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Ophelia

Novelle

Dies ist bloß scheinbar eine komplizierte Geschichte: wir werden sie späterhin in ihre Bestandteile auflösen und über ihre Einfachheit vielleicht erstaunt sein. Oder wir werden vielmehr nicht erstaunt sein, denn wir wissen bereits, daß die Literatur von ganz wenigen, simpelsten Problemen lebt, die – Hamlet im Frack – immer nur in neuem Kostüm auftreten. Ja, man könnte so weit gehen zu behaupten, daß aus jedem oder zumindest jedem reicheren Dichtwerk (ich vermute allerdings auch aus jedem Schund) sich sämtliche möglichen Probleme deduzieren ließen. Um etwa bei Hamlet zu bleiben: welche Menge von Literatur steckt in der Frage, warum sich Ophelia dem Hamlet versagt hat.

Nördlich der Alpen und gar im Gebiet der nördlichen Meere gibt es wohl überhaupt keinen richtigen Sommer. Im Süden ist es ein seltenes und fast kostbares Phänomen: kühle, frühlingshafte Luft streicht durch die Bäume des Parkes und vermag die Blätter, die schon dunkler sind und starr, als erwarteten sie den Hauch des Todes, kaum zu bewegen. Dann ist es, als ob Frühling und Herbst sich begegneten und sich die Hand reichten. Hier im Norden ist dies alltäglich. In jedem Sommertag steckt ein Stück Frühling und ein Stück Herbst, ohne sich zu durchdringen. Und es mag wohl auch sein, daß das Wesen des nordischen Menschen solchen Zwiespalt widerspiegelt, die Unjugendlichkeit seiner Jugend, die Knabenhaftigkeit seiner Reife, ein Pendeln zwischen Sentiment und Skepsis, das bei den Russen bis zur Weisheit ausschlägt. Wundervolle Zeit zwischen Jugend und Alter – du hast hier nicht die kraftvolle Mittagshöhe, von der man uns gefaselt hat, sondern die Möglichkeit, noch ohne Bedauern des Frühlings zu gedenken, dennoch schon wissend, wie tief wir ihm nachtrauern werden.

Immer wenn sie Smetanas ›Moldau‹ hörte, erschien ihr der Name des repräsentativen böhmischen Flusses diesem volkstümlichen und irgendwie vollkommenen Musikstück wie von außen angeheftet, denn seine Wellen, kommen sie auch vom Rheingold her, waren ihr wie ein naiver und äußerst reizvoller Ausdruck einer vielleicht mährischen oder böhmischen Landschaft mit wogenden Weizenfeldern. Nun, da sie durch die Felder schritt, waren ihre Gedanken der Melodie verhaftet, als sollten sie niemals mehr von ihr wegkommen.

In sachtem Anstieg erreichte sie das Ufer der Felder. Der Weg, den sie gegangen, ein dürres und bröckelndes Rasenband zwischen den beiden harten Radfurchen, die das bäuerliche Fuhrwerk, wenn es zum Frühjahrsanbau ging, in den weicheren Boden gegraben hatte, mündete auf einen Wiesenstreifen, der wie ein beschatteter Meeresstrand zwischen dem sonnig gelbwogenden Weizen und dem Walde lag. In der Kühle dieses Anblickes erstummte die derbere Musik in ihrem Innern, vielleicht auch, weil das leise Pochen des erhitzten Blutes an ihren Schläfen sich beruhigte, und gab einer zarteren Weise Raum, die allerdings so unhörbar leise war, daß sie sie gar nicht erfaßte. Denn diese unfaßbare Musik, die den Menschen so stet und unfehlbar begleitet wie das Denken selber, ist nur wenigen, man sagt in solchen Fällen Gottbegnadeten, zu heben verstattet. Das silberne Rauschen der Blätter, das jetzt vom Waldrand her in den Wind sich verfing, [und das] sie entzückt vernahm, war für sie bloß eine Stimmung, die in Leichtigkeit und Feinheit sich fast verflüchtigte, während sie für Mozart zu einem der silbernen Tragbalken unantastbarer Logik geworden wäre.

