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Es war in den ersten Nachkriegsjahren; ich war zweiundvierzig, hatte meine Stelle im Landeskrankenhaus, zu dessen stellvertretendem Leiter ich aufgerückt war, wieder bezogen und sollte aufgrund meiner biochemischen Untersuchungen die Universitätsdozentur erhalten. Ein harter Arbeitswinter lag hinter mir, überdies war er endlos und sonnenlos grau gewesen, ehe er sich mit vehementer Plötzlichkeit zum Frühling verwandelt hatte, und an einem jener hellen, laubgrünen, blauleuchtenden Nachmittage sah ich sie zum ersten Male: einen leichten, nicht mehr ganz tadellosen Handkoffer tragend, ging sie mit langen, etwas schwingenden, fast wäre zu sagen gewesen, unweiblichen Schritten, zielstrebig und etwas streng wie der in die Ferne gerichtete Blick, vom Direktionsgebäude zum Hauptpavillon der Kinderabteilung; ich hielt sie für eine der Mütter, die um diese Stunde ihre Kinder besuchen kommen, aber als sie, von dem Handkoffer ein wenig behindert, nicht ohne Mühe die schwere und außerdem durch einen Schließapparat gehemmte Türe des Pavillons geöffnet hatte, da schaute ich noch eine Zeitlang hin – tue ich es nicht noch immer? noch heute höre ich das sanft-automatische Wiedereinschnappen des Türflügels! –, als hätte sie, trotz ihrer Unauffälligkeit und ihrer bürgerlichen Kleidung, ein Hauch von Überbürgerlichkeit umgeben, ein Hauch des Fremdartigen, unsichtbar nachwehend. Und ich war enttäuscht, daß in diesem Spitalsgarten nichts geblieben war als das junge Grün der Kastanienbäume und der Fliedersträucher.
Natürlich hatte sich dieser erste Eindruck bald verwischt, besonders, da sich bald herausstellte, daß sie eine neu aufgenommene Ärztin war und nun das Berufliche in den Vordergrund [trat]. Als der Primarius auf Urlaub ging und ich die Anstaltsleitung übernahm, kam ich mit ihr in nähere Berührung. Ihre fachliche Tüchtigkeit war bemerkenswert; wissensreich, entschlußfähig, hatte sie, die jüngste Sekundarärztin, in Kürze und unauffällig die Herrschaft über die Abteilung an sich gezogen, und mochte sie hiebei auch wenig Widerstand gefunden haben – ihre beiden Kollegen bedeuteten nicht viel, und der Chef, Professor M., war schon zu alt, um nicht froh zu sein, nach den Visiten wieder raschestens heimkommen zu dürfen –, so war eine derartige Machtergreifung doch nur möglich gewesen, weil ein ganzer Mensch dahinter stand, mehr noch, nicht nur ein gelernter, sondern ein geborener Arzt, zu welch sehr seltenem Typ sie gehörte: in ihren Diagnosen war sie von hellseherischer Sicherheit, und diese außerordentliche Intuition für das Leiden war es wohl, die sie von vorneherein und innerlich zum Freunde des Patienten bestimmte, zu seinem Bundesgenossen im Kampfe gegen Krankheit und Sterben, und dies waren überlegene Fähigkeiten, denen sich keiner entziehen konnte, weder die Kollegen, noch die Pflegerinnen, die mitsamt dem ganzen Personal ihr auf den Wink gehorchten, doch am augenfälligsten befanden sich die Kinder unter ihrem Bann, ja, hier konnte man geradezu von magnetischen Wirkungen sprechen, denn sie brauchte sich bloß an ein Bett zu setzen, und der kleine Patient wurde so ruhig und glücklich, daß man schlechterdings an Heilerfolge glauben mußte, und wenn sie durch einen Saal schritt, blickte ihr eine lange Reihe von Augenpaaren erwartungsvoll nach. Dabei war die Herrschaft, die sie da errichtet hatte, durchaus nicht liebenswürdig; sie warb um niemanden, war vielmehr immerzu bereit, zu brüskieren und zu belehren, eine zorngemute Streiterin, und gar mit den Kindern machte sie überhaupt kein Federlesen; weit von den Tändeleien und Kinkerlitzchen entfernt, mit denen sich Kinderärzte so gern ihren Patienten nähern, behandelte sie sie mit stirnrunzelnder aufmerksamer Sachlichkeit, und der Kinderinstinkt bejahte es.
Von den Kindern hatte sie sich Dr. Barbara nennen lassen, und dieser Name war im Wege der Schwestern vom ganzen Hause übernommen worden.
Abgesehen von kleinen Kontroversen mit ihrem unbändigen Autoritätswillen, kam ich während meiner Anstaltsleitung recht gut mit ihr aus; sie fühlte sich in ihrem Wissen und Können von mir respektiert, und wir hielten eine gute männliche, oder richtiger geschlechtsfreie Arbeitsgemeinschaft, dies umsomehr, als diese unkokette, energische, nachdenkliche Ärztin in mir keinerlei Erinnerungen an jene Frau wachrief, die wenige Wochen zuvor den Spitalsgarten überquert hatte. So blieb es bis zu meinem letzten Inspektionsrundgang; der Urlaub des Primarius war abgelaufen, und ich sollte den meinen antreten, war also eigentlich nicht mehr geneigt, Entscheidungen zu treffen, die ich nicht mehr persönlich verarbeiten und vertreten konnte. Nichtsdestoweniger ergab sich noch im letzten Augenblick eine Diskussion über die Operationsreife eines Falles – ich bin ein Gegner allzurascher Eingriffe, wie sie die Chirurgen lieben –, und schließlich ließ sie sich, mürrisch allerdings, von meinen Argumenten überzeugen. »Na, Doctor Barbara«, sagte ich, als das erledigt war, »wir brauchen nicht Abschied zu nehmen; im Laboratorium werden Sie mir ja hoffentlich oft Ihre Aufwartung machen.« – »Es wird sich schon so ergeben«, erwiderte sie immer noch mürrisch und strich ihre schlicht gescheitelten Haare mit beiden Händen glatt. Warum ich in diesem Augenblicke diese Hände in all ihrer Lebendigkeit sehe, warum ich sehe, daß es Frauenhände sind und von einer Weiblichkeit, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte, seit jenem Tage, an dem meine Mutter mir zum letzten Male über die Haare gestrichen hatte, warum der Anblick dieser Hände mich mit Sehnsucht erfüllte und plötzlich mein ganzes Leben aufrollte, ja, ihm einen neuen Hintergrund verlieh, das wird mir ewig unerforschlich bleiben. Allerdings kam es mir erst hinterher völlig zum Bewußtsein, in jenem Augenblick sagte ich bloß: »Sie sind eine ausgezeichnete Ärztin, Doctor Barbara, aber Sie wären eine noch bessere Mutter.« Ein Schatten großen Ernstes ging über ihr Gesicht, indes, dann lachte sie: »Das erste fallt unter Ihre Kompetenz und freut mich.« Und ehe ich etwas antworten konnte, war sie davon; bei der Saaltüre jedoch wandte sie sich um und rief mir einen »Guten Urlaub« zu.
An diesem Frühsommertag standen die Kastanien im Spitalsgarten noch in voller Blüte, wenngleich ihre Pracht auch schon etwas müde war und auf den nächsten Gewitterregen wartete, der sie vernichten sollte. Und als ich am Abend, nachdem ich meine Koffer gepackt hatte, in meiner Wohnung oberhalb des Laboratoriums mich zum Fenster hinauslehnte und auf die Bäume hinunterschaute, die weiß und rosa zu Grau sich auflösten, während das Dächermeer der Stadt müde nebelig rauchig in der beginnenden Nacht verdämmerte, da war der hauchdünne Flor des Abends wie ein lichtdurchwirktes graues Blumenauge, umgeben von zornig dunklen Wolkenbrauen, die auf den fernen Höhen des Horizontrandes lagerten, und er enthüllte dämmernd ein Antlitz, das elfenbeinfarbig unter teerschwarz rotbräunlichen Haaren, grauäugig und erhellt von einem unsäglich zarten Lächeln, mir zum ersten Male sichtbar wurde, obwohl ich es bereits so gut kannte. In dieses Antlitz schaute ich, konnte mich von ihm nicht trennen und blieb am Fenster lehnen bis die Nacht kam, und diese war wie eine unendliche und unendlich weiche und unendlich weibliche Hand, die sich auf den Scheitel der Welt legt.
