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Tierkreis-Erzählungen

Eine leichte Enttäuschung

Novelle

Plötzlich fiel es ihm auf, und gleichzeitig erschrak er, weil es ihm nicht früher aufgefallen war: da stand zwischen den modernen Warenhäusern der lärmenden Geschäftsstraße ein schmales Haus, das aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stammen mochte. Täglich war er daran vorbeigegangen, und nie hatte er es noch gesehen, trotzdem es wie ein abgebrochener Zahn zwischen den beiden Nachbarn steckte, eingeklemmt zwischen zwei riesigen buntbemalten Feuermauern, und eine Luftlücke über sich ließ, durch die mochte auch das Gerippe der Lichtreklame auf dem First des braunen Ziegeldaches dort ragen – manchmal der blaue Himmel, manchmal die Wolkenwand in die Straße schaute. Aber die langen Firmentafeln, deren Aufschriften schon an der Front des linken Nachbars begannen und bis zum rechten hinüberliefen, diese langen, steifen Bänder waren es wohl, die jede selbständige Äußerung des Hauses unterbunden hatten, es mit dem Baublock in einer Einheit hielten, die nicht die seine war. Nun plötzlich war es vorhanden, losgelöst aus dem Gefüge, in dem es sich befand: gleichwie unter den Kleidern aller Menschen die tierisch-menschliche Haut liegt, ein Faktum, dessen man nur selten inne wird, so wurde unter den Ankündigungen und Firmentafeln des Hauses die Mauer wieder zu einer richtigen Ziegelmauer mit dem grauen Verputz, den die Kelle des Maurers einst geworfen hatte, und sichtbar wurde das braune Dach, wie es zwischen den Sparren und Trämen des alten Dachstuhls wellig sich einbog. Vielleicht ist es immer erschreckend, wenn Unbekanntes aus der Vergangenheit auftaucht, – Angst des Menschen, der etwas zurückgelassen hat, das er nicht kennt, er selbst geworfen in die Angst und in die Zeit, die ihn nicht zurückläßt, und zu solch historischem Gefühl gehörte es wohl auch, daß die Buchhandlung hier in ihrem Schaufenster einen Kupferstich ausstellte, auf dem diese Geschäftsstraße in ihrer gewesenen Gestalt zu sehen war, als eine breite, stille Wohnstraße, Häuserzeile, in welcher Dach an Dach stieß, Einheit gewesener Verbundenheit. Und da der Betrachter sich dieses Kupferstichs entsinnt und auch an den darauf abgebildeten Fahrdamm denkt, der nicht gepflastert war, sondern kreuz und quer von Wagenspuren gefurcht und ohne Bürgersteig, betritt er des Fahrdamms Pflaster, überquert er die eisernen Trambahngeleise, getrieben von dem Verlangen, in jenes alte Haus einzutreten, gleichsam von der vagen Hoffnung getrieben, darinnen so aufatmen zu können, wie man aufatmet, wenn man die geschlossene ineinandergefügte Stadt verläßt und in eine Dorfstraße gerät. Wäre er gewohnt gewesen, auf seine tieferen Wünsche achtzuhaben, so hätte er in seinem Innern eine Art Sehnsucht feststellen können, mochte diese auch bloß eine Sehnsucht der Nase nach dem scharfen Geruch von Heu, Dung und gebeiztem Mist sein, Sehnsucht, daß sich in dem Haus irgendwo ein Rest von Heu finden würde oder etwa gelbe und hellbraune Maiskolben, aufgereiht zum Trocknen an einer Schnur unter der Dachtraufe, wie in einem Bauerngehöft. War doch die Bettlerin, die neben dem Torbogen saß, wie eine der alten Bäuerinnen, die auf der Bank vor der Türe ruhen, weil sie keine Arbeit, nichts mehr zu schaffen haben, und er scheute sich auch, ihr ein Almosen zu geben, ja, es fehlte gar nicht viel, und er hätte den Hut gezogen, als er in den dunklen Torweg hineinging, der, zur Hälfte für Geschäftszwecke verbaut, unverhältnismäßig schmal war.