Nun dachte sie teils belustigt, teils unmutig daran, daß diese Zusammenkunft doch von recht umständlicher Romantik wäre, und sie schämte sich fast vor ihrem Partner und für ihn, daß er sich dieses kindische Spiel und den langen Weg in der Nachmittagshitze von ihr anbefehlen hatte lassen. Dennoch wäre sie mit Recht zornig gewesen, wenn er die Vereinbarung nicht eingehalten hätte und fand es selbstverständlich, daß er ihrer bereits harrte. Er lag, die Anmut dieser Landschaft offenkundig genießend, in halbaufgerichteter Stellung am Waldesrand, und als er ihr Nahen hörte, ging er ihr entgegen.

Sie hatten eine kleine Stunde Waldwanderung vor sich, um das romantische Ziel zu erreichen. Es ist nicht unmöglich, daß sie, den literarischen Zweck des Ausfluges ahnend, dieses Ziel, eine Burgruine in malerischer Lage, in Anlehnung an Goethes ›Novelle‹ gewählt hatte, denn fast erwartete sie, dem phantastischen Landschaftsbild, das ihr mit dem Gedanken an das Goetheische Meisterwerk stets vor die Seele trat, nunmehr in aller Realität zu begegnen. Was sie nun sahen, war allerdings heroisch genug: der Wald, oder richtiger der Berg, hörte jäh auf, wie mitten entzwei gebrochen, und stürzte felsig und nackt in die Ebene, an deren Rand in ungeordneten Haufen und Hügeln, grünbewachsen und mit friedlicher Kultur überdeckt, die Reste des einstigen Bergsturzes verstreut lagen. Zwischen diesen Hügeln und knapp an den felsigen Sturz hatte sich aber der Fluß herangedrängt, und es war, als ob das Gemäuer, das mit Kühnheit und eigentlich mit echter Ingenieurkunst des zwölften Jahrhunderts in die Felsen verankert und eingebaut war, nunmehr unmittelbar aus dem Wasser herauswüchse.

So war der Eindruck trotz aller Lieblichkeit der Landschaft fast ein heroischer, nicht anders etwa als in einem Beethovenschen Symphoniesatz oder der Appassionata, in der das Gewaltige im Lieblichen selber begründet ist. Und dieser Eindruck war so stark, daß es sie überkam wie ein schmerzliches und fast tragisches Abschiednehmen von dem Menschen, der sie, kaum bemerkt, begleitet, und dem sie sich doch eben erst zu einem freundlichen und gewichtlosen Spiel verbunden hatte. So saßen sie schweigend auf den verwitternden Steinen der Burg und sahen auf die Ebene hinaus, die im Lichte der langsam sinkenden Sonne zu einem dunstigen Meer zusammenwuchs, so daß sie alsbald glaubten, die Ebene vor ihnen und die Felder, die sie nachmittags durchschritten hatten, flössen zu einem großen Gewässer zusammen, aus dem ihr Berg wieder als jene Insel aufragte, die er seiner geologischen Formation nach in der Vorzeit gewesen war. Spannendes, ja angstvolles Schauspiel des Sonnenuntergangs: als sich das Gestirn rötlich dem westlichen Rand der Ebene zuneigte, wo dunklere Wolkenstreifen jetzt auftauchten, als wollten sie das schmerzliche Verschwinden verbergen wollen, und als das Gestirn wie eine Verurteilte und unaufhaltsam in sie eintauchte und nur mehr der Schein des Gewesenen noch dahinter aufleuchtete, da sagte der Mund des Mädchens, ihrer eigenen Sprache und ihrem eigenen Wollen entrückt: »Leb wohl.« Und gleichsam erschreckend ob dieses fürchterlichen und doch schönsten Wortes, erschreckend, daß sie damit nicht nur dem verschwundenen Tage und dem entschwindenden Jetzt den Abschied gegeben hatte, sondern damit auch ihm, der ein Teil dieses Tages gewesen war, und als wollte sie ihn ob dieses Abschiedes um Verzeihung bitten und dennoch den Abschied noch schmerzlicher und voller gestalten, ja sagen wir sogar grauslicher, sank sie dem fremden Mann an die Brust, dankbar, daß er ihre Lippen nicht suchte und ein wenig enttäuscht.