Das war keine Vision, das war eine zweite Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die mit einem Schlage in das Sichtbare einbezogen war, und sie blieb nicht auf jenen Abend beschränkt, sondern sie begleitete mich, als ich am nächsten Morgen nach dem Süden fuhr. Gewiß wehrte ich mich dagegen, denn ich fühlte mich aus meiner eigenen Wirklichkeit, an der ich an die vierzig Jahre gebaut und gearbeitet hatte, schmerzlich verdrängt, ich fühlte, daß etwas am Werke war, mich von allem, was vorhergegangen war, loszureißen, ohne daß ich eine Möglichkeit sah, einen Anschluß an das Neue zu gewinnen, das überfallsmäßig mich ergriffen hatte, ich fühlte das Grauen des Nicht-mehr-vor- und -zurückkönnens, und oft genug kam mir der Gedanke, ich müßte in die Berge fliehen, um in ihrer härteren Umgebung und in ihrer Gletscherluft mir die Seele und mit ihr auch das neue ungebetene Leben aus dem Leibe zu klettern. Allein, ich konnte mich hiezu nicht entschließen, und nicht etwa, weil ich mir überlegt hätte, daß schicksalsmäßige Begegnungen im Landschaftslosen, Landschaftsunabhängigen vollzogen werden, und daß daher keinerlei Ortsveränderung etwas gefruchtet hätte, nein, dies war es nicht, vielmehr geschah es, weil ich mich nicht aus einer Gegend zu entfernen vermochte, deren Bewegtheit wie ein Spiegel des menschlichen Antlitzes ist, ebenso lächelnd wie dieses, ebenso zürnend, ebenso voll ernster Erstarrung, vom gleichen Pulse durchpulst, Landschaft des Humanen, eingebettet in der Herbheit ihrer Ölbaumhänge, in dem Grau ihrer Weinberge, in dem Schwarz ihrer Lorbeerwälder und in der lichten Düsterkeit ihrer Eichenhaine, grauäugiges, zürnendes, wolkenrunzelndes, strahlendes und nachdenkliches Land, elfenbeinfarben gleich seinen porzellanenen Wolken, unter denen das sternblickende, sternglitzernde Meer dahinrollt, traumschwer dunkel wie ein nächtliches Feld, das Meer in seinem Gewittermantel, und ruhend wieder, grünblau, ganz blau, rotblau, das Meer in seinem Sonnengefunkel, wenn weit draußen mit schrägem Segel langsam ein Fischerboot den funkelnden Sonnenstreifen überquert, das Meer des Südens, das Mittelmeer. Und Gleichnis der Einheit, zu der der Mensch strebt, Gleichnis seiner letzten Humanität, wurde mir die Natur zum Gleichnis ihrer zweiten Wirklichkeit, und war auch die Landschaft als solche nicht weiblich zu nennen, war auch ihre wehende Vielfalt jenseits alles Diesseitigen, wehend jenseits des Lebens, jenseits des Todes, jenseits des Geschlechtes, es hatte sich die Sehnsucht, in sie und in ihr Gleichnis einzugehen, so untrennbar mit der Sehnsucht nach der Frau verschmolzen, nach jener Frau, mit der mir die zweite Wirklichkeit der Welt zuteil geworden war, es hatte sich das Heimweh nach dem geliebten Menschen so unlösbar mit dem Heimweh nach meinem tiefsten Erinnern verbunden, daß das Meer in all seinen Bildern, in seinem Mittagsglanz wie in seinem finstersten Grollen, in seinem Ruhen unter den huschend weißen Nebeln des Morgens wie in seinem milden Gesang der schwereentlösten Abende, Wogenkamm um Wogenkamm, daß mir die lorbeerumlaubten, eichenbeschatteten, pinienbestandenen, ölbaumumflorten Ufer, hingezogen bis zu den grenzenlosen Gestaden des Himmels, zu einem einzigen Bilde jenes allumfassenden Du wurden, in dem uns, quellend aus dem Reichtum des Sichtbaren und des Unsichtbaren, unsere zweite Wirklichkeit geschenkt wird, erkoren zum Bilde des großen »Du bist«, dessen tiefe heimatliche Sicherheit neben die ursprüngliche des »Ich bin« tritt, sie beide umschlossen von der nämlichen Unendlichkeit und in ihr zur Einheit werdend, Ziel aller Sehnsucht.
Wir hatten keinen Brief gewechselt, nicht einmal einen Kartengruß, und bei aller Sicherheit, die das Schicksalshafte uns verleiht, wußte ich dennoch, daß Schicksal nichts anderes als Verhaftung an bestimmte Vorstellungswelten ist und daß das Schicksal des Arztes, das ihn zu seinem Beruf geführt hat, mehr denn jedes andere von dem großen Rhythmus des ewig sich erneuernden Todes bestimmt ist, von der Vorstellung jener Stunde, in der der Mensch für immerdar das Geschlechtliche abstreift, als wäre es nie gewesen; wer sich nicht unablässig selber in dieser Stunde sieht, kennt weder die Todesehrfurcht noch die Lebensehrfurcht, er ist nicht schicksalsmäßig Arzt geworden: und wissend, daß die Rückkehr in meinen Beruf auch die Rückkehr in diese, vielleicht engere Vorstellungsrealität bedeutete, fürchtete ich nicht nur – freilich es zugleich erhoffend –, daß jene zweite Wirklichkeit wieder mir verlustig werden könnte, sondern auch, täte sie es nicht, daß ich mit ihrer Sehnsucht allein zu bleiben hätte, weil die Frau, nach der ich mich sehnte, viel zu sehr ihrem ärztlichen Schicksal verbunden war, um je aus ihm heraustreten zu können. Und an den nahezu fünfzehnjährigen Altersunterschied denkend, welcher zwischen uns bestand, steigerte ich mich absichtlich in solche Befürchtung hinein, als vermöchte ich mich damit vor Enttäuschung zu bewahren. Doch es kam anders. Die Rückkehr in den Alltag hob nichts auf, sondern war in zunehmendem Maße Überraschung, war Überraschung einer Nähe, an die keinerlei Erinnerung herangereicht hatte, war Überraschung vor einem Heimweh, das erst kraft der Nähe wahrhaft erwachte, war Überraschung vor einer Fraulichkeit, die mir unerahnbar gewesen war und alle Nähe durchwebte, ach, als [ich] ihr gegenüberstand, da brauchte ich nicht erst ihre Hände zu betrachten, ich brauchte auch nicht ihr Gesicht zu prüfen, was zu unterlassen ich allerdings kaum übers Herz gebracht hätte, ihre bloße Anwesenheit und allein ihr menschliches Dasein gaben mir im tiefsten Innern zu erkennen, daß das, was ich im Landschaftlichen erfahren hatte, unendlich vielfältiger noch in unserer eigenen Seele vorhanden ist, daß das Landschaftslose, in dem der Seele tiefverschleierte Unendlichkeit weset, größer ist als jede Landschaft, weil es jede umfaßt, und daß das Du der Geschlechtlichkeit, von dem die Landschaft für mich verherrlicht, verunheimlicht, verlebendigt worden war, durch die Realität nicht eingeengt wird, nein, daß [sie] verwirklicht und vervielfältigt neu aufersteht: das Du im anderen Wesen bis in die letzten Fasern seiner Seele restlos als gegengeschlechtlich empfinden dürfen, das ist unsere letzterreichbare Liebe, kraftempfangend im unausdenkbar unsäglichen Gleichgewicht des Seins, und das erkannte ich, schier schmerzlich lauschend, bei diesem Wiedersehen. Fast scheute ich vor der Annahme zurück, es könnte ihr ähnlich ergangen sein und sie könnte Ähnliches fühlen, ich scheute wohl das Grenzenlose, das sich dahinter eröffnet hätte; trotzdem lag es mir nun außer jedem Zweifel, daß sie mein Denken und mein Sehnen während der verflossenen Wochen gespürt hatte, daß sie spürte, wie es um uns zwei bestellt war, und wenn auch das, was sie sagte, nämlich: »Gut und schön, daß Sie wieder da sind«, teils als leere Höflichkeitsformel, teils als Ausdruck ihrer stets mitschwingenden, leicht ironischen und leicht mürrischen Kampfbereitschaft aufgefaßt hätte werden sollen, so war es doch daneben auch wie ein Zeichen der Beruhigung und einer Vertrautheit, die ich deutlich heraushörte. Ich ging auf ihren Ton ein: »Warum? ist was vorgefallen, wozu Sie mich nötig gehabt hätten?« – »Nein, das nicht gerade.« – »Oder hat Ihnen bloß der richtige Partner für Ihre Streitsucht gefehlt?« – »Das schon eher … streitsüchtig bin ich immer.« – »Dann laden Sie mich einmal zu sich ein; wir wollen es nicht mehr auf den Zufall ankommen lassen, und bis ich wieder einmal die Spitalsleitung übernehme, dauert es mir zu lange.« – Sie blickte mich mit ein wenig zusammengekniffenen Augen an, nicht überrascht, beinahe eher abweisend: »Schön … morgen Abend, wenn's Ihnen recht ist.« So war das Wiedersehen gewesen.