Auch die Wände des Torweges waren voller Firmentafeln und nicht minder der Treppenaufgang, über dem ein altes Schild die Aufschrift »I. Stiege« auf schwarzem Grunde zeigte. Hier war noch Geschäftsstraße, war es noch die in das Haus hineingekrochene Geschäftsstraße; und sicherlich kroch sie auch noch die ganze erste Stiege hinauf, bei jedem Treppenabsatz ihre Tafeln anhaftend. Ein Täuschungsmanöver, dachte der Besucher unwillig, ein Täuschungsmanöver, und er war nicht gewillt, sich täuschen zu lassen, würdigte den Aufgang keines Blickes und trat aus dem Torweg in den Hof. Der lag dunkel und wie ein tiefer Brunnen innerhalb des Mauergevierts, und aus den geöffneten Fenstern der Stockwerke klapperten geschwätzige Schreibmaschinen. Nein, das war noch nicht das, was er suchte, und fast wäre er umgekehrt, wenn nicht die stille Werkstätte für Schreibmaschinenreparaturen in dem Hofe gewesen wäre. Daß dieser Reparaturmeister mit seinen Gesellen hier seiner gemäßigten Arbeit nachging, daß er sein Schild, unbeweglich und steif eine Schreibmaschine darstellend, heraushängte wie einstmals der Schuster einen Schuh, der Schneider eine Schere, daß daneben die Buchbinderwerkstätte ruhig und dunkel ihre Tür geöffnet hielt, all dies vergrößerte ein wenig die tatsächliche Entfernung von der Geschäftsstraße, gewiß nicht um vieles, etwa bloß um einige Millimeter oder noch um ein Geringeres, dennoch genügend, daß die Tafel »Zur II. Stiege« neben der zweiten Durchfahrt an der Rückseite des Hofes zu einer leisen Verlockung ihm werden konnte. Er überwand die Scheu vor dem Geklapper und durcheilte leichthin den Hof, denn lockender noch als die Tafel schien es, daß jene zweite Durchfahrt schräg in eine dunkle, kellerige und eine gelbe sonnige Hälfte geteilt war, so daß unzweifelhaft dahinter noch ein Hof liegen mußte, in den die Sonne ungehindert ihre Strahlen sendete. Fast fürchtend, er könne sich irren, war er voller Begier hinausgetreten in die durchsonnte Landschaft und war im Vorhinein entschlossen, auch die zweite Stiege nicht zu benützen, überzeugt, daß er dort bloß die stets versperrten, mit Eisen beschlagenen rückwärtigen Ausgänge der Büros finden würde. Auch hätte er die Glastür kaum bemerkt, die von dem Torweg zur Stiege führte, aber durch ihr zitterndes Klappern zog sie seine Blicke auf sich. Es war eine gewöhnliche Glastür, ihre Scheiben waren durch Gitter aus braungestrichenen Drahtbögen geschützt, und das Glas klirrte ein wenig. Das Klirren rührte von einem unausgesetzten leichten Klappen der Tür her, und die Schattengrenze, die zwischen dem dunklen und dem durchsonnten Teil der Durchfahrt über die Tür lief, zitterte mit. Das war wie eine Sonnenuhr, aber eine, die ungenau geht, und weil sich dies jeder Ordnung widersetzte, schien es auch wie ein Versprechen, daß das Gefüge steinerner Ordnung, eiserner Starrheit still auseinanderfallen könne, still wie der neue Hof nun war, an dessen Rande er stand und der durchsonnt und warm vor ihm lag. Das Klappern der Schreibmaschinen war verstummt, war zu einem fernen Summen in der stillen Luft verblaßt. Daß die Sonne hier so freien Zutritt hatte, das war nun allerdings merkwürdig und rührte davon her, daß der große Hof an der Längsseite nicht durch einen Gebäudetrakt, sondern bloß durch eine hohe Mauer abgeschlossen war. Natürlich warf auch diese Mauer ihren Schatten in den Hof, doch da die Mittagsstunde heranrückte, war dieser Schatten nur schmal und außerdem dadurch gemildert, ja gemildert konnte man sagen, daß er nicht auf Pflaster fiel, sondern daß eben dort neben der Mauer wie ein Schlitz in der Steinhaut des Bodens ein ungepflasterter Streifen sich hinzog. Vielleicht hatte man einmal den Versuch gemacht, hier Spalierobst zu ziehen, und es war wegen der Schattenlage nicht gelungen, vielleicht aber hatte man nur Rasen gesät gehabt, und es waren Ruhebänke dazwischen gestanden. Davon war allerdings nichts mehr zu sehen, bloß die graue Erde mit hineingetretenem Kies, kleine, mühsam zusammengescharrte Sandhäufchen, wie von Kinderspielen übrig geblieben, und auch Hundeunrat. Theoretisch war dies ihm sozusagen verständlich, denn Hunde lieben zu solchem Geschäft den natürlich gewachsenen Boden und verabscheuen das Pflaster, als könnten sie auf diese Weise ihrer Sehnsucht nach dem Lande und nach der einstigen Freiheit Ausdruck verleihen, aber daß es in diesem kommerziellen Hause überhaupt Kinder und Hunde geben sollte, das war beunruhigend, und es war auch eine Hoffnung dabei, die in einem zwar losen, dennoch deutlichem Zusammenhang mit seiner eigenen Erwartung stand, es werde sich die festgefügte Stadt hier ins Landschaftliche und Dörfliche öffnen. Gerne nahm er's für ein Omen, daß es ihn zur Mittagsstunde hierher verschlagen hatte, denn auch die Dorfstraße liegt so still und leer unter der heißen Sonne wie dieser Hof zu solcher Mittagsstunde, in der die Familien, soweit sie nicht auf dem Felde draußen sind, sich um den Tisch versammelt haben, während die Hunde, den Bissen erwartend, daneben sitzen, schläfrig nach Fliegen schnappen oder mit zuckend gerunzeltem Fell tatsächlich einschlafen; und manche sind räudig. Nicht gerade, weil er sich für noch nicht würdig hielt, den beschatteten Kiesstreifen längs der Mauer zu betreten, sondern, so wenigstens meinte er, weil er über die Mauer schauen wollte, hielt er sich an der gegenüberliegenden Seite neben der glühenden Hauswand. Die Wand hatte im Erdgeschoß keine Öffnungen, denn wo einst Türen und Fenster gewesen, da waren sie zugemauert worden, und es mußte wohl ein Magazin dahinter liegen, das vielleicht zur Buchbinderei des ersten Hofes gehörte. Einmal blieb er stehen, streckte den Hals und stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, um etwas von dem zu erhaschen, was hinter der Mauer lag. Er konnte nicht viel erspähen, doch war es kaum glaublich, daß solch großer freier Raum sich im Rücken der Geschäftshäuser befinden sollte, wenn es auch wohl so sein mußte, da erst in weiter Ferne Gebäude und auch die bloß mit ihren oberen Stockwerken und Dächern auszunehmen waren. Mitten in dem freien, luftigen Raum aber ragte ein roter Fabrikschlot wie ein blutiger Schnitt in der weißblauen Fläche, und horchte man scharf hin, so hörte man auch eine Dampfmaschine arbeiten. Wahrscheinlich haben die großen Geschäftshäuser hier inmitten ehemaliger Gärten ihre Kraft- und Heizzentrale, und er beneidete ein wenig die Maschinisten, die jetzt zur Mittagszeit vor dem Maschinenbaus sitzen, mit ölig riechenden Händen die Zigarette zum Mund führen und ihre Maschine, die kaum einer Wartung bedarf, ruhig laufen lassen. Während er dies noch bedachte, hatte er den Hof durchschritten. Doch nun gab es keinen Torbogen mehr, sondern nur noch eine Glastür gleich jener vor der zweiten Stiege, und da er eintrat, war es keine Durchfahrt mehr, sondern ein verhältnismäßig schmaler Gang, der – als hätte der Baumeister die fortgesetzte Verkleinerung aller Maße betonen wollen – mit einer noch geringeren, nur mehr einflügeligen Glastür endigte, einer Privattür fast, denn vor ihren blinden Scheiben fehlten sogar die Drahtstäbe.