In dieser Nacht warf sich Erinnerung über sie. Ja, sie waren einst seßhaft gewesen. War es nicht das Schloß am Meer? Seine Mauern tauchten jäh und steil in ihr auf, tauchten in das grünliche Wasser, von glattem, fettem Tang behängt, wenn die Flut, wie jetzt das Vergessen, sich zurückzog, und dann konnte man die Klippen am Fuße des Gemäuers sehen. Diener verneigten sich, wenn man vorbeikam und alte Frauen gab es mit Köpfen wie weißhaarige Schlangen, so breit war der Mund vor Zahnlosigkeit geworden und so lang und dürr der Hals. Man hatte es gut unter ihrem Schutz, und wenn sie den letzten Zahn verloren hatten, rochen sie auch nicht mehr aus dem Mund. Und wie gerne sie kuppelten. Wie betrieben sie ihre Verlobung mit dem Prinzen: ihr, die doch nichts anderes wünschte, zusprechend, als ob sie von ihm nichts wissen wollte, so daß sie sich schließlich, vielleicht, um ihnen Freude zu machen, tatsächlich wehrte. Noch fühlte [sie] es, wie gut es war, sich dorthin schieben zu lassen, wohin man doch wollte und sich dabei ganz schwer zu machen und unbeweglich und steif. Und es war eine unbändige und wohl auch fröhliche Spannung, die nun zwischen ihr und dem Prinzen lag – wie fest und seßhaft war das Leben, so eindeutig und klar wie die Fanfare des Türmers, mit der er sie stets begrüßte, wenn sie ins Schloß zurückkehrten, und weil sie sich dieser Angestammtheit, dieses Bleibens und [dieser] edlen Gebundenheit so sehr freuen konnten, war ihr Spiel Ungebundenheit und ein zitterndes Provisorium. Dann hörte sie noch den Türmer den Abschiedsgruß blasen, Troßknechte saßen auf, Hellebarden wurden auf den Steinboden gestoßen, der König selbst trat in die Tür und der Prinz ritt davon zu baldiger Wiederkehr. Wo war er jetzt? Wieder stieg die Flut des Vergessens die Mauern hinauf: noch sah sie das Schloß, ragend wie Monsalvatsch mit leuchtenden Zinnen im Golde des Sonnenlichts, und als es dunkel wurde, zogen Schwäne über das schwärzliche Wasser. Eine schwarze Fahne weht vom Turm. Auf der Terrasse vor dem erleuchteten Schloß steht der Komtur, seinen Sohn Hamlet anrufend – sie aber in der Loge, hält Hamlets Kopf angstvoll in ihrem Schoße verborgen, schließt mit ihren Küssen sein Ohr, damit er den Ruf nicht höre und ihm der Mörder kein Gift einträufeln könne. Ach, es war Yoricks Schädel, den sie in der Hand hält, und der Komtur stößt Hamlet in die Wogen der Hölle, die grünlich, schwarz und mit weißen Schaumköpfen ansteigen und das Schloß verschlangen.

Erwachend, fand sie sich in dem Gefühl einer außerordentlichen und beseligenden Sicherheit. Es war, als hätte sie bisher irgendwo auf Einlaß gewartet und nun hatte man die Türen geöffnet und ein Weg großer Folgerichtigkeit läge vor ihr. Sie gedachte des gestrigen Tages und fand es richtig, daß er mit der Schwermut eines großen Abschiedes geendigt hatte: denn nun erschien ihr dieser Tag wie eine unbewußte Ouvertüre des Kommenden, und sein Abschied war kein Abschied, sondern ein prophetisches Ahnen des Ausgangs, den sie doch nicht fürchtete, sondern als eine heitere Notwendigkeit vor sich sah. Vielleicht ist es sogar die romantische Aufgabe jeder Ouvertüre, das Tragische der Zukunft in der Zartheit des Vorausahnens zu einem sanfteren Sollen aufzulösen, so daß es fast zu einem Wollen wird, zu einem Hineingleiten und sich Hingeben an eine vorgezeichnete Gebundenheit, die dem Ewigen verwandt ist.