Ich war zum Tee nach dem Abendbrot bei ihr, und ich teilte ihr kurz und bündig mit, daß ich von ihr ergriffen sei, ergriffen in einer Weise, die über die Hochschätzung ihrer fraulichen, menschlichen oder gar ärztlichen Qualitäten weit hinausreiche, unerklärlich, kaum erklärlich, wie es eben jedes wahrhafte Schicksal ist. »Ja«, sagte sie finster, »ich weiß es.« – »Gewiß müssen Sie es wissen«, bestätigte ich, »denn erstens weiß jede Frau um den Bestand derartiger Geschehnisse, und zweitens gibt es keine einseitigen Bindungen von solcher Vehemenz … da spielen sich unpersönliche oder überpersönliche Dinge ab, und das ist eine Zuversicht, die mit männlicher Eitelkeit nichts zu tun hat …« – Sie sah mich lange und fest an, und dann sagte sie sachlich: »Das dürfte vermutlich stimmen.« Sonderbarerweise machte mich dieses eindeutige und klare Zugeständnis durchaus nicht froh; in seiner sachlichen Eindeutigkeit klang es geradezu nach dem Gegenteil. Und richtig setzte sie fort: »Aber legitim oder illegitim, was mir heute ziemlich gleichgültig wäre, ich kann nicht Ihre Frau werden.« – Auf das dumme ›Warum?‹, das mir auf der Zunge lag, verzichtete ich, und wir schwiegen beide. Vor dem offenen Fenster verwelkte die Luft, getränkt vom Juli, von Nacht und vom absterbenden Lärm der großen Stadt. Und dann sprach sie weiter: »Käme es bloß auf Liebe an, so wäre es recht einfach und es wäre gut. Aber ich will nicht bloß Liebe, ich will ein Kind. Ich bin achtundzwanzig. Es wäre Zeit für mich, ein Kind zu haben. Ich könnte ohne Kind nicht lieben. Und eben daran darf ich nicht denken. Es geht nicht.« Sie hatte ihre Hände, ihre so hold weiblichen und doch starken Hände ums Knie verschränkt, die grauen Augen schauten weitgeöffnet und still unter dem weiblich schmal gezeichneten düsteren Saum der Augenbrauen, weiblich war der Glanz der teebraunen Haare, und die Lippen in dem elfenbeinfarbenen Antlitz waren trotzig geschlossen. »Nein«, wiederholte sie, »es geht nicht … es läßt sich nicht mit dem Beruf vereinbaren …« Da konnte ich, banal genug, einwerfen, daß es viele verheiratete Ärztinnen gäbe, die zugleich Mütter seien, und daß man schließlich auch einen Beruf lassen könne, wenn es um menschlich Wichtigeres ginge. »Es genügt, wenn ein Elternteil die Praxis ausübt«, schloß ich voller Hoffnung. Jetzt lächelte sie, und das Lächeln in ihrem ernsten Gesicht war hold wie ein Frühlingstag im Winter, wie ein Sonnenstreifen auf dem Meere, doch sie schüttelte den Kopf: »Mit bloß einem Beruf lassen sich Kinder zur Not noch vereinbaren, aber nicht mit zweien … nein, Sie brauchen nicht erstaunt zu sein, ich bin Ihnen diese Aufklärung auf jeden Fall schuldig, denn Sie wissen offenbar nicht, daß ich aktive Kommunistin bin und was dies bedeutet …« Über die politische Tragweite dieses Sachverhaltes machte ich mir damals keine Gedanken; mir lag anderes am Herzen, und ich sagte: »Auch zwei Berufe lassen sich aufgeben.« – »Sie sind nicht im Bilde«, entgegnete sie, »dazu bin ich, dazu wäre ich nicht imstande … nein, das kann ich nicht, obwohl ich weiß, daß etwas Unnatürliches darin steckt, obwohl ich mir nichts anderes ersehne, als mit einem geliebten Mann ein halbes Dutzend Kinder zu haben, mit denen ich irgendwo auf dem Lande sitzen dürfte, ja, obwohl, obwohl, obwohl … ja, und obwohl ich manchmal diese Spitalskinder geradezu hasse, weil sie meinen eignen Kindern im Wege stehen, und obwohl ich diese ganze politische Tätigkeit hasse, weil sie mir den letzten Rest freier Menschlichkeit raubt, aber ich fühle, daß ich kein Recht habe, es für mich anders zu beanspruchen, und es muß wohl so sein, sonst wäre es nicht so stark, stärker als meine Wünsche …« – »Barbara«, sagte ich, »wir haben jeder nur [ein] einziges Leben, und das ist kurz … wir sind immer bereit, es zu verschleudern, hüten Sie sich vor der Verschleuderung …« – »Auch dies ist mein Leben, und was ich tue, das tue ich nicht aus billigem Edelmut, darüber mache ich mir keine Illusionen … ich kann nur nicht anders, ich bin besessen … ich bin von etwas besessen, was man Gerechtigkeit nennen könnte, wenn man das Wort seines edlen Beigeschmacks entkleidete, davon bin ich besessen, vielleicht, weil ich schon zuviel Elend gesehen und erlebt habe …« Sie zündete mechanisch eine Zigarette an und fuhr fort: »Warum dies sich so auswirken mußte, ist schwer zu ergründen, ich will es auch nicht ergründen … es mag sein, daß es daran liegt, daß ich das Kind einer Vernunftehe bin, in der es offenbar von allem Anfang an nur Ekel und Haß gegeben hat … meine Mutter hat dann nochmals und aus Liebe geheiratet und, auflehnerischen Geistes wie sie war, im Gegensatz zur ersten Ehe in dürftigste Verhältnisse, dabei einen etwas dumpfen und tief eifersüchtigen Mann, der seine Wut gegen den Vorgänger und das von diesem gezeugte Kind niemals verwinden konnte, kein Wunder, daß er, besonders in dem leidenschaftlichen Taumel, in dem die beiden gelebt haben, auch meine Mutter mit dieser wütenden Abneigung angesteckt hat … ich war das richtige Stiefkind gegenüber den nachgeborenen Geschwistern, und ich hatte all die Ungerechtigkeiten zu erdulden, die eben nur ein Kind empfinden kann … und dann, mit fünfzehn, bin ich einfach durchgebrannt, mitten ins Elend hinein, in ein physisches und psychisches Elend und wohl auch in eine moralische Verworfenheit; ich habe mit Männern zu tun gehabt, die ich nicht geliebt habe, die mich aber mitunter fütterten; was für meine Mutter recht war, ist für mich billig, dachte ich mir, und aus Rache habe ich jeglichem Begehren nachgegeben, besinnungslos, bedenkenlos, es war kein Leben, es war ein Chaos … aber gerade weil ich in ein solches Chaos versunken war, wurde mir allmählich bewußt, daß ich dies alles nur aufführte, um endlich lernen zu können, denn auch dies hatte man mir zu Hause verwehrt gehabt … und später, ja, später kam der Wunsch hinzu, Arzt zu werden, anfänglich als eine Art hygienischer Wunsch, immerhin stark genug, daß ich ihn, während ich mich langsam, sehr langsam von dem Wust in mir und um mich befreite, verwirklichte und tatsächlich durchsetzte … ja, ich habe es durchgesetzt, und immer deutlicher wurde mir dabei das Ziel des Kinderärztlichen, der Gedanke, bei anderen Kindern das gutzumachen, was an mir verübt worden war; denn das durfte nicht mehr sein, ich war von dem Gedanken getrieben, solche Ungerechtigkeit der Welt vernichten zu müssen … natürlich wußte ich stets und weiß es heute mehr denn je, daß eine derartige Gerechtigkeit bloße Chimäre ist, ein unendliches Menschheitsziel, von dem ich selber kein Jota zu sehen bekomme, doch ohne Unendlichkeit vermögen wir nicht zu leben, und wir leben für diese vage Zukunft der Menschheit und für ihre dereinstige Gerechtigkeit …« Sie verstummte, um unvermittelt abzubiegen und auf eine Photographie hinzuweisen, den einzigen Wandschmuck in dem nüchtern weißlackierten Ärztezimmer, das meinen beiden glich und mir doch von Weiblichkeit durchatmet zu sein schien: »Das ist meine Mutter«, sagte sie, »ich habe das Bild als Mahnung hingehängt … vielleicht auch als Mahnung der Menschheit wegen, die keine Kinder mehr bekommen dürfte, bevor sie nicht ihr Gerechtigkeitsziel erreicht hat.« – Da sie, ob dieser Schlußfolgerung belustigt, nun wieder lächelte, meinte ich zustimmend: »Freilich eine arge contradictio.