstück eingebracht hatte, war ihm ein kleiner, netter Erfolg, der ihn herzlich freute.

So konnte Huguenau in erstaunlich kurzer Frist melden, daß die Transaktion in glatter Weise erledigt worden sei. Die Honoratioren zögerten nicht, ihren Kapitaleinschuß von M 6600,- zu leisten; M 4000,- wurden hievon vertragsgemäß Herrn Esch übergeben, M 1600,- bestimmte Herr Huguenau als vorsichtiger und solider Kaufmann zum Betriebskapital, während er den restlichen M 1000,- den Titel Dispositionsfond verlieh und sie für sich verwendete. Die interimistischen Anteilscheine wurden ausgegeben und bereits nach zwei Wochen, es war gerade der 1. Juni, konnte die Zeitung, nachdem solches vorher gebührend bekannt gemacht worden war, unter neuer Leitung und in neuer Aufmachung erscheinen. Huguenau hatte den Major zu bewegen vermocht, die neue Ära mit einem Leitartikel zu eröffnen, und ebenso war diese Festnummer durch teils patriotische, teils nationalökonomische, zumeist patriotisch-ökonomische Aufsätze aus den Federn der an dem Blatte beteiligten Honoratioren geziert.

Doch Huguenau übersiedelte zur Feier der neuen Epoche in die ihm eingeräumten beiden Zimmer des Eschischen Hauses.

IX

(Leitartikel des »Kurtrierschen Boten« vom 1. Juni 1918)

An das Deutsche Volk
vom Stadtkommandanten Major v. Pasenow

Dann verließ ihn der Teufel; und sieh
die Engel traten hinzu und dienten
ihm. Matth. 4./11

Wenn auch der Wechsel in der Leitung dieser Zeitung nur ein geringfügiges Ereignis neben dem gewaltigen des uns umbrausenden Krieges, dessen Jahrestag wir nun in Bälde zum vierten Male begehen werden können, so dünkt es mich, daß, wie so oft, auch hier die kleine Begebenheit Spiegel des größeren Geschehens sein mag.

Denn wenn wir mit unserer Zeitung an einem Wendepunkt stehen und meinen, einen neuen und besseren Weg einschlagen zu können, der uns zur Wahrheit führt, deren Wiedergabe die vornehmste Pflicht einer Zeitung ist, so drängt es sich uns auf, daß der Krieg auch einen ähnlichen Wendepunkt im Leben der Völker bedeutet. War aber der Pfad, den die Welt bisher verfolgte, so schlecht, daß er zu solchem Strafgericht führte, wo ist der Teufel, den es wegzujagen gilt, wo die Engel, die wir zu unserer Hilfe herbeirufen wollen?

Einem alten Soldaten geziemt es, seine Meinung gerade heraus zu sagen, auf die Gefahr hin, daß sie manchem als Gemeinplatz, manchem als unzeitgemäße Sprache erscheinen wird. Und ich meine, daß alles Übel daher kommt, weil die Welt die Gnade der Freiheit, die die wahre Gnade Gottes ist, verloren hat, obwohl sie, wie im Schuldbewußtsein, von nichts anderem als von Freiheit spricht. Freiheit ist aber unser höchstes Gut, und es bewahrheitet sich das Wort Luthers, daß »das größte Übel ist allezeit gekommen von dem Besten.«

Wenn wir von diesem Krieg als Freiheitskrieg sprechen und damit das Ziel meinen, unser geliebtes Vaterland aus der Umklammerung der Feinde zu befreien, so hören wir oft auch, daß es nicht nur gilt, die Feindvölker niederzuwerfen, sondern auch das Vaterland und die Welt von dem schädlichen Geiste zu befreien, der die Erde erfüllt, und der nicht nur jene Nationen dazu geführt hat, uns zu bekriegen, sondern sogar auch unbemerkt sein Gift in unseres eigenen Volkes Seele geträufelt hat.

Die so sprechen, vermögen auf die Zustände in den scheinbar so stolzen Metropolen unseres Reiches, auf die Verderbnis in den Städten der Feindvölker zu verweisen, und sie werden nicht mit Unrecht die Herrschgier des Franzosen, der unser armes Land bedrücken will, und die Habsucht des Engländers, der seine Hand nach unserem Wohlstand ausstreckt, mit jenem verderblichen Geist in Zusammenhang bringen. Denn überall – und gewißlich auch bei uns – bemerken wir sein Wirken: der Kaufmann sucht übermäßigen Gewinn und will den Nachbarn nicht leben lassen, der Fabriksherr fordert übermäßige Arbeit, der Arbeiter übermäßigen Lohn. Und jeder sucht bloß die Lust und die Verführung.

Die Welt ist solcherart voll innerer Zwietracht und Zerrissenheit, und es mag daher nicht Wunder nehmen, daß die Völker mit hundertfacher Zwietracht und tausendfacher Zerrissenheit bestraft werden. Denn an dem Gliede, mit dem du gesündigt, sollst du gestraft werden.

Ich höre den Einwand, daß wir solcherart die Strafe einfach hinzunehmen, die Geißel zu erdulden und dem Peiniger die zweite Backe darzubieten hätten. Aber abgesehen davon, daß wir die Strafe erst erfüllen und auf uns nehmen, indem wir Krieg führen, ist der Krieg auch gerecht, weil er eben gegen den bösen Geist geführt wird, gleichwie der Kampf Luthers gegen ein übermütiges Papsttum ein gerechter Kampf war. Lehrt uns unser Meister Clausewitz, daß jede Verteidigung aus Abwarten und Handeln besteht, so kann auch die Verteidigung der Seele gegen das Sündige nicht des Handelns entraten.

Aber nun gibt es viele, welche glauben, daß dies alles einfach ein Kampf gegen das Übermaß von Freiheit sei, das in der Welt herrsche. Es genüge, so meinen sie, die Menschen zur Achtung der Obrigkeit und zur Disziplin zurückzuführen, um die Welt wieder in die Fugen zu bringen, während die anderen auf dem begonnenen Wege immer weiter fortfahren und jede Ordnung umstoßen möchten. Aber wer so denkt, sei es als Gegner, sei es als Förderer des herrschenden Geistes, irrt. Nie war die Welt so unfrei wie jetzt, beweist dies doch der Krieg, denn was sie Freiheit nennen, ist jene falsche, von der Petrus sagt: »Sie reden mit eitlen schwulstigen Worten und locken durch Fleischeslust und Geilheit jene, die sich noch kaum von den im Irrtum wandelnden abgesondert hatten. Sie verheißen ihnen Freiheit, da sie doch selbst Sklaven des Verderbens sind. Denn von wem man beherrscht wird, dessen Sklave ist man.« (2. Petrus II/18,19)

Nein, wenn es von unserem Kampfe heißen soll, »Aus Schrecken vor ihm flohen seine Feinde, alle Übeltäter wurden bestürzt, und die Rettung lag in seiner Hand« (1. Makkabäer III./6), so darf es nicht auf die Verfolgung der fliehenden Feinde ankommen, sondern auf die Rettung. Und kurzsichtig wäre es, die Freiheit verfolgen und vernichten zu wollen, bloß weil die Menschen sich daran gewöhnt haben, sie mit Zügellosigkeit zu verwechseln.

Es braucht der Mensch seine Freiheit, ja sogar seine äußere Freiheit, so wie unser Volk seine Freiheit braucht, um welche wir kämpfen. Aber er besitzt sie bloß, wenn ihm auch gleichzeitig die innere, höhere und wahrhaft göttliche Freiheit geschenkt wird. Und diese erringen wir nicht auf den Schlachtfeldern, sondern nur in unserem Herzen, denn sie ist gleichbedeutend mit dem Glauben, den die Welt zu verlieren sich anschickt. So ist dieser Krieg letzten Endes ein Zeichen des Unglaubens, der wie die Offenbarung (Off. XXI./8) sagt, »der zweite Tod«, ist. Gilt doch: »Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt sein.« (Ev. Joh. III/36)

Was aber ist der Glaube, der uns den Weg zur wahren und göttlichen Freiheit öffnen soll? ist es ein pharisäisch Leben nach der Schrift? »Gute, fromme Werke machen nimmermehr einen guten, frommen Mann, sondern ein guter, frommer Mann macht gute, fromme Werke«, berichtet Luther von der Freiheit eines Christenmenschen und er führt aus: »So denn die Werke niemand fromm machen und der Mensch muß fromm sein, ehe er Werke tut, so ist offenbar, daß allein der Glaube aus lauteren Gnaden durch Christum und sein Wort die Person genugsam fromm und selig machet und daß kein Werk, kein Gebot einem Christen not sei zur Seligkeit, sondern er frei ist von allen Geboten und aus lauterer Freiheit umsonst tut alles, ohne damit zu suchen seinen Nutz oder Seligkeit.«

Nun mag mir dagegen eingewendet werden, und ich habe es leider auch von manchem braven Soldaten gehört, daß viele angesichts der Kriegsschrecken ihren Glauben an Gott verloren hätten. Aber die so empfinden, vergessen eben, daß die Geißel des Krieges die Aufrüttelung sein soll aus dem Unglauben der Welt. Gleichwie erst der glorreiche Feldzug anno 70 kommen mußte, um die zerrissenen deutschen Stämme zu einen, so soll es der Ruhm dieses so viel größeren und schrecklicheren Krieges sein, nicht nur Stämme brüderlich zu verbinden, sondern den Menschen zu lehren, den Bruder im Bruder zu erkennen, dem er in der Not beistehen muß. Denn der Glaube ist die Liebe, sagt unser Herr, und wenn das Fünklein der Liebe im Seelengrund, von dem Meister Eckhart spricht, wieder angefacht ist, wird auch der Glaube und die Gnade der Freiheit wieder unser sein. Dann kann es heißen: »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan«, und ein »Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand Untertan« worunter ich mir den wahren Frieden vorstelle.

Ich weiß nicht, ob ich mich recht verständlich machen konnte, mußte ich doch selber lange ringen, um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen und bin doch überzeugt, daß sie stückhaft sind. Aber auch hier mag gelten, was Clausewitz sagt: »Der herzzerreißende Anblick von Gefahren und Leiden läßt das Gefühl leicht ein Übergewicht über die Verstandesüberzeugung gewinnen, und im Dämmerlicht aller Erscheinungen ist eine tiefe, klare Einsicht so schwer, daß ihr Wechsel begreiflicher und verzeihlicher wird. Es ist immer nur ein Ahnen und Herausfühlen der Wahrheit, nach dem gehandelt wird.«

X

Der Artikel des Majors und Stadtkommandanten v. Pasenow machte zwar dem deutschen Volk, an das er gerichtet war, im großen und ganzen keinen weiteren Eindruck, wohl aber auf einen, wenn auch nicht bedeutenden Teil jenes Volksganzen. Dieser Teil war Herr Esch.

Welch fürchterliches Mißverständnis, welch grausamer Irrtum. Wie sehr verfluchte er nun die schematische Einteilung der Welt in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß, in der er sich immer wieder gefiel. Er mußte sich eingestehen, daß er den Major gehaßt hatte.

Vor wenigen Tagen erst waren Huguenau und er auf der Straße einem gefesselten deutschen Soldaten begegnet, der, flankiert von zwei Mann mit aufgepflanztem Bajonett, sei es vom Bahnhof, sei es vom Gerichtsgebäude, augenscheinlich ins Gefangenenhaus geführt wurde. Es war Regenwetter, und die Tropfen klatschten dem Mann ins Gesicht; um sie wegzuwischen, mußte er von Zeit zu Zeit die aneinander geschlossenen Hände mit etwas ungeschickter und rührender Gebärde heben und sein Gesicht an ihnen reiben. Der Mann war vielleicht ein Raubmörder, Kinderschänder, Gewalttäter, der auch einen harmlosen Pfarrer mit einem Küchenmesser roh erstochen haben mochte. Aber Huguenau diagnostizierte »Deserteur«, und Esch sah mit Schaudern das Kriegsgericht in dem ihm wohlbekannten Schwurgerichtssaal tagen, den Major seiner Würde gemäß als Gerichtsherrn, hörte seinen mitleidslosen Urteilsspruch, und als Huguenau, wohl im gleichen Gedankengang, dazufügte »wird erschossen«, stellte sich ihm das Bild ein, wie der Mann im klatschenden Regen in den Gefängnishof eskortiert wird, und wie er zum letzten Male sein Gesicht, auf dem Wasser, Tränen und kalter Schweiß zusammenflossen, an den gefesselten Händen abwischt. Und der Offizier, den er für diese Unmenschlichkeit verantwortlich machte, der Mann, der ihm der Exponent kalten, grausamen Militarismus war, zeigte ihm nun sein wahres und gütiges Antlitz. Esch schämte sich. Nicht nur, weil er einen Tyrannen gehaßt hatte, der keiner war, sondern weil er in den zwar nicht völlig klaren, doch großen und edlen Gedanken des Majors sein eigenes Bestreben nach Weltverbesserung wiedererkannte, allerdings auf so gehobener und lichter und feiertägiger Ebene, daß er alles, was er selber hiezu gedacht und getan hatte, nunmehr als dumpf, eng, alltäglich und kurzsichtig empfand. Schämte sich auch, daß es ihm, den man doch die Bibel gelehrt hatte, nie beigefallen war, sich von ihr, wie man sah, heilsamen Rat zu holen, vielmehr zu jenen gehörte, die sich gerne brüsteten, pfäffische Vorurteile überwunden zu haben. Ja, er war ein Teufel, aber als solcher ein gefallener Engel, und nichts sollte ihn hindern, fortan als Engel weiter zu dienen. Sein Kontrakt, der ihn noch für ein Jahr der Zeitung verpflichtete, kam solchem Vorhaben zu statten.

Aber noch ein anderer Umstand war ihm dienlich: die erste Nummer des verjüngten »Kurtrierschen Boten« war noch nicht erschienen und schon war Huguenaus Eifer an der redaktionellen Tätigkeit erlahmt.

Als er das Blatt übernommen hatte, schwebte Huguenau irgendwo vor, daß man es zu etwas Sensationellem ausbauen werde, zu einer Zeitung etwa, die im »Hauptwache-Café« in Frankfurt oder gar in Stuttgart, Nürnberg oder Berlin aufliegen und allenthalben verlangt werden würde. Aber seine Erfindungskraft war mit der großen Tat der Festartikel und der Einladung an die Honoratioren erloschen. Aus seiner reichlichen Zeitungslektüre hatte er wohl ein Bild, wie ein großes Blatt aussehen müsse, aber über eine vage Wunschphantasie ging sein Interesse an dem Begonnenen nicht hinaus. Es war eine durchaus knabenhafte Einstellung, die die Diskrepanz zwischen den zu Gebote stehenden Mitteln und dem Wunschziel erst geflissentlich übersah, um dann plötzlich und ohne Bedauern den ganzen Gedanken wieder fallen zu lassen. Fast fühlte er sich von der Realität des Zeitungsgetriebes gestört. Hatte er es früher nie genug eilig, in sein Geschäft zu kommen, so verzog er jetzt sich gerne im Bette, dehnte das Frühstück über Gebühr und machte sich nur widerwillig auf den Weg. Und war er einmal dort, so kletterte er meistens bald wieder die Hühnerstiege hinunter und verschwand zur Druckmaschine. Die Druckmaschine liebte er. Es mag wohl sein, daß ein Mann, der zeitlebens von Maschinen erzeugte Waren verkauft hatte, dem aber die Fabriken, in denen die Maschinen standen, als etwas im Range übergeordnetes und eigentlich Unerreichbares gewesen ist, eine besondere Sensation empfindet, wenn er plötzlich selber Maschinenbesitzer und Warenerzeuger wird: Es lebt dann in einem solchen Menschen ein Stück der kindlichen Schöpferfreude auf, die den Knaben so oft mit der Maschine verbindet. Denn junge Menschen und junge Völker, Russen und Amerikaner lieben Maschinen: sie heroisieren die Maschine und romantisieren sie; sie ist der Held, der ihre großen Taten vollbringt. Stundenlang kann der Knabe die Lokomotive am Bahnhof betrachten, wie sie leere Waggons von einem Gleis auf das andere überstellt, und stundenlang konnte Huguenau vor seiner Druckmaschine sitzen und ihr mit ernsthaftem, leeren Knabenblick hinter den Brillengläsern liebevoll zusehen, ohne etwas von ihrer technischen Funktion zu verstehen oder den Versuch zu machen, darin einzudringen.

Nichtsdestoweniger konnte sein immerhin vorhandener und doch wacher Realitätssinn es nicht unbemerkt lassen, daß bei dem Inseratengeschäft noch etwas zu holen sei und es, wie er sich ausdrückte, nach einer Reorganisation schreie. So studierte er trotz seines Widerstrebens mit Aufmerksamkeit den Anzeigenteil der großen Blätter, stellte Vorlagen für alle möglichen Annoncen, Verkaufs-, Verpachtungs-, Heirats- und sonstige Kuppelinserate zusammen und ließ die Stadt- und die Landbevölkerung von Agenten, jungen Burschen, die er mit der Aussicht auf Provision bald aufgetrieben hatte, heimsuchen. Damit aber war seine produktive Mitarbeit abgeschlossen.

Wenn ihn also auch Herr Esch vertragsgemäß in die Redaktionsarbeit einführen wollte, so setzte er diesem Beginnen eigentlich von allem Anfange an passiven Widerstand entgegen. Esch erschien ihm wie ein unleidlicher, hagerer Lehrer, und es war ihm nicht nur Freude, seinen Lehrstunden entwischen zu können, sondern doppelte, ihn auszuspionieren und überwachen zu dürfen: solcherart im Geheimen über den Lehrer gesetzt, war die Detektivtätigkeit, zu der er sich angeboten hatte, aufrichtige Befriedigung, ja es war ihm oft, als wäre er bloß hierher verschlagen worden, um in der erhofften Aufdeckung der angeblichen Geheimbündelei des Herrn Esch seine eigentliche Lebensaufgabe zu finden.

Herr Esch aber, zufrieden, seine Arbeit ungestört fortsetzen zu können, beeilte sich, die ersten Abzüge der Festnummer vom 1. Juni dem Herrn Major persönlich zu überbringen.

XI

Als Huguenau an dem nächsten Tage in die Wohnung hinaufkam, fand er Esch bei dem Tische des Speise- und Wohnraumes sitzen, ein schwarzgebundenes Buch vor sich. Er schaute ihm über die Schulter; es war eine katholische Bibel mit Holzschnitten. Da er sich selten über etwas erstaunte, außer wenn ihn jemand bei einem Geschäft übertölpelte, was aber selten genug vorkam, nahm er die Tatsache stillschweigend zur Kenntnis und wartete, daß das Essen gebracht werde. Denn er hatte mit Frau Esch Mittagspension vereinbart.