Doch jener Abschied, war er wirklich bloß das Vorausahnen des kommenden und vielleicht supremsten? War er nicht auch der kleinere und banalere Schmerz der Trennung von dem bisherigen Leben, und wäre es bloß deshalb, weil nach der Ouvertüre der Vorhang aufgehen wird und alles, was vordem gewesen, zitternde Vorfreude ward und das, was kommt, die Hoffnungslosigkeit des Endgültigen? Sie dachte an ihren Verlobten, nachsinnend, ob nicht ihm eher jener Abschied gegolten habe als dem Fremden, dem sie an die Brust gesunken. Doch wie sie seiner gedachte, merkte sie, daß das Gefühl der Sicherheit, das sie eben noch beglückte, ihr auch schon entglitt. Jene Sicherheit, in der sie sich aufrecht gehalten fühlte, verspannt mit gut verankerten Drähten nach allen Seiten, nicht anders wie ein Antennenmast, der auf kleinster Basis, ja eigentlich bloß auf einem einzigen Punkt der tragenden Kugel, im Gleichgewicht ruht des Netzwerks der verspannten Drähte und in der summenden Musik ihrer Straffung – diese Sicherheit entschwand, die Drähte wollten schlaff werden, da das Bild des Verlobten auftauchte. Zorniger Unmut erfaßte sie gegen ihn, doch sie erschrak als sie inne wurde, daß es nicht einmal sein Bild war, das dieser Erlahmung Ursache war. Ihre Vorstellung konnte seine Gestalt nicht erhaschen. Irgendwie war es wie im Kino, wenn der Film abreißt: plötzlich statt des Bildes die weiße, flimmernde Leinwand; die Musik spielt noch ein paar Takte, und dann bleibt auch sie mitten in dem kleinen Walzer stecken. Noch ist die Leere des Gesichts und des Ohrs lebendig, und man sitzt in großer Erwartung, ob der Bogen der Spannung die Leere zu überbrücken vermag. Nun wird der Bogen immer flacher, schon droht er abzureißen, da zittert im letzten Augenblick das Bild wieder auf, die Musik setzt dann, als wäre sie durch eine falsche Tür hereingekommen, mitten in dem abgerissenen Takt wieder ein, und wir sind glücklich. Wehe aber, wenn die Spannung nicht durchhält, wenn sie schlaff wie eine abgerissene Saite zu Boden fallt und es in aller Verlegenheit hell im Saale wird: schamvoll möchten wir flüchten und den Operateur ermorden.

Da nun sein Bild – doch es war kein Bild, sondern ein weißer Leinenfleck – die Musik und die Sicherheit ihrer Seele abriß, hätte sie flüchten mögen, doch nicht ohne den Verlobten vorher ermordet zu haben. Wer war er, dieser Körper, der nun in unvorstellbarer Ferne seiner Nahrung und seiner Verdauung nachging? Mühsam rekonstruierte sie sein Gesicht; doch stets wurde es das eines Photographiealbum: grauenhaft, die stets neue Entdeckung, daß alle diese Männer, alle diese Frauen das gleiche Gesicht besitzen und es unverständlich ist, warum dieser jene geliebt, warum diese mit jenem im Bette Kinder gezeugt hat. Einzige Hoffnung, daß alle diese Leute nach irgend einem von der Daguerreotypie nicht festgehaltenen, individuellen Geruch zueinander gefunden hatten. Nun kam es ihr aber vor, ihr Verlobter rieche nach verstaubtem Papier und Golddruck, obwohl er doch ein junger Mensch war. Sie ging zum Schreibtisch, um sein Bild zu betrachten. Es war sein Gesicht, jenes Gesicht, das sie noch als Knaben- und Kinderantlitz kannte und nun, sonderbar groß geworden, in der Erwachsenheit verschwand wie die bleiche, nach oben gekehrte Maske des Ertrinkenden im Sumpfe. Noch greift man mit Eile hinein, um das Haupt an den Haaren herauszuziehen, doch in dem hellgrünen Wasser verfehlt man die Entfernung und das Antlitz entschwindet mit Körper und Seele auf Nimmerwiedersehen. Denn nimmersatt sind Sümpfe. Ja, es war sein Gesicht, stand schreckhaft aus dem Kragen des Hemdes heraus wie einer, der den Kopf über die Gartenplanke hängen läßt, und nichts war dahinter. Wie unvorstellbar war dieses Hemd: nahm es überhaupt kein Ende, wie die Gewänder der Nebeljungfrauen, oder war es in eine Hose gestopft? Unvorstellbar die Brustwarze, die es doch verbergen mußte. Sie hielt die Linke an die Brust, als wollte sie es verhüten, daß sich etwas oder einer darauf lege. Und während in ihrer Rechten, leicht gekrümmt, als umfaßte sie ein kugelförmiges Gebilde, doch bloß die kleine, flache Photographie ruhte, sagte sie, bevor sie es auf den Schreibtisch zurückstellte, »Poor Yorick«.