Es galt sich zu entscheiden. Rechts führte die Stiege hinauf, und sozusagen probeweise, als wollte er ihre Tragfähigkeit prüfen, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Aber er konnte nicht umhin, dabei immer noch zu jener kleinen Tür hinzusehen, die nun zu seiner Linken lag, denn fast schien es, als wäre von dort her entscheidendere Verlockung zu erwarten. Eine weiße Mauer, von der Sonne grell beleuchtet, zeigte sich hinter den schmutzigen Scheiben, blendete. Sollte dort wieder ein Hof sein, dann noch immer einer und immer so fort, einer an den andern sich fügend, eine Stadt von Höfen? Jählings wurde das Horizontale ihm widerwärtig; es war, als ob im Horizontalen das Gefüge aller Angst läge, wie ein Labyrinth. Man mußte einmal den Entschluß fassen, emporzusteigen, und von der Tür sich abwendend, sagte er: »Ich will sie links liegen lassen.« Dieses sagte er ganz laut vor sich hin, und indem er es wiederholte, freute er sich, daß der abgegriffene Ausdruck plötzlich einen so handgreiflichen und deutlichen Sinn erhalten hatte. Ja, so freut man sich, wenn man unter alten Sachen mit einem Male etwas Brauchbares findet. Er hatte die Tür links liegen lassen und war auf die zweite Stufe getreten. Doch er konnte sich trotzdem nicht so leicht trennen, und weil er vielleicht immer ein wenig zu nachsichtig gegen sich gewesen war, gab er auch diesmal nach, drehte den Kopf, bückte sich sogar, um nochmals das Bild hinter den Scheiben zu erhaschen. Und in dieser schrägen Blickrichtung ließ sich nun feststellen, daß es ein kleiner Hof war, der sich dort befand, eigentlich kein Hof, sondern ein kleiner Garten, zur Hälfte beschattet von etwas, das man nicht wahrnehmen konnte, das aber wohl eine Holzplanke sein mochte, ein Garten, in dem ein Lusthaus stand, dessen Holz durch Wetter und Sonne grau geworden war, so grau wie der Misthaufen, der an die Wand angeschüttet war und vor dem man neben allerlei Grünem auch Fuchsien in den Boden eingesetzt hatte. Neben den Fuchsien staken Holzgitter in dem Boden, unten schmale, oben verbreiterte Gitter aus Holzstäbchen, an denen sich die Fuchsien ranken sollten, und trügt es ihn nicht, so summten Wespen um das Holz des Lusthauses. War es nicht ihr Summen gewesen, das er für das verebbende Klappern der Schreibmaschinen gehalten hatte? Hier hinter der Privattür schwärmten sie wie Wächter, damit niemand in den Privatgarten eindringe. Oder ist das Geklapper über dem Labyrinth der Stadt nicht wie das Summen des Ungeziefers über dem Misthaufen? Klappern des aussätzigen Wächters, der den Wanderer verscheucht und ihn auf Zickzackwege zwingt. Also war es gewissermaßen eine Überlistung, daß er hinaufstieg, daß er die Wächter sozusagen übersprang; und unter solchen Gedanken beschleunigte er seinen Schritt, stieg er die Treppe hinauf, sah in jedem Stockwerk den langen Gang, der beiderseitig der Stiege sich dehnte und in dem sich die hellbraunen Türen und vergitterten Küchenfenster reihten, horchte, ob aus den Räumen, die hinter den Türen lagen, Geräusche kämen. Aber es war kaum etwas zu hören, und wenn es irgendwo leise raschelte, so mochten es auch Mäuse sein oder gar Ratten. Freilich ließ sich die Stille mit dem Mittagsschlaf erklären, in den zu dieser Zeit Mensch und Tier verfallt, umschwärmt von Wespen und Fliegen, aber so weit mußte man gar nicht denken, denn eher war es anzunehmen, daß man diese Wohnungen zu Hinterräumen der großen Büros degradiert hatte, wenig benützte Hinterräume wohl, die man, vorsorgend für eine künftige Ausbreitung des Geschäfts, bloß ihrer Billigkeit wegen mitgemietet hatte und in die sich nur hie und da ein Diener verirrt. Dazu allerdings mochte es nicht stimmen, daß vor der Wasserleitung im zweiten Stock eine große Lache auf den gelben, zersprungenen Steinfliesen des Ganges glänzte und daß auch der Hahn noch tropfte. Aber dafür würde sich schon noch eine natürliche Erklärung finden lassen, und es wäre lächerlich, deshalb eine verbrecherische Kombination zu mutmaßen. Vielmehr machte ihm der Anblick Durst, und er ging zu dem Wasserhahn, um sich wie ein Bergsteiger, der zu einer Quelle gelangt ist, darüber zu beugen oder aus der hohlen Hand zu trinken. Da jedoch wurde ihm offenbar, daß der Hahn ohne einen zugehörigen Schlüssel sich nicht öffnen ließ, und die Aufschrift »Wasser sparen« belehrte ihn, warum ihm das Wasser verwehrt war. Er mußte sich begnügen, die Hand unter den tropfenden Hahn zu halten; er tat es erst mit der einen Hand, und als er auch die zweite darunter hielt und die Tropfen einen angenehmen feuchten Streifen darauf abzeichneten, war es fast, als würde er sich eine unberechtigte und vielleicht sogar diebische Lust verschaffen, obwohl doch nicht er es gewesen war, der wider die Vorschrift den Hahn so unsorgfältig geschlossen hatte. Unberechtigt aber blieb es, daß er hier so lange verweilte, an die Mauer sich lehnte und müßige Beobachtungen anstellte, zum Beispiel, daß die Türen hier keineswegs so zitterten, wie die Türen in den obersten Stockwerken der Großstadthäuser infolge des gewichtigen Straßenverkehrs es sonst zu tun pflegen. Er erinnerte sich, daß die Glastür in der zweiten Durchfahrt, jene, über der die Tafel »II. Stiege« sich befand, leise und unaufhörlich geschlagen hatte, während diese Türen hier wie festgewachsen waren in ihren Mauern, festgekeilt, und man empfand es kaum als störend, daß da Holzbestandteile zwischen Ziegeln saßen. Diese Sicherheit der Erde gab ihm neuen Mut, und wenn es ihn auch sehr gelüstete, einen Blick aus dem Gangfenster zu werfen, so vergönnte er es sich noch nicht, sondern stieg weiter. Er mußte wohl schon ins vierte Stockwerk gelangt sein, als er oben eine Tür gehen hörte. Weniger als über die Anwesenheit von Menschen erschrak er über die nicht enden wollende Höhe dieses Hauses, aber da er es vorzog, selber zu suchen, denn herumirrend und lauschend ertappt zu werden, eilte er nun über die ausgetretene Stiege die letzten Stockwerke hinauf, zwei, ja drei Stufen mit einem Schritt nehmend, so daß er recht atemlos oben anlangte und einer Frau geradezu in die Arme lief, die, einen Eimer Wasser in den Abtritt zu entleeren, eben den Gang überquerte.