Frau Esch ging durchs Zimmer. Sie war ein breithüftiger, reiz- und geschlechtsloser Mensch, zumindest für den Außenstehenden; ihre irgendwie blonden Haare waren unordentlich in einem Knoten aufgesteckt; im Vorübergehen aber berührte sie unvermittelt und überflüssig ihres Mannes harten Rücken, und Huguenau hatte die Empfindung, daß sie sich ihrer Ehelichkeit allnächtlich recht wohl zu bedienen wüßte. Der Gedanke war ihm nicht angenehm, und so fragte er: »Nun, Esch, bereiten Sie sich aufs Kloster vor?« Darauf Esch: »Es ist die Frage, ob man flüchten darf« – und in gewohnter Grobheit hinzufügend, »aber das verstehen Sie natürlich nicht.« Als die Suppe gebracht wurde und Frau Esch mit den beiden Männern zu Tische saß, wurde Huguenau von seinem Gedanken nicht losgelassen. Es fiel ihm erst jetzt und wunderlich auf, daß die beiden keine Kinder hätten, und daß er eigentlich auf dem Platze saß, wo ein Sohn hingehörte. Also nahm er, einfachen Gemütes, seinen Scherz wieder auf und erzählte Frau Esch, daß ihr Mann ins Kloster gehen werde. Worauf Frau Esch fragte, ob es wahr sei, daß in allen Klöstern unzüchtige Beziehungen zwischen den Herren Mönchen herrschten. Herrn Esch sei schließlich alles zuzutrauen. Und sie lachte über irgend eine in ihr aufsteigende wüste Vorstellung. Herr Esch war unangenehm berührt, und Huguenau bemerkte, wie er errötete und seiner Frau einen giftigen Blick zuwarf. Aber in dem Bestreben, vor dem Weibe die Haltung nicht zu verlieren, ja sich zu steigern, erklärte er, daß es schließlich bloß auf die Gewohnheit ankomme, im übrigen aber, wie er wohl wisse, eigentlich auch allgemein bekannt sei, ein Mönchsleben noch lange nicht Beschränkung auf die sterilen Freuden der Gleichgeschlechtlichkeit beinhalte, sondern daß er als Kuttenträger ein recht begehrtes Liebesobjekt zu werden hoffe. Überhaupt habe der Klostergedanke manches für sich; bei den großen Besitztümern der Klöster könnte ein tüchtiger, bilanzfähiger Buchhalter recht gute Verwendung finden, er wolle Gift darauf nehmen, daß eine richtige amerikanische Buchhaltung noch in keinem Kloster eingeführt sei. Frau Esch aber, bereits kaptiviert, ergänzte, daß es in den Klöstern keine Brot-, keine Fleisch-, keine Mehlkarte gäbe, mit einem Wort, volle Friedensverpflegung, während sie hier bei Dörrkraut säßen.

»Mit einem Wort«, knurrte Huguenau, »Ihr Glauben rentiert sich.«

– »Was wissen Sie vom Glauben: Hätten wir den Glauben, so würde heute überhaupt keiner Dörrkraut fressen müssen.«

Der Gedankensprung war zu offenkundig, daß Huguenau ihn hätte ungestraft passieren lassen können.

– »Also ist die Prasserei in den Klöstern Ihrer Meinung nach der Lohn für den Glauben; ich sagte ja, daß er sich rentiere.«

Aber wenn er Esch auch in geschäftlichen Dingen leicht zu bezwingen vermochte, in theologischen Materien war ihm dieser doch über. Der bewegliche, glatte Mund bekam also jene überlegen-ironische Faltung, die Huguenau so haßte, und begann dozierend:

»Wenn man schon den Ehrgeiz hat, Zeitungsherausgeber sein zu wollen, wäre eine gewisse Weite des Horizontes doch angebracht – von welchem Standpunkt sehen Sie aber die Dinge eigentlich an? aus der Froschperspektive, lieber Herr, wenn Sie wissen, was das ist.«

Wahrscheinlich wieder einmal eine Beschimpfung, meinte Huguenau, aber mit Schimpfen könne man nichts widerlegen.

»Ich schimpfe nicht, sondern trachte etwas für Ihre Bildung zu tun; seien Sie also lieber dankbar. Und ich frage Sie, kann ein Mann ohne Kapital gegen den mit Kapital etwas ausrichten?«

Der Vergleich hinkte, denn Gott ist kapitalsarm und ist doch stärker als der Teufel, der überall Bankkonti besitzt. Aber Huguenau verpaßte den Einwand.

»Wenn also fromme Menschen die Kirche durch Schenkungen stärkten, um sie gegen ihre irdischen Widersacher standfest zu machen, taten sie nicht recht daran? Und hätten sie es nötig gehabt, wenn sich alle Menschen der Kirche unterworfen hätten? Nein, denn dann hätte es eben keine Widersacher gegeben.«

Huguenau wurde aufmerksam; er witterte Kommunismus.

»Sie sind also der Meinung, daß alle Menschen ihr Vermögen der Kirche zu geben hätten?«

Ja, dieser Meinung sei Herr Esch. Nun war Huguenau ehrlich empört. »Wissen Sie, Sie können für Ihren Teil tun, was Sie wollen. Mich aber lassen Sie aus dem Spiel. Das sauer verdiente Geld! Damit die Pfaffen noch besser leben – für uns bleibt dann nicht einmal Dörrkraut!«

– »Man sieht, junger Mann, daß man mit Ihnen nichts Ernsthaftes besprechen kann. Denn sonst müßten Sie doch einsehen, daß mit dem Augenblicke, da jeder mit ganzem Herzen und ganzem Vermögen in die Kirche eingeht, auch alle gleichzeitig Teil an ihr gehabt hätten.«

– »Das ist Kommunismus.«

– »Ich glaube viel eher, daß dann kein Sozialismus und kein Kommunismus notwendig gewesen wäre; so wenig wie es einen deutschen Kaiser oder eine französische Republik gegeben hätte.«

– »Sondern?«

– »Der Stellvertreter Christi auf Erden wäre einfach das Oberhaupt aller Menschen gewesen, geistlich und weltlich.«

– »Das ist urdumm. Mir ist mein Geschäft lieber, als wenn ich es an eine Aktiengesellschaft verkaufe. Dann habe ich ein paar Aktien, und die Generaldirektoren verdienen.«

– »Ja, zum Teufel, dann gehen Sie Ihre Geschäfte betreiben, aber versteifen Sie sich nicht, mit Ihren beschränkten, – ja, ich sage beschränkt – Ansichten, den Kurtrierschen Boten herauszugeben. Das läßt sich nicht vereinen.«

Worauf Huguenau auftrumpfend kundtat, daß man froh sein könne, ihn gefunden zu haben: an dem Insertionsgeschäft, wie es ein gewisser Herr Esch geführt habe, wäre die Zeitung, das könne man sich an den Fingern abzählen, noch vor Jahresfrist zu Grunde gegangen. Und schaute erwartungsvoll auf Frau Esch, annehmend, daß sie ihm auf diesem praktischen Gebiet Gefolgschaft leisten werde. Aber diese, den Maiskuchen vom Tische räumend, war gütig gestimmt und, von Huguenau wieder mißliebig bemerkt, mit der Hand auf der Schulter des Gatten stellte sie bloß fest, daß es Dinge gäbe, die unsereins, Sie, lieber Herr Huguenau und ich, nicht so leicht erlernten. Und Esch mit Apotheose die Tafel aufhebend: »Lernen müssen Sie, junger Mann, lernen Sie die Augen öffnen.«

Huguenau verließ das Zimmer geschwellt von Opposition und mit dem festen Vorsatz, absoluter Gottesleugner zu sein. Das klappernde Geräusch abgewaschener Teller und der fade Spülichtgeruch der Küche begleiteten ihn über die Holzstiege und erinnerten ihn sonderbar deutlich an sein Elternhaus und an die Mutter in der Küche.

XII

Nächsten Tages floß folgendes Schreiben aus Huguenaus Feder:

Hochgeboren
den Herrn Stadtkommandanten und Major von Pasenow Loco

Betr. Geheimbericht Nr. 1

Hochgeborener Herr Major!

Unter höfl. Bezugnahme auf dsbzgl. Unterredung, die zu führen ich die Ehre hatte, erlaube ich mir höfl. mitzuteilen, daß ich gestern mit besagtem Herrn Esch und mehreren Elementen eine Zusammenkunft hatte. Wie bekannt, trifft Herr Esch mehrmals wöchentlich subversive Elemente in der Wirtschaft »Zur Pfalz« und lud mich derselbe frdl. ein, gestern mitzugehen. Außer einem Meister der Papierfabrik, einem gewissen Liebel, befand sich daselbst ein Arbeiter der genannten Fabrik, dessen Namen ich vergessen habe, weiters zwei Insassen des Militärkrankenhauses, welche Ausgang hatten u. zw. ein Unteroffizier namens Bauer und ein Kanonier polnischen Namens.

Etwas später kam noch ein Kriegsfreiwilliger der Minenwerferabteilung, welcher von dem genannten E. mit Herr Doktor angesprochen wurde. Es bedurfte nicht einmal meiner Aufforderung, um das Gespräch auf die Kriegsereignisse zu bringen und wurde vor allem über das mögliche Kriegsende geredet, insbesondere der obberegte Kriegsfreiwillige äußerte, daß die Sache ihrem Ende entgegen ginge, weil die Österreicher schlapp würden. Er hat von den Leuten eines durchfahrenden Panzerzuges unserer Bundesbrüder gehört, daß die größte Pulverfabrik bei Wien von italienischen Fliegern oder durch Verrat in die Luft gesprengt ist, und daß die österreichische Flotte nach Ermordung ihrer Offiziere zum Feinde übergegangen und erst von den deutschen Unterseebooten daran gehindert worden ist. Der Kanonier sagte darauf, er könne dies nicht glauben, weil auch die deutschen Matrosen nicht mehr mittun wollen. Als ich ihn fragte, woher er dies weiß, sagte er, er habe es von einem Mädchen in dem hier errichteten Freudenhaus erfahren, bei der ein Marinezahlmeister auf Urlaub gewesen ist. Nach der ruhmreichen Schlacht am Skagerrak berichtete sie, resp. der Zahlmeister, resp. der Kanonier, daß die Matrosen sich weigerten, weiter zu dienen und sei die Verpflegung der Mannschaft auch unbekömmlich. Es kamen demnach alle überein, daß Schluß gemacht werden müsse. Der Werkmeister betonte hiezu, daß der Krieg niemand Gewinn bringe als dem Großkapital, und daß die Russen die ersten gewesen seien, die dies erkannt haben. Diese umstürzlerischen Ideen wurden auch von E. vertreten, welcher sich hiebei auf die Bibel berief, doch glaube ich aus meinen Erfahrungen mit Herrn Esch mit Bestimmtheit sagen zu können, daß er damit scheinheilige Zwecke verfolgt, und daß ihm das Kirchengut ein Dorn im Auge ist. Offenbar zur Deckung des in Vorbereitung befindlichen Komplottes schlug er vor, eine Bibelgesellschaft zu gründen, was jedoch bei dem größten Teil der Anwesenden Hohn erregte. Um einerseits von ihm, andererseits vom Zahlmeister weiteres zu erfahren, wurde, nachdem sich die beiden Insassen des Krankenhauses und die beiden Fabriksarbeiter entfernt hatten, über meine Anregung das Freudenhaus besucht. Nähere Mitteilungen über den Zahlmeister konnte ich zwar dort nicht erhalten, hingegen wurde mir das Verhalten des Herrn E. immer verdächtiger. Der Doktor, welcher in dem Hause zweifelsohne Stammkunde ist, stellte mich nämlich mit den Worten, das ist ein Herr von der Regierung, dem müßt Ihr es gratis machen, vor, woraus ich entnehmen konnte, daß Herr E. gegen mich einen bestimmten Verdacht hatte und daher seine Komplizen mir gegenüber zur Vorsicht ermahnt hat. Ich konnte demnach Herrn E. nicht veranlassen, aus seiner Reserve herauszutreten, und obwohl er auf meine Einladung und meine Kosten sehr viel getrunken hat, war er trotz Zuspruches nicht zu bewegen, das Zimmer aufzusuchen, sondern blieb augenscheinlich völlig nüchtern, welchen Zustand er benützte, um im Salon lärmende Reden über die Unchristlichkeit und das Laster in derartigen Etablissements zu halten. Erst als ihn der kriegsfreiwillige Doktor darüber aufklärte, daß diese Häuser von der Heeresverwaltung aus Sanitätszwecken der Armee gefördert werden und demnach als Heereseinrichtungen geachtet werden müssen, gab er seinen oppositionellen Standpunkt auf, den er allerdings auf dem Heimweg wieder aufnahm.

Ohne Mehranlaß für heute, zeichnet in ausgezeichneter Hochschätzung und empfehle mich zu weiteren Diensten gerne bereit

hochachtungsvoll
Wilh. Huguenau

P.S. Ich gestatte mir ergeb. nachzutragen, daß während der Sitzung im Wirtshaus »Zur Pfalz« Herr Esch davon Erwähnung machte, daß im hiesigen Gefangenenhaus ein oder mehrere Deserteure untergebracht sind, welche erschossen werden sollen. Es wurde darauf die auch von ihm vertretene, allgemeine Meinung laut, daß es keinen Sinn hätte, jetzt vor Kriegsende, mit welchem also die Leute als sicher rechnen, noch Deserteure zu erschießen, weil ohnehin genug Blut geflossen sei. Herr Esch meinte, man solle eine dsbzgl. Aktion einleiten. Ob er damit eine gewaltsame oder eine andere gemeint hat, hat er nicht geäußert. Ich möchte nochmals erg. betonen, daß ich genannten Herrn E. für einen Wolf im Schafspelz halte, der sein reißendes Wesen hinter frommen Gesprächen verbirgt. Nochmals hochachtungsvollst empfohlen

D. O.

XIII

Als Huguenau seinen Brief beendet hatte, schaute er in den Spiegel und prüfte, ob ihm eine ähnliche, ironische Grimasse gelänge, wie sie ihn an Esch ärgerte. Ja, der Brief freute ihn; es tat wohl, dem Esch etwas auszuwischen. Aber für den Major war der Brief der Ausdruck einer gewalttätigen und häßlichen Ironie – wie ja jeder Versuch, zwei fremde Realitätssphären zu überbrücken, den Schein und die Wirkung des Gewaltsamen an sich trägt –, und wenn er auch mit einem Hang zur Milde Huguenau die Entschuldigung ungebildeter Plumpheit zuzubilligen geneigt war, so war er dennoch unangenehm berührt und eigentlich beschämt, diesem Manne sozusagen sein Vertrauen geschenkt und dessen angetragene Tätigkeit als agent provocateur nicht im vorhinein abgelehnt zu haben. Andererseits hielt er sich noch nicht für berechtigt, die ihm gemachten Mitteilungen einfach dem Papierkorb zu überantworten und weitere Berichte abzustellen, [vielmehr geboten es Stellung und Dienst, den verdächtigen Herrn Esch mit maßvollem Mißtrauen weiter zu beobachten.

Es war ihm daher durchaus nicht angenehm, als eines Tages Herr Esch zwecks eines persönlichen Anliegens sich bei ihm meldete. Herr Esch seinerseits war betreten und verlegen und schien den Schritt schon wieder zu bereuen.]

Denn er habe sehr wohl verstanden, daß es nicht genüge, nach der Schrift zu leben, ja noch mehr, er habe jetzt erkannt, daß alle Rezepte, die die Menschen zusammenbrauen, um der Welt zur Glückseligkeit zu verhelfen, zum Beispiel die sozialistischen und kommunistischen Lehren bloß Anweisungen seien, die der Schrift entnommen wären, ohne aber das Wesentliche, nämlich den Glauben zu berücksichtigen.

Ja, er müsse eingestehen, er wäre vielleicht Sozialist geworden, wenn ihn der Artikel des Herrn Major nicht erweckt hätte. Aber er hätte es nicht gewagt, mit einem persönlichen Anliegen vorzutreten, wenn er nicht die Verantwortung für so viele Suchende und Hilfsbedürftige trüge, die immer wieder um Rat zu ihm kämen. So stolz ihn solches in mancher Hinsicht mache, so unwürdig, ja sündig käme er sich vor, Führer zu spielen, ohne selbst das Ziel zu wissen. Was der Sozialismus diesen Leuten verspräche, neuen Sinn des Lebens und die Verhütung neuerlicher Kriegsschrecknisse, wird er – das sähe er wohl ein – nicht halten können, doch was soll an seine Stelle gesetzt werden, wenn der Glaube nicht gefunden werden kann.

So wäre er dazu geführt worden, mit seinen Freunden Bibelstunden abzuhalten, um gemeinsam einen Weg in solcher Wirrnis zu suchen, ein Gedanke, der zwar anfangs bloß hohnvolle Gegner, späterhin aber doch mehrere Anhänger gefunden habe. Ist doch der Hang zum Sektieren immer im ungebildeten Volke vorhanden. Aber eben damit war ihm erst recht die Aufgabe gestellt, in die Geheimnisse der Schrift einzudringen. Doch mit der Auslegung von Bibelstellen sei es auch noch nicht getan, und der Stadtpfarrer, von dem er Hilfe erhoffte, hatte ihn mit Unverständnis und Mißtrauen empfangen. Von ferne kam ihm der Gedanke, daß im mönchischen Leben, einer reinen vita contemplativa das Heil zu suchen sei, doch wurde ihm bald klar, daß er solcherart vielleicht für sich zu einer Befriedigung gelangen könne, daß es aber nicht das sei, was der Welt in dieser schweren Zeit Not täte. Zudem habe der Hinweis auf das Gebet und die rituellen Übungen, mit dem ihn der Pfarrer entlassen hatte, für ihn keinerlei konkrete Vorstellung bedeutet. Gewiß fand er in den Kulthandlungen viel Weihevolles und manches, das das Herz ihm ergriff, niemals aber etwas, was er als die Gnade des Glaubens ansprechen konnte. Wenn es etwas derartiges geben soll, so müßte es etwas sein, daß das Menschenherz in unmittelbare Verbindung mit dem Göttlichen setze, etwas, das wahrhafte Erleuchtung sei und wozu es weder Vorschriften noch der Hilfen eines pomphaften Kultes bedürfe. Und hier nun ist ihm der Artikel des Herrn Majors nochmals zu Hilfe gekommen: in ihm fand er Andeutungen, daß der Protestantismus das gesuchte Heil bedeuten könne, nicht nur für ihn, sondern auch für die Freunde oder – wie er sich in seiner Erregung ausdrückte – für die »Brüder«, und es ergab sich für ihn der Schluß, daß er im Ernste und aus tiefster Seele zu dem Vorhaben gekommen sei, zum Protestantismus überzutreten. »Die Bitte, die ich Ihnen, Herr Major, vorzutragen habe, ist aber, mir bei diesem Schritte beizustehen, die zweite aber, sich der Gemeinde der Brüder anzunehmen, die gleich mir den rechten Weg suchen.«

Es gibt keinen Menschen, der von den Konfessionen eines anderen wahrhaft bewegt wäre. Nur die eigenen Seelenkämpfe sind dem Menschen von Bedeutung, und die des Bruders verursachen ihm vor allem Unbehagen, es sei denn, er habe aus Beruf oder aus Ehrgeiz oder aus Konviktion für die eigene Überzeugung die Aufgabe, den Bruder zu retten. Der Major hatte sich zwar, wie dies aus seinem Artikel hervorgeht, in all diesen Belangen schon sehr weit vorgewagt, war aber jetzt, wo die Realität so unvermittelt an ihn herantrat, doch in erster Linie von lebhaftestem Unbehagen erfüllt. Durfte er, ein Militär, es auf sich nehmen, Proseliten zu machen? die katholische Kirche galt doch irgendwie als Verbündete, und er hätte es auch nicht auf sich genommen, einen Österreicher oder Bulgaren oder Türken zu veranlassen, seinen eigenen Staatsverband zu Gunsten des deutschen aufzugeben. Auf der anderen Seite durfte er doch nicht erschrecken, die Konsequenzen aus seinem Aufruf an das deutsche Volk auf sich zu nehmen, wenn das Volk ihm nun, wie sich zeigte, tatsächlich folgen wollte. Und wäre es nicht doppelte Sünde, eine suchende Seele – und wäre es auch der letzte seiner Brüder – abzuweisen.