War die Spannung ihrer Sicherheit nunmehr endgültig abgerissen? Die Szene währte einige Sekunden, sicherlich keine Minute, und dennoch war die Saite bereits so welk und schlaff geworden, daß sie kaum einen Ton mehr von sich geben wollte. Die Musik war verloschen, und als sie sie suchte, fand sie bloß einen kleinen, banalen Jazz »Poor Papa«, an dem sie sich anklammerte, um sich wieder an Bord zu ziehen. Einen Augenblick glaubte sie, einen fremden Schatten zu sehen, der sich lautlos im Boot aufrichtete und ihr die Hand zur Hilfe über den Nachenrand entgegenstreckte. Aber sie scheute sich, die Hand zu berühren. Konnte der Fremde in der Entscheidung, die es zu treffen galt, die doch schon getroffen war, eine Rolle spielen? War er nicht nur Symbol, wie der Verlobte Symbol eines Vergangenen war? Er stand an der Schwelle, als sie sie überschritt. Mehr wußte sie nicht, wollte sie nicht wissen. Doch da sie jetzt am Fenster lehnte, kühle, sommerliche Morgenluft mit dem ganzen Körper einatmend und den Park betrachtete, der wie ein kühles, luftiges Sommerkleid um das Haus gelegt war, da wurden der Park, seine Bäume und Blätter, der Kies auf dem Weg, der schwarze Schlauch, der über dem Rasen lag, von großer, beglückender Deutlichkeit, und die Musik der Sicherheit hob wieder an, löste die Schäbigkeit der kleinen Melodie auf, als wäre sie nie gewesen, und sie lehnte am Fenster in der ruhigen Sicherheit ihrer Anmut.

Hat einer eine Melodie aus sich herausgestellt, so beginnt sie, ihr Eigenleben zu führen. Da gibt es solche, die nach dem Gegenthema verlangen, damit sie sich mit ihm zur Sonate verbinden, da gibt es Einzelgänger, die, unschmiegsam und hart, keine menschliche Verbindung und Legierung eingehen, bloß in der Fuge gezwungen und bezwungen werden können. Alles, was dann folgt, folgt notwendig und unumstößlich. Es wächst Musik aus dem Grundthema wie aus einem vorbereiteten Keim, wächst in ihrer eigenen eingeborenen, geradlinigen Logik, und es kann nicht anders werden als schön und gut, wenn nur keiner kommt und es stört.

So wächst ein Kind und könnte nur schön und gut werden, aber es ist immer einer da, der es stört und verbiegt. Und es gibt Kinder, die wollen zum andern und brauchen viel Liebe, und man läßt sie verdorren; und es gibt Einzelgänger, die stolz sind und herbe, seltene Früchte tragen könnten, und man preßt sie in die Zweisamkeit und in die Mehrsamkeit und vergewaltigt sie, und sie werden schief und verkrüppelt vor lauter Ekel. Wer aber das Glück hat, aus der Logik seines Wesens gerade aufschießen zu können, der besitzt das Glück der Sicherheit.

Wie offen ist der sichere Mensch für alles. Denn seine Logik ist die Logik alles Gewachsenen, seine Reinheit ist die Reinheit der Dinge. Alles ist ihm Inhalt, weil es sein eigener Inhalt ist, denn jede reine Sphäre ist lauterer Inhalt, wird erst Form, wenn sie Dinge einer fremden umfassen soll. So lebt der sichere Mensch in höchster Realität, weil Realität Inhaltlichkeit seiner selbst, Inhaltlichkeit der Welt ist.

Wie ist Musik von höchster Realität erfüllt und voller Inhalt, wenn sie rein ist und nicht zur Form eines anderen degradiert wird. Dann ist die Logik ihres Wachstums Spiegel und Symbol alles lebendigen Wachstums der Welt, dann kann eine Phrase eine ganze Lebenssituation widerspiegeln, gleichgültig, ob Bach ihre Reinheit aus der musikalischen Materie konstruierte oder ob sie, in seinen höchsten und letzten Momenten, Beethoven durch vollkommene Abstraktion der symbolisierten Gefühlslage gewann.