Auf diesem obersten Stockwerk war der Gang sehr hell, »schmerzhaft hell«, dachte er; es waren die Fenster des Ganges weit geöffnet und die Luft, die mit der Sonne hereinflutete, so ruhig und doch so bewegt wie der Mittag über einem ruhenden Meer. Dazu gehörte wohl, daß die Frau bloß mit Rock und Hemd bekleidet war und daß ihre Beine nackt in Holzschuhen staken. Matrosen beim Deckwaschen, dachte er, da er sie mit ihrem Eimer vor sich sah. Sie sagte: »Wen wünschen Sie? – mein Großvater ist nicht zu Hause.« Ihre Haare hingen in einem losen Zopf über den Rücken und waren blond. Auch ihre Achselhaare waren sichtbar, waren buschiger als sonst bei Blondinen. Er antwortete: »Ich wußte nicht, daß hier auch Parteien wohnen.« »Ja«, antwortete sie, »wir wohnen hier.« Er schaute auf ihre Achselhaare und auf ihre Beine, die nackt in den Rock hineinragten, und sagte: »Sie wohnen hier sehr schön.« – »Es geht an«, antwortete sie, und wie zur Erklärung: »Ich bin Wäscherin«, und da er es offenbar nicht gleich verstand, fügte sie hinzu: »Die Waschküche ist auf dem Dachboden.« Das war gewissermaßen eine Befriedigung, und er begriff es auch, denn er sagte: »So hat man dieses Haus bis in seine letzten Möglichkeiten ausgenützt.« – »Das kann ich nicht ermessen«, entgegnete sie, »denn ich kümmere mich nicht um andere Leute.« – »Da tun Sie recht daran«, sagte er, »aber es muß doch mühsam sein, die schwere Wäsche auf diese Höhe zu befördern.« Sie lächelte: »O nein, wir haben eine sinnreiche Einrichtung«, und sie zeigte auf eine starke Winde, man könnte fast glauben eine Ankerwinde, die in einem massigen Holzgestell mit dick aufgewickeltem Seil auf dem Gang stand, »eine Einrichtung, die schon meine verstorbene Großmutter benützt hat: wir winden die Wäschepäcke durch das Fenster herauf und lassen sie auch hier wieder hinab.« Er erkundigte sich: »Werden durch diese Handhabung nicht die Fenster der unteren Stockwerke gefährdet?« – »Durchaus nicht«, antwortete sie, »denn an dem Wäschepack hängt ein dünnerer Strick und der Mann, welcher unten steht, hält ihn angespannt in der Hand. So können wir selbst bei stärkstem Sturm ungefährdet unsere Last auf- und niederlassen.« – »Das ist sehr praktisch«, sagte er. »Ja, sehr praktisch«, erwiderte sie, »und es erspart uns viele Wege. Wir kommen fast niemals in die Stadt.« Sie sagte »in die Stadt«, als ob sie auf dem Lande lebte, und dabei stand das Haus doch in der verkehrsreichsten Geschäftsstraße; aber es war ihm recht, als sie es sagte, und es gab ein sicheres und zielnahes Gefühl in irgendeiner Verbindung mit ihren Achselhaaren, die wie nach Heu aussahen. Um sie mit seinen Blicken nicht zu belästigen, wandte er sich der Winde und dem Fenster zu, durch welches die Transporte geleitet wurden. Da weitete sich vor ihm nun eine Aussicht, und dennoch überraschte sie ihn nicht; das Haus war in diesem Teil offensichtlich am höchsten gebaut. So unscheinbar und niedrig es an der Straßenfront war, so sicher und allmählich stieg es an, je weiter es sich in seine Höfe hinein erstreckte, und da diese Höfe eben sehr weit gedehnt waren, so mußte das Haus bei der beträchtlichen Länge des Grundstückes sogar bei mäßiger Steigung zu außerordentlicher Höhe anwachsen. Es ruhte solcherart wie ein richtiger langgestreckter Bergrücken, und dies ergab wohl das Gefühl außerordentlich großer Sicherheit und Natürlichkeit, da man nun auf seinem Gipfel stand. Er sagte: »Ich möchte gerne noch höher hinauf, in die Waschküche, auf den Dachboden.« – »Davon hätten Sie wenig Gewinn«, sagte sie, »denn wir haben heute die Wäsche gekocht, so daß alles voller Dampf ist.« – »Und auch der übrige Dachboden ist nicht betretbar?« – »Nein, auch der nicht; soweit er uns nämlich zugänglich ist, ist er mit Wäsche angefüllt, die an den Stricken dort hängt. Die Dachluken auf beiden Seiten sind geöffnet, und der durchziehende Wind leistet die Trocknungsarbeit. Hätten wir ein flaches Dach, wie dies bei den neuen Häusern der Fall ist, sagt mein Großvater, so würden wir an solchen Sonnentagen die Wäsche ausbreiten und sie bleichen lassen.« – »Gewiß könnten Sie dies«, entgegnete er, »aber der Rauch des Fabrikschlotes würde den Ruß auf das Linnen niederschlagen, und die ganze Arbeit wäre umsonst.« Sie machte ein erstauntes Gesicht: »Welchen Fabrikschlotes?« – »Nun«, sagte er, der schon am Fenster stand, und wollte die Hand ausstrecken, um hinzuweisen, aber da mußte er feststellen, daß weder von diesem Fenster aus, noch von sonst irgendeinem der Gangfenster, zu denen er eilte, der große Platz mit dem Maschinenhaus in der Mitte sichtbar war; das war immerhin eine Enttäuschung, da er bestimmt darauf gerechnet hatte, den Platz von der erreichten Höhe aus überblicken zu können. Hier schob sich das Stiegenhaus vor die Aussicht, dort ein anderer Gebäudeteil, und so war es nur verständlich, daß sie von dem Vorhandensein jenes Schlotes nichts wußte. »Sie scheinen wirklich selten in die Stadt zu kommen«, sagte er, und es fiel ihm auf, daß er schon ihre eigenen Worte verwendete, »denn sonst hätten Sie den Schlot doch bemerken müssen.« – »Selten genug; Theater und sonstige Vergnügungen kenne ich bloß vom Hörensagen.« Sie sagte dies freilich mit so wenig Bedauern, daß er nicht wagte, sie zu einem Theaterbesuch einzuladen, woran er während ihrer Rede einen Augenblick lang gedacht hatte. Um aber trotzdem seine Anteilnahme zu äußern, sagte er tröstend: »Dafür haben Sie es hier sehr schön«, und wies auf die Aussicht, die seine Blicke immer wieder anzog und die zwar auf der einen Seite vom Stiegenhaus abgeschnitten war, dennoch prächtig genug vor ihnen lag und sehr weit reichte. Und obwohl er nicht eigentlich überrascht war, fand er sich nur schwer zurecht, denn die sonst doch so sehr vertraute Stadt ergab von diesem Ausblick bloß in der weiten Ferne das bekannte Bild, dort erst bei den Bergen, die in dem goldenen Mittag verzitterten, den Feldern, die sich hell und glänzend an ihnen hinaufzogen, und den Dörfern draußen, die so still in den Hängen lagen, daß man ihre Stille herüber zu hören vermeinte: je näher aber der Blick zur Stadt fiel, desto unvertrauter wurde die Gegend, und wäre nicht der schwarze Strich der Ringbahn gewesen, der verschwand und wieder auftauchte, nicht das Gewirr der Schienen dort, wo der Hauptbahnhof liegen mußte, er hätte sich in die Fremde versetzt geglaubt, ja, hätte glauben mögen, die Stadt wäre nicht vorhanden oder zumindest so sehr beschnitten, daß sie nur mehr als Andeutung ihrer selbst da wäre. »Des Abends und am Morgen«, sagte sie, halb entschuldigend, halb vorwurfsvoll, »sieht man bei klarem Wetter auch die Schneeberge, jetzt allerdings zu dieser Mittagsstunde …« Er wurde zornig, weil sie ihm vorwarf, zur unrechten Stunde gekommen zu sein, und da nun auch zwei Wespen sich durchs Fenster hereinverirrten, fiel er ihr ins Wort: »Nun denn, ein andermal«, und mit einem Blick auf den Eimer, der noch immer neben ihr stand, »ich habe Sie ohnehin schon lange genug aufgehalten …« Sie merkte, daß er nach einer Anrede suchte und sagte: »Ich heiße Melitta.« – »Ein schöner Name«, sagte er und gleichsam sich vorstellend, obwohl dies für einen Herrn mit steifem grauen Hut vor einer einfachen Wäscherin nicht eben am Platz war: »Und ich heiße Andreas.« Sie wischte sich die Hand an ihrem Rock ab, gab sie ihm und sagte: »Sehr erfreut.« – »Darf ich Ihnen noch helfen?« sagte er und griff nach dem Eimer; aber sie kam ihm zuvor: »O, nein, das ist meine Arbeit«, und zum ersten Male lächelnd, hatte sie den Henkel schon gepackt, schwenkte den schweren Eimer wie übermütig ein wenig hin und her, so daß etwas von der schmutzigen Seifenbrühe auf dem gelben Steinboden verspritzte, und trug das Gefäß rasch zu dem Abtritt, dessen Türe sie offenstehen ließ, so daß man das gewichtige Ausgießen hörte und wie das Wasser in immer weitere und dunklere Tiefe verschäumte und verebbte. Andreas aber war indessen zu einem der Fenster getreten, unter welchen seiner Ansicht nach das Gärtchen mit den Wespen liegen mußte, und es erschien ihm durchaus richtig, daß gerade auf diesem Fenster ein Blumentopf voll alter verbrauchter Erde stand, in der, wie zur Wiederholung dessen, was er unten zu sehen hoffte, noch einige Stäbchen staken. Nun zeigte sich aber, daß die Lage des Gärtchens keineswegs so eindeutig bestimmt war, wie er geglaubt hatte; denn wenn auch die Mauer des Stiegenhauses die Lage einwandfrei angab, so hatte das Stiegenhaus in den unteren Stockwerken allerlei Anbauten, und er sah auf ein Gewirr verschiedener Dächer, die teils mit Ziegeln, teils mit häßlicher schwarzer Pappe, teils sogar auch noch mit Schindeln gedeckt waren; nun, so sehr er es auch bedauerte, nicht das finden zu können, was er suchte, so war es doch beruhigend, daß die Mauern nicht ungebrochen und steil bis zur tiefsten Tiefe abfielen und daß der Blumentopf, würde man ihn aus Unachtsamkeit jetzt hinabstoßen, nicht geradlinig wie Wasser, das in einen Schacht gegossen wird, hinabstürzen konnte, jemand zu erschlagen, sondern, daß er erst gefahrlos auf einem der Dächer zerschellen und verstäuben mußte. Und während Andreas noch die schwarzen Regenstreifen auf der Mauer betrachtete, sagte er: »Dies ist wohl eine der Fuchsien aus Ihrem Garten gewesen?« Sie setzte wieder ihr erstauntes Gesicht auf, und obwohl die Frage in ihren Augen schon genügt hätte, setzte sie eilig hinzu, als ob sie den Namen, den er ihr genannt hatte, nicht rasch genug verwenden könnte: »Aus welchem Garten, Herr Andreas?« Ich hätte ihr den Namen nicht gleich nennen dürfen, dachte er, aber da es nun einmal geschehen war und er ihn nicht zurückfordern konnte, sagte er: »Nun, von dem Garten neben der Stiege.« Sie überlegte angestrengt, ja, sie schloß sogar dazu ein wenig die Augen, und ihre glatte Stirne faltete sich zu Runzeln über der Nase, dann machte sie eine wegwerfende Bewegung: »Ach, das ist ein neuer Garten.« Das genügte zur Erklärung: aber es tat ihm trotzdem leid: »Ich dachte, es wäre ein Erholungsort für Sie … an Sommerabenden.« – »Nein«, sagte sie hart, »es ist ein neuer Garten.« Da es definitiv war, konnte er daran nichts ändern; er erkundigte sich daher bloß noch: »Und dieser Fuchsienstock?« Sie antwortete freundlich: »Er dient uns als Sonnenuhr; wenn der Schatten dieses Stäbchens auf die Steinritze des Bodens fallt, die der Großvater mit einem roten Farbstrich da versehen hat, ist es Mittag, und ebenso sehen Sie dort die Zeichen für die früheren und späteren Stunden. Es ist sehr sinnreich«, und mit etwas zutraulicher Koketterie setzte sie hinzu: »Nicht wahr, Herr Andreas?« Dabei bemerkte sie, daß der Eimer einen feuchten Kreis auf den Fliesen zurückgelassen hatte, eilte in die Küche und kehrte mit einem grauen Tuche zurück, mit dem sie niederkniete und die Flecken aufwischte. Wieder mußte er an Matrosen beim Deckwaschen denken, allerdings nur sehr flüchtig, denn auf allen Vieren, wie ein Tier, das seine Jungen säugen lassen will, so kniete sie, ihre Brüste lagen frei, und die helle glatt-zarte Haut der Brüste mit den blauschimmernden Adern war von jener goldenen Weiße, die den blonden Frauen eigentümlich ist. Aber obwohl sie nicht darauf acht hatte, tat er, als beschäftigte er sich nicht mit ihr, sondern mit den Zeichen auf dem Fußboden und sagte: »Wenn ich es richtig lesen kann, ist es jetzt ein Uhr vorbei. Meine Geschäfte rufen mich.« Sie war rasch aufgestanden und schien ein wenig bestürzt: »Sie wollen schon wieder gehen? Ich hätte Ihnen gewiß einen Imbiß anbieten müssen … oder vielleicht hätten Sie ruhen wollen. Der Großvater wird gewiß zürnen, wenn ich Sie so gehen lasse.« Er dankte. Bloß um einen Trunk Wasser wolle er bitten, und er wies auf die Wasserleitung, die, ohne Schlüssel nicht zugänglich, gleichfalls mit der Mahnung versehen war, mit dem Wasser zu sparen. »Das Wasser taugt hier in den oberen Stockwerken nicht viel«, sagte sie, »es ist lauwarm.« Das war nun wieder eine Enttäuschung, aber auch diese Enttäuschung war durch die Luft so sehr aufgelockert, war so leicht gemacht durch die Luft, die nun stärker und bewegter von all den geöffneten Fenstern her den Gang durchflutete, so sehr verfließend in dem Raum, der von den Bergen hereinzog und, in seinem Atem den Atmenden mitnehmend, wieder zurück sich dehnte, daß sogar der Durst vergangen war, als wäre er verfrüht gewesen, als wäre noch kein Recht vorhanden gewesen, zu dürsten. Und da sie eilfertig mit dem Hahnschlüssel kam und mit einem Glase, es war ein Seidelglas mit Henkel, und die Wasserleitung aufdrehte, das Wasser zischend rinnen ließ, damit es möglichst abkühle, hielt Andreas mit dem Hinweis auf die Tafel sie davon ab, das Wasser zu vergeuden, nippte bloß ein wenig von dem Trunke und auch dies nur, um sie nicht zu kränken. Doch wie er dann Abschied nehmen wollte, zögerte er wieder ein wenig, vielleicht weil die Last der Enttäuschungen doch zu groß geworden war, vielleicht weil er doch noch etwas erwartete. Er hätte gern seine Bitte, noch höher zu steigen, neuerdings vorgebracht, aber da dies so ausgesehen hätte, als hätte er ihren früheren Worten nicht geglaubt, sagte er bloß: »Ich gehe ungern den gleichen Weg zurück.« Sie dachte einige Sekunden nach, und dann sagte sie: »Bis zum ersten Stockwerk, oder wenn Sie es lieber so nennen wollen, bis zum Halbstock, kann es Ihnen, Herr Andreas, nicht erspart werden. Dort aber mögen Sie versuchen, bei der Tür, welche der Stiege gegenüber liegt, zu schellen. So weit ich unterrichtet bin, ist es die Tür Nummer 9. Öffnet man Ihnen, so gelangen Sie in die Lederhandlung des Herrn Zellhofer, und von dort aus werden Sie leicht auf die Straße finden. Ich weiß dies, weil mein Großvater dort das Leder für unsere Schuhe zu kaufen pflegt und mir oft erzählt hat, wie bequem es für ihn sei, den beschwerlichen Weg über die Gasse zu ersparen.« – »Ich danke Ihnen vielmals, Melitta«, sagte er, und daß er ihren Namen aussprach, war sein Dank und war gleichzeitig Flucht, denn da stand er auch schon auf den Stufen der Treppe, kaum daß er sich nochmals zum Abschied umgewandt hatte, und, als ob ihn etwas hinunterfegte, eilte er in großen Sprüngen über die Treppe, dennoch bemerkend, daß auf der alten Mauer an manchen Stellen unzüchtige Zeichnungen wie von Kinderhand hingemalt waren. Aber dies beschleunigte die Geschwindigkeit seines Laufes nur noch mehr. Die Schatten rückten vor, und er mußte in sein Büro gelangen.