Also begann er erst vorsichtig, doch dann immer wärmer werdend von der Führerschaft Luthers zu erzählen. Gab Herrn Esch recht, daß der Glauben bloß in unmittelbarer Berührung mit Gott empfangen werden könne, daß aber hiezu die Seele sich zu Nichts, zum leeren Gefäß, in das die Gnade sich ergießen könne, erniedrigen müsse. Daß in dieser tiefsten Christlichkeit erst die wahrhafte Gleichheit der Seelen vor Gott vorhanden sei, daß aber dann auch wahrhaft jeder Mensch Priester Gottes sei und das Heil predigen könne. Daß er nicht verzweifeln müsse, da auch er das Fünklein im Seelengrunde in sich trage und niemand von der Gnade ausgeschlossen sei, es zu finden. Und wenn er auch niemanden von seiner angestammten Religion abtrünnig machen wolle, so dürfe er doch nicht seine Überzeugung verbergen, daß Herr Esch auf dem eingeschlagenen Weg eher zur Klarheit gelangen werde als anderwärts. Und daß er gerne, wenn Esch es wünsche und seine eigene knappe Zeit es erlaube, wieder mit ihm sprechen werde, doch wolle er bitten, diese Gespräche sozusagen als Beichtgeheimnis zu behandeln. Was aber die Freunde des Herrn Esch anlange, so wolle er es sich noch überlegen, ob ihm seine Stellung gestatte, derart in eine, wenn auch beschränkte Öffentlichkeit zu treten.

Mit der ihm eigenen Impetuosität aber trat Herr Esch wenige Tage später zum Protestantismus über.

XIV

Um den Tisch im Gartenhause Esch sitzen Frau Esch, ihr zur Rechten der Major, zur Linken Huguenau, ihr gegenüber (mit dem Rücken zum Zuschauer) Herr Esch. Das Abendessen ist vorüber; auf dem Tische der Wein, den Herr Esch von einem inserierenden Weingutsbesitzer eingehandelt hat, und das Brot.

Es beginnt zu dunkeln. Im Hintergrunde sind noch die Konturen des Gebirgszuges auszunehmen. Zwei Kerzen in Glasglocken sogenannter Windleuchter brennend, werden von Mücken umtanzt. Man hört die stoßweise Arbeit der Druckmaschine.

Herr Esch Darf ich noch einschenken?

Huguenau Prächtiges Weinchen. Kennen Sie, Herr Major, unsere elsässischen Weine? milder, einfacher, man könnte fast sagen … er sucht nach einem passenden Ausdruck, findet keinen. Wissen Sie, bei uns zu Hause war überhaupt alles einfacher … auch der Rausch nach einem Elsässerwein ist irgendwie natürlicher; man ist eingeschlafen, das ist alles.

Esch Ich mag trinken so viel ich will und gelange zu keinem Rausch. Und doch – es ist wohl eine Schande – liebe ich den Wein. Wenn ich trinke, vereinfacht sich alles, nicht so wie Huguenau meint, anders: es vereinfacht sich die Wahrheit; ich kann plötzlich verstehen, warum im Wein die Wahrheit liegen soll, obwohl ich überzeugt bin, daß solche Wahrheit eine falsche ist.

Huguenau Sie müssen eben Meßwein trinken, dann werden Sie schon die richtige Wahrheit erwischen. Er errötet, weil er seinen faux pas merkt.

Major Man soll auch im Spaße nicht lästern.

Frau Esch Ach, Herr Major, so ist er ja immer, wenn er mit meinem Mann beisammen ist. Ich sage immer, was sich liebt, das neckt sich, aber manchmal ist es nicht mehr schön, wie er alles, was dem armen Mann heilig ist, in den Kot zerrt.

Huguenau – lächelt geschmeichelt, findet aber nichts Schlagfertiges zu erwidern, zumindest nichts, was ihn gleichzeitig in den Augen des Majors heben könnte. Also zündet er bloß umständlich die erloschene Zigarre wieder an.

Esch von seinem Gedankengang besessen, verfolgt ihn weiter Das Sonderbare in der Wahrheit des Weines ist, daß es gar nicht meine Wahrheit ist, daß sie mir erst sozusagen durch meinen Mund kundgetan wird. Ich glaube, man nennt dies Zungenreden. Man spricht Dinge aus, die einem erst nachträglich völlig einsichtig erscheinen.

Major Als Gott den Propheten Jesajas erleuchtete, redete dieser mit Zungen, doch Jesajas hat hiezu nicht des Weines bedurft.

Esch Ich sagte ja, daß die Wahrheit des Weines eine falsche sei, auch dann, wenn sie wie die echte sich ausnimmt. Es ist dann wie die gute Handlung des bösen Menschen. Vielleicht könnte man sagen, es sei wie die Richtigkeit im Traume: wir träumen richtige und gute Handlungen, und manchmal ist es sogar wie eine Erleuchtung, aber nichts ist da, was uns Gewähr dafür gibt.

Major Ja, immer handeln wir wie im Traume. Ein jeder in seinem eigenen Traum befangen, glaubt das Richtige und Notwendige zu tun, ja sogar damit das Gute. Und doch tut er Böses, weil die Richtigkeit seines Tuns nur für ihn besteht und für die Träumer nichts vorhanden ist, was sie eint und ihre Träume in Einklang bringt.

Esch Es sei denn, daß sie erweckt werden.

Major Ja, doch das Furchtbare liegt wohl darin, daß keiner sich erwecken lassen will. Über allen Sünden steht noch die Sünde der Beharrung, das Laster der Faulheit. Fast meine ich, daß es noch ärger ist, das Gute nicht zu wollen, als das Böse zu wollen. Wer das Böse will, kann sogar noch gleichzeitig Gutes wollen, wer das Gute nicht will, hat die Gnade verschmäht.

Esch mit einem Blick auf Huguenau Es ist der Verstockte.

Huguenau Wenn mir der Herr Major eine Zwischenfrage verstatten wollten, so erscheint es mir dann aber völlig unmöglich, das Gute zu wollen, weil ich ja doch nie weiß, ob ich träume. Ich habe in Esslingen einen dort ansässigen Kaufmann gekannt, der insolvent geworden ist. Das war zwar nicht schön, kann aber bei den schweren Zeiten vorkommen; ich hatte bei ihm etwa 600 Emm stehen. Die Ausgleichszahlungen aber hat er auch nicht eingehalten, sondern sich wegen Halluzinationen oder ähnlichem ins Irrenhaus sperren lassen. Man hat von religiösem Wahnsinn gefaselt; er hatte immer die Bibel neben den Geschäftsbüchern liegen, und ich habe mein Geld verloren. Im Gläubigerkomitee haben wir nicht von religiösem Wahn, sondern von Scheinheiligkeit gesprochen.

Esch Möchten Sie nicht wenigstens heute sich Ihrer plumpen und kindischen Anspielungen enthalten.

Huguenau Überhaupt verstehe ich nicht, was religiöser Wahnsinn bedeuten soll. Entweder ist Religion gut, dann ist religiöser Wahnsinn erst recht gut. Oder religiöser Wahnsinn ist schlecht und dann ist Religion überhaupt Wahnsinn.

Major Ein schweres Problem, Herr Huguenau.

Esch Herr Major, ich kenne ihn, aus ihm redet bloß bösartiger Widerspruchsgeist.

Major Nicht doch, Esch – aber wir wollen darüber nachdenken. Was zeichnet den Wahnsinnigen aus? daß ihm die Erkenntnis fehlt. Auch er ist gewissermaßen ein Träumer. Wem aber die Erkenntnis fehlt, der kann auch nicht zur Gnade kommen, denn die Erkenntnis der Gnade ist die Erkenntnis und die Gnade zugleich.

Esch So ist der Wahnsinnige böse?

Major Vielleicht – früher glaubte man ihn vom Bösen besessen. Die Druckmaschine stellt ihre Arbeit ein; die Schläge verstummen; man hört die Grillen zirpen, Nachtwind bewegt die Blätter der Obstbäume, in der Nähe des Mondes werden einige Wölkchen weiß beleuchtet. In der plötzlich eingetretenen Stille erschweigt das Gespräch. Endlich

Frau Esch Wie gut die Stille tut.

Huguenau Mithin war der Maschinenlärm böse?

Major Das fremde Gesetz, das wir nicht verstehen, ist uns fast immer böse. Der Narr, der in die Maschine seines eigenen Ichs verflochten ist –

Huguenau Wie der Verbrecher auf dem Rade.

Major daß er seinen eigenen Knoten nicht entwirren kann, ist uns vielleicht eben deshalb der Besessene. Für den Wilden ist ja auch die Natur und ihre Gesetze, weil er ihren Mechanismus nicht begreift, böse.

Esch Uns sind die Franzosen als verbrecherische Wahnsinnige erschienen, und wir sind ihnen wohl auch wahnsinnige Verbrecher. Sie sind es uns, weil wir ihr Gesetz nicht verstehen, wir ihnen, weil sie das unsere nicht erkennen wollen. In plötzlicher Angst

Mein Gott, gibt es keine Möglichkeit, daß ein Mensch zum andern kommt! gibt es kein Verstehen?! soll jeder im andern nur immer die böse Maschine sehen?

Major legt begütigend die Hand auf seinen Arm Doch, Esch …

Esch Wer ist für mich nicht böse, mein Gott?!

Major Der Dich erkannt hat, mein Sohn. Denn nur die Erkenntnis überwindet die Fremdheit.

Esch die Hände vor dem Gesicht Gott, Du sollst mein Erkennender sein.

Major Doch nur wer Erkenntnis hat, dem wird Erkenntnis gegeben, nur wer Liebe säet, wird Liebe ernten.

Esch immer die Hände vor dem Gesicht gefaltet Da ich Dich, oh Gott erkenne, kannst Du mir nicht mehr zürnen, und ich bin Dein lieber Sohn. Wer in der Liebe ist, kann nicht mehr einsam sein –

Major Und die Gnade kommt über ihn und nimmt ihm die Angst, sinnlos auf Erden gewandelt zu sein und unbelehrt und sinnlos und hilfelos ins Nichts gehen zu müssen –

Esch So ist die Erkenntnis die Liebe, die Liebe zum Erkennenden und damit zu jeder erkennenden Seele. Und ich erfasse jetzt, daß das höchste Gebot es ist, nicht töten zu dürfen, weil unantastbar jegliche Seele ist, die Gefäß der erkennenden Gnade zu sein vermag. Preisend erkenne ich die Liebe, die Gemeinde der Seelen schaffend, unantastbar eine der andern und dennoch erkennend vereint. Höchstes Gebot des Erkennens, Lebendes nicht zu verletzen; habe ich Dich, Gott, erkannt, wirst auch Du mich nicht töten.

Aufhorcht bewundernd Frau Esch, und der Major hat das Auge voll Tränen. Ängstlich fast und verschüchtert, im Kreise wie ein Fremder sich fühlend, bitteren Trotzes voll, fragt aber

Huguenau Wie aber darf es geschehen, daß der Mensch dem Bruder
Blutiges Schaffot errichte, daß der Deserteur gefesselt
Im Morgengrauen und klatschenden Regen vor die Mauer gestellt wird?
All dies im Namen des Guten und des gerechten Gottes!
Scheinheilig seid Ihr alle, ich sagte es vordem;
Löset der Wein bloß die Eschische Zunge zu ödem Pastorengerede,
So erscheint mir, mit Verlaub, ein einfacher Rausch doch wesentlich klüger.
Denn ein heiliger Schlaf dünkte mir besser als unheilig Faseln.

Major Bitter ist unser Freund und ausfallend seine Rede.
Ja, der hiesige Wein steigt manchmal zum Kopfe.
Aber richtig ist es trotzdem, was über das Wesen der Strafe
Er sagt und fast zum Vorwurf uns macht.
Denn kein Mensch ist so hoch, daß er den andern mag richten.
Und so verworfen ist keiner, daß seine ewige Seele nicht Ehrfurcht gebietet!
Unselig also der Mann, der andern zum Tode verdammet,
Unselig schon der Mann, den Pflicht zu richten beruft.
Doch doppelt unselig, verworfen und bös ist jener, der freien Willens
Solchen Beruf auf sich nimmt und gibt ihm Gott das Recht, statt Gnade zu üben,
Über den Bruder den Stab bricht und das Schaffot ihm errichtet.

Esch So meinet Ihr, Bruder, daß der Herrscher des Staates sündig stets wird,
Wenn er die Gnade verweigert …

Major So meine ich es.
Obwohl überzeugt, daß der Kaiser als Pflicht es betrachtet
Und oft wohl als schwere Pflicht, das Recht nicht zu hemmen.
Das Recht wohl genannt wird, Unrecht doch ist.

Huguenau Und doch wird das Urteil des Unrechts im Namen Gottes vollzogen,
Und es hebt der Pfarrer das Kreuz, wenn das Beil auf den Nacken herabsaust,
Reicht es zum Kusse dem, dem der Kopf in der Schlinge schon steckt
Und murmelt Gebete, wenn vier Löcher im Kopf und vier in der Brust
Der Deserteur an der Mauer zusammenbricht …

Esch Ja, mehr noch, hat zwar die Kirche
Im eigenen Namen noch nie einen Menschen getötet.
So hat sie den Ketzer doch gerne dem weltlichen Henker geliefert
Und nicht nur die römische tat es, nein auch die Kirche des Luther
Und Calvins briet liebreich das Fleisch ihrer Ketzer angekettet am Holzstoß,
Und dennoch ist's nicht das Gleiche: hier soll die Strafe nicht schrecken.
Nicht verletztem Gesetz öde Genugtuung geben, sondern ultima ratio sein,
Um den Sünder aus Traum und Verstockung zu reißen, verzweifelter, letzter Versuch.
Die abgeschiedene Seele aufzureißen, zum Empfang der göttlichen Gnade
Des Glaubens, vom Sünder erwartend, daß seine Pein er selber ersehne
Und wünsche, getrieben von jenem Fünklein, das nach der Ansicht der Kirche
In keinem Wesen ersterbe. – So dachte die Kirche die Liebe auch dann zu erfüllen.
Wenn sie das Böse schmerzlich mit tödlicher Pein bekämpfte.

Major Adelt das Leid auch den Sünder und jegliche irdische Kreatur,
Nimmermehr kommet sterblichen Menschen es zu, Leiden zu schaffen

Esch Ich liebe Dich, Bruder.

Die beiden im Wechselgesang im Tone etwa der Heilsarmee (Der Major Bariton, Herr Esch im Baß):

Herr Gott, Zebaoth,
Nimm uns auf in Deiner Gnade.
Schling um uns Dein einend Band;
Weise uns auf deine Pfade,
Führe uns mit weiser Hand;
Herr Gott, Zebaoth,
Aus dem Krummen in das Grade,
Führ uns ins gelobte Land.
Herr Gott, Zebaoth,

Huguenau, der bis dahin den Takt auf den Tisch geschlagen, einfallend (Tenor)

Schütze uns vor Beil und Rade
Schütze uns vor Henkershand;

Alle drei:

Herr Gott, Zebaoth,

Frau Esch einfallend (gar keine Stimme)

Dich zu meinem Tische lade,
Den durch Dich gedeckt ich fand,

Alle:

Huguenau und Esch auf den Tisch trommelnd

Herr Gott, Zebaoth,
Rette meine Seelen.
Rette sie vor ihrem Tod
Laß sie nimmer quälen.
Laß sie in dem Glauben baden
Und erlöse sie vor Schaden.
Wende ab sie von dem Tand.
Fach ihr Fünklein auf zum Brand,
Fünklein auf zum Brande rot
Herr Gott, Zebaoth,
Rett', o rett' mich vor dem Tod.

Der Major und Esch sind sich in die Arme gefallen. Huguenau, die trommelnde Faust noch auf dem Tisch, läßt sie langsam her abgleiten. Die Kerzen sind heruntergebrannt. Frau Esch schenkt den Rest des Weines den Männern in die Gläser, bedacht, daß jeder gleich viel bekomme; den letzten kleinen Überschuß erhält das Glas ihres Mannes. Der Mond hat sich etwas verdunkelt, und aus der schwarzen Landschaft weht jetzt der Wind kühler, wie aus einer Kellertür. Jetzt nimmt die Druckmaschine ihre stoßweise Arbeit wieder auf, und Frau Esch berührt den Arm ihres Mannes: »Wollen wir nicht zu Bette gehen

(Verwandlung)

Vor dem Hause Esch. Der Major und Huguenau. Huguenau mit dem Daumen auf das Schlafzimmer der Eschs weisend;

»Jetzt gehen die ins Bett. Esch hätte wohl auch noch mit uns bleiben können … aber sie weiß schon, was sie will. Na, gestatten Herr Major, daß ich Sie noch ein paar Schritte begleite. Ein bißchen Bewegung tut gut.«

Sie gehen durch die schweigenden, mittelalterlichen Straßen. Die Haustore sind wie schwarze Löcher. In einem steht, an die Tür gedrückt, ein Liebespaar, aus einem andern löst sich ein Hund los und läuft auf drei Beinen die Straße hinauf; an der Ecke verschwindet er. Hinter manchen Fenstern brennt noch ein kümmerliches Licht; was aber geht hinter den unbeleuchteten vor? ob wohl ein Toter dahinter liegt, auf seinem Bette ausgestreckt, die Nase in der Luft und das Laken macht ein kleines Zelt über den emporgerichteten Zehen. Huguenau würde gerne den Major fragen, ob er von diesen Fenstern die gleiche Vorstellung habe, aber der Major geht stumm, fast bekümmert daher. Seine Gedanken sind wohl bei Esch, sagt sich Huguenau, und er mißbilligt es, daß jener jetzt bei der Frau liegt und damit den guten Alten bekümmert. Aber, zum Teufel, was hatte denn der bekümmert zu sein? was kümmert ihn eigentlich dieser Esch? warum hat er sich nicht seiner Aufdringlichkeit erwehrt? Die beiden haben wohl vergessen, daß sie erst durch ihn in Verbindung gekommen sind und jetzt, in Mißachtung seiner Prioritätsrechte, verraten sie ihn alle beide. Und um Esch, der im Bette bei seiner Frau lag, – sozusagen mit dem Major zu betrügen, eine waghalsige Verbindung mit dem Major herzustellen, und diesen gleichzeitig für seinen Verrat zu strafen und zu demütigen, kam ihm ein aufreizender und abenteuerlicher Gedanke;

»Herr Major erinnert sich meines ersten Berichtes, in dem ich von meinem Besuche im Freudenhaus in Gemeinschaft mit Herrn Esch, der jetzt so bieder im Ehebette schläft, gemeldet hatte. Ich bin inzwischen der Sache weiter nachgegangen und glaube, eine Spur gefunden zu haben. Ich möchte jetzt wieder in das Haus schauen; wenn Herr Major für die Angelegenheit und für das immerhin sonderbare Milieu dort Interesse haben, würde ich gehorsamst anregen, daß Herr Major eine Besichtigung des Hauses vornehmen.«

Zu seiner Überraschung sagte der Major ohne weiteren Widerstand: »Kommen Sie«.

Sie kehrten um, denn das Haus lag in entgegengesetzter Richtung ziemlich außerhalb der Stadt. Der Major schritt wieder stumm neben Huguenau, vielleicht noch bekümmerter als vordem, so daß Huguenau, so sehr es ihn gelüstete, einen vertrauten Ton anzuschlagen, nicht wagte, ein Gespräch aufzunehmen. Als sie vor dem Hause anlangten, erwartete ihn aber eine Enttäuschung: der Major sagte plötzlich »Nein«, gab ihm die Hand, und als er ihn verdutzt anstarrte, zwang er sich zu einem Lächeln – »Machen Sie Ihre Recherchen heute doch allein.« Der Alte wendete sich wieder der Stadt zu. Huguenau sah ihm mit Zorn und Bitterkeit nach; doch dann gedachte er Eschs, zuckte die Achseln und öffnete die Türe.