Schön war einst das Gefühl sicherer Seßhaftigkeit, im eigenen Hause gebietend, das nachbarlos auf weitem eigenen Land stand, beschützt von den Bäumen und den Flüssen, in denen die Mägde baden. Schön war einst der Winter des Seßhaften, wenn das ewig Rinnende, Unfaßbare und Besitzflüchtige sogar erstarrt und zum Eigentum wird. Stumm und groß war die Erde, selten, nur aus den Hütten der Sklaven und aus dem Munde der Ziehenden, Fahrenden und Rastlosen, tönte Musik. Wer aber in seiner Sicherheit thronte, dessen Mund war geschlossen und er schrie bloß im Schmerz. Stumm dienten sie Gott, fürchtend und vertrauensvoll, aber ohne Erkennen. Freiheit der Erde und des Irdischen – Freiheit ohne Mund.

Doch selig und unsagbar ist die reine Sicherheit der Erkenntnis. Nicht, daß ihnen Gott wurde, war das erhabene Glück der großen Religiösen, sondern [dadurch], daß sie die Erkenntnis besaßen, wurde ihnen die große, singende Mystik. Solches Glück entströmt manchmal mathematischen Konstruktionen und Einsichten, spiegelt sich in der reinen Musik und in jeder Sphäre, die rein genannt werden darf. So ist die Reinheit eines Gebietes, und sei es nur die einer Maschine, und alles, was nur richtig und voller Hingabe gemacht wird, voll seiner Logik und damit voller Realität, und nichts mehr an ihm ist bloße Form und Schale, sondern alles Inhalt und Abglanz des Höchsten.

Wie frei ist Musik in ihrer Reinheit trotz allen Gebunden- und Verhaftetseins in ihrer Logik. Wie frei ist der reine Mensch trotz seines Gebundenseins in seinem Gesetz. Denn in unendlich viel Sphären der Realität unendlich-endlich vieler Dinge unendlich sich widerspiegelnd und immer wieder sich symbolisierend ist das Notwendige gegeben; und für jede Wahl, so gebunden sie ist, gibt es unzählige, die nicht minder es sind: unendliche Freiheit der Komposition im unendlich gebundenen Gesetz, unendliche Realität des Irdischen in einer Unendlichkeit unirdischer Sphären. So ist alles Glückhafte und alles Glückbringende dieser Welt, fasse man es so roh oder [so] subtil, so materiell oder so geistig als man wolle, in der Manifestation und in dem Erlebnis vollkommener Sicherheit, die die sichere Vollkommenheit schlechthin ist, enthalten; ist, schwebend oder ruhend, immer die Freiheit schlechthin: denn die Bewegung ist dann das Gleichgewicht der Ruhe, die Ruhe aber gebundene Bewegung, wie das Segnen und Wandeln in Raffaels ›Hochzeit zu Cannä‹.

Doch sie machte noch eine andere Entdeckung: sie fand die sonderbare Fähigkeit des Menschen, sich mit seinen Gedanken zu identifizieren – träumend ist der Mensch der Wald, den er sieht, der Ton, den er singt, ist das aufsteigende Wasser und das Vergessen und das Erinnern, das ihn überkommt. Und er täuscht sich, wenn er meint, daß es im Wachen anders sei. Er hat bloß die Fähigkeit, sich selbst in all seinen symbolischen Formen zuzuschauen und jede durch ein anderes Symbol zu ersetzen, Schichte um Schichte in sich aufzublättern, um schließlich zu einem letzten und unfaßbaren Symbol zu gelangen, um doch es nie zu erreichen: das Ich. Denn das Ich fällt zusammen mit dem Bewußtsein seines Wissens. Und sie fühlte sich nun plötzlich herausgestellt, wie auf eine Bühne gehoben und gezeigt und dennoch unsichtbar und war nun, fast erschreckend war diese Erkenntnis, ein Stück einsame Musik, ganz wenig nur, karg fast, doch von großer Reinheit: ein Thema, das zum Anfang einer großen, schönen Entwicklung steht. Es wurde ihr klar, daß sie nun nurmehr zu warten hatte, sich hinzugeben der Logik des Kommenden, doch schon ihr Innewohnenden, daß sie sich nicht vermengen dürfe mit Ruhendem, Seßhaftem, für das sie fremde Form, das ihr fremder Inhalt nur wäre, sondern sich hineinzuwerfen habe in die Steigerung und in die Verschränkung, ja sogar in die Vermengung mit der Fremdheit, die dann doch sie selbst sein werde; wußte, daß dies alles nicht auf ein Spiel hinausliefe, sondern, wäre es eines, auf das eines strengen und reinen Musizierens. Es war ein Verspanntsein zu allem, was Realität war und doch nur Widerspiel ihrer selbst und damit war diese Beziehung oder richtiger dieses wahrhaft musikalische und harmonische System dennoch von jedem Inhalt befreit, sozusagen ein System beziehungsloser Beziehungen von außerordentlichem Gleichgewicht und damit von jener beglückenden Sicherheit, die sie als Freiheit und Vollkommenheit und Freizügigkeit empfinden durfte. So stand sie in ihrem leichten Nachtgewand in der Morgenkühle des Fensters, und der Garten und die Welt waren für sie von nie gesehener Realität.