« – »Ja, daß dies Schwierigkeiten begegnen würde, das ist allerdings evident … aber Sie begreifen, daß ich bei alldem ins kommunistische Fahrwasser geraten mußte, ebensowohl infolge der Gerechtigkeitsgrundlage seiner Idee, als auch in Anbetracht seiner, an sich gewiß harten Forderung, das Individuum im Kollektiven aufgehen zu lassen, der einzigen Möglichkeit, um den Menschen aus dem Wust seiner Wirrnisse und Nöte zu befreien; er kann sie im Kollektiven noch immer am raschesten vergessen … Gerechtigkeit ist das irdische Paradies …« – »Und für dieses wollen Sie das Kinderkriegen abstellen?« – Ihr Lächeln wurde ernst: »Natürlich läßt es sich nicht abstellen, das hieße ja die Unendlichkeit abstellen … aber trotzdem ist der Mensch nicht berechtigt, seine persönlichen Glücksbefriedigungen auszuleben, so lange die größeren Aufgaben um des Zieles willen noch zu lösen sind, wie es sich eben heute noch verhält … das gilt auch für mich … und auch für meinen Wunsch nach einem Kind gilt es …« Sie zog mit schmalgewordenen Lippen an ihrer Zigarette: »Ich fühlte mich verpflichtet, Ihnen die ganze Geschichte zu erzählen, ich konnte Ihnen bloß mit voller Offenheit antworten … nehmen Sie es also nicht als eine der biographischen Beichten, mit denen Liebende einander zu beglücken und eifersüchtig zu machen pflegen … ich weiß auch, daß der Schrei nach dem Kind geeignet ist, einen Mann zu rühren, besonders wenn ihm dabei noch überdies die Vaterschaft angetragen wird; ich hoffe jedoch, daß der gesamte Zusammenhang zur gegenteiligen Wirkung geführt hat und daß sich Ihre Heiratsabsichten entsprechend verringert haben, meinetwegen der Eifersucht halber, zu der Ihnen ja mein Leben genügend Anlaß bieten würde.« Ihre Stimme war immer kälter geworden, und nun endete sie unfreundlich: »Soll ich Ihnen noch einen Tee einschenken?« – »Ich liebe dich«, sagte ich, oder richtiger, es sprach aus mir heraus. Zuerst starrte, sie mich an, ihr zorniger Blick ruhte in dem meinen, unendlich ferne, unendlich nahe, dann umflorte er sich, und sie begann zu weinen. »Ja, ich liebe dich«, sprach es nochmals in mir, denn ich wußte, daß ich sie nie mehr würde verlassen können, »ich liebe dich sehr, ich liebe dich für immer.« – »Gehen Sie«, fuhr sie mich wütend an, während die Tränen ihr aus den Augen flossen und die Wangen herabperlten. Ich hatte ihre Hand genommen. Ein paar Sekunden lang überließ sie sie mir, indes, sie mir wieder entziehend, strich sie mir sanft über die Haare, so leicht und mild, wie ich es seit dreißig Jahren nicht mehr gekannt gehabt hatte. »Geh'«, sagte sie weich und bittend, »geh'.«
Traumbefangen ging ich, nichtsdestoweniger geleitet von einem klaren, ja, geradezu nüchternen Gefühl unbedingter Sicherheit. Ein jüngerer Mensch wäre wahrscheinlich geblieben, um den Widerstand ihrer schweren Seele zu überrumpeln, oder es hätten ihn, wäre er gegangen, wenn nicht eifersüchtige, so doch romantische Motive fortgetrieben. Ich war weder eifersüchtig, noch romantisch. Denn dreht es sich einmal um die letzten Erkenntnisse des Ichs und seines Schicksals, dann wird die marionettenhafte Gespenstigkeit, mit der das Abgestorbene in der Eifersucht weiterlebt, vom Humanen her befreit. Und die Wege und Irrwege, die diese Frau rückhaltlos und rücksichtslos geoffenbart hatte, sie hatten sie nicht nur zum Beruf geführt, freilich zu einem, der für sie Berufung war, sie hatten sie nicht nur zur Einfügung in die humane Ganzheit der Ordnungen gebracht, zum geduldigen gediegenen beharrlichen Schaffen, sondern sie waren darüber hinaus – und das wußte sie wohl selber kaum auch noch das irdische Spiegelbild ihres Weges zum eigenen Selbst, es waren die Wege, die sie hatte beschreiten müssen, um im Gleichnis des irdischen Tuns zum Ich und zu seiner Einheit zu gelangen, damit dieses Ich, die eigene Unermeßlichkeit am Meßbaren erprobend und es durchdringend, sich seiner unendlichen Dunkelheit entlöse und zur Bewußtheit erlöst werde. Gewiß war es ein männlicher Weg gewesen, auf den ihre harte Jugend sie gedrängt hatte, ein Weg, dessen eingezeichnete Radikalität so scharf ist, daß nur die großen Welterlöser wahrhaft bis zum beispielhaften Ziel des vollkommenen irdischen Gleichnisses ihn zu durchlaufen vermögen, unnachahmlich für den gewöhnlichen Sterblichen und gar für eine Frau, deren Frauentum sich, wie hier, nur allzu bald und allzu schmerzlich, ungeachtet aller bereits erreichten Bewußtheit, meldet und Geltung verschaffen will: doch eben diese Bewußtheit, die unverkennbar ihr unumstößlicher Besitz geworden war, vermittelte mir die Sicherheit und die Überzeugung, daß sie aus dem ernsten inneren Kampf, in dem sie sich befand, mit einem Persönlichkeitsgewinn hervorgehen würde, und selbst wenn es um den Preis geschehen sollte, Stücke von jener erreichten Bewußtheit wieder aufzugeben und um des ersehnten Kindes willen ins anonym Naturhafte mit einem Teil ihres Wesens zurückzukehren, so konnte dies nicht mehr eine Vernichtung der so bitter errungenen Selbsterlösung bedeuten, was sie wahrscheinlich fürchtete, vielmehr wäre damit bloß die Ergänzung durch eine zweite und wohl noch dringlichere Erlösungstat eingeleitet, kurzum die volle Hinwendung zum Kinde, in dessen Existenz ein für allemal die zweite Wirklichkeit einer jeden Frau begründet liegt, die Sicherheit des Du und der Traum einer lichten Gemeinsamkeit, gleichgültig ob in der Liebe zu mir oder zu einem andern. So etwa hätte die Überlegung gelautet, sofern ich eine solche überhaupt angestellt hätte; bedenke ich es jedoch richtig, so war alle Sicherheit, die mich erfüllte, von ihrer Hand ausgeströmt, von der einen und einzigen Sekunde, da ich sie auf meinem Scheitel gespürt hatte, von ihr fühlte ich mich in den Traum der Gemeinsamkeit gezogen, träumend und geträumt, Traum im Traume, von ihr kam die Sicherheit des ›Du bist‹ und die jenes ahnenden Wissens, das die Erreichung des Ichs und seiner Einheit nicht mehr in unendlichen Fernen, sondern in erlebbarer Nähe vor sich sieht, weil das Du sich ihm enthüllt hat: lauschend dem Echo des Du, das eigene hörend, wird der Mensch zum Gleichnis des Menschen, vermag er sich selber aufzugeben und in das große Gleichnis der Natur heimzukehren, versinkend im Sein, im All, im lebendigen Sterben, Natur er selber in der schöpferischen Geschöpflichkeit seines Wesens, dessen landschaftsloser Ursprung, entbunden den drei Dimensionen des Raumes, weltenschwanger, vollkommenheitsschwanger jegliche Landschaft in sich umfaßt. Und getragen von solcher Zukunftssicherheit, die zugleich Gegenwartssicherheit war, ja, sogar auch eine Sicherheit des Vergangenen, denn ihre Erinnerung war nicht minder die meine und alles war unverlierbar gegenwärtig, war ich von ihr gegangen, ohne sie zu verlassen, und mit eben derselben Sicherheit wußte ich, daß das Warten, das ich mir auferlegt hatte, kein zeitliches Warten mehr war, nein, das war es nicht, aber es war ein zeitloses Reifen in jener zeitlosen Ursphäre der Seele, die das Ich beherbergt, Reifen der gemeinsamen zeitentbundenen Erlösung, von der unsere letzte Wirklichkeit lebt. In der Sanftheit des sommerlichen Firmamentes schwammen die Gestirne, spiegelnd das Sein am Widerspiel der Unermeßlichkeiten, aufgelöst das Irdisch-Menschliche im Unsagbaren, und ich, den Spitalspark durchquerend, fühlte die Klarheit und die Richtigkeit des Geschehens.