Fast hatte er bei diesem eiligen Hinabstürzen das erste Stockwerk übersprungen, ja, als er dessen gewahr wurde, mußte er sich an das Stiegengeländer anklammern, um zum Stehen zu kommen und die Reihe der Türen zu betrachten. Ja, die Tür gegenüber der Treppe trug tatsächlich die Nummer 9, und er schellte. Er mußte es mehrmals tun, bis er Schritte hörte. Es war offenbar ein Diener, der den Kopf herausstreckte und fragte: »Warum benützen Sie nicht den regelmäßigen Eingang? Sind Sie vom Hause?« – »Ja«, log Andreas, obwohl es doch keine richtige Lüge mehr war; »wir pflegen das Leder für unsere Schuhe bei Ihnen zu kaufen.« Der Mann öffnete ihm daraufhin und ließ ihn eintreten. Nun konnte Andreas sehen, wie die Wohnung gestaltet war, in der Melitta oben wohnte, denn die Wohnungen in dem Haus waren, wie dies so üblich ist, in allen Stockwerken gleich gebaut. Der erste Raum, den er betrat, entsprach der Küche, dann kam er in einen zweiten Raum, der gleich der Küche auf den Gang hinaus ging, und dann rechtwinklig abbiegend gelangte man in zwei weitere, sehr tiefe Räume, deren Fenster auf einen anderen Hof oder vielleicht auf eine Straße schauten, unentscheidbar, da alle Läden geschlossen waren und alles dunkel und voll beizenden widrigen Gerbgeruchs, so daß man sich nur schwer vorstellen konnte, wie licht und luftig die gleichen Räume oben bei Melitta sein mußten. Ja, die Erinnerung daran verwischte sich geradezu, denn all diese Gelasse hier waren mit getrockneten Häuten und Lederfellen dicht behängt, so daß die elektrische Birne, die in jedem Räume mattgelb brannte, schlechte alte Birnen, die man von Rechts wegen schon längst hätte auswechseln sollen, von der vielen Ware fast ganz verdeckt wurden. Nun gelangten sie in einen schmalen Gang, auf dessen Mauer die Worte »Licht ausdrehen« mit ungelenker Hand geschrieben standen, und in einen neuen Raum, der auch wieder mit Leder vollgehängt war. »Wir sind wohl in einem der Anbauten«, sagte Andreas, aber der Diener in seiner braunen Leinenjacke und mit der grünen Schürze zuckte bloß die Achseln, als verstünde er die Frage nicht, drehte die Schalter ab, sagte »Vorsicht« und führte ihn zu einer Notstiege, die sie behutsam hinuntertappten. Damit waren sie aber noch keineswegs in den Verkaufsraum selber gelangt, sondern in ein neues Magazin, das vielleicht jenes war, dessen Fenster man vermauert hatte, denn soweit man in der Dunkelheit feststellen konnte, war es von beträchtlicher Länge, wenigstens schien die nächste Glühlampe hinter den Häuten in sehr großer Entfernung zu sein. Es war nächtlich kühl, und der scharfe Geruch all des Leders verhinderte es sicherlich, daß Wespen sich hier einnisteten. Ruhe der Nacht nach der Angst des Tages: Andreas war ermüdet und wollte sich auf eines der Gestelle setzen, die auf schrägen Beinen zum Zurichten des Leders herumstanden. Aber da sein Führer darauf keine Rücksicht nahm, sondern unbeirrt weiterschritt und die Lichtschalter an den Säulen im Vorbeigehen abdrehte, wäre er in die Gefahr gekommen, allein in dem dunklen Magazin und bei den Mäusen zurückzubleiben, wenn er sich der Ruhe hingegeben hätte, und wer weiß, ob er dann je wieder herausgefunden hätte, denn schon die Lichtschalter an den Säulen tastend zu suchen, hätte für einen Ortsunkundigen seine Schwierigkeiten gehabt. So setzte er sich bloß für einen Augenblick auf eines der Gestelle, eigentlich nur, weil er noch nie auf solch einem Gestell gesessen hatte und weil er nichts Unbekanntes hinter sich lassen wollte; dann eilte er dem Führer nach. Der hatte eine schwere Eisentür zur Seite geschoben, und nun war der Weg, der ohnehin so lang gewesen war, daß es unverständlich blieb, wie der Diener in verhältnismäßig kurzer Zeit auf Andreas' Klingeln hatte öffnen können, endlich zu Ende: vorbei an einem Glasverschlag, aus dem zögerndes Klappern einer Schreibmaschine klang, traten sie in das eigentliche Verkaufslokal des Herrn Zellhofer Hier zeigte sich allerdings, daß der Diener in Wirklichkeit kein Diener, sondern ein Verkäufer war, denn so mürrisch er bisher als Führer gewesen sein mochte, er setzte im Lokal sofort das gewinnende Lächeln des Verkäufers auf sein Gesicht und fragte Andreas: »Womit kann ich dem Herrn dienen? Mit prima Oberleder? Wir haben eine neue Sendung erhalten.« Nun war Andreas mit Schuhen wohlversorgt, und er pflegte auch fertige Schuhe zu kaufen, hätte also nicht gewußt, was mit dem Oberleder beginnen.