Nun ging sie durch die Halle des Hotels. Der Portier mit den Schlüsseln am Kragen grüßte wie ein Haushofmeister und überreichte ihr die Briefe, die in ihrem Fach gewartet hatten. Die Drehtür war aufgeklappt und fixiert, um die gute, laue Morgenluft zu empfangen, und die beiden Pagen links und rechts machten ihre dressierten Verbeugungen. Das war ihr alles ein bißchen lächerlich und so, als wollte man sie für Verlorenes abspeisen. Sie überlegte, ob sie abreisen sollte. Das war doch gestern eine Art Abschied, und es war ungehörig, ihm nochmals zu begegnen. Aber in dem Gefühl der Sicherheit, mit dem sie einherschritt, war alles unverbindlich und im höheren Sinne ohne Verantwortung. Was immer auch geschähe, es war im vorhinein richtig.

Draußen auf der Terrasse saßen noch Leute beim Frühstück. Weiß und hart lag die Sonne darüber, und die kleinen Eisentische gaben einen unangenehmen Ton auf dem Steinpflaster, als an ihnen gestoßen wurde. An manchen Tischen standen noch Frühstücksreste, Schalen und Kannen, an denen ein Tropfen im Herabgleiten angetrocknet war, Butterstückchen, die mit ihrer Eisbeilage nun gemeinsam schmolzen. Die Damen in den Liegestühlen suchten für das Stückchen Zeitung oder Buch, an dem sie gerade lasen, Schatten; wenn es nicht anders ging, beschatteten sie es mit dem Kopf. Es ärgerte sie, ihn bereits hier zu treffen, doch eigentlich noch mehr, daß er sich mitten in der Herde befand. Er saß an einem Tisch, las; auch das war ihr nicht recht. Seinen förmlichen Gruß beantwortete sie mit der Aufforderung, sie zu begleiten.