Meine Zukunftssicherheit war nicht berechtigt, meine Überlegungen waren unzutreffend gewesen, meine Hoffnungen sollten zur Verzweiflung werden, und dennoch hätte es nichts genützt, wenn ich mich damals anders verhalten hätte; die Dinge wären so oder so in der nämlichen Weise abgelaufen. In den Augen der geliebten Frau hatte ich mich zweifelsohne richtig verhalten, und die Wochen wachsender Vertrautheit, die nun folgten, waren sicherlich eine Frucht meines Verzichtes. Es war Vertrautheit und es war Spannung. Und eines Morgens kam sie mit einem großen versiegelten Paket zu mir: »Ich will unfair gegen Sie handeln, unfair, weil Sie meine Bitte nicht abschlagen werden … Sie müssen den Mut haben, verbotene Literatur aufzubewahren, nicht sehr viel Mut, denn bei Ihnen wird man sie niemals suchen.« Einen Herzschlag lang durchzuckte mich, schneidend und bösartig, der Argwohn, es könnte ihre Zuneigung bloß ein taktisches Manöver gewesen sein, um mich in den Dienst ihrer politischen Operationen zu stellen, allein dann sah ich ihre Augen und ihre finstermutige Ruhe und ich sah ihre Wahrhaftigkeit: »Sie sind nicht unfair«, sagte ich, »oder meinen Sie, daß Sie sich jetzt aus Fairneß hingeben müßten, um geleistete politische Gefälligkeiten zu entlohnen? edle Spioninnen machen es so im Kino …« – Sie lachte nicht: »Darüber werden keine Witze gemacht, weder über die Politik, noch über die Liebe … mir ist nämlich mit beiden verteufelt ernst … ach Gott …« Und sie verstummte. – »Nun, warum ach Gott?« – »Weil dies alles mehr als ernst ist, grausam ernst und recht arg, und weil ich gegen Sie rücksichtslos bin … aber mit Fairness werden keine Revolutionen gemacht; das sind nun einmal unsere Methoden …« »Vor allem sind Sie gegen sich selber rücksichtslos und unfair, Barbara, und ich fürchte, daß sich das eines schönen Tages rächen wird.« – »Jawohl«, antwortete sie, »es rächt sich bereits, aber anders, als Sie denken … ich beginne, eine schlechte Kommunistin zu werden und wohl auch eine schlechte Ärztin.« – »Das habe ich bisher noch nicht bemerkt.« – »Doch«, sagte sie. Ich verstaute das Paket. Sie blickte zum Fenster hinaus, in die leise zitternde, glastige Luft, die draußen, gleichsam von der Erde angesaugt, in einer beinahe süßmüden Trockenheit glühte; dann wandte sie sich: »Der August ist eine grausame Zeit, man spürt die Ernte … selbst in der Stadt.« – »Barbara«, sagte ich, »geben Sie mir Ihre Hand.« Sie lächelte müde und ein bißchen weh: »Die Hand der Spionin, Herr Doctor?« – »Nein, Ihre Hand.« – »Lieber nicht«, sagte sie und entfernte sich.
Kein Mann ist eitelkeitsfrei, und so waren mir die Berufserfolge, die gerade um jene Zeit sich hintereinander einstellten, nicht nur eine fachliche Ehrgeizbefriedigung, sondern auch huldigender Stolz vor der geliebten Frau, und aus ebensolchen vielleicht ein wenig unerwachsenen, immerhin jedoch begreiflichen Gründen begrüßte ich es, daß ich vom Ärztekongreß zu einem Vortrag über meine letzten Arbeitsergebnisse eingeladen worden war. Als ich hinfuhr, hatte ich mich tagsvorher von ihr verabschiedet und war daher überrascht, sie auf dem Bahnsteig anzutreffen: »Holen Sie jemanden ab?« – »Nein, ich begleite jemanden«; und sie lachte, weil ich nicht sofort kapierte, daß dieser Jemand ich war, und lachte, weil ich, bald doch kapierend, ein glückliches Gesicht machte, und sie lachte nicht mehr, da der Zug aus der Halle fuhr: sie stand dort auf dem weißen Zementstreifen zwischen den sonnenglitzernden Schienensträngen, hatte, ohne zu winken, die Hand leicht erhoben, und war sehr ernst. So war das Bild beschaffen, das ich von ihr mitnahm, ein Bild, das sich mir für ewig einprägte, bleibend und intakt in all seinen Einzelheiten, und all die anderen Bilder dieser Reise wurden von seiner Unverlierbarkeit durchtränkt; es waren die Bilder der Sommerwolken, die zu den elfenbeinfarbenen Gipfeln im Westen hineilten, es war das Bild der im kurz aufgrellenden Fackellicht, auf Nimmerwiedersehen, vorbeifliegenden Reparaturarbeiten am Gemäuer eines Tunnels, durch den der Zug hohlsausend hindurch fuhr; es waren die Bilder der erntemüden Bäume, die die Landstraßen zwischen den Garbefeldern säumten, die Bilder der abendlich und nächtlich werdenden Wiesen, ein letztes Bauerngespann über sie hinholpernd, unvernehmbar sein Knarren, es war der Feldweg, von Gehöft zu Gehöft abendfriedlich sich hinschlängelnd, hügelauf und -ab und wieder versteckt in Ackermulden, es war ein Bild eines Mädchens, das dort wandelte –, Bild um Bild, sie alle auf Nimmerwiedersehen, und trotzdem blieben sie alle, verankerten sich für ewig in mein Gedächtnis, getragen von dem Bilde des Bahnhofs und des Abschieds, eingegangen in eine unverlierbar unverlöschliche Ganzheit, lebend im Zusammenklang der Ordnungen, bleibende Wirklichkeit, die immer wahrer wird, je mehr sie entschwindet –, ein Wahrwerden. Denn auf dem Grunde solch zunehmenden Wahrwerdens lag ein noch größeres Wissen, und dieses vor allem hatte ich mitgenommen: es war das Wissen um die Entscheidung, die im Augenblick unseres Abschieds gefallen war, das Wissen um die eingetretene Reife unserer Gemeinsamkeit. Damals, nach meinem Vortrag, schrieb ich ihr zum ersten Male, mußte ihr schreiben, gezwungen von meinem glückhaften Wissen, gezwungen von Zuversicht, von Heimatgeborgenheit, von Seinsvertrauen, gezwungen von meiner ganzen Aufnahmsbereitschaft für sie, bezwungen von meiner Sehnsucht, zu der sich das herbstlich werdende Licht jener Tage wundersam quellend verwandelt hatte.