Aber er durfte einem Mann, der ihm auf einem so langen Weg Führer gewesen war, nicht die Enttäuschung bereiten, ohne Kauf wegzugehen. Der lockte ihn: »Wir haben ausgezeichnetes Sattelleder; unser Lager wird bald ausverkauft sein.« Andreas hätte ihm gerne gesägt, daß er doch selber die Lager gesehen hätte und daß von einem Ausverkauftsein keine Rede sein könne; aber da jener eine so scharfe Unterscheidung zwischen seiner Rolle als Führer und als Verkäufer machte, schien es auch Andreas unschicklich, das Vorherige mit dem Jetzigen zu vermischen, und angestrengt dachte er nach einem passenden Ledergegenstand, den er brauchen könnte. Er wollte von Tierhäuten und dem braunen Leder nichts wissen, und wenn es schon sein mußte, so sollte es eine helle Haut sein.

Er hatte auf den Tennisplätzen, die draußen vor der Stadt lagen, durchsonnt und voll leichter jugendlicher schattenfreier Luft, einen jungen Spieler gesehen und ihn beneidet, so daß der Wunsch in ihm aufgekeimt war, das Tennisspiel auf schattenfreiem Platz zu erlernen und gleich jenem einen chromledernen Gürtel zu tragen. Doch weil er es sich nicht eingestand, sagte er: »Ich möchte ein Chromlederfell kaufen, aus dem Spangenschuhe oder ein Handtäschchen für ein junges Mädchen einfachen Standes zu erzeugen wären.« Der Verkäufer entgegnete warnend: »Also kein Sattelleder? Sie werden es bedauern, mein Herr … das Lager wird bald geräumt sein, die Zeit wartet nicht … stündlich schmilzt es dahin … aber wie Sie wollen, mein Herr«, und brachte Chromleder herbei. Da lagen die weißbläulichen und hellgrauen, mattglänzenden Felle auf dem ungefügen Verkaufstisch, und Andreas konnte mit der Hand über ihre glatte und doch körnige Fläche streichen. Der Verkäufer sagte: »Beachten Sie die Geschmeidigkeit«, und nahm eine der Randzacken des Leders und zerknitterte sie vor Andreas' Augen; das Leder ließ sich die Manipulation weich und lautlos, ohne Knirschen und Knistern gefallen, und der Verkäufer, dem diese Nachgiebigkeit bekannt war, wiederholte den Vorgang an Andreas' Ohr. Dann glättete er die zerknitterte Stelle mit einem flachen Eisen, das er einer schweren Tischlade entnahm, und sagte: »Sie sehen, kein Bruch, keine Falte, keine Runzel … eine Ware, die noch niemanden enttäuscht hat. Prüfen Sie selber.« Und mit der Zudringlichkeit, die Verkäufern oft eigen ist, nahm er den Zeigefinger Andreas' und führte ihn über die geglättete Stelle. Nein, es war keine Enttäuschung, es war ein so glattes Gefühl wie jenes, das man verspürt, wenn man nach großem Durst sich mit frischem Wasser gelabt hat, und doch war es eine Enttäuschung, daß das Erwartete niemals in der erwarteten Form, sondern immer nur verwandelt und fremd seine Erfüllung findet. »Wir verkaufen die Chromlederfelle nach Dutzenden«, sagte der Verkäufer. – »Ich kann aber höchstens eines brauchen … und das kaum«, sagte Andreas. »Das kann man immer brauchen«, sagte der Verkäufer mit befehlender Stimme »solche Felle finden Sie nie mehr.«

Aber Andreas wurde nun hart; er hatte seinen guten Willen gezeigt, und wenn der andere den Bogen überspannte, so war das seine Sache. Er machte eine unwillige Bewegung und wandte sich zum Gehen.

Mit dem feinen Gefühl, das Verkäufer für geheime Regungen von Kunden besitzen, flehte nun der andere: »Nehmen Sie ein Vierteldutzend, ich mache Ihnen den Dutzendpreis, weil Sie zum Hause gehören.« – »Die Zeit rückt vor«, sagte Andreas, »Sie haben in diesem dunklen Gewölbe das Gefühl für Zeit verloren; Sie dürfen mich nicht aufhalten … ich nehme ein Stück und damit basta.« – »Schön, ein Stück«, sagte der Verkäufer, achselzuckend wiederholte er, als sei es etwas Unerhörtes, »ein Stück … ein Stück …, Sie verscherzen sich dabei den Rabatt …«, er schaute geradezu mitleidig drein und machte sich daran, das oberste Fell in ein Papier einzuschlagen. »Nicht doch«, sagte der Käufer, »ich will es auf mich nehmen, etwas zu verscherzen … aber dafür will ich mein Fell auch selber auswählen.« Und er nahm den ganzen Pack vom Verkaufstisch und trug ihn zu dem blinden Fenster. Dort wählte er auf gut Glück eines der Felle, es war milchgrau mit bläulichem Stich, und ließ es in Papier packen. Als es aber zum Zahlen ging, merkte er, daß er recht leichtsinnig gewesen war, denn der Preis, den der Verkäufer nannte, war ein hoher, und eigentlich mußte er jetzt ein paar Tage hungern, um seine Kasse in Ordnung zu halten. Aber er ließ es sich nicht anmerken und ging zur Tür, die ihm der Verkäufer mit einem »Beehren uns bald wieder« öffnete.