Sie saß auf der Gartenbank, neben ihr der Fremde, und wiewohl es doch durchaus unsinnig war, ihn den ›Fremden‹ oder den ›Andern‹ zu nennen, der ihr genauso fern und so nah war wie ihr Verlobter, fühlte sie die wartende Fremdheit, als stünde hinter ihr einer und hielt ihr einen dunklen, kühlen Mantel und wartete, daß sie sich zurücklehne, um die Dunkelheit mit ihren Schultern aufzunehmen. So streicht manchmal Musik auf dunklen Schwingen über unserem Haupt, fremd über unserem Haupt, wartet, daß wir uns hingeben und davontragen lassen. Dieses Warten war wie eine ruhige Flut, ohne Drängen und ohne Strömung, es beunruhigte nicht, ja, es war fast beruhigend, so beruhigend und sicher wie die Freiheit, mit der es in ihrem Wollen stand, sich zurückzulehnen oder nicht. Fast wäre es, als säße man gesichert mit einer Wand im Rücken, in einer gut geschlossenen Loge mit der Aussicht nach vorne. Sie blickte aus ihrer Loge, und der Gartenweg vor ihr war von mannigfacher Lebendigkeit. Es standen Sträucher vor ihr, und wenn man durch ihre Blätter und Zweige schaute, dann sah man in ihrem Innern das Waldesdunkel; Walderde lag darunter, aus der das scharfblättrige Waldgras sproß, kleine, dürre Aststücke lagen dort, auch sogar ein Schneckenhaus, und zwischen den Zweigen, die sich heraus versproßten, verspannten sich Spinnweben und das Summen von Insekten. Doch wo das Gesträuch seinen Rand erreichte und sich nur noch sacht über den saftigen, hellgrünen Wiesenrasen neigte, [wo] ganz verloren nur mehr wenige Halme der Waldgräser stehen, da war zitternde Luft, aber gleichsam in einem gezähmten Zittern, denn sie war durchwebt und verdünnt von den bürgerlichen Klängen des entfernten Kurorchesters. Auch hörte sie jetzt seine Stimme, erklärend, daß man eine Wertskala für musikalische Schöpfungen an dem Maßstabe aufstellen könne, wie weit sie in der freien Natur noch erfaßbar seien: je höher ein Tonstück stünde, desto weniger sei es in der Natur vernehmbar, und umgekehrt verlange die großartigere Natur um so ordinärere Tonstücke. Es sei, als ob zwei Vollkommenheiten einander nicht Raum lassen können. Hier, in dieser gepflegten Parklandschaft, sei für Meyerbeer und Puccini eben noch Platz, wobei es auffallend wäre, wie sehr diese verschiedenen Kompositionsweisen ineinander verliefen und unterschiedslos würden, so daß von hier aus die freie Natur noch als zweite musikalische Wertskala angesetzt werden könnte. Sie blickte in der Richtung seiner Stimme, sah eine Wange, deren Haut sich über den deutlichen Jochbogen legte, und die Falten unterhalb des Auges. Sie wollte nicht mehr sehen und schaute wieder auf die Wiese vor sich, auf die Pfingstrosenstauden mit ihren soliden Blättern, auf die Ahorngruppe, deren glatte, helle Stämme inmitten der Wiese eingerammt waren, und auf den fleckigen, etwas bewegten Schatten, den die Krone auf den Rasen warf.

Das gespannte Seil, auf dem ich mit großer Sicherheit vorwärts schreite, verliert sich in immer größerer Dunkelheit. Immer weiter und dunkler wird die Kuppel über mir, immer verschwommener und entfernter werden die Gesichter unter mir. Wird mein nächster Schritt das Seil noch treffen, wird es überhaupt noch vorhanden sein? Weit hinter mir war eine lichte Geborgenheit. Wie sehr verstehe ich die Angst der Mütter, je weiter [ich] vorschreite. Man entfernt sich immer mehr, und schließlich scheint es gleichgültig zu sein, ob man noch einen Schritt weiter macht oder sich ins Dunkle einfach fallen läßt. Ja, es ist, als wäre dieses Sich-Fallen-Lassen dann die Seligkeit.

Noch immer nenne ich ihn den Fremden, doch lieber und richtiger würde ich ihn den Unsichtbaren nennen. Damit meine ich nicht etwas Unheimliches, sondern ein ganz gewöhnliches Faktum. Es gibt Dinge, die einem so vertraut sind, daß man sie nicht sieht, und solche, die zu unfaßbar dazu sind, wie eine Musik, für die man zu ›unmusikalisch‹ ist. Wahrscheinlich, weil man innerlich wegschaut. Oder vielleicht ist es nur der tote Fleck im Auge.

Ich ging allein zu den Ruinen. Man muß jeden Weg allein gehen können.

Manchmal schrecke ich nachts aus dem Schlaf. Auf der Landstraße fahren Automobile, und ihre heulenden Sirenen sind wie Männerstimmen. Manchmal ist es, als riefe einer um Hilfe, manchmal, als wollte er sich zornig auf einen anderen stürzen. Ich schrecke auf und fühle mich dabei doch gesichert, und es kommt sogar vor, daß ich mich zu jenem Erschrecken selber bringe, bloß um das angenehme Gefühl der Geborgenheit wiederzufinden. Fast ist es wie bei einem Kind, das mit seinen Zehen Verstecken spielt.

Oft ist es, als ob man sein ganzes Leben darauf angelegt hätte, sich selbst Überraschungen zu bereiten, sich erstaunt oder erschreckt zu stellen vor etwas, das man selbst herbeigeführt hat. Und schließlich glaubt man selbst daran. So ähnlich geht es wohl immer, wenn man sich eine Geschichte erfindet oder Musik komponiert: man faßt einen Plan und läßt sich dann doch von dem, was kommt, überraschen.


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