Heimgekehrt, ging ich sofort in den Kindertrakt. Ich fand sie im oberen Hauptsaal am Bett eines kleinen Mädels, und sie war in einer Aufregung, die mit ihrer sonstigen Ruhe in seltsamem Widerspruch stand, in einem um so seltsameren, als der Fall eigentlich nichts ausnehmend Bemerkenswertes bot: das Kind war am Vortag nach einem Autounfall eingeliefert worden, es wies alle Symptome einer Gehirnerschütterung auf, den schwachen unregelmäßigen Puls, die herabgesetzte Temperatur, die Somnolenz, die zwar nun schon über vierundzwanzig Stunden andauerte, aber schließlich auch nichts Außergewöhnliches darstellte, ja, es hatte sich der Zustand nach erfolgtem Blutentzug sogar relativ gebessert, kurzum, alles war auf das eindeutigste gegeben, und sie war dennoch von dem Gedanken verfolgt, daß das Kind einen Hirndruck erlitten hätte, also eine Schädigung, der nur durch einen so gewagten Eingriff, wie es eine Trepanation oder eine Lumbalpunktion ist, beizukommen gewesen wäre. Während ich untersuchte, sagte sie mit verzweiflungsvoller Düsterkeit: »Ich kann's nicht entscheiden …« – »Was meinen denn die Kollegen?« – Sie zuckte die Achseln: »Ausnahmslos Gehirnerschütterung … gerade deshalb habe ich ja auf Sie gerechnet …« – Ich war von ihrer Befürchtung einigermaßen betroffen: »Hören Sie, ich kenne die Zuverlässigkeit Ihrer diagnostischen Intuition, und wenn Sie mir den geringsten Anhaltspunkt lieferten, würde ich Ihnen unbedingt folgen, sonst aber könnte ich hier gleichfalls bloß Gehirnerschütterung annehmen.« – Ihr Ton wurde noch verzweifelter: »Meine Zuverlässigkeit ist dahin … ich habe keinen Blick mehr, nur noch Ahnungen und Angst … angstvolle Ahnungen.« – »Das genügt freilich nicht, um einen so schweren Eingriff vorzunehmen.« – »Nein, das genügt nicht … das ist es ja eben … ich kann meinen Beruf nicht mehr ausüben.« – Sie war offensichtlich aufs äußerste überreizt und überarbeitet, und unzweifelhaft hatte sie die ganze Nacht durchwacht. »Barbara«, sagte ich. »Sie haben sich einfach arg übernommen … Sie sehen Gespenster … das ist ein simpler Fall, ein so simpler, wie Sie und ich deren schon unzählige behandelt haben … es ist alles geschehen, was notwendig war, und mit ein bißchen Morphium kommen wir unter allen Umständen durch … weder Sie, noch ich können die Verantwortung für eine Operation solchen Kalibers auf uns laden … beruhigen Sie sich …« – Sie preßte ihre Hände, ihre starken schönen weiblichen Hände ans Herz: »Es mag sein, daß Sie recht haben«, sagte Sie. – »Sicherlich habe ich recht, so weit menschliche Voraussicht reicht, und wenn ich Ihnen jetzt befehle, sich vor allem ein paar Stunden auszuschlafen, so habe ich sogar absolut recht … ich übernehme inzwischen gerne Ihren Dienst, die Schwester soll mich anrufen, wenn was los sein sollte … es wird aber nichts los sein …« – Sie nickte bestätigend.
Das war am Nachmittag, etwa gegen fünf. Ich hatte viel rückständige Arbeit bei mir vorgefunden, die Schwester hatte nicht angerufen, und so war es ziemlich spät am Abend, als ich wieder hinaufkam. Natürlich hatte sie nicht geschlafen, sondern saß noch immer oder aufs neue bei dem Kinde, das mit seinen Eisbeuteln so dalag, wie ich es verlassen hatte, nach wie vor in Bewußtlosigkeit. Nichtsdestoweniger hatte ich den Eindruck einer Besserung, das Herz schlug kräftiger und ruhiger, die Blässe war weniger wachsig, der Atem tiefer. »Schluß«, sagte ich, »die Sache verläuft normal …« – »Wenn wir eine Lumbalpunktion machen wollen, müßte es jetzt geschehen«, entgegnete sie mit merkwürdiger Hartnäckigkeit, »sonst wird es zu spät.« – »Ja, um Himmelswillen, warum denn? Sehen Sie Lähmungserscheinungen?« – »Nein.« Die Art, mit der sie das Kind nunmehr betrachtete, war nicht mehr die eines Arztes; eine unwohlwollende, fast haßerfüllte zornige Angst lag in ihren Augen. Und dann sagte sie schlaff: »Ich weiß es nicht mehr …« – »Nun eben, … kommen Sie ein wenig an die Luft, hier können Sie augenblicklich ohnehin nichts anderes tun, als sich selber noch weiter in Panik zu versetzen … Sie haben den Maßstab verloren, so etwas kann geschehen … geben Sie den Fall morgen an einen Kollegen ab, und jetzt kommen Sie …« – Sie schickte sich drein und erhob sich: »Gut, gehen wir.«
Unter den Kastanien war es dumpf und schwül, die Luft starr und gelähmt, und um freier atmen zu können, schlug ich den Weg zu der Aussichtshöhe ein, die den Spitalsgarten bekrönt. Wir sprachen nichts; die Spannung war zu groß, die Bedrückung war zu groß. Die Mauern des Pavillons links und rechts schimmerten weiß in der mondlosen Dunkelheit, manchmal warf eine Glühlampe der Parkwege ihren Schein auf die Geranien vor den Fenstern, die hier zu einer unpersönlichen besitzlosen Fröhlichkeit gepflegt werden, gespenstisch rot waren die Blumen angemalt, trübe schimmerte die Nachtbeleuchtung hinter den Scheiben der Krankensäle, in denen gespenstisch unpersönliche zweibeinige Wesen lagen, neutrale Krankheitsträger, die von ihren Krankheiten befreit zu werden hatten, und doppelt gespenstisch empfand ich es, daß ein einziges Wesen in dieser Welt, das Wesen neben mir, aus solcher Unpersönlichkeit herausgehoben sein sollte und daß es eine Frau, daß es für mich die Frau war. Sonderbar matt, als trüge die Luft den Schall nicht weiter, war der Stadtlärm vernehmlich, gedämpft und schlaff, und als wir auf dem Aussichtspunkt angelangt waren, dessen etwas monumentaler tempelhafter Halbbogen, geziert mit hygienischen Reliefs, die steinerne Rundbank umgibt, da war der Herbsthimmel ringsum eine Kuppel rotschwelenden Wartens, gespensterhaft erleuchtet von den Stadtlichtern, sternenlos vor rötlichem Dunst, sternverhüllt die Menschenhäuser darunter, und die flimmerlos trüben Punkte, die sich am schwarzglä[sernen] Horizontrande zeigten, waren kaum Gestirne zu nennen. Wir setzten uns auf das steinern monumentale Gebilde, und beinahe hätte man da meinen können, es sei dieses zur Aussicht in die Hölle der Starrheit errichtet worden: unbewegt mechanisch wechselten die Lichtreklamen auf den Dächern, mit schlaffer Starrheit drang das Getöse der Straßen herauf, hart und heiser klangen die Autohupen und das Läuten der Straßenbahn hinein, unbewegt dies alles trotz aller Bewegung, unbewegt zogen sich die Linien der Straßenlaternen an der Stadtgrenze, und die gespenstische Bewegungslosigkeit des Menschenwerkes und seines automatischen Ablaufes, sein blickloser Mechanismus hatte die ganze Welt in Besitz genommen, strahlte auf bis zum Himmel und ließ selbst die Bäume und ihr Laub zu duftlos höllischer Unnatur erstarren, regungslos der Lärm, regungslos das Licht, regungslos die Bewegung, regungslos die Luft; wir aber, umgeben von der Unnatur der Stadt, wir, in solche Unnatur eingegliedert, dem Menschenwerk, den Menschengedanken Untertan, wir saßen da in unseren weißen Mänteln wie zwei Spitalsmechaniker, Untertan der wahnwitzigen Gewalt menschlicher Einrichtungen und der in sie eingebauten Logik, die stärker ist als das Herz und die Seele und das Nervensystem des Menschen, stärker ist als die Urgewalten der Natur, und doch war in uns der tiefruhende Atem der Schöpfung, sich selbst schöpfend und aberschöpfend vor unablässig sich erneuerndem Sein, er allein lebendig in der starren Bewegungslosigkeit der Nacht, in der Bewegungslosigkeit eines Zeitablaufes, der tief und spät wurde, losgelöst von allem Räumlichen im unerlauschbaren, unerschaubaren Schacht der Unendlichkeit, in dem rotschwelenden todesschwangeren Schacht der Unnatur. »Das Kind wird sterben«, hörte ich Barbaras Stimme neben mir, und auch diese Stimme war unnatürlich, war monoton und starr und absterbend. Erst wußte ich nicht, ob ich dies nicht selber nur gedacht hatte, doch als ich sie anblickte, und sie monoton »Es wird sterben« wiederholte, weckte es mich so weit auf, daß ich mich zurechtfand: »Habe ich Sie deshalb weggeführt, Barbara?« – Sie zog die Brauen zusammen, wie einer, der wieder zu sehen beginnt, und es verstrich eine ziemliche Frist, bis sie begriffen hatte und antworten konnte: »Es ist schwer, sich aus einem derartigen Zustand zu reißen, wenn er einmal zwei volle Tage angedauert hat … aber ich möchte auf alle Fälle noch einmal Nachschau halten.« – Die Erwähnung dieser zwei Tage brachte mich auf einen Gedanken, den ich wahrlich schon früher hätte haben sollen: »Sagen Sie mal, Barbara, haben Sie seit gestern überhaupt einen Bissen gegessen …?« – Sie dachte ernsthaft nach: »Vielleicht … ich weiß es wirklich nicht.« – »Also dann zurück … Sie bekommen einen Tee, entweder bei Ihnen oder bei mir … glücklicherweise gibt es so etwas wie eine Urgewalt, welche Hunger heißt, und hoffentlich finden wir auch die hier zu nötigen Nahrungsmittel.« Ich war froh, ihren alten zürnenden Zug wieder in ihrem Gesicht zu finden: »Müssen Sie unbedingt mich kommandieren? … Zuerst schaue ich zu dem Kinde, und dann … ja, dann werden wir sehen …« – »Wenn Sie wollen, besorge ich die Visite für Sie … und mein Kommandorecht lasse ich mir nicht nehmen; immerhin bin ich noch Ihr Vorgesetzter, und ich habe Sie offiziell von Ihrem Dienst abgelöst …« – Ein Anflug von Heiterkeit ging über ihr Gesicht: »Überflüssig, Herr Primarius, ich bin bereits turnusgemäß abgelöst und augenblicklich offiziell dienstfrei; sie dürfen also Ihrerseits ruhig heimgehen … aber ich rufe bei Ihnen an und sage, wie es steht.« – »Dann will ich wenigstens mittlerweile den Tee für Sie vorbereiten.« – »Lieber«, sagte sie und ging rasch davon.