Nach einer knappen Stunde verließ er das Haus. Seine Stimmung war besser geworden; Angst, die auf ihm gelastet hatte, war verflogen, er hatte irgend etwas in Ordnung gebracht, wußte er es wohl selber auch nicht zu nennen, so empfand er doch deutlich, daß er wieder sich selbst und seiner klaren Nüchternheit zurückgegeben war. So schritt er rüstig fürbaß und skandierte mit seinem Stock zu jedem Schritt auf dem Boden: »Herr Gott, Zebaoth.«

XV

Die redaktionelle Tätigkeit hatte er sabotiert und die des Detektivs war an der mangelnden Gegenliebe des Majors und an mangelndem Material verebbt. So wäre Huguenau einem rechten Müßiggang verfallen, hätte er nicht entdeckt, daß ein Zeitungsherausgeber sich und sein Blatt in den Dienst der gesellschaftlichen Einrichtungen und Veranstaltungen zu stellen habe. So war es auf seine Initiative zurückzuführen, daß man nunmehr auf dem Marktplatze neben dem Pranger einen Eisernen Bismarck bewundern konnte, in den der Major und Stadtkommandant den ersten Nagel eingeschlagen hatte. Auch der »Hilfsverein Moseldank«, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegerwaisen mit erbärmlichen Weihnachtsgeschenken zu versehen, Eichenkränze auf Heldengräber zu legen und Ansichtskarten zu verkaufen, verdankte ihm seine Entstehung. Und da der »Moseldank« das Arrangement von Siegesfeiern geradezu an sich gerissen hatte, und es nicht nur galt, die aktuellen Siege, sondern auch die Jahrestage der vergangenen dem Zeitgenossen würdig ins Gedächtnis zu rufen, war der September, ewig unvergeßlich durch die Befreiung Ostpreußens und die Ersäufung russischer Menschen ein besonders ergiebiger Monat, umsomehr als Huguenau seine gesellige Tätigkeit im gleichen Maße übersteigerte, als er Esch mit den Zusammenkünften in seinem Bibelverein beschäftigt sah.

In einer Bierwirtschaft halboffiziellen Charakters, die »Stadthalle« genannt, fanden die Feste statt. Im Saale wurde getanzt und trotz des Einspruches national gesinnter Kreise wurden neben dem Walzer auch feindliche Tänze, Cake Walk, Matchiche, Tango exekutiert. Die Wände waren mit Eichenlaub, Girlanden, den verbündeten Heerführern und Herrschern, Lampions und Fahnentuch geschmückt. Auf der Estrade an der Schmalseite spielte eine lärmende Kapelle, ihr gegenüber am Honoratiorentisch saß neben dem Bürgermeister und einigen Stadtverordneten der Major.

Der patriotisch-repräsentative Teil des Festes war vorüber, und Huguenau konnte sich dem Vergnügen widmen. Er war stets ein guter Tänzer gewesen, aber in anderer Umgebung hätte die bajaderenhafte Bewegtheit des beleibten, kleinen Mannes wohl auffallend, grotesk sogar gewirkt. Während sie unter den Augen der Heerführer zur Siegesfeier wurde.

Es ist der Tänzer dieser Welt entrückt. Eingeschmiegt in die Musik hat er sein freies Handeln aufgegeben und handelt dennoch in höherer und luziderer Freiheit. In der Strenge des Rhythmus, der ihn führt, ist er geborgen, und eine große Gelöstheit kommt über ihn aus der Geborgenheit. Man spielt »Von allen musikalischen Gestaden«; das ist ein langes Potpourri. Seine Partnerin singt. Und die weiche, ungeschulte Stimme läßt die barbarischen Texte mit dem zärtlichen Hauch ihres Atems an seinem Gesicht vorüberstreifen, wenn er sich ihr im Tango zubeugt. Doch wenn die Musik zum heroischen Marschtempo aufbraust, dann sieht er starr über sie hinweg, und sie trotzen mutig feindlichen Gewalten; sie kippen mit dem Rhythmus zum listig wippenden Fox; rollen aber die langen Wellen des Tangos wieder heran, dann wird der Schritt katzig und weich, biegsam Haltung und Schenkel, kommen sie am Honoratiorentisch vorüber, so nimmt er, gleich dem Seiltänzer, der hoch in der Luft leichthin und lächelnd leckeres Mahl verzehrt, mit gerundetem Arm sein Glas vom Tisch, und ohne den Tanz zu unterbrechen, trinkt er den Sitzenden zu.

Fast führt er die Tänzerin nicht: nur die eine Hand, galant in das Taschentuch gewickelt, ruht unter dem zärtlichen Ausschnitt des Kleides; die andere hängt lässig herab. Sie aber, den Kopf empfangend zurückgeworfen, ist seiner starken und doch kaum sichtbaren Leitung hingegeben: oh, wie übermannt er sie, die unterwürfig Unterworfene; von welch zarterer und strafferer Kunst des Geschlechts waren ihre Bewegungen, fremd ihrem Ehebett, fremd ihr selbst, ihren Liebhabern, selbst ihren Tänzern unbekannt bleibend. Schlägt aber die Musik zum Walzer um, dann fassen sich die freien Hände, steif und gedoppelt strecken sich aneinander die freien Arme, und die Finger verschränkt, wirbeln sie im Kreise. Schweift sein Blick im Saale, so sind die Reihen gelichtet. Bloß ein Paar tanzt noch, kommt näher, fast streifen sie sich, gleitet dann längs der Wände. Die übrigen sind unter die Zuschauer getreten; der feindlichen Tanzweisen weniger mächtig, bewundern sie. Erschweigt die Musik, so klatschen Zuschauer und Tänzer in die Hände, und sie hebt wieder an. Jene dort aber tanzt, mit ekstatischem Lächeln pferdeartiges Zahnfleisch enthüllend, angeschmiegt an ihren Partner. Und dieser im Frack, ein hagerer Weinagent mit schwarzer Krawatte und Eisernem Kreuz überstrahlt Huguenau an Eleganz und heldischer Auszeichnung. So könnte Esch hier tanzen, und es heftet Huguenau seinen Blick in die Augen der Vorübergleitenden, so daß ihm nun beide Frauen gehören. Und doch geht es ihm nicht um die Gunst der Frauen, und wenn er um sie wirbt, so ist es nicht für sich. Vielmehr verdichtet sich ihm dieses Fest und dieser geräumige Saal immer mehr um den Honoratiorentisch und immer mehr fixierten sich seine Gedanken auf den Major, der dort saß und ihm zusah. Er war der Krieger, der vor seinem Häuptling tanzte.

Doch die Augen des Majors füllten sich mit steigendem Entsetzen. Dieser Saal mit diesen beiden Männern, schamlos, schamloser als die Frauen, die gepreßt an ihnen hingen, das war die Hölle. Und daß ein Krieg von solchen Siegesfeiern begleitet werden konnte, das machte den Krieg als solchen zum blutigsten Zerrbild der Verworfenheit. Von Grauen erfaßt, ertappte er sich, daß er, ein preußischer Offizier, am liebsten die Fahnentücher von der Wand gerissen hätte, nicht weil sie durch solche Festlichkeit entweiht wurden, sondern weil sie in irgend einer, ihm selbst noch nicht verständlichen Art mit diesem Greuel metaphysisch verbunden und kompromittiert waren. Er hätte diesen Mann, dem er doch erst die Hand gedrückt hatte, und wohl auch wegen dieses Händedrucks, zermalmen können und furchtbar steigt der Wunsch in ihm auf, das Gezücht zu vernichten, es auszurotten und zertreten zu seinen Füßen liegen zu sehen. Doch nicht nur ihm zu Füßen. Denn neben sich sieht er das Bild des Esch ernst und feierlich emporwachsen und es ist ihm, als sollte dies alles für den Freund geschehen. Er sehnte sich nach seinem Bruder.

XVI

Am darauffolgenden Sonntag entschloß sich der Major, der Einladung Eschs endlich Folge zu leisten und an der Bibelstunde teilzunehmen.

Da die Zahl der Anhänger sich vermehrt hatte und während der schönen Jahreszeit es keines geheizten Lokals bedurfte, fanden die Versammlungen in einem der leeren Schuppenräume der ehemaligen Wirtschaftsgebäude statt. Ein Zimmermann, der dem Kreise angehörte, hatte einfache Bänke beigestellt, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl stand in der Mitte des Raumes. Die Brüder trafen sich am Nachmittage, so daß für Beleuchtung nicht gesorgt werden brauchte, doch mußte wegen des Mangels eines Fensters das Tor des Schuppens offen gehalten werden.

Als der Major eintrat, war die Gemeinde nahezu vollzählig; es waren etwa zwanzig Männer verschiedenen Alters, darunter mehrere Militärpersonen des Unteroffiziers- und Mannschaftsstandes. Man war auf sein Kommen vorbereitet, also durch seinen Eintritt nicht überrascht, wohl aber ein wenig betreten, etwa wie bei einer Schul- oder Kaserneninspektion. Er wurde mit Ehrerbietung begrüßt, von den Militärpersonen aber mit vorschriftsmäßiger Strammheit. Esch ließ einen zweiten Stuhl bringen, und der Major nahm neben ihm am Tische Platz.

Die Feier verlief nicht wesentlich anders als sonstige solcher Art. Esch las ein Stück aus der Bibel vor – es war die Stelle des Römerbriefes über die Einhaltung der Gesetze und über die in der Gnade wie ein Stück Zucker im Wasser aufgehende Gesetzesgerechtigkeit –, besprach den Sinn, vielleicht nicht anders, wenn auch ungelenker, als der Pastor in der Sonntagspredigt, doch sehr ergriffen von dem Stoffe und fast mit Innigkeit. Sodann wurde die Anwendbarkeit des Gelesenen auf die Fragen der Gegenwart besprochen. Der Major hatte erwartet, oder es wie eine Enttäuschung gefürchtet, doch irgendwelchen jakobinischen und revolutionären Ansichten zu begegnen. Aber was er zu hören bekam, konnte sogar bei übelwollender Auslegung höchstens langweilig genannt werden, und der Major alles andere denn übelwollend gesinnt, mußte er doch gerührt feststellen, daß die Saat, die er in die Brust des Esch gelegt, hier reiche Frucht zu tragen begann, mochte diese Frucht auch manchmal noch hart und plump sich anfühlen. Dabei vollzog sich die Angelegenheit mit jener naiven Würde, die er als echt protestantisch empfand, und so war es ihm auch keineswegs anstößig, vielmehr durchaus adäquat und konnte nicht umhin, selber das Wort zu ergreifen, als man ihn darum bat. Was er sagte, unterschied sich kaum von jenen Äußerungen, die wir von anderen Gelegenheiten her schon von ihm kennen, und wir können es uns demnach versagen, sie zu wiederholen, beschränken uns bloß auf die Konstatierung, daß sein Wort die Wirkung auf das Auditorium nicht verfehlte, und daß manche Träne in bärtige Wange sickerte.

Fühlte sich der alte Mann von dem Geiste dieses Kreises wohl in seinem Herzen bewegt, so war dieser dennoch nicht so sehr bei der Sache, als er selber gewünscht hätte. Denn sein Entschluß, die Versammlung zu besuchen, war nicht nur eine Art Demonstration gegen seine erzwungene Anwesenheit bei den schändlichen Siegesfeiern und gegen den schamlosen Burschen Huguenau, sondern er wollte damit auch eben sein Herz von manchen Sorgen befreien, mit denen es in den letzten Tagen belastet worden war. Ein Geheimbefehl der obersten Heeresleitung hatte die Stationskommandanten auf einen etwaigen Rückzug der Armee aufmerksam gemacht und die Maßnahmen vorgeschrieben, die für den Fall des Rückflutens der ungeheuren Truppenmassen zu treffen waren. Ganz abgesehen davon, daß er, wie die übrigen Kommandanten, hiedurch vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt war, mußte, trotz seiner Friedenssehnsucht, die nunmehr vor Augen geführte Vergeblichkeit des Kampfes und aller Opfer seinen patriotischen Sinn mit tiefem Kummer erfüllen. Aber die Grenze des Ungemachs war damit noch nicht erreicht. Denn während er noch sprach, sah er durch das offene Tor, wie Huguenau den Hof überquerte und von dem Klang der Rede überrascht und die Stimme erkennend, stehenblieb. Und er konnte es nicht hindern, daß nun jener schnurstracks auf den Schuppen zusteuerte, auf Zehenspitzen eintrat, eine Verbeugung machte, um mit gefalteten Händen bescheiden am Ende einer Bank sich niederzusetzen. Die Anwesenheit dieses Mannes schien ihm das Gesamtbild der Versammlung zu verändern: die graubärtigen Landsturmsoldaten, die eben noch wie Apostel aussahen, wurden wieder zu Mannschaftspersonen, und die blonden Jünger wandelten sich in bäurische und proletarische Rekruten zurück, die am Abend ihr Mädel in den Ufergebüschen erwarten werden. Alles enttäuschte ihn plötzlich, und in der Welle des Ekels, die er in sich aufsteigen fühlte, und in tiefem Mißmut schloß der Major vorzeitig seine Rede. Esch merkte den Zustand des Freundes; er berührte begütigend seinen Arm: »Immer ist ja ein Verräter unter uns« (und gedachte, dieses Wort zum Vorwurf der nächsten Sonntagsandacht zu nehmen).

Beim Verlassen des Schuppens drängte sich Huguenau in die Nähe des Majors, war aber durch dessen abweisendes Aussehen betroffen. Dennoch konnte und wollte er nicht auf die Begrüßung verzichten, umsoweniger als er sich hiezu schon ein Scherzwort zurechtgelegt hatte, nämlich, »Herr Major sind also gekommen, um die Primiz unseres neugebackenen Pastors mitzufeiern!« Das kurze, fremde Nicken, mit dem diese Begrüßung quittiert wurde, belehrte ihn, daß das Verhältnis getrübt sei und dies wurde noch deutlicher, als der Major sich umwandte und mit auffallend lauter Stimme sagte: »Kommen Sie, Esch, wir wollen ein wenig vor die Stadt.« Huguenau blieb in einer Mischung von Verständnislosigkeit, suchendem, vagen Schuldbewußtsein, Eifersucht und Wut zurück.

Die beiden nahmen den Weg über den Garten. Die Sonne neigte sich bereits zu den westlichen Höhenzügen. Es war damals, als würde der Sommer überhaupt kein Ende nehmen: Tage von vergoldeter, zitternder Stille folgten einer dem andern in gleichem strahlendem Licht, als wollten sie vor ihrer süßen Ruhe die blutigste Periode der Weltschlächterei doppelt sinnlos erscheinen lassen. Als die Sonne hinter der Bergkette verschwand, der Himmel zu immer zarterem Blau aufhellte, die Landstraße immer friedlicher sich dehnte und sich das Leben allenthalben in sich faltete wie das Atmen des Schlafes selber, da ward jene Ruhe immer offenkundiger und aufnahmsbereiter für die Seele des Menschen. So lag wohl der Sonntagsfrieden, süßer oder herber, über dem ganzen deutschen Vaterland, und in heftig aufquellender Sehnsucht gedachte der Major seiner Frau und seiner Kinder, die er über die abendlichen Felder sich ergehen sah. »Wäre nur dies alles schon vorbei«, und Esch konnte kein Wort des Trostes für ihn finden. Hoffnungslos dünkte ihnen beiden jegliches Leben, einziger spärlicher Gewinn – und dies nur unter seltenen, witterungsgemäßen Umständen – ein Spaziergang in abendlicher Landschaft.

Aber selbst diese Abendruhe durfte nicht anhalten. Sie hatten die letzten, vor der Stadtmauer gelegenen Häuser hinter sich gelassen, drüben lagen die gelben Gebäude des Gefängniskomplexes, und nun wurden sie eines sonderbar stoßweisen Summens gewahr, das offenbar von dort her zu ihnen drang. Näherkommend sah man auch, daß sich vor dem Tore schon eine Gruppe von Menschen angesammelt hatte, während das Geräusch immer schärfer sich artikulierte. Sie beschleunigten den Schritt, gelangten vor das Gebäude und hörten nun schließlich aus den vergitterten und mit Holz verschlagenen Fenstern einen fürchterlichen Chor ertönen, skandiert in Gruppen von drei Worten: »Hunger, Hunger, Hunger … Hunger, Hunger, Hunger … Hunger, Hunger, Hunger …«, und von Zeit zu Zeit wurde der Chor von einem allgemeinen, brüllenden Viehhofgeheul unterbrochen.

Der Major lehnte sich an einen Baum. »Es ist das Ende.« Dann, Selbstbeherrschung gewinnend, eilte er in das Gefangenenhaus. Esch wartete auf der kleinen Hügelböschung neben der Straße sitzend. Immer noch war die Luft durch die synkopierten Rufe durchschnitten. Ein einzelner Schuß ertönte, auf den wieder das allgemeine Geheul erfolgte. Dann noch einzelne Rufe wie die letzten Tropfen eines abgesperrten Wasserhahns. Dann war es still. Gleichgültig horchte Esch hinüber. Er verwunderte sich irgendwo, daß er das Ereignis, das ihn doch eigentlich höchlich erschüttern sollte, eigentlich kaum beachtete, verwunderte sich, daß er diese Gleichgültigkeit sogar für natürlich befand. Und doch war es bloß selbstverständlich, daß bei dem starken Umbildungsprozeß, den sein Inneres jetzt durchmachte, sich äußere Geschehnisse bloß wie eine weitere und losere Kugelschale an ihn anhaften konnten. Esch fühlte sich fern von sich, fern von dem Geschehnis, dem er jetzt beiwohnte, fern von allem, was der Nachmittag gebracht hatte. Der Raum weitete sich ihm, und die Zeit hatte sich zerdehnt. Er sah Huguenau, der von den Vorgängen in der Strafanstalt von irgendwo Wind bekommen haben mußte, im Geschwindschritt vorbeimarschieren, und es war ihm, als würde er ihn und die Bewegungen der Leute vor dem öden Kasernentor als Zeitlupenaufnahme im Kino vorgeführt erhalten. Die ersten Sterne wurden am hellen Himmel sichtbar, und es war ihm, als säße er schon tage- und jahrelang an dieser Stelle, umgeben von geisterhafter und wattierter Ruhe. Und nicht nur die Kinogesten wurden immer schattenhafter, erstarben völlig, sondern es erstarb nun auch noch die Begleitmusik, und nur mehr das Ticken des Apparates war hörbar.

Endlich kam der Major. Daß Esch gewartet hatte, schien ihm nicht recht zu sein; fast schien er überrascht, ihn noch anzutreffen. Er hätte es vorgezogen, mit einem Adjutanten zur Linken nach Hause zu gehen. Esch spürte es, und er war darob traurig und doch gleichgültig. Sie gingen nebeneinander bis zum Stadttor, und der Major war dankbar, als sein Begleiter sich dort kurz verabschiedete.

XVII

Am nächsten Tage war im Kurtrierschen Boten unter den Stadtereignissen in kleiner Aufmachung zu lesen:

Zwischenfall in unserem Gefangenenhaus. Gestern Abend kam es in unserem Gefangenenhaus zu einigen unerquicklichen Szenen. Einige Insassen des Hauses glaubten Grund zur Klage zu haben, daß die Kost nicht die gewohnte Güte aufweise und wurde dies von einigen vaterlandslosen Elementen zum Anlaß genommen, um die Verwaltung in lärmender Weise zu beschimpfen. Dank des Eingreifens des sofort herbeigeeilten Stadtkommandanten Majors v. Pasenow, resp. seiner Ruhe, Besonnenheit und Mannhaftigkeit wurde der Zwischenfall sofort beigelegt. Die Gerüchte, daß es sich um einen Ausbruchsversuch von angeblich hier eingekerkerten und ihrer gerechten Aburteilung entgegensehenden Deserteuren handelte, sind, wie wir aus bester Quelle erfahren, vollkommen haltlos, da keine solchen eingekerkert sind. Verletzt wurde niemand.