Draußen lag die Nachmittagssonne, und seine Augen schmerzten in dem Lichte. Er konnte sich nicht zurechtfinden. Erst als ein Trambahnwagen vorbeikam, merkte er an der Aufschrift, daß er sich in der W.-Straße befand, und wunderte sich, daß das Haus, das er eben verlassen hatte, bis in diesen immerhin entlegenen Stadtteil reichte. Aber es war nun die höchste Zeit, daß er in seine Kanzlei kam; er lief dem Trambahnwagen nach und erreichte ihn auch noch glücklich bei der Haltestelle.

Vorüberziehende Wolke

Novelle

Sonderbar, sagte ein Teil der Seele des Fräuleins zu einem andern Teil, sonderbar, wie lange der Mann braucht, um mir entgegen zu kommen.

Die Straße lag langgestreckt vor ihr. Ein Auto verschwand in der Ferne. Es war ein heller Frühsommermorgen. Die Bäume warfen gute gleichmäßige Schatten, die in der Nähe unruhig und sonnenfleckig waren, während sie schon in kurzer Entfernung zu einem dunklen Streif zusammenflossen und längs der Allee den Fahrdamm säumten. Weit hinaus war auf dem Gehsteig niemand zu sehen; bloß der Mann dort oben kam langsam die sanfte Neigung der Straße herunter, kam entgegen und brauchte so sonderbar lang dazu.

Das Fräulein ging zum Sonntagsgottesdienst in die Schloßkirche. Das Gebetbuch lag schräg in der behandschuhten Hand; sie trug es ein wenig gegen den Leib gepreßt, weil sie noch außerdem das Täschchen halten mußte. Das ergab ein züchtiges Bild, das das Fräulein mit unzähligen Kirchenbesucherinnen verband, nicht nur mit jenen, die sich jetzt gleichzeitig in alle anderen Gotteshäuser Mitteleuropas begaben, sondern auch mit allen jenen, die dies während vieler vorhergegangener Jahrhunderte getan hatten. Es war eine durchaus konservative Körperhaltung.

Wenn man die Straße bis zu dem sanften Gipfel emporgestiegen ist, dann endigt die schräge Linie der Häusersockel, dann werden Sockellinie und Fensterreihen beruhigend parallel, und man sieht in mäßiger Entfernung den Schloßplatz vor sich liegen, in den die Straße einmündet. Und das großherzogliche Schloß fangt den Blick in schöner barockaler Kulisse auf.

Da die Straße bloß von wenigen Querstraßen durchschnitten wurde, fiel es schwer, das wirkliche Tempo des entgegenkommenden Mannes abzuschätzen. Das war irgendwie unbehaglich, und das Fräulein überlegte, ob sie nicht auf die andere Straßenseite hinüberwechseln sollte. Aber da die ganze Überlegung nicht sehr deutlich war, ja, eigentlich schon wieder verschwand, als der Blick die dort drüben brennende Sonne bemerkte, so blieb das Fräulein auf ihrem Gehsteig und verkürzte bloß den Schritt, als müßte sie sich war es Angst oder Erwartung? – auf den Entgegenkommenden ebenso langsam zubewegen, wie dieser selber ihr nun zustrebte.

Es mag sein, daß die friedvolle Stille der sonntäglichen Avenue an und für sich schon langsame Bewegungen vorschrieb, selbst wenn es vielleicht auch nur eine scheinbare Ruhe war, denn in den oberen Luftschichten wurden die weißen Zirruswölkchen, verdichtet zu schmalen Bändern, mit ziemlicher Eile vorwärtsgetrieben, und so oft ein solcher Streif vor die Sonne kam, da gab es eine kurzwährende und gleichsam helle Verdunkelung des Tages, eine gleichsam jugendliche Trauer, auf die man zwar nicht achthatte, weil niemand gerne den wechselnden Bewölkungsverhältnissen einen Einfluß auf das eigene Leben zugesteht, die aber trotzdem, ein Sendbote größeren kosmischen Geschehens, in den Augen und in der menschlichen Seele haften bleibt.

Sicherlich haben sich nun auch schon andere Passanten auf dem Gehsteig gezeigt. Doch das Fräulein hatte nun einmal jenen langsamen Fremden im Auge, der vom Schloß herunterkam oder richtiger einherwandelte, und gerade dieses Wandeln brachte ihn mit dem Schlosse, brachte ihn mit der erwarteten barockalen Abschlußkulisse da droben in eine vorderhand noch nicht aufklärbare, in eine wahrscheinlich niemals zu klärende Beziehung. Nicht etwa, daß das Fräulein in der näherkommenden Gestalt einen der einstigen Hofbeamten vermutete oder einen der Offiziere, denen man vor dem Kriege, da sie selber noch ein Backfisch, oftmals und mit stets neu erwünschtem Vergnügen hier begegnet war: derartige Wünsche hatte das Fräulein, das freilich jugendlich aussah, aber auf Würde hielt, längst abgestreift, ja, so weit es anging, aus dem Gedächtnis getilgt und, überdies wußte sie, so weit sie sich erinnerte, daß alles, was damals mit dem Hofe zusammenhing, keineswegs einen bedächtigen, vielmehr einen forschen oder zumindest eleganten Eindruck erweckt hatte, – wahrlich, so verhielt es sich keineswegs, sondern es war viel eher so, als wären die ziehenden Zirruswölkchen Teile einer noch unsichtbaren Wolkenwand und als wäre das überaus bedächtige Näherkommen dieses Menschen eine Aussendung jener Bedächtigkeit, die in der weitausladenden Schloßfassade eingebaut ist.

Man muß wohl einer Stadt und ihrer Bauweise sehr verhaftet sein, wenn man solche Gedanken hegt. Ist dem aber so und ist man so sehr verhaftet, dann bilden solche Gedanken eine natürliche Atmosphäre und man bemerkt sie eigentlich gar nicht. Dem Fräulein, das seit Kindheitstagen in dieser Stadt gelebt hatte, war das Schloß aus vielerlei Gründen wert und wichtig. Gründe, von denen allerdings die architektonischen die nebensächlichste Rolle spielten, und sie wußte daher auch nicht, warum sie eigentlich enttäuscht war, als sie des Mannes endlich ansichtig wurde. Daß er gar nicht so langsam ging, als sie angenommen hatte, war dabei von geringster Bedeutung, vielmehr war es daran gelegen, daß der Mann ein derart unhöfisches, ja, beinahe proletarisches Aussehen besaß. Für jemanden, der auf sich hält und der sich auf dem Weg zur Schloßkirche befindet, für jemanden, der es tagtäglich bedauert, daß das alte Schloß der Großherzoge aus der Stille altererbten Privatbesitzes in die Öffentlichkeit eines Museums verwandelt worden ist und daß es heute jedermann erlaubt ist, die Schlafzimmer, in denen eine jahrhundertelange und verzweigte Reihe prinzlicher Kinder gezeugt und geboren wurde, nicht nur mit schmutzigen Stiefeln, sondern auch mit schmutzigen Gedanken an in Schränken verborgene und schmähliche Liebhaber zu betreten, für so jemanden, der m. e. W. die Verschwiegenheit des Boudoirs als eine der wichtigsten Institutionen des Weltgeschehens ansieht, kurzum für eine so geartete Dame ist es, gelinde gesagt, immerhin peinlich, die eigene Aufmerksamkeit auf einen Menschen konzentriert gehabt zu haben, der in seinem ganzen Wesen das Gegenteil solcher Lebensauffassung ausdrückt. Beinahe erstaunt und weil sie es nicht recht glauben wollte, wohl aber auch, weil sie von ihrer Jungmädchenzeit her die Gewohnheit beibehalten hatte, Männer auffordernd und prüfend anzusehen, ohne dabei sich selbst zu gefährden, hatte sich der Blick des Fräuleins auf das Gesicht des Entgegenkommenden geheftet, mehr sogar, er hatte sich stracks in dessen Augen gerichtet, und es war ein auffordernder und dennoch leerer Blick, der, sobald er erwidert wurde, sofort verschwamm, der sofort im Nichts versank, durch das Gesicht hindurchschaute in alle Fernen, die dahinter sich dehnen. Und in der Tat, nicht anders ging es diesmal vonstatten. Zwar war das Fräulein von dem leidenschaftlichen und eigentlich leidenden Ausdruck dieses gewöhnlichen Mannes betroffen, und für eine Sekunde hatte sie vergessen, den Blick ins Unpersönliche zu flüchten, indes sie bewerkstelligte es allsogleich, als ihr Staunen dem des andern begegnete: da war ihr Blick in gewohnter Weise blicklos geworden, und in unverwandter Gleichgültigkeit war sie auch schon vorübergeschritten.