Es dauerte ziemlich lange, bis sie anrief. Ich hatte inzwischen Tee aufgegossen, hatte alles, was ich an Eßbarem in meiner Junggesellenwirtschaft besaß, zusammengesucht, und war bemüht gewesen, den Tisch so gut und schön, als ich nur konnte, zu decken. Endlich klingelte das Telephon. »Was macht das Kind?« – »Unverändert, eher sogar etwas besser … ich komme zu Ihnen.« – »Herrlich, der Tee ist fertig«, sagte ich noch, indes sie hatte es nicht mehr gehört, und ich, in der Erwartung, daß sie nun sofort erscheinen werde, beeilte mich, mit meinen Vorbereitungen korrekt feierlicher Ordnung zu einem Ende zu kommen, hing die Kleider in den Kasten, räumte die herumliegenden Rasierutensilien ins Schubfach und fand bald nichts mehr Störendes außer meiner Ungeduld in dem Zimmer. Denn unverständlicherweise ließ sie mich warten, und im Grunde von ihren Befürchtungen angesteckt, begann ich unruhig zu werden, annehmend, es müßte bei dem Kinde nun doch ein Zwischenfall eingetreten sein, der meine unverzügliche Anwesenheit erforderlich machte. Schon hatte ich den Mantel wieder angetan und wollte mich auf den Weg begeben, da hörte ich ihren raschen Schritt im Korridor, und ehe ich noch selber öffnete, hatte es angeklopft und sie kam herein: meine gastlichen Vorbereitungen bemerkend, blieb sie lächelnd stehen, als ich jedoch auf sie zutrat, drehte sie den Schalter neben der Türe ab. Ein unsäglicher mütterlicher Friede, tiefverschleiert, erntereif, erinnerungsgroß, umfing mich, da ich ihre Arme um meinen Nacken fühlte. Die Heimat.
Ich weiß nicht, ob ich von Glück sprechen darf, doch was ich erlebt hatte, war das Beseelte schlechthin gewesen: jenseits des Sichtbaren, durchsichtig in der Dunkelheit leuchtend, war es die Landschaft ihrer Seele, deren ich gewahr wurde, geschlossenen Auges sah ich sie, die abendempfangene Landschaft, die sich leise der Verschleierung und der landschaftslosen Tiefe entlöste, ihr Antlitz beseelend, und beseelt war die Nächtlichkeit des unsichtbar Sichtbaren, beseelt das Fühlbare jenseits des Fühlens, durchseelt jeder Atemzug und jede Faser ihres Körpers, durchseelt sogar die Knochen ihres Gerippes, Armspeiche und Elle und Fingergelenk, sogar die Zähne, durchseelt von Weiblichkeit, mich aber mit unendlich träumender Weiblichkeit durchtränkend; Erinnerung und Vergessen wurden Eines, wurden zur wahren Erinnerung des Seins und des Weltenanfangs, während auf dem goldenen Grunde aller Finsternis im tiefsten Schacht der Ozeane, der Berge und der versunkenen Inseln, schwerelos trauerschwer, unerreichbar der Sprache, ja, unerreichbar dem Blicke, im Unerschaubaren, Unerrufbaren, in jener Ursphäre, die unter den Spiegeln und Aberspiegeln der Welten und Aberwelten liegt, in der Äonensekunde, die alle Kontinente der vergessenen Erinnerung umfaßt, bildlos geworden durch die Fülle der Bilder und alle Bilder des Seins erzeugend, ihr Antlitz schimmerte, gefeit vor Zeit und Raum, gefeit vor dem ganzen Lebensablauf, schimmernd in sterndunkler Flut, und es war das Antlitz meines eigenen Vergessens, es war mein Ich und das ihre zugleich, ruhend und geruht, träumend und geträumt, versinnlicht und entsinnlicht in der Erleuchtung unseres tiefsten schmerzlichsten wissend-ahnenden Ausruhens. War dies noch Glück zu nennen? Es hätte wohl eines neuen und noch tieferen Auges in dieser letzten Sphäre des Schweigens und Staunens und Ruhens bedurft, um zu erkennen, wie weit ich selber noch Glück empfand und wie weit ich bereits in das andere Ich verwandelt war, in dieses Ich, dem ich grenzenlos angehörte, da seine geheimnisvolle Unendlichkeit mich aufgenommen hatte. Denn nur wer in seinem eigenen Ich verbleibt, vermag glücklich oder unglücklich zu sein, nur der, dessen Blick noch vom Tierhaften und vom Engelhaften seines doppelten Ursprungs bestimmt ist, weiß in der wehen Nacktheit der in sich beschlossenen Seele von ihrem Jubel und von ihrem Leid; ich jedoch, jeglicher Starrheit entlassen, so daß ich heimkehren konnte in das Gleichnis der Einheit, ich hatte in deren abendempfangender unauslotbarer geheimnisträchtiger Wiedergeburt, im Echo des Lebensgrundes und Lebensabgrundes, traumhaft, schattenhaft, und trotzdem übergleichnishaft, so sehr war es von seiner werdenden Wahrheit erfüllt, das Du gefunden, das Du, welches Ich bin, die Einheit aller Wirklichkeit, ihre mild-gewaltige, mild-tröstliche Musik und ihr schreckensvoll heiliges Verlöschen, ihr Dahingehen im Wissen des Seins. Dies war jenseits des Glückes. Freilich, später – sie hatte mich verlassen –, da hörte ich das zarte Singen des Glückes, nicht in mir: die Welt sang: ich stand am Fenster, der rote Dunst unter der Himmelskuppel war verschwunden, die Nacht war leicht geworden und voller Sterne, und durch die verzauberte Entstarrung der Welt wehte, singend ihr Unausdrückbares, glückhaft und liebhaft und zart, silbern dahinstreichend über die Kastanienkronen, hauchleicht der erste Hauch des Morgenwindes; ein einzelner Vogel begann schüchtern zu zwitschern und begrüßte die erlöste Stille.
Und glückhaft war der Morgen, lächelnd das Licht, beinahe frühlingshaft, so leise war die Luft, gleichsam schwebend geworden, als sei sie schwebend gewordene Klarheit, seltsam beruhigt und beruhigend, flutend wie glasheller Wellenschlag, ein spielendes vielfältiges Wehen eines durchsichtigen Schleiers. Ich war zeitig im Kindertrakt, und eigentlich war ich bloß gekommen, um mich zu vergewissern, daß hier ebenfalls die entscheidende Wendung eingetreten war, so sicher war ich ihrer. Und richtig: das Kind war aus seiner Ohnmacht erwacht, es lächelte, und es hatte, so dünkte mich, glückhafte Augen. »Wo ist die Frau Doctor?« fragte ich die Pflegerin. – »Dienstfrei, Herr Doctor.« – »Rufen Sie sie trotzdem, das heißt, sofern sie nicht schlafen sollte … aber sie wird sich freuen.«
Nach einer Weile kam sie. Ernst, sachlich, weißmantelig, finster die Brauen zusammengezogen, schritt sie durch die Bettenreihen, verfolgt von den erwartungsvollen Blicken der Kinder, und ihre Begrüßung für mich war ein trockenes: »Wann ist sie aufgewacht?« – »Schon heute Nacht, Frau Doctor«, antwortete die Schwester an meiner Statt. Sie untersuchte genau, prüfte Herz und Atmung, doch in ihren Zügen blieb etwas besorgt Forschendes: »Es könnte sein«, sagte sie endlich, »hoffen wir, daß es überstanden ist.« – »Natürlich ist es überstanden«, warf ich ein, und dann setzte ich überflüssigerweise hinzu, »ich bin sehr glücklich.« Sie beachtete es nicht, sondern sagte bloß leise und beunruhigend sinnend: »Wenn es nur nicht ein freies Intervall sein sollte!« – Ihr Ernst berührte mich so sehr, daß ich nicht nur das Schicksal des Kindes, sondern auch das meine gefährdet sah; ich fühlte etwas Unheimliches aufdämmern, als sei das Erstarrte und Erstarrende wieder in der Nähe, drohend die starre Nachtwelt, umhüllt von der Dunkelheit der Seele und in diese einsinkend: »Nein«, rief ich fast, »nein … jetzt wird alles gut werden!« – »Legen Sie jedenfalls weiter Eisbeutel auf, Schwester«, befahl sie, »und wenn Sie die geringste Veränderung bemerken, so rufen Sie mich.« Und sie entfernte sich wieder. Als ich meinerseits ins Laboratorium zurückging, war es noch wolkenlos; nichtsdestoweniger hatte ich den Eindruck einer beginnenden Eintrübung, es war wohl Föhn im Anzüge. Der Tag wurde schwer.