Diese Einrückung wurde ohne Wissen Eschs von Huguenau in der Druckerei geschrieben und sofort in den Satz gestellt. Er hatte das Gefühl, damit einer jener luziden Eingebungen gefolgt zu sein, deren Existenz ihn jetzt immer wieder in Erstaunen setzte, ja ein diplomatisches Meisterstück geliefert zu haben. Denn es war ihm vor allem ein willkommener Anlaß, sich an den Major durch das Lob anzubiedern, gleichzeitig aber seine Rache an ihm zu kühlen, da er mit Recht voraussetzen konnte, daß weder die Angelegenheit als solche, noch aber die Anspielung auf die Deserteure dem Stadtkommandanten angenehm sein durfte. Und wenn das Lob nicht verfing, so hatte er also überdies noch die Hoffnung, damit den Keim zu einem Zerwürfnis zwischen dem Major und Esch gelegt zu haben, dem niemand glauben werde, von der Einrückung nichts gewußt zu haben, einer Einrückung, die überdies in undelikater Weise auf eine Intimität mit den offiziellen Stellen anspielte. Und schließlich freute es ihn, Esch selber durch die Einschmuggelung, die zudem sein eigenes gutes Recht war und die ihm niemand vorwerfen konnte, zu ärgern. Aber es galt ihm nicht nur, seinen persönlichen Zu- und Abneigungen Befriedigungen zu verschaffen. Es dämmerte ihm auf, wie sehr er es eigentlich unausgesetzt gewünscht hatte, daß die Schaumschlägerei seiner Geheimberichte trotz seines eigenen, besseren Wissens einen realen Hintergrund besäße und daß er durch seine Reden und Anspielungen im Bordell und in den Kneipen und auch jetzt durch seinen Artikel im Grunde stets darauf hingearbeitet hatte, Unruhe zu stiften, um damit zu einem allgemeinen Zusammenbruch der Ordnung und der geltenden Realität beizutragen. Sicherlich war er kein Revolutionär, und er wäre zufrieden gewesen, wenn er am Rande der bestehenden Ordnung ungestört in der seinen hätte leben können, aber er war ein Kämpfer für seine eigene Realität und jetzt, wo er fühlte, daß der Major sich von ihm abwandte, fühlte er auch jene Welt sich von ihm abwenden und feindlich werden, so daß deren Vernichtung zur Aufgabe seines eigenen Lebenskampfes werden konnte.

All dies war ihm natürlich nur höchst unbestimmtes Wissen und Unbehagen, und er bemühte sich, seine Gedanken auf den kleinen Triumph der Gefängnisnotiz zu konzentrieren. Dennoch gelang dies nicht, und das Unbehagen verdichtete sich ihm in einer Angst vor Esch oder richtiger vor dem Mittagstisch, denn es erschien ihm, dessen Gewissen doch sonst manche Robustheit des Lebens überstanden hatte, unmöglich angesichts des Betrogenen oder unter seinem strafenden Blick einen Bissen schlucken zu können.

So erfindungsreich er sich nun auch sonst erwies, hier versagte er, und seine Phantasie reichte nicht weiter als die eines Schülers: sich krank melden. Er ging also zu Frau Esch in die Küche hinauf, und ermangelte sogar nicht, eine Leidensmiene aufzusetzen. Vielleicht fühlte er sich wirklich nicht ganz wohl und vielleicht wäre es am richtigsten, überhaupt nichts zu essen. Aber schließlich war die Pension gezahlt, und er brauchte diesem Esch nichts zu schenken. Also trat er in die Küche und rührte das Herz der guten Frau mit der Erklärung, daß er ob seines leidenden Zustandes heute bloß eine leichte Omelette von drei Eiern auf seinem Zimmer verzehren wolle, wohin er sich daraufhin zurückzog.

Teils weil es den Kranken so anschickte, teils weil Lektüre noch nie zu den Einrichtungsgegenständen seines Lebens gehört hatte, legte er sich auf das Kanapee, um einzuschlafen. Es gelang dies bloß mangelhaft, denn noch zitterte die Erregung über seinen journalistischen Coup in ihm nach. Dahinduselnd blinzelte er auf den Spiegel über dem Waschtisch und auf das Fenster vor seinen Augen und horchte auf die Geräusche des Hauses. Es waren die gewohnten Küchengeräusche; er hörte Fleischklopfen und rechnete nach, ob heute Fleischtag sei, bedauernd, daß er eben diesen versäumen mußte; dann hörte er ein kurzes, scharfes Hacken auf einem Brett und agnoszierte es als Schneiden des Gemüses für die Suppe. Angstvoll hatte er seiner Mutter immer zugesehen, wenn sie mit so raschen, hackartigen Schnitten die Petersilie oder den Schnittlauch kürzte, immer in Angst, daß sie die Fingerspitze mitnehmen werde. Er war froh, daß das Hackgeräusch jetzt endete und die Mutter den unverwundeten Finger jetzt abwischte. Dann knarrte die Stiege, und jemand kam herauf; der Vater pflegte sonst nicht so zeitlich zu sein. Beruhigt hörte er, daß es bloß der Postbote war, mit dem Frau Esch unterhandelte. Sonderbar, früher kam stets der Bäcker ins Haus; er sieht ihn jetzt nie. Wieder zum Fenster blinzelnd, sah er draußen die Kette der Colmarer Berge; der Burgvogt der Hochkönigsburg ist ein Major, der Kaiser hat ihn selbst dazu eingesetzt. Wenige Leute haben so viele Uniformen wie Kaiser Wilhelm. Jemand lacht, und er hört Alsasserditsch sprechen. Dann ging ein Kochtopf über; es zischte auf dem Herd. Hunger, Hunger, Hunger, sagte jemand in sein Ohr. Warum durfte er nicht mit den andern essen? immer hat man ihn schlechter und ungerechter behandelt. Ob man wohl den Major auf seinen Platz setzen wird? Jetzt knarrte wieder die Treppe und schreckhaft erkennt er des Vaters Schritt. Zumindest werde ich meine Omelette vor ihm bekommen, und angstvoll horcht er, ob man drüben schon zu Tisch geht. Daß Esch die Uniform eines Gefangenenwärters anzieht, ist die nämliche Hochstapelei wie sein Pastorenrock. Man weiß nie, ob sie einen schon zur Exekution holen oder bloß das Essen bringen. Jedenfalls soll Esch nicht früher Futter bekommen, bevor ich nicht selber gegessen habe. Morgen oder vielleicht schon abends wird aber in den Gasthof gegangen und Fleisch gegessen, vielleicht am Tische des Majors, doch jetzt möchte er schon endlich seine Omelette haben.

Frau Esch trat leise ins Zimmer, stellte die Tasse mit dem Eiergericht auf einen Stuhl neben das Kanapee und erbot sich, einen Kräutertee zu kochen, den sie immer in ähnlichen Fällen zu trinken pflege. Huguenau tat das Mitgefühl wohl, und er hätte es gerne gesehen, wenn ihm Frau Esch einmal über die Haare gestrichen oder die Hand auf die Stirne gelegt hätte, um zu prüfen, ob er Fieber habe. Dennoch wehrte er den Tee ab, meinte, daß, wenn überhaupt, nach seinem Dafürhalten ein Kirschschnaps angezeigter wäre. Frau Esch entgegnete jedoch, daß der Tee nicht nur ein uraltes, sondern auch ein berühmtes Medikament sei, daß der Kräutersammler, der das Geheimnis von seinem Vater und Urgroßvater geerbt hatte, ein schwerreicher Mann geworden sei, zu dem die Leute aus der ganzen Gegend pilgern und der sogar schon ein Haus in Köln besitzen soll, daß sie auch Herrn Esch, dessen Gesundheit doch nicht die festeste sei und der daher guter Pflege bedürfe, gewonnen habe, den Tee einzunehmen: und so entschloß sich Huguenau, sich ihrer Pflege ohne weitere Auflehnung anzuvertrauen. Er setzte sich mit einem Seufzer auf und verzehrte seine Omelette.

XVIII

Hatte schon der Vorfall im Gefangenenhaus dem Major seine dienstliche Eigenschaft und Pflicht in harter und deutlicher Weise ins Bewußtsein gerufen, ihn gemahnt, daß er irgendwie ins Gleiten geraten war, sich irgendwohin ins Unbekannte und Schreckhafte verloren hatte, so lieferte ihm die Notiz des Kurtrierschen Boten nun auch einen vertretbaren äußeren Grund, von Esch abzurücken und ihn achselzuckend mit dem Wort »Zeitungsleute« abtun zu können. Wohl wußte er, daß er damit den wahren Sachverhalt nicht traf, ja daß er Esch damit Unrecht tat, aber zur Rettung der eigenen Haltung mußte dieses soldatische Opfer gebracht werden: aber so sehr er sich nach dem Freunde sehnte und im Grunde nicht ihn mit den »Zeitungsleuten« gemeint hatte, sondern Huguenau, in dem er mit verstärkter Abneigung den Grund seiner Seelenpein vermutete, und den er nachgerade für die unglückliche Wendung, die der Krieg zu nehmen schien, verantwortlich zu machen geneigt war.

Aber es war nicht die letzte Bitternis, die dem alten Mann von Huguenau widerfahren sollte. In den ersten Oktobertagen langte bei dem Stadtkommando endlich doch eine Anzeige der Feldgendarmerie ein, anfragend, ob der Füsilier Wilhelm Huguenau des Füsilierregiments No. 14 sich in militärischer Verwendung dort befinde, widrigenfalls, da das Regimentskommando weder eine Abkommandierung noch eine Verwendungsmeldung vorliegen habe, er als Deserteur zu behandeln und an das genannte Regiment unter Bedeckung von zwei Mann überzustellen sei.

Es war ein arger Schlag. Der Mann, der von ihm, dem Stadtkommandanten selbst hier sozusagen eingeführt worden war, sollte als Deserteur abgeführt werden. Zwar hatte Esch als »Verräter« von ihm gesprochen, wohl selber Komplize, der den Komplizen verrät, wer kennt sich in diesen Journalistenintriguen aus! Schließlich, war nicht seine eigene Abneigung durch Einflüsterungen Eschs verursacht? wie weit war sein eigener Blick durch den Einfluß dieses Esch getrübt? denn immerhin: Huguenau hatte sich, wenn man es recht betrachtet, stets korrekt und patriotisch betragen; man konnte ihm nichts vorwerfen. Zwei Tage ließ der Major die Zuschrift unbeantwortet liegen. Schützte sich selber Überlastung vor, hoffend, daß irgend ein übermächtiges Ereignis ihn weiterer Schritte enthöbe. Ein gewisser Anlaß zu solcher Meinung lag ja immerhin vor. Die Kriegsereignisse boten einen immer katastrophaleren Aspekt; der Zusammenbruch mußte dem Eingeweihten eigentlich unaufhaltsam erscheinen. Die Befehle der obersten Heeresleitung verwirrten sich, und der Major, noch immer bereit anzunehmen, daß Huguenau die Hand im Spiele habe, wo Übles geschieht, war ihm nun hiefür fast dankbar. Alles überstürzte sich. Nachdem die Stadt in den letzten Wochen Schauplatz unausgesetzter Truppeneinlagerungen und Durchmärsche gewesen war, so daß die ärgsten Unterkunftsschwierigkeiten entstanden, wurde sie jetzt geradezu evakuiert, doch mußte man jederzeit auf gegenteilige Befehle gefaßt sein. Es war also immerhin naheliegend, anzunehmen, daß in dieser allgemeinen Unruhe und Unordnung die Angelegenheit Huguenau ohne weiteres in Versandung zu bringen gewesen wäre. Aber wie Kant verlangte, daß beim Weltende der letzte zum Tode verurteilte Verbrecher noch vorher justifiziert werde, so war der kategorische Imperativ seines wiedergewonnenen und daher etwas hypertrophierten Pflichtgefühls für den Major zu stark, um sich ihm entziehen zu können: nach zwei Tagen ließ er Huguenau zu sich bescheiden.

Als er des Mannes ansichtig wurde, wallte des Majors ganzer, zurückgedämmter Widerwille neuerdings auf. Er begrüßte ihn mit dienstlicher Förmlichkeit und reichte ihm stumm die Anzeige der Feldgendarmerie. Huguenau erfaßte blitzschnell, daß es jetzt ums Ganze ginge und war, wie es für Menschen in Todesgefahr oftmals charakteristisch ist, sofort gefaßt und orientiert. Er schlug einen leichten Ton an:

– »Ich habe Ähnliches schon längst erwartet. Die Unordnung bei den Heeresstellen reißt immer mehr ein. Als ich im Frühjahr mich bei der Pressehauptleitung abmeldete, nahm mir der dienstfreie Unteroffizier meine Papiere ab, angeblich, um das Regiment zu verständigen. Ich befürchtete sofort Unannehmlichkeiten, da es doch nicht anginge, einen dienstpflichtigen Soldaten ohne Dokument fortzuschicken. Ich wurde aber mit dem Hinweis beruhigt, daß man mir die Dokumente nachschicken werde und händigte mir bloß einen interimistischen Marschbefehl nach Trier aus, wo ich ihn vorschriftsgemäß beim Bahnhofkommando ablieferte. Natürlich habe ich mir auch selbst vorzuwerfen, daß ich zwischenzeitig die Angelegenheit immer wieder vergaß. Aber wenn schon die Behörden versagen, kann man dem einfachen Staatsbürger und Landesverteidiger keinen Vorwurf machen.«

Das klang plausibel; der Major wurde wieder unsicher.

– »Wenn ich Herrn Major einen Vorschlag machen darf, würde ich ersuchen, der Heeresgendarmerie und dem Regiment wahrheitsgetreu mitzuteilen, daß ich hier die offiziöse Landeszeitung leite und daß ich die fehlenden Dokumente, um die ich mich indessen kümmern werde, ehebaldigst nachfolgen lasse.«

Der Unmut des Majors hakte bei dem Worte »wahrheitsgetreu« ein.

– »Sie werden mir doch nicht zumuten, daß ich etwas anderes als etwas wahrheitsgetreues melden werde! Und um im übrigen völlig bei der Wahrheitstreue zu bleiben: ich glaube Ihnen nicht.«

– »So, Herr Major glauben mir nicht? Haben Herr Major vielleicht schon untersucht, auf welch glaubwürdige Denunziation jene Anzeige zurückzuführen ist. Und daß es sich bloß um eine Denunziation – und um eine läppische und boshafte obendrein – handeln kann, ist doch sonnenklar. Wie viele Leute wissen denn überhaupt, daß ich Unzukömmlichkeiten mit meinen Papieren hatte?: ich kenne bloß einen einzigen und dieser einzige hat, angeblich zum Spaß oder zum Symbol, wie er sagt, oft genug und auch oft genug vor Ihnen von einem »Verrätertum« gesprochen. Ich kenne solche scheinheiligen Spaße: wenn es gut geht, verliert man sein Geld daran, wenn es schlecht geht, so bringen sie einen an den Galgen.«

– »Wollen Sie gefälligst Herrn Redakteur Esch aus dem Spiele lassen; er ist ein ehrenwerter Mann.«

Huguenau spürte, daß er jetzt va banque spielen müsse:

– »Herrn Major mache ich gehorsamst darauf aufmerksam, daß nicht ich, sondern Sie den Namen Esch zuerst genannt haben. Also habe ich mich nicht getäuscht, und er ist der saubere Denunziant. Wenn der Wind von hier aus weht und der Herr Major mit Rücksicht auf die Freundschaft mit Herrn Esch dessen Geschäfte führen will, dann bitte ich um meine Verhaftung.«

Die Dreistigkeit sitzt. Der Major schreit:

– »Herr, ich lasse Sie sofort abführen.«

– »Bitte, Herr Major, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich weiß, was ich von einem preußischen Offizier zu halten habe, der zu solchen Mitteln greift, um sich eines Zeugen seiner defaitistischen Reden vor Mannschaftspersonen und Kommunisten zu entledigen. Es ist ja hübsch, wenn man seinen Mantel nach dem Wind hängt, aber ich habe keine Lust, mich zum Windfänger herzugeben.«

Die letzten, eigentlich unsinnigen Worte, von Huguenau bloß zum Aufputz seiner Rhetorik draufgegeben, hörte der Major nicht mehr. Huguenau hatte das Zimmer verlassen und respektlos die Tür hinter sich zugeschlagen. Fassungslos sitzt der alte Mann hinter seinem Schreibtisch.

Nachdem er eine Stunde mit leerem Kopf vor sich hingebrütet hat, entnimmt er der rechten Schreibtischlade einen Militärrevolver. Aber darf er so ohne weiteres seinen Posten verlassen, bloß weil er sich erniedrigt und beleidigt fühlt und keinen Ausweg weiß? Also legt er die Pistole wieder zurück, nimmt aber dafür die Feder und schreibt gepreßten Herzens sein Abschiedsgesuch. Am liebsten hätte er um infame Kassierung gebeten.

XIX

Ein besonderer Schmerz für den Major war es, sich über den furchtbaren Zwiespalt, in dem er sich befand, nicht mit Esch aussprechen zu können. Esch, der nicht minder unter der Erkaltung des Verhältnisses litt, vermied aber seit jenem Sonntagabend einen sozusagen außerdienstlichen Kontakt zu suchen. Kamen die beiden Männer zusammen, so beschränkte man sich auf gleichgültige Dinge und stiller Übereinkunft gemäß wurde Huguenau überhaupt nicht erwähnt.

Huguenau aber wohnte weiterhin im Eschischen Hause. Sonderbarerweise kam ihm überhaupt nicht der Gedanke, daß er als offen gesuchter und verfolgter Deserteur eigentlich flüchten müßte. Er war mit seiner hiesigen Wirksamkeit schon allzusehr verbunden. Sagte ihm sein kaufmännisches Gewissen, daß er ein Geschäft, in dem ein gutes Stück [Geld], wenn auch nicht sein eigenes, steckte, nicht abandonnieren dürfe, so war dies bloß ein Vorwand. In Wirklichkeit war es ein Gefühl allseitiger Unabgeschlossenheit, das ihn zurückhielt. Wäre er geflüchtet, so wäre es eine Kapitulation seiner Realität vor der der andern gewesen, und das Ärgste war, sich vorzustellen, der Major und Esch könnten sich hinterher wiederfinden und ihn verhöhnen. Diese eifersüchtige Angst verbot es ihm sogar, ein anderes Quartier zu suchen, zwang ihn, seine Beziehung zu Esch aufrecht zu halten und dieser ging umso eher darauf ein, als er ja von dem Auftritt mit dem Major und seinen Konsequenzen nichts wußte, wohl aber, von einem dunkeln Mißtrauen getrieben, Huguenau unter den Augen behalten wollte.

Nein, Huguenau kapitulierte nicht. Er blieb und vereinbarte bloß mit Frau Esch eine Rückvergütung für nicht genossene Mahlzeiten, um sich öfters von dem verhaßten Mittagstisch absentieren zu können. Und schließlich hatte er nichts zu fürchten: Esch konnte nichts wissen, den Major hatte er in geradezu erpresserischer Gewalt, und die Zeit war überdies wahrlich nicht danach, um Einzelaktionen gegen einen kleinen elsässischen Deserteur zu unternehmen. Aber er durfte trotzdem die Hände nicht in den Schoß legen, nicht nur, weil es der Aberglauben und die Angst vor des Krieges Wechselfallen verbot, nicht nur weil eine Untätigkeit die Bereinigung und Liquidation seiner schwebenden seelischen Angelegenheiten, um derentwillen er doch geblieben, keineswegs förderte, – denn dies waren durchaus nicht seine eigenen Erwägungen, – sondern weil ihn seine Feinde, wie er sagte, bösen Anlaß zu Widerstand und Aggression gaben.