Nun lag die Straße wirklich ganz leer vor ihr, und das war eine Art hoffnungslose Leerheit. Gewiß durfte man dies nicht überschätzen: schließlich war die Wegstrecke nur mehr kurz, und Schloßplatz wie Kirche waren bald erreicht. Nichtsdestoweniger blieb es hoffnungslos, und diese Hoffnungslosigkeit beschränkte sich keineswegs auf das kurze noch zurückzulegende Stückchen Weg, sie beschränkte sich keineswegs auf diesen Sommertag, sondern sie umfaßte das ganze Leben. Denn selbst angenommen, es käme neuerdings eine Gestalt entgegen, noch so langsam oder noch so rasch, es hätte das Fräulein wohl kaum mehr den Mut aufgebracht, neuerliches Interesse an solch entgegenkommender Gestalt zu nehmen, neuerlich sich solcher Enttäuschung auszusetzen. Das war gewiß kein Gelöbnis, obgleich in der Seele eines zur Züchtigkeit neigenden Mädchens bald etwas die Gestalt eines Gelöbnisses annimmt, aber ob nun so oder so, das Fräulein hatte, da sie nun weiterschritt, urplötzlich das Gefühl einer Treue gefühlt, von der sie nicht wußte, wem sie eigentlich galt. Das Erlebnis war durchaus unabgeschlossen, und das Fräulein fühlte sich nun überdies sehr benachteiligt, weil ein inneres und äußeres Gesetz es ihr verwehrt hatte, den Blick länger auf dem zur Antwort bereiten Gesicht ruhen zu lassen. Es stak eine tiefe Ungerechtigkeit in der Situation, in die sie da hineingeraten war, und auch eine arge Gefährlichkeit, denn, kein Zweifel, der Mann hinter ihrem Rücken würde nun stehen bleiben, ihr nachblicken und sodann folgen, während es ihr nicht erlaubt war, sich umzuwenden und zu vergewissern.

Durch Erziehung und Überzeugung daran gewöhnt, heroische Situationen zu ertragen, ging das Fräulein ruhigen Schrittes weiter, sie flüchtete nicht, und es wäre ja auch nutzlos gewesen, da der Unbekannte sie ohnehin einholen konnte. Sie hielt das Gebetbuch an den Leib gepreßt, nicht weil sie von dieser Berührung mit Gott eine besondere Kraft erwartete, wohl aber, weil der Druck in der Magengegend ihr Sicherheit verlieh und die furchtsame Unruhe in dieser Gegend besänftigte. Allein sie vernahm ganz deutlich, wie die Schritte des Mannes hinter ihr Halt machten, sie spürte seine Blicke im Rücken, und kurze Zeit hernach hörte sie auch, wie sein Schritt in gemessener Entfernung ihr nachfolgte. Fast war sie daran, noch langsamer zu gehen, denn nicht nur, daß ihr der Anstieg heute beschwerlicher als sonst fiel, es erschien ihr auch richtig, den Verfolger zu zwingen, daß er sie überhole. Aber da war sie auch schon auf der Höhe, die Linien der Häusersockeln und der Fensterreihen wurden parallel, und nicht weit vor ihr öffnete sich die Straße zum großen Oval des Schloßplatzes, in dessen Mitte das kurfürstliche Standbild zum scharfen Galopp gegen die Avenue ansetzte, gehindert bloß von den schweren Eisenketten, die in kleinerem Oval und von Steinbock zu Steinbock sich hinziehend, das Kunstwerk umgaben.

Links war der Platz von der Schloßkirche beschattet, und die Schatten der beiden Türme reichten bis über das Monument hinaus. Rechts dagegen befand sich das triumphale Portal, das zum Schloßgarten führte; seine reichen schmiedeeisernen Flügel standen offen, und man sah auf die sonnigen schnurgeraden Alleen, auf die vielerlei verrenkten Bildwerke aus Sandstein und auf die Wasserkünste. Eine Bonne schob eben einen Kinderwagen durch das Portal; einstens war dies verboten gewesen, Kinderwagen und ihr unanständiger Inhalt hatten in einer Zone höfischen Anstands nichts zu suchen, und für einen Augenblick vergaß das Fräulein, daß auch Herrschergeschlechter sich fortpflanzten: wer über den Menschen steht, darf mit dem Menschlichen nichts mehr zu tun haben, und je tiefer die Gesellschaftsklasse, desto üppiger dünkte dem Fräulein das Überwuchern häßlicher geschlechtlicher Triebe. Die Schichtung des Reinen über dem Unreinen war durch die Demokratisierung der Welt zerstört worden, und wenn das Fräulein sich auch all dies nicht zu Bewußtsein brachte, so war es ihr doch klar, daß in einem geordneten Staat eine Dame nicht von den beharrlichen Schritten eines untergeordneten Menschen hätte verfolgt werden dürfen. Einstens stand auch ein Doppelposten vor dem Schloß. Nichtsdestoweniger fühlte sich das Fräulein auf dem Schloßplatz geborgener; ein Photograph hatte seinen Apparat mit schwarzem Tuch vor dem Schloß aufgeschlagen, die Fremden erwartend, die sich mit dem Reiterstandbild zusammen abkonterfeien lassen wollten – ein spärlicher Ersatz für den militärischen Doppelposten; aber das Fräulein fühlte sich geborgen. Sie überquerte den Platz in gerader Linie auf die Kirchenstufen zu, überzeugt, daß der Verfolger es nicht wagen würde, seine schamlosen Absichten dieser weiträumigen Öffentlichkeit preiszugeben und daß er sich werde begnügen müssen, sie vom Rande des Platzes aus mit den Blicken zu verfolgen. Und tatsächlich, die Schritte hinter ihr verstummten, doch nach wie vor war es ihr untersagt, den Kopf zurückzuwenden und sich zu vergewissern: der Nacken schmerzte vor der Anstrengung, dem Gelüste zu widerstehen, und es brachte auch keine Erleichterung, als das Fräulein nach oben schaute, wo Gott wohnte und die Zirruswölkchen zogen. Dennoch war es ein kleiner Dank, weil die Gefahr vorüber war.

Wie sie jedoch in die Kirche eintrat und eben ihren Platz erreichen wollte, spürte sie wieder das Ziehen im Nacken, spürte, daß der Blick auf ihr brannte. Unschlüssig blieb sie stehen, es war