Nachmittags rief sie doch an; ich hatte es kaum mehr erwartet. Ja, ich möge zu ihr kommen. Ich ließ alles liegen und stehen, und wie ein verliebter Gymnasiast hinübereilend, war ich innerhalb weniger Minuten bei ihr. »Verzeih«, sagte sie. Ich war etwas verblüfft: »Mein Gott, was soll ich denn verzeihen?!« – »Du wirst es mit mir nicht leicht haben, Lieber … ich habe es selber zu schwer.« – Sie umarmend, legte ich ihre Hände mir aufs Haar.
Es war an einem Donnerstag. Und tatsächlich setzte ein anhaltender Föhn ein. Am Sonnabend zeigten sich bei dem Kind Lähmungserscheinungen, und in der Nacht vom Sonntag zum Montag verschied es. Die Diagnose des Hirndrucks und des freien Intervalls war richtig gewesen.
Sie nahm es schweigend hin. Meine Bestürzung war lauter, denn sie war von anderer Art; sie war äußerlicher: zwar hatte ich mir nicht den Vorwurf einer Fehldiagnose zu machen wie dürfte man bei jeder Gehirnerschütterung mit Trepanation oder Punktierung vorgehen! –, aber das Objektive spielt in den menschlichen Beziehungen eine geringe Rolle, und von rechtswegen hätte ich in ihren Augen derjenige zu sein gehabt, der mit Leichtfertigkeit, ja, mit einer leichtfertigen Autoritätsausnützung sich ihren Vermutungen entgegengestellt hatte; hätte sie sich daraufhin von mir abgewendet, ich hätte [ihr] mit einem Teil meines Wesens dazu das Recht gegeben, und ich war gerührt, daß sie es nicht tat. Sie lehnte jede Erwähnung des Geschehens ab, sie blieb still, blieb in ihren dienstlichen Pflichten, denen sie mit noch ernsterem Eifer als früher nachging, und sie schien so durchaus mir zugetan geblieben zu sein, daß ich, lediglich mit den Plänen für unsere Zukunft beschäftigt, bald zu hoffen begann, daß nicht nur ihre Arbeit, sondern viel mehr noch meine Liebe imstande sein würden, sie über das Ereignis hinwegzubringen. Und gar als nach etwa drei Wochen, die seitdem verstrichen waren, sie meine Hand nahm, um mir mit still lächelnder Sachlichkeit mitzuteilen, daß sie glaube, ein Kind erwarten zu dürfen, da war es Erfüllung und es war der vollkommene Trost, und wenn ich auch, sie an mich gepreßt haltend, in diesem Augenblicke gar nichts dachte, so wußte ich dennoch vieles, ich wußte, daß alle Wirklichkeit der Welt im menschlichen Herzen eingesenkt ruht, versunken die Welt selber, ich wußte um die Ewigkeit im Irdischen, ich wußte von der Zeit, die durch uns rinnt, rinnt vom Ahnen des Ur-Anfangs bis zum Enkel des Ur-Endes, singend ihre der Worte entlöste Sprache, und ich wußte um eine Seinssicherheit des Wir, in deren Mittelpunkt die geliebte Frau und ihr Kind stand. Noch hielt ich sie an mich gepreßt und schon sprach ich wieder von den Zukunftsplänen und ihrer Verwirklichung; grauäugig unter zusammengezogenen Brauen blickte sie mich an, es war ein Blick voller Zuneigung und Güte, und sie lächelte. Daß es das Lächeln eines Menschen war, der mit Luftschlössern spielt und nicht daran zu glauben vermag, das erkannte ich nicht, weder damals, noch in der Folge, obwohl ihr Verhalten sich nicht änderte; sprach ich von Heirat, von Auflassung der Spitalspraxis, von der Übersiedlung aufs Land, so wandelte sich ihr finster nachdenkliches Gesicht holdselig zu diesem wehmütigen Lächeln, und sie sagte: »Wir haben Zeit, Lieber … später«, doch darüber hinaus geschah eigentlich nichts. Was wirklich geschah, war eine Verdoppelung ihrer Arbeitsintensität; neben ihrem normalen Dienst hatte sie mit serologischen Untersuchungen bei mir im Laboratorium angefangen, sie stürzte sich überdies mit erneuter Heftigkeit ins Politische, war an jedem ihrer freien Abende auswärts beschäftigt, und ich erkannte die Selbstbetäubung nicht, die sie zu all dem antrieb: im Gegenteil, ich nahm daran innerlich teil, ebensowohl an ihrer Laboratoriumsarbeit, von der ich beglückt annahm, daß sie ihre Tätigkeit der meinen annähern wollte, aber ebensowohl auch an den mir absolut fernliegenden politischen Dingen, froh über den Freimut, mit dem sie mir von ihnen erzählte, froh über ihre Erfolge, froh über die Fortschritte der kommunistischen Zellenbildung, die sie im Spital und anderwärts organisiert hatte, und bei aller Unfraulichkeit solch propagandistischen Gebarens, es gab nichts an ihr, was mir nicht fraulich dünkte, und von ihrer mitreißenden Überzeugung war ich gefangen. Und ich erkannte nicht, daß trotz dieser Anteilnahme, mit der ich sie begleitete, ich im wesentlichen keinen Zugang zu ihr besaß, daß das Kind, nach dem sie gebangt hatte und das sie von mir erwartete, immer mehr in den Hintergrund trat und daß sohin unsere Beziehung auf eine völlig andere Ebene geraten war. Ein einziges Mal wurde ich stutzig, nämlich als sie einmal – gebeugt über den Laboratoriumstisch und eine Eprouvette in der Hand – mit fast gleichgültiger Stimme und nebenbei die Bemerkung hinwarf: »Um unseres Kindes willen hat das andere sterben müssen.« Indes, ich wollte es wohl nicht gehört haben; es war rasch wieder vergessen.
Im Oktober nahm sie einen dreitägigen Urlaub, angeblich um im Interesse unserer Heirat eine nachträgliche Erbschaftsangelegenheit zu ordnen. Die Überstürztheit ihrer Abreise war für mich nicht weiter auffallend und störte mich nicht in meinem Gefühl absoluter Sicherheit; auf dem nämlichen Bahnsteig, auf dem ich drei Monate vorher mir ihrer Liebe inne geworden war, sagten wir uns auf Wiedersehen. In den folgenden Tagen brachten die Zeitungen versteckte Andeutungen über einen mißglückten kommunistischen Putsch und ein verhütetes Ministerattentat. Da ich ein schlechter Zeitungsleser bin, hatte ich es nicht einmal beachtet; außerdem gab es damals im Spital besonders viel zu tun, und mir war dies recht, denn ich sehnte mich nach ihr und freute mich auf ihre Heimkunft. Die Tage vergingen und sie kehrte nicht heim. Hingegen kam die Nachricht, daß sie sich in einem Hotelzimmer vergiftet hatte. Das von ihr hiezu verwendete Zyankali stammte aus dem Laboratorium.
Was danach und in den folgenden Monaten geschah, weiß ich nicht mehr. Viel später stieß ich einmal zufällig auf das versiegelte Paket, das sie mir einstens übergeben hatte. Erst zögerte ich, es zu öffnen. Als ich es dann doch tat, fand ich zuoberst einen Brief; er enthielt bloß eine Zeile: »Ich habe Dich sehr geliebt.« Der Rest des Paketes bestand aus den genauen Putschplänen und aus Direktiven an die Organisationen für den Fall des Gelingens. Ich verbrannte alles.