Denn jemehr die Zustände, die er früher mit den Augen eines phantasievollen Polizisten gesehen hatte, nunmehr feste Gestalt annahmen und je deutlicher Polizeimaßnahmen getroffen wurden, auf deren Veranlassung er früher bloß stolz gewesen wäre, umso mehr mußte Huguenau in die Opposition geraten, mußte vom Standpunkt des Polizisten zu dem des Aufrührers hinübergleiten. So gleichgültig es ihm war, daß die Einbrüche in erschreckendem Maße stiegen, ja so sehr er nach Schutz gerufen hätte, wenn ihm eigenes Hab und Gut gestohlen worden wäre, und so unberührt er von dem Faktum der bolschewistischen Propaganda war, so faßte er nun dennoch jede simple polizeitechnische Aktion als persönliche Spitze gegen sich auf: die durch einen Geheimbefehl des Stadtkommandos verfügte Schließung des Bordells, die verschärfte Polizeiaufsicht, die über die niedrigeren Kneipen verhängt wurde, betrachtete er als hinterhältige Beleidigungen, die er gemäß seinem bereits erprobten Rezept mit einer lobenden Notiz im Blatte beantwortete.

Es verstand sich, daß er dabei nicht stehen blieb. Das öffentliche Haus, das nun als Geheimbetrieb weiter geführt wurde, sah ihn öfter als je, und in den Kneipen und Weinstuben ließ er gerne einen Taler springen. Oft war es bloß Sucht nach Publikumserfolg, die ihn dahin trieb, denn er befürchtete stets, daß seine boshaften Notizen, auf die er so stolz war, etwa gar als ernsthafte Lobesartikel aufgefaßt werden könnten, immer bereit zu erklären, daß dies der einzige Weg sei, Geheimverfügungen des Polizeibüttels einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Er erzählte ferner jedem, der es hören wollte, daß man ihn höheren Ortes gerne als agent provocateur verwendet hätte, daß er aber, trotz glänzender Anerbieten, sonst säße er nicht hier, sondern zumindest in Köln oder Berlin, nicht einen Schritt von seiner korrekten Haltung abgewichen sei. Gewiß war er stets ein guter Patriot, gewiß habe er die Siege seines Vaterlandes gefeiert, wer wage es, ihn deswegen zu tadeln! aber jeder wird ihm das Zeugnis ausstellen, daß er stets einen offenen Blick für die Ungerechtigkeiten, die das Volk bedrücken, gehabt habe. Wer hatte als erster den Mut, öffentlich die Mißstände im Gefangenenhaus aufzudecken? Und wer hat die Bourgeoisie, der der Beutel gewiß nicht locker im Sacke sitze, dazu gebracht, doch etwas für die armen Kinder gefallener Proletarier zu tun? so viel er sich erinnere, dürfte er es gewesen sein. Und der Dank? er würde sich nicht wundern, wenn nicht jetzt schon geheime Polizeibefehle gegen ihn liefen: aber er fürchte sich nicht, sie mögen bloß kommen, er habe schon noch Freunde, die ihn aus dem Gefängnis befreien würden. Mit der geheimen Gerichtsbarkeit müsse überhaupt aufgeräumt werden. Ein Mensch verschwindet, man wisse nicht wie und hinterher mag man erfahren, daß man ihn im Gefängnishof verscharrt habe. Weiß Gott, wie viele in den Kerkern noch schmachten. Nein, wir haben kein Gericht, wir haben eine Polizeijustiz. Und das Ärgste ist die Scheinheiligkeit dieser Polizeibüttel. Die Bibel haben sie immer in der Hand, aber bloß um einen damit auf den Kopf zu dreschen. Und vor und nach dem Fressen gibt es ein Tischgebet, aber die andern können mit oder ohne Tischgebet verhungern. Ja, die Pastoren, die sind ein besonderes Kapitel, die das Volk mit Bibelsprüchen am Sonntagnachmittag abspeisen wollen. Da verwende er seine freie Zeit noch lieber für den Kintopp. Aber wenn es nicht anders geht, läßt der Pastor am Sonntagnachmittag auch schießen. Es gibt Leute genug, die damals die Schießerei im Gefängnis gehört haben. Nun, er wolle nichts gesagt haben, er war immer korrekt und wird es immer bleiben, auch wenn es seinen Kopf kostet. Das werden ihm wohl alle bezeugen. Und wenn er nach solcher Rede im Kreise umsah, war keiner, der ihm nicht Beifall zollte.

Daß Esch bald von den Redereien Huguenaus in den Wirtshäusern Kenntnis erhielt, verstand sich von selbst. Er legte nicht allzu großes Gewicht darauf, da er ihn ja oft genug bramarbasieren gehört hatte. Da ihm aber immer wieder von seinen Freunden zugetragen wurde, daß Huguenau – und dies sei doch für den Eigentümer einer so bedeutenden und fromm geschriebenen Zeitung merkwürdig – eine kommunistische und gotteslästerliche Sprache von sich gäbe, ja geradezu zu Haß und Verachtung gegen die Diener Gottes hetze, entschloß er sich, einmal mit ihm zu sprechen. Huguenau stellte nichts in Abrede: »Sie wissen, lieber Esch, ich war immer ein Freigeist und habe nie ein Hehl daraus gemacht. Ich habe Sie in Ihrer Frömmelei nicht gestört, lassen Sie also mir auch mein Vergnügen. Im übrigen bin ich kein Volksführer wie Sie; ich habe keinen Ehrgeiz. Aber wenn ich den Leuten so zuhöre, so scheint es mir, daß die Dinge doch einen andern Lauf nehmen, als Sie, Herr Pastor Esch, wünschen. Ich meine, wir werden bald etwas erleben. Und ich sehe auch einige Leute am Laternenpfahl. Wenn der Herr Major nicht auf mich böse wäre, würde ich ihn ganz gehorsamst warnen. Ich bin ein guter Kerl. Auf Sie scheint er mir ja auch nicht gerade mehr gut zu sprechen zu sein, der wankelmütige, alte Narr. Aber immerhin stelle ich es Ihnen frei, ihm die Warnung zu überbringen. Sie sehen, mit mir kann man mit offenen Karten spielen; ich ermorde keinen von hinten wie andere Leute.« Und mit diesen nicht sehr adäquaten Worten entfernte er sich stolz. Hinterher ärgerte er sich seiner Gutmütigkeit; er hatte doch keinerlei Anlaß zu irgend einem Schuldgefühl gegenüber den Herren Pasenow und Esch.

XX

Und in den ersten Novembertagen erlebte man tatsächlich etwas. Am Morgen gab es eine kleine Demonstration der Arbeiter der Papierfabrik. Man zog wie bei solchen Anlässen stets vors Rathaus, aber man hatte diesmal, eigentlich ohne besonderen Grund die Fenster eingeworfen. Der Major ließ die Halbkompagnie, die ihm noch zur Verfügung stand, aufziehen und die Leute zerstreuten sich. Aber die Stadt war voller Gerüchte; der Zusammenbruch der Front war bekannt, von den Waffenstillstandsverhandlungen war aber noch nichts zu erfahren; man erwartete schreckliche Dinge.

Abends sah man rötlichen Schein im Westen liegen, und allgemein hieß es, Trier brenne an allen vier Enden. Huguenau, der nur bedauerte, die Zeitung nicht schon längst den Kommunisten verkauft zu haben, wollte eine Separatausgabe drucken lassen, aber die beiden Arbeiter waren unauffindbar. In der Nacht gab es ein Geschieße in der Nähe der Strafanstalt. Es hieß, es wäre ein Zeichen gewesen, um die Häftlinge zum Ausbruch zu bewegen. Späterhin wurde bekannt gegeben, daß ein Gefangenenwärter infolge eines Mißverständnisses Alarmschüsse abgegeben hätte, aber niemand glaubte daran.

Der nächste Morgen war kalt, neblig, winterlich. Der Magistrat versammelte sich in den ersten Stunden in dem ungeheizten, kaum beleuchteten, getäfelten Sitzungssaal und verlangte die Bewaffnung der Bürgerschaft. Da Stimmen laut wurden, daß dies eine aufreizende Demonstration gegen die Arbeiter wäre, einigte man sich auf die Aufstellung einer Schutzgarde, der sowohl Bürger als Arbeiter angehören sollten. Da zu einer regelrechten Werbung keine Zeit war, wurden vormittags Gewehre an alle jene verteilt, die sich als ortsansässig und waffenkundig legitimieren konnten und von einem hiezu gewählten fünfgliedrigen, paritätischen Komitee, der Bürgermeister als Vorsitzender, approbiert wurden. Auch Esch und Huguenau fühlten sich verpflichtet, sich zu melden und wurden mit Waffen ausgestattet.

Esch ersuchte um Verwendung in der Nähe des Rathauses; er wollte in der Nähe des Majors sein. Er wurde für den Nachtdienst bestimmt, während Huguenau nachmittags an der Brücke zu wachen hatte.

XXI

Huguenau saß auf der Steinbalustrade der Brücke und fror im Novembernebel. Sein Gewehr mit aufgestecktem Bajonett lehnte neben ihm. Zwischen den Steinen der Balustrade wuchs Gras, und Huguenau beschäftigte sich damit, es auszurupfen. Auch uralte Mörtelstückchen konnte er zwischen den Steinen herauslösen und sie dann ins Wasser fallen lassen. Er langweilte sich reichlich und fand die ganze Angelegenheit sinnlos. Der aufgeklappte Kragen seines kürzlich gekauften Überziehers scheuerte rauh an Hals und Kinn und gab keine Wärme. Er erinnerte sich an Indianerspiele, erinnerte sich, wie er sie plötzlich dumm fand und ihrer überdrüssig wurde, als ihm seine Mutter einen echten Indianerschmuck mit Hühnerfedern auf rotem Körperband angefertigt hatte. Und ebenso sinnlos war es, hier zu sitzen mit der dummen grünen Armbinde auf dem Winterrock und überdies kalt. Aus Langeweile verrichtete er seine Notdurft, aber auch dies ging vorbei. Die Uhren der Stadt tönten durch den Nebel herüber; fünf Uhr, und wie finster es bereits wird, so kurz die Tage und ein Jahr wieder herum. Huguenau wurde traurig. Wozu dies alles, was hatte er hier zu tun? Drüben lag das Eschische Anwesen. Huguenau spuckte in der Richtung aus. Plötzlich, in der ebenso gerichteten Handlung, überkam ihn jäher Schreck: er hatte die Tür zur Druckerei offen stehen lassen, und wenn es heute zu Plünderungen kommt, so werden sie ihm seine Maschinen zerschlagen.

Er war schon nahe daran, seine Pflicht im Stiche zu lassen und sich nach Hause zu begeben, als grelles Aufleuchten drüben von der Höhe herunterblitzte und ihn erschreckte. Im nächsten Augenblick erfolgte eine fürchterliche Detonation. Er erfaßte noch, daß es in der Kaserne der Minenwerferkompagnie war, daß es dort noch Munitionsreste gab, und daß irgend ein Dummkopf sie zur Explosion gebracht hatte und hatte sich schon instinktmäßig auf den Boden geworfen. Klug genug, weitere Explosionen zu erwarten, blieb er liegen; in kurzem Abstand folgten dann noch zwei weitere Detonationen, und dann ging der Lärm in vereinzeltes Geknatter über.

Huguenau lugte vorsichtig über die Steinbalustrade, sah die Ruinenmauern der Magazinschuppen von innen heraus rot und schwelend beleuchtet und das Dach der Kaserne brennend. Also, es geht los, sagte er sich, stand auf und putzte seinen Winterrock ab. Wenige Sekunden später kam schon ein Trupp Menschen von der Kaserne herunter gelaufen, Stöcke, Steine, teilweise auch Gewehre in den Händen. Er begriff, daß es auf das Gefangenenhaus losginge und fühlte sich wie ein Generalstabschef, dessen Pläne auf die Sekunde genau ausgeführt werden. Brave Leute, sagte etwas in ihm und fand es natürlich, daß er sich ihnen anschloß.

Im Sturmschritt und johlend ging es zur Strafanstalt. Die Tore waren geschlossen. Ein Steinhagel prasselte dagegen, und dann wurde der direkte Angriff geführt. Huguenau schmetterte den ersten Kolbenschlag gegen die Bohlen. Einer hatte sich ein Brecheisen verschafft und die Bresche war bald gelegt: das Tor sprang auf, und die ganze Menge flutete in den Hof. Er war menschenleer, das Personal hatte sich irgendwohin zurückgezogen; nun, man wird sie schon ausräuchern, die Burschen. Aber aus den Zellen tönte wilder Gesang: »Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch«. Plötzlich gellende Schreie. Sie hatten einen der Wärter im Hofe gefunden. Als Huguenau hinkam, lag der Mann wie gekreuzigt auf der Erde, bloß das eine Bein stieß krampfhaft hochgereckt und rhythmisch in die Luft. Zwei Weiber hatten sich über ihn geworfen und auf der einen Hand stand mit genagelter Sohle der Kerl mit der Brechstange und ließ sie auf die Knochen des Gemarterten herabsausen. Huguenau fühlte, daß er sich übergeben müsse. Etwas Panisches überwältigte ihn. Das Gewehr auf dem Rücken rannte er in die Stadt zurück.

Diese aber lag im Scheine der brennenden Kaserne scharfbeleuchtet, spitzgiebelig, und die schwarzen Konturen der Häuser waren überragt von den Türmen des Rathauses und der Kirchen. Von dort schlug es halbsechs, unbekümmert, als läge noch tiefer Friede über dieser menschlichen Ansiedlung. Unbändigen Wunsch nach menschlicher Nähe und nach Schutz empfand Huguenau aus seiner Panik heraus, als er des vertrauteren Bildes und jener Töne, die ihm irgend eine Beruhigung gaben, inne wurde. Er bemerkte, daß es nach Selchstube roch. Plötzlich durchfuhr es ihn mit Schrecken, daß nunmehr die Schränker und Einbrecher befreit werden, daß die Druckmaschine nicht verschlossen sei, und mit verdoppelter Anstrengung strebte er weiter und nach Hause.

XXII

Esch befand sich in der Küche, als die erste Detonation erfolgte. Mit einem Sprung war er beim Fenster, prallte aber zurück, als bei der unmittelbar folgenden zweiten Explosion ihm das gelockerte Fenster samt Rahmen entgegenflog. War es ein Fliegerangriff? Die Frau lag zwischen den Scherben auf den Knien und ratschte das Vaterunser. Er riß sie auf. »In den Keller, Flieger.« Aber schon von der Stiege aus sah er den [Brand des] Munitionsmagazins, hörte das von dort kommende Geknatter. Also es ging los. Und sein nächster Gedanke war »der Major«. Die winselnde Frau – noch klang Wimmern nach, er möge sie nicht verlassen – ins Zimmer zurückstoßen, das Gewehr nehmen und die Stiege hinunterlaufen, war das Werk eines Augenblicks.

Die Straße war voll schreiender Menschen. Vom Marktplatz tönte ein Trompetensignal. Er keuchte die Straße hinauf. Hinter ihm wurden im Laufschritt ein paar angeschirrte Pferde gebracht; er wußte, daß sie für die Feuerwehr bestimmt waren, und es tat ihm wohl, daß noch ein Stück Ordnung funktionierte. Die Spritze stand schon auf dem Marktplatz, man hatte sie herausgezogen, aber es fehlte an Mannschaften. Der Hornist stand neben ihr, ließ immer wieder den Sammelruf ertönen, aber vorderhand waren erst sechs Mann anwesend. Von der anderen Seite des Platzes kam aber oben die Kompagnie angelaufen, und der Hauptmann war so besonnen, sie in den Dienst der Feuerwehr zu stellen; sie ratterte mit der Spritze ab.

Im Rathaus waren alle Türen offen. Kein Mensch zu sehen; die Kommandantur leer. Es war eine Erleichterung für Esch, also konnten sie den Alten wenigstens hier nicht gleich finden. Aber wo war er? Als Esch heraustrat, hörte er, daß die Strafanstalt gestürmt werde; ein Sanitätsunteroffizier lief vorüber, er rief ihn an, ob er den Kommandanten gesehen habe. Ja, er habe die Schutzgarde alarmieren lassen und sei entweder bei der Kaserne oder beim Gefangenenhaus.

Esch machte sich auf den Weg zur Strafanstalt. Etwa mittwegs außerhalb der Stadt hörte er das Johlen eines herankommenden Trupps. Er trat ins Gebüsch, um ihn vorbeiziehen zu lassen. Es waren etwa zweihundert Leute, die Sträflinge, an ihren grauen Gewändern kenntlich, unter ihnen. Einige versuchten, die Marseillaise zu singen, andere die Internationale. Eine Stimme rief fortwährend »Viererreihen bilden«, aber keiner hielt sich daran. Voran trug einer auf einem Stock, der wohl einen Galgen darstellen sollte, die mit Zeug und Tüchern ausgestopfte Figur eines Gefangenenwärters, den man zu diesem Zwecke augenscheinlich nackt ausgezogen hatte. Der Puppe war ein weißer Zettel auf der Brust angeheftet, und in dem zuckenden Licht der brennenden Depots konnte Esch das Wort »Stadtkommandant« entziffern.

Um Nachzüglern auszuweichen, lief er neben der Straße auf der Wiese weiter. Scheinwerfer eines Autos tauchten vor ihm auf, kein Zweifel, es war der Major. Esch kletterte die Böschung hinab und versuchte, durch Schreien und Winken, den Wagen aufzuhalten. Aber man bemerkte ihn nicht oder wollte sich nicht dran kehren. Zur Seite springend, um nicht überfahren zu werden, konnte er noch ausnehmen, daß sich neben dem Major drei bewaffnete Männer befanden, Soldaten oder Mitglieder der Schutzgarde, davon einer auf dem Trittbrett.

Der Wagen fuhr den Aufrührern geradewegs in die Arme; der Major schien verloren. Esch lief dem Wagen nach, verzweifelt wie im Traum einem enteilenden Zuge, erwartete, sofort Furchtbares sehen zu müssen. Und mitten in dieser Angst hörte er schon vor sich einige Schüsse, dann einen krachenden, explosionsartigen Schlag, Schreien und Lärmen. Er sprang wieder die Böschung hinauf.

Vor den ersten Häusern stand der Haufe, die Gegend war von dem Brande noch immer beleuchtet. Hinter den Gebüschen Deckung suchend, gelangte Esch zum ersten Gartenzaun und konnte sich nun im Schutz der Einfriedungen nähern. Der Wagen hatte sich überschlagen und lag brennend auf der jenseitigen Straßenböschung. Offenbar hatte der Chauffeur, angesichts der Menge oder von einem Stein getroffen, die Herrschaft über das Vehikel verloren und war aufgefahren. Er lag halbgekauert vor einem Baum, an dessen Stamm er sich augenscheinlich den Schädel zerspalten hatte. Der eine Soldat lag ausgestreckt auf der Straße, der andere, wohl mit heiler Haut aus dem Sturze hervorgegangen, war von dem Haufen umringt. Unter den Stein- und Stockhieben machte er schwache, flehentliche Bewegungen, sprach etwas, das in dem Lärm nicht vernehmbar war; dann brach auch er zusammen. Esch überlegte, ob er in die Horde hineinschießen sollte, aber in diesem Augenblicke zuckte eine blaue Stichflamme aus der Motorhaube, und einer rief: »der Wagen explodiert«. Die Menge rannte zurück, verstummte und wartete auf die Explosion. Als aber nichts erfolgte, der Wagen bloß still weitergloste, ertönten bald Rufe »Aufs Stadtkommando, aufs Rathaus«, und der Trupp wälzte sich weiter der Stadt zu.

Wo aber war der Major? Jäh durchfuhr es Esch: unter dem Wagen und in Gefahr, lebendig zu rösten. Von Angst gejagt, kletterte Esch über die Planke, rüttelte an dem Wagen: krampfhaftes Schluchzen überkam ihn, als ihm klar wurde, daß er ihn nicht allein heben konnte. Hilflos und verzweifelt starrte er das brennende Gefährt an, verbrannte sich seine ohnmächtigen Hände mit erneuten Versuchen. Da lief ein Mann herbei. Es war der dritte Soldat, der über die Böschung hinausgeflogen, auf die Wiese gefallen und unverletzt war. Zu zweit gelang es ihnen, die eine Seite etwas zu lüpfen. Esch kroch darunter, stützte die Wand mit seinem Rücken, während der Soldat den Major hervorzog. Sie trugen den ohnmächtigen Mann in gebührende Entfernung von dem gefährlichen Wagen und betteten ihn auf die feuchte Wiese. Mit Ausnahme einiger Hautabschürfungen und der versengten Haare konnte keinerlei äußere Verletzung an ihm gefunden werden. Sie rieben ihn mit nassem Grase ab, und als er die Augen aufschlug und Arme und Beine bewegte, war wohl sichtbar, daß er sich auch nichts gebrochen hatte. Aber er antwortete auf keinen Zuruf und blieb liegen. Daß man ihn aber hier nicht lassen konnte, war klar; es galt, ihn in Sicherheit zu bringen, und so hieß Esch den Soldaten anpacken: über die aufgeweichten Äcker, deren Schollen sie am Gehen hinderten, trugen sie den alten Mann zu Eschs Anwesen. Einmal blickte der Major auf, sah Esch voll an und kommandierte »Löschen gehen«, dann versank er wieder in Somnolenz.

Als sie in seinem Hofe anlangten empfing sie neuer Feuerschein. Das Rathaus war in Brand gesteckt worden, und die Flammen loderten über den Dächern. Doch es war keine Zeit zu verlieren, Esch dankte dem Soldaten und meinte, daß er nun rasch zu seinen Kameraden gehen möge, die noch auf der Straße lägen und in denen vielleicht doch noch Leben sei. Er wolle dann später nachkommen, und zum Hinauftragen des Majors werde er hier schon Hilfe finden. So legten sie ihn vorerst auf die Bank vor dem Gartenhaus. Als sich aber der Soldat entfernt hatte, ging Esch leise ins Haus, lehnte das Gewehr an die Flurwand und öffnete die Falltür zur Kellerstiege. Dann ging er zu dem Alten zurück, lud ihn sich auf den Rücken und trug ihn hinein, tappte vorsichtig die Kellerstiege hinunter und bettete ihn unten auf einen Kartoffelhaufen, entzündete die Kellerlampe, die er mit Bedacht abblendete, damit kein Lichtstrahl durch die Luken nach außen dringe und legte einen Zettel davor: »Herr Major haben bei dem Kraftwagenunfall das Bewußtsein verloren. Ich komme sofort zurück. Esch.« Dann stieg er hinauf, um auf der Landstraße nach den verwundeten Soldaten zu sehen.

XXIII

Die nachfolgenden opernhaften Szenen wurden ausschließlich zur Erfreuung des Lesers geschrieben.

Atemlos und zitternd war Huguenau über den Hof kommend bei der Druckereiwerkstätte angelangt. Zuerst wußte er nicht, was ihn hergeführt hatte. Dann begriff er. Er ging hinein; der dunkle Raum lag, von außen zuckend beleuchtet, in sonntäglich anmutender Ordnung. Huguenau, das Gewehr zwischen den Beinen, setzte sich vor die Maschine. Er war enttäuscht: die Maschine lohnte seine Anstrengung nicht – sie stand kalt und unberührt und warf bloß zuckende Schatten, die ihm unbehaglich waren. Drüben der Sonntagspredigtschuppen. Ob der Esch nächsten Sonntag wieder predigen wird? wäre er wenigstens hier oder drüben in seinem Schuppen. Aber was hat der zu verlieren? die Knochen sollte man ihm zerschlagen. Sitzt droben bei seinem Weib, und sie trösten sich gegenseitig. Aber sie sollen wenigstens auch mit ihm sprechen.

Neuerdings vergißt er, warum er gekommen war. Er lehnt das Gewehr an die Maschine, geht hinaus, steigt die Treppe hinauf. Unverständlich und erschreckend, daß die Flurtüre aus den Angeln gehoben ist. Und als er in sein Zimmer kommt, hängt der Spiegel nicht mehr über dem Waschtisch, sondern liegt auf dem zerschmetterten Geschirr. Die vor dem Waschtisch auf dem Boden zerstreuten Scherben erinnern ihn unangenehm und beunruhigend an Knochensplitter. All dies ist unbegreiflich; vielleicht könnte er es sich begreiflich machen, aber er will nicht mehr nachdenken; es möge jemand kommen, ihm alles gut erklären und ihn beruhigen. Schon will er Frau Esch unter dem Vorwand rufen, sie möge einmal den Schaden, den er nicht angerichtet hat und auch nicht zahlen werde, ansehen, als sie, die sein Kommen gehört hat, in das Zimmer stürzt: »Wo ist mein Mann?« Eine ungeheure wonnige und erregende Beruhigung überkam Huguenau, als er ein vertrautes Menschengesicht erblickte, irgendwie: jetzt ist alles wieder gut, man soll mich zu Bett bringen. Aber warum störte sie ihn in diesem Gefühl mit der dummen Frage nach diesem Esch; daß er nicht da ist, ist doch nur gut. »Wie soll ich wissen, wo er sich herumtreibt. Zum Essen wird er wohl schon kommen.« Aber sie hörte ihn gar nicht, packte ihn bei den Schultern: »Er ist weggelaufen, mit dem Gewehr weggelaufen. Ich habe schießen hören.« Eine Hoffnung stieg in ihm auf, daß Esch erschossen sei, aber warum hat diese Frau dann solch jämmerliche Stimme, warum funktioniert sie falsch. Er wollte Ruhe von ihr empfangen, und nun verlangte sie, er solle sie und noch dazu wegen eines Esch beruhigen. Sie hatte seine Schultern noch nicht losgelassen und er, hilflos, betreten und zornig zugleich tätschelte ihre Oberarme wie einem weinenden Kinde, fuhr an ihnen auf und ab, während sein Mund weiter böse Worte sagte. »Was jammern Sie denn nach Esch? haben Sie nicht auch schon genug von ihm? jetzt bin doch ich hier!« und während des Sprechens merkte er selber erst, daß er wie zum Ersatz für das, was sie ihm schuldig blieb, jetzt Gröberes von ihr verlangte. Jetzt spürte sie auch, wohin es hinauslief. »Herr Huguenau, um Gotteswillen, Herr Huguenau.« Aber im vorhinein, fast ohne Willen, setzte sie unter seinem keuchenden Drängen keinen weiteren Widerstand ihm entgegen. Wie ein Delinquent, der dem Henker selbst behilflich ist, öffnete sie ihm die Hose, und zwischen ihren breitgeöffneten, hochgereckten Schenkeln kippte er kußlos mit ihr auf sein Kanapee.

Ihr erstes Wort nachher: »Retten Sie meinen Mann«. Huguenau war es gleichgültig: jetzt mochte er meinetwegen leben. Im nächsten Moment schrie sie auf: das Fenster war plötzlich blutrot erleuchtet, orangegelbe Garben stiegen auf, das Rathaus brannte. Ihre unförmige Masse sank zu Boden; sie war an allem Schuld. »Jesus, Maria, was habe ich getan, was habe ich getan, retten Sie ihn, retten Sie ihn, retten Sie ihn.« Huguenau war erbittert; jetzt ging es auch hier noch los. Er hatte schon von da draußen genug. Und was wollte dieses Weib jetzt von ihm. Er machte Esch für all dies verantwortlich. Soll er mit dem Major da drüben rösten, Heilige sind immer geröstet worden. Und jetzt wird es ja doch noch Plünderungen geben, die Druckerei ist noch immer nicht versperrt. Und er nahm es zum Anlaß, mit guter Manier wegzukommen: »Ich werde nach ihm sehen.« Käme Esch ihm jetzt entgegen, überlegte er beim Hinausgehen, er würfe ihn die Treppe hinunter.

In der Druckerei war aber noch immer alles in Ordnung. Das Gewehr lehnte noch dort, und die Maschine warf ihre unruhigen Schatten. Schwarz-rot, gelb, orangefarben schossen die Garben des Rathauses gegen den Himmel, während es drüben bei der Kaserne und den Depots noch schmutzigbraun qualmte. Die Obstbäume des Gartens streckten leere Äste hart empor. Huguenau besah das Schauspiel und fand, daß es richtig war; nun mußte noch irgend ein Schlußpunkt kommen, und dann ist alles gut. Im scharfen Licht tauchte jetzt vom Garten her ein Mann auf. Huguenau griff nach dem Gewehr; dann erkannte er Esch, der eine Art Sack schwer auf dem Rücken trug, also ist der Herr Pastor sogar zum Plünderer geworden – neugierig wartete er, bis jener vorüberkam und dann sah er, daß es ein Mensch war, den er daherschleppte, und daß der Mensch der Major war, mit dem Esch in der Kellertür verschwand.

Huguenau war aufs äußerste gespannt, was nun erfolgen werde. Als Esch wieder zum Vorschein kam und auf die Straße hinaustrat, schulterte auch er sein Gewehr und folgte ihm in gemessener Entfernung.

Die Straßen in der Richtung zum Marktplatz lagen in voller greller Beleuchtung: in den andern gab es scharfe, zuckende Schlagschatten der Häuser. Kein Mensch war zu sehen; alles war zum Marktplatz gerannt, von dem wüstes Getöse herübertönt. Huguenau fällt es auf, daß in den verlassenen Gassen jeder nach Belieben plündern könne; er selbst mochte in jegliches Haus hineingehen, heraustragen, was er wollte: es würde sich bloß nicht die Mühe lohnen, ihm fiel der Ausdruck vom »besseren Wild« ein. Esch bog um die nächste Ecke; er ging also nicht zum Rathaus, der Hund. Zwei Burschen rannten vorüber; Huguenau nahm das Gewehr zum Zuschlagen bereit in die Hand. Aus einer Seitengasse schwankte ein Mann ihm entgegen; mit seiner Linken hielt er krampfhaft sein Zweirad an der Lenkstange fest, die Rechte hing, offenbar gebrochen, schlotternd herunter; Huguenau sah mit Grausen in ein zerschlagenes, zerschmettertes Gesicht, aus dem noch ein Auge, ohne ihn zu bemerken ins Leere hinaus starrte. Bloß bemüht, sein Rad festzuhalten, als wollte er es ins Jenseits mitnehmen, torkelte der Verwundete vorüber. Kolbenhieb ins Gesicht, sagte sich Huguenau und hielt sein Gewehr fester. Ein Hund löste sich aus einem Haustor, schnüffelte hinter dem Verwundeten und dem herabtropfenden Blut, leckte daran. Esch war jetzt nicht sichtbar. Huguenau beschleunigte den Schritt. Bei der nächsten Straßenkreuzung erblickte er wieder das Aufblinken des Seitengewehrs vor sich. Er folgte ihm schneller. Esch ging geradeaus, schaute nicht rechts, nicht links, sogar das brennende Rathaus schien seine Aufmerksamkeit nicht zu erregen. Nun hallten seine Schritte nicht mehr auf dem schlechten, mittelalterlichen Pflaster, denn hier draußen gab es keine Pflasterung. Nun bog er in eine Gasse ein, die längs der Stadtmauer führte; sie war nur einseitig mit Häusern bebaut, und von diesen beschattet; auf der anderen Straßenseite waren Gärten, die sich an die Stadtmauer anlehnten. Huguenau trieb es vorwärts: er war jetzt etwa zwanzig Schritte hinter Esch, der ruhig seinen Weg fortsetzte. Sollte er ihn mit dem Kolben erschlagen? nein, es war sinnlos, er mußte vielmehr einen Schlußpunkt machen. Und da übermächtigte es ihn wie eine Erleuchtung, er senkte das Gewehr, war mit ein paar tangoartigen katzigen Sprüngen bei Esch und rannte ihm das Bajonett in den knöchernen Rücken. Esch ging, zu seiner Verwunderung, noch ein paar Schritte ruhig weiter, doch dann stürzte er lautlos vornüber auf das Gesicht.

Huguenau stand neben dem Gefallenen. Sein Fuß berührte die über einer Radspur im Kote liegende Hand. Soll er drauftreten? Kein Zweifel, er war tot. Es war alles gut. Huguenau war ihm dankbar; er kniete nieder und sah in das seitwärts gedrehte, bartstoppelige Gesicht; als er den gefürchteten höhnischen Zug nicht darin fand, war er zufrieden, klopfte der Leiche wohlwollend, fast zärtlich weich und streichelnd auf die Schulter. Dann wechselte er die Gewehre, ließ sein eigenes, blutiges bei dem Toten, eine an solchem Tage wohl überflüssige Vorsicht, aber er liebte ordnungsgemäße Gebahrung. Dann wandte er sich zur Stadt zurück. Hell war die Stadtmauer vom Rathaus beleuchtet, die Bäume vor ihr zeichneten ihre Schatten auf ihr ab, eine letzte, orangegelbe Garbe schoß aus dem Dach des Rathauses hervor – Huguenau mußte des Mannes auf dem Colmarer Bild gedenken und hätte ihm gerne die aufgereckte Rechte geschüttelt, so leicht und froh war ihm zumute –, dann krachte der Rathausturm in sich zusammen, und das Feuer verebbte in bräunlichem Rot.

XXIV

Huguenau ging heim. Vor dem Hause stand ein weinendes Kind. Er hob es auf, zeigte ihm das schöne Feuerwerk, das vom Marktplatz herüberstrahlte, indem er das Prasseln und Zischen der Flammen, das Krachen des Gebälkes nachahmte, sssssssssscht, schschschschschttkrach, bis das Kind lachte. Dann trug er es ins Haus hinein, die Mutter belehrend, daß man in solchen Zeiten ein Kind nicht unbeaufsichtigt zu lassen habe.

Zu Hause angelangt, stellte er das Gewehr an die Flurwand. Dann öffnete er die Falltüre und stieg zu dem Major hinunter.

Der Major lag noch immer und in der gleichen Lage auf dem Kartoffelhaufen, wie ihn Esch verlassen hatte, aber seine blauen Augen waren geöffnet und starrten in das Licht der Kellerlampe. Er blickte nicht auf, als Huguenau eintrat. Huguenau räusperte sich einigemale, und als sich der Major nicht rührte, war er beleidigt. Die Zeiten waren wirklich nicht danach, kindischen Zwist so lange fortzusetzen. Er zog einen Schemel, den man sonst zum Kartoffelauslesen benutzte, herbei und setzte sich dem Major gegenüber.

»Herr Major, ich begreife ja, daß Herr Major Gründe haben, mich nicht sehen zu wollen, aber schließlich wächst über alles Gras, und die Umstände haben schließlich ja doch mir Recht gegeben. Und ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß mich Herr Major in durchaus falscher Beleuchtung gesehen haben. Vergessen Herr Major nicht, daß ich das Opfer einer niedrigen Intrigue gewesen bin. Man soll Toten nichts Schlechtes nachsagen, aber bedenken Sie die Verachtung, mit der mir dieser Pastor begegnet ist. Schlecht wird ein Mensch immer erst, wenn er verachtet wird. Und niemals ein Dank. Haben Herr Major ein Wort der Anerkennung gehabt, für all die Feste, die ich zu Ehren des Herrn Major arrangiert hatte. Man soll nicht ungerecht sein, denn einmal haben mir Herr Major doch auf die Schulter geklopft, damals, wie wir den eisernen Bismarck eingeweiht haben; Sie sehen, Herr Major, daß ich jede Freundlichkeit des Herrn Majors wohl im Gedächtnis behalten habe. Aber selbst damals hatten Herr Major einen ironischen Zug um den Mund. Wenn Sie wüßten, wie ich es haßte, wenn der Esch so feixte. Immer war ich ausgeschlossen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Das heißt, es war kein richtiges Ausgeschlossensein. Ich wohnte bloß anderswo und bin später gekommen. Das war kein Grund, mich zu verhöhnen. Sie wollten mich nicht aufnehmen, also mußte ich mich für mich abschließen. Vielleicht haben Sie mich böse genannt. Sie haben ja einen ganzen Abend über die Bösheit gesprochen, und ich habe genau gemerkt, wen Sie und Esch gemeint haben. Also mußte ich für Sie irgendwie böse werden. Aber es war nicht so, es war alles ganz anders. Ich kann es nur nicht richtig ausdrücken. Herr Major werden mich verstehen. Sie werden mich sogar einen Erpresser oder gar Mörder nennen, aber auch das ist nicht richtig. All dies sieht ganz anders aus, als es in Wirklichkeit ist. Es ist nur so schwer, die Wirklichkeit auszusprechen. Die Worte gehen immer nur um sie herum und treffen sie nie. Und was weiß ein anderer von dieser Wirklichkeit, die ich selbst nicht einmal ausdrücken kann. Ach, es bedarf so vieler Liebe, um zu wissen, was ein anderer mit seiner Wirklichkeit meint. Und ich weiß, daß ich so viel Liebe doch nicht verlangen kann und daß ein Mann in Ihrer Stellung sich doch nie herbeilassen wird, für einen Menschen wie ich es bin, der doch ein ganz gewöhnlicher Deserteur ist, solche Gefühle zu haben. Nicht einmal Esch, der zwar auch immer von der Liebe geredet hat, aber eben doch nur ein Pastor war. Ich weiß nicht, ob ich mich Herrn Major verständlich machen kann, aber ich bitte Herrn Major mit mir Geduld zu haben …«

Er putzte seine Brillengläser und schaute den Major an, der noch immer keinen Laut und keine Bewegung von sich gab.

»Ich bitte Herrn Major inständigst, nicht etwa zu glauben, Herr Major werden von mir in diesem Keller gefangen gehalten, um Sie zu zwingen, mich anzuhören. Es geht draußen fürchterlich zu, und wenn Herr Major hinaus gingen, würden Herr Major an die Laterne gehängt werden. Herr Major werden sich morgen selbst überzeugen können. Haben Sie doch, um Gotteswillen, einmal Vertrauen zu mir …«

So sprach Huguenau stundenlang auf die lebende, unbewegliche Puppe ein, bevor ihm inne wurde, daß der Major ihn nicht hörte. Aber er wollte noch immer nicht daran glauben.

– »Ich bitte um Verzeihung, Herr Major sind erschöpft und ich rede. Ich will etwas zu essen holen.«

Er stürzte eilfertig hinauf. Frau Esch saß auf einem Küchenstuhl, in sich zusammengekauert und weinte zuckend in sich hinein. Als er eintrat, sprang sie auf: »Wo ist mein Mann?«

– »Es geht ihm ganz gut, er wird schon kommen. Haben Sie etwas zu essen? Ich brauche es für einen Verwundeten.«

– »Ist mein Mann verwundet?«

– »Nein, ich sagte Ihnen, er wird schon kommen. Geben Sie mir etwas zu essen. Können Sie eine Omelette machen? nein, es dauert zu lange …«

Er ging in den Wohnraum, dort stand Wurst auf dem Tisch. Ohne zu fragen, nahm er sie, legte sie zwischen zwei Stück Brot. Frau Esch war ihm gefolgt, kreischte auf:

– »Lassen Sie das, das gehört für meinen Mann.«

Huguenau hatte das unangenehme Gefühl, daß man einem Toten nichts wegnehmen dürfe; vielleicht würde es auch dem Major Unglück bringen, wenn er Totenspeise äße. Im übrigen war es wahrscheinlich auch nicht das Richtige für ihn. Er dachte einen Augenblick nach.

– »Schön. Aber etwas Milch werden Sie doch haben.«
Ja, Milch hatte sie. Er füllte einen Schnabeltopf und trug ihn sorgsam hinunter.

– »Herr Major, Milch, frische, schöne, gute Milch«, sagte er mit munterer Stimme.

Der Major rührte sich nicht. Vielleicht hätte ich ihm doch lieber Wein bringen sollen? das hätte ihn erweckt und gekräftigt. Er scheint doch sehr schwach zu sein. Aber jetzt wollen wir es trotzdem versuchen. Und Huguenau beugte sich herab, hob den Kopf des Alten, der es willen- und kraftlos geschehen ließ. Dann setzte er den Schnabel des Topfes an seine Lippen, ließ die Milch langsam in den Mund fließen und war glücklich, als er merkte, daß der Major sie annahm und schluckte. Er rannte hinauf, um einen zweiten Topf zu holen; bei der Tür blickte er zurück, sah, daß der Major den Kopf gedreht hatte, um zu schauen, wo er hinginge, und das rührte ihn fast zu Tränen. Als er zurückkam, schaute der Major noch immer auf die Tür und lächelte, richtiger lachte ihm ein wenig zu. Aber er trank nur mehr einige Tropfen. Er hatte einen Finger Huguenaus erfaßt und schlummerte. Wenn er aufwachte, lächelte er und, ohne ihn loszulassen, schlief er wieder ein.

So verbrachten sie den Rest der Nacht. Bei Morgengrauen machte Huguenau sich sanft los und stieg hinauf zur Straße. Die Stadt schien still zu sein. Er ging zum Marktplatz hinüber. Das Rathaus, bis zum Grunde ausgebrannt, rauchte dort. Militär und Feuerwehr hielten Wache. Zwei Häuser des Marktplatzes hatten auch Feuer gefangen, und vor ihnen lag Hausrat aufgestapelt. Von Zeit zu Zeit wurde die Spritze wieder in Bewegung gesetzt, um aufglosende Glut wieder niederzudämpfen. Es fiel Huguenau auf, daß auch Leute in Sträflingskleidern bei der Spritze behilflich waren. Er sprach einen Mann an, der gleich ihm die grüne Binde trug, erzählte, er komme von der Wache bei der Strafanstalt und fragte, was hier noch los gewesen sei. Ja, eigentlich sei mit dem Einsturz des Rathauses alles zu Ende gewesen. Sie seien dann Freund und Feind fassungslos um den Brandherd herumgestanden und hätten zu schaffen gehabt, daß der Brand nicht auf die Nachbarschaft übergriffe. Ein paar Kerle hätten zwar versucht, in die Häuser einzudringen, aber auf das Geschrei der Frauen seien sogar die andern über sie hergefallen. Man hätte ein paar wohl den Schädel eingedroschen, aber das war gut; dann hat keiner mehr ans Plündern gedacht. Und außerdem hatte man mit den Verwundeten, die entsetzlich gejammert haben, gerade genug zu tun gehabt. Er sei froh, daß sie jetzt alle im Krankenhaus drüben wären. Man hat natürlich gleich nach Trier telephoniert, angeblich sei dies ja schon am Vormittag geschehen, aber sie hätten dort so viel mit sich selber zu schaffen, daß sie erst jetzt ein paar Autos mit Mannschaften geschickt hätten; die seien nun beim Munitionsdepot beschäftigt. Der Stadtkommandant sei allerdings abgängig. Um den brauche er sich nicht sorgen, meinte Huguenau. Den habe er aufgelesen, zwar in einem üblen Zustand und habe ihn bei sich in guter Pflege untergebracht.

Er lief nach Hause zurück. Der Major schlief noch immer. Gleich Esch packte er ihn sich auf den Rücken und stolperte mit ihm die Stiege hinauf. Es war eine furchtbare Arbeit. Im Flur legte er ihn nieder und holte Frau Esch. Die kniete jetzt in der Küche und betete. Als sie Huguenaus ansichtig wurde, rutschte sie auf den Knien heran. Der aber hörte nicht auf ihre Anrufungen, sondern schrie sie barsch an, mit ihm hinunter zu kommen und den Major zu holen. Willenlos folgte sie, in der Hoffnung, damit etwas für ihren Mann zu erkaufen, und gemeinsam trugen sie ihn hinauf, betteten ihn auf Huguenaus Kanapee.

Huguenau ging nun noch ins Krankenhaus und meldete dort den Aufenthalt des Majors mit der Bitte, für ihn zu sorgen. Im Krankenhaus ging es drunter und drüber. Es war der Befehl gekommen, das Spital wie sämtliche übrigen militärischen Anstalten zu evakuieren. Man erwartete noch vormittags zu diesem Zwecke einen Sanitätszug. Schließlich ergab es sich, daß ein Sanitätsauto ohnehin nach Köln abginge, und daß man den Major mittransportieren könne. Er werde bald abgeholt werden.

Er ging zurück und fand den Major erwacht, aber mit Zeichen großer Aufregung. Frau Esch hatte ihm Kaffee gebracht, aber er hatte die Schale weggeschleudert und zerbrochen. Gesprochen hatte er mit ihr überhaupt nichts, obwohl sie ihn angefleht hatte, ihr über ihren Mann Auskunft zu geben. Aber als er Huguenau sah, beruhigte er sich. Huguenau bestellte wieder Milch, und der Major ließ sie sich von ihm einflößen.

Bald kam das Sanitätsauto. Huguenau half beim Hinuntertragen und bei der Unterbringung in den Wagen, und der Major ließ es ruhig geschehen. Als aber der Wagenschlag zufiel und der Major merkte, daß Huguenau nicht bei ihm war, begann er zu toben. Schließlich konnte man sich nicht anders helfen und nahm Huguenau, eigentlich gegen dessen Willen, mit. Der Major ergriff seine Hand und ließ sie nicht mehr los. Schulter an Schulter gelehnt, Hand in Hand schliefen die beiden Männer und kamen solcherart nach Köln.

Dort stahl sich Huguenau von dem Major weg, verschaffte sich vom Spitalskommando einen Marschbefehl nach seiner Colmarschen Heimat und beschloß seine Kriegsodyssee. Die schöne Ferienzeit war zu Ende.

XXV

(Engführung der Gesamtkonstruktion)

Von welchen ewigen Gestaden
Kommst du, oh Schiff, das niemals landet,
Oh Meer des Schlafs, das uns umbrandet,
Oh Traum, mit blinder Fracht beladen;
Furchtbar Gesetz, das furchtbar ahndet,
Nach jenem andern Schiff zu fragen,
Das fernewo und nirgendwo einher soll tragen
Das Du, nach dem die Seele fahndet.
Kein Traum hat je des andern Traum getroffen
Einsam die Nacht und ist sie auch gefalten
Durch deines Atems Tiefe, tragend unser Hoffen,
Blassender Tag: vor kälteren Gewalten
Zerbricht die Hoffnung, daß in unsern Nöten
Wir je uns nähern, ohne uns zu töten.

XXVI

Um dieses Epiloges willen wurde die ganze Geschichte erzählt und wohl auch der Weltkrieg geführt.

Bald nach Friedensschluß erhielt Frau Esch folgenden Brief:

Frau
N.N. Esch
Wohlgeboren

Werte Frau,

Sie recht wohlauf hoffend, nehme ich den Anlaß, um in frdl. Erinnerung zu bringen, daß ich lt. Vertrag v. 18. V. 1918 Machthaber über 95% der Geschäftsanteile des »Kurtrierschen Boten« bin. Ordnungshalber bemerke ich hiezu, daß von diesen 95% ein Drittel, d. i. cc. 31% im Besitze verschiedener Herren am dortigen Platze sich befinden, die ich jedoch in der Geschäftsleitung vertrete, so daß also ohne mein Wissen und Willen keinerlei Betrieb geführt, noch sonstige Geschäfte gemacht werden dürfen und muß ich Sie, resp. die anderen Herren Compagnons bei ev. Dawiderhandeln voll und ganz für alle Folgen und Schaden haftbar machen. Sollten Sie, resp. die anderen Herren w. Compagnons trotzdem den Betrieb aufgenommen haben, so ersuche ich demnach vor allem um gfl. Rechnunglegung und Überweisung des auf meine Gruppe entfallenden Gewinnanteils von 64% und behalte ich mir alle weiteren Schritte höfl. vor.

Da ich es aber vermeiden will, mit der hochgeschätzten Gattin meines sehr geehrten seligen Freundes Esch etwaige gerichtliche Auseinandersetzungen zu haben, obwohl solche für mich als französischen Staatsbürger im besetzten Gebiet leicht durchzuführen wären, mache ich folgenden erg. Vorschlag:

Durch den force-majeure-Fall des Kriegsendes war ich verhindert, dem Unternehmen für mich resp. meine Gruppe die beiden restl. Raten von insgesamt M 13 300,-, von denen Ihnen als Erbin nach dem sel. Herrn Esch M 8000, – zukommen, rechtzeitig zu bezahlen. Auch haben Sie, wenn Sie darauf reflektiert hätten, verabsäumt, die Zeitung, resp. mich als deren Geschäftsführer, auf Auszahlung Ihrer Raten unter Setzung einer entsprechenden Nachfrist zu mahnen, so daß ich jetzt lediglich verpflichtet wäre, Ihnen die Zahlung unter Vergütung der Verzugszinsen zu leisten, damit unsere juristische Lage glattgestellt ist.

In Ihrem w. Interesse gestatte ich mir aber darauf aufmerksam zu machen, daß die Mark entwertet ist und daß Sie vor Gericht keine Aufwertung verlangen können und auch ich keine solche leiste, so daß Sie daher von der Zahlung wenig Gewinn hätten. Wenn wir also unser damaliges Geschäft stornieren, so haben Sie allen Vorteil davon.

Diese Stornierung kann am einfachsten dadurch geschehen, daß ich Ihnen die mir, resp. meiner Gruppe gehörigen 64% der Geschäftsanteile zurückverkaufe und bin ich bereit, dies zu besonders akzeptablen Bedingungen zu tun und offeriere Ihnen freibleibend, Zwischenverkauf vorbehalten, diese Anteile gegen bloße Rückvergütung meiner Aufwendungen, die ich bekanntlich in Gestalt von Einschüssen und Aufopferung meiner Arbeitskraft dem Geschäfte geleistet habe und entgegenkommend mit frz. frcs 10 000,- beziffere. Ich sehe mich zu dieser besonders bescheidenen und entgegenkommenden Haltung und Forderung veranlaßt, um Ihnen den Entschluß angenehm zu machen und eine glatte Erledigung herbeizuführen und können Sie die Summe leicht durch eine Hypothek auf Ihr unbelastetes Anwesen aufbringen.

Da Sie sodann eine erdrückende Majorität von 69% der Anteile fest in Händen haben, werden Sie mit der schwachen Minoritätsgruppe leicht fertig werden und bin ich überzeugt, daß Sie dann in Kürze wieder Alleinbesitzerin eines blühenden Unternehmens sind. Ich möchte hiezu nicht unerwähnt lassen, daß das Inseratengeschäft, wie ich mir schmeichle, es eingeführt zu haben, allein eine Goldgrube ist und stehe ich Ihnen auch weiterhin jederzeit mit Rat und Tat gerne zur w. Verfügung.

In Ansehung, daß Sie meinen freundschaftlichen und entgegenkommenden Vorschlag würdigen, sehe ich zwecks Perfektionierung Ihrer gfl. Zustimmung entgegen, benütze die Gelegenheit, um höfl. mitzuteilen, daß auch ich mich wohlauf befinde und zeichne ich

hochachtungsvoll
Recommandé! Wilh. Huguenau

Wohl oder übel mußte Frau Esch auf den Handel eingehen. Die frcs 10 000,- waren für das Colmarer Geschäft kein schlechter Einschuß, und damit hatte Huguenau die Kriegsbegebenheit mit Geschick und Vorteil restlos liquidiert. Rückschauend konnte er die lärmenden Ereignisse jener Zeit eigentlich auch kaum mehr umfassen: sie schrumpften ihm immer mehr auf diese einzige Zahl frcs 10 000,- zusammen, in der sie sich symbolisierten und in die Bilanz eingegangen waren, so daß der Krieg, von höherer und entfernterer Warte aus gesehen, von irgendeinem anderen Geschäftsfall kaum mehr sich unterschied. Und würde man Huguenau fragen, ob sein Leben einen andern Verlauf genommen hätte, wenn es nicht von den Begebenheiten der Jahre 1914–1919 erfaßt worden wäre, er müßte die Frage verneinen. Gewiß, auch damals hatte es ihm nicht an allerhand Klugheit gefehlt, aber er war immer ein Kerl gewesen, der sich in der Welt zurechtzufinden wußte, auch wenn man es nicht immer leicht hatte. Und schließlich lief doch alles in den vorgezeichneten Bahnen. Es verstand sich von selbst, daß er das väterliche Geschäft übernommen hatte und es im Sinne der Ahnen solid und auf Gewinn bedacht umsichtig weiterführte. Ebenso, daß das Junggesellenleben für einen bürgerlichen Kaufmann nicht tauge, und daß die Tradition seines Hauses, der ja auch er sein Dasein verdankt, forderte, er möge eine brave Frau ehelichen und mit ihr Kinder zeugen, ihre Mitgift aber zur Konsolidierung und Ausbreitung des Geschäftes verwenden. Und es war selbstverständlich, daß er sich nach einer entsprechenden Mitgift umsah und sie dort suchte, wo sie in Goldwährung gezählt wurde. Durch Vermittlung von Geschäftsfreunden fand er sie rechtsrheinisch im Nassauischen, allerdings in einer protestantischen Gegend und in einer protestantischen Familie, die aber so begütert war, daß er sich entschloß, seiner Braut und ihrer Familie zuliebe zum evangelischen Glauben überzutreten; das war eine Formalität und für einen Freigeist ohne Belang. Dann führte er die Braut heim und wurde ein rechter Familienvater, kümmerte sich um sein Geschäft, wurde langsam immer kurzsichtiger, seine alemannische Rundlichkeit wölbte sich immer mehr, er stieg zu städtischen Würden auf, ging sonntags mit Frau und Kindern spazieren. Ins Museum ließ er sie allerdings allein gehen; er mochte die Bilder nicht leiden. In nichts unterschied sich sein Leben von jenem, das seine fleischlichen Ahnen seit zweihundert Jahren geführt hatten, und würde man die Reihe ihrer feisten, wohlwollenden Gesichter betrachten, man könnte sie wohl alle untereinander und mit dem ihres Enkels verwechseln können, es sei denn, man ließe den ironisch-sarkastischen Zug, der sich um seinen Mund immer mehr ausprägte, als Unterscheidungsmerkmal gelten, denn so weit man auch die Ahnenreihe hinaufginge, man würde nur immer wieder finden, daß in all dem Fett für solch ironisches Mienenspiel wenig Platz vorhanden war, und man würde jenen Zug wohl vergeblich suchen. Aber dies festzustellen, ist schwierig und ein Detail, auf das niemand, am allerwenigsten Huguenau selber, irgend einen Wert legt.

Dennoch war etwas vorhanden, das Huguenau, wie ihm selber schien, von den Menschen um ihn herum abhob und ihn entfernt hielt. Oft wunderte er sich selber, daß er Kundschaften, ja große Käufer, über die er beste Auskünfte und Referenzen besaß, und die jeder seiner Konkurrenten gerne belieferte, ausschlagen konnte, wenn ihm bei einer persönlichen Zusammenkunft ihr Gesicht nicht gefiel: das angstvolle Mißtrauen, das ihn dann überkam, er könne sein Geld an ihnen verlieren, war ihm eigentlich unerklärlich, wenn er es auch mit der Überlegung begründete, daß man in solch schwierigen Zeiten nicht vorsichtig genug in der Kreditierung sein könne. Manchmal geschah es wohl auch, daß einer oder der andere der irrational abgelehnten Kunden sich hinterher tatsächlich als kreditunwürdig erwies: dann fühlte Huguenau sich als Liebling des Himmels und war stolz auf seine Menschenkenntnis; »er hat etwas im Blick gehabt, was mir nicht gefallen hat, und ich habe ihm nichts mehr geborgt«, pflegte er sodann zu erzählen. In den meisten Fällen aber empfand er Reue ob des dem Konkurrenten überlassenen Geschäftes, seine Abseitigkeit war ihm dann doppelt auffällig, und dies ging so weit, daß er, nach einer Ursache suchend, sogar seinen französisierten Namen, der von den Namen seiner Umgebung abstach, für diese Fakten verantwortlich machte. Am auffälligsten war ihm aber wohl seine innerliche Sonderstellung, wenn er in eine größere oder gar festliche Ansammlung von Menschen geriet. So etwa, wenn er in ein Lokal trat, in dem die Jugend tanzte, oder in ein Kino, oder wenn er am Sonntagmorgen in der Straßburgerallee mit seinen Kindern dem Start der Radwettfahrer beiwohnte. Denn dann erschien ihm all das, was man hier mit Fug und Recht als eine Veranstaltung, also als eine einheitliche Sache mit einem unteilbaren Begriff bezeichnete, als etwas durchaus Un-Einheitliches, als ein Monstrum, das man wider besseres Wissen durch Dekorationen, Fahnen und Girlanden zu einer Einheit zusammengebunden, zusammengepreßt hatte. Ja, wenn er es recht bedachte, fand er keinen Begriff mehr, dem ein konkretes Substrat entsprach, kein Wort, das konkret das ausdrücken konnte, was es meinte. Und obwohl er wußte, daß es nie geschehen werde, so war es ihm und oft erwartete er es, daß alles Sichtbare in ein unnennbares, schwereloses, trockenes Konglomerat durchsichtiger Asche zerfallen könnte, gehorchte es nicht irgendwelchen unerklärlich befehlenden Symbolen, die den Zusammenhang gewährleisten: jene Radfahrer etwa, würden sie nicht sofort in alle Winde zerstieben, wenn sie nicht durch die gemeinsame Dress und das gemeinsame Klubabzeichen zusammengehalten wären? Und unbegreiflich war es ihm und regte ihn zu immer schärferem Haß an, daß die Menschen, als merkten sie nicht, wie es um sie steht, und als wäre er ihnen eingeboren, solchen Zwang munter und unbefangen trugen, ja offenbar sich an ihm geradezu erfreuten.

Manchmal überkam ihn das Empfinden, er säße in einer Höhle, und das Leben ziehe in fernen Bildern am dunklen Firmament vorüber, und dann hatte er große Sehnsucht, aus solchem Pferch herauszukriechen und draußen einer Freiheit und Einsamkeit zu genießen, deren Bestand er von irgendwo her ahnte. Hatte dann auch die noch dunklere Hoffnung, er könne so zu jenen anderen gelangen, die er um ihr schlechteres Wissen doch beneidete, Brüderlichkeit und Gemeinsamkeit von ihnen erwartend. Denn so wenig er sich im Gehaben und in der Lebensführung von ihnen unterschied, so fühlte er sich doch von ihnen immer ausgeschlossen, und die Menschen rückten ihm in stets weitere und ersehntere Fernen, die zu durchmessen wohl seine Aufgabe war, wußte er auch immer deutlicher, daß der Weg unendlich ist und keines Menschen Leben ausreiche ihn zu durchschreiten. Menschen und Dinge und sogar sein eigenes Leben rückten ihm solcherart immer mehr ins Konturige, und in den zarten Nebel traumhaften Schlafs, vielleicht wohl nicht anders als dem Odysseus, der nicht mehr wußte, ob er sein Leben gelebt oder gehört hatte: so objektivierte sich dem Kaufmann Huguenau die Welt so zart, gläsern und ferne, daß dem Verfasser dieser Erzählung berechtigter Zweifel aufsteigt, ob er es war oder nicht Huguenau selber, der sie geschrieben hat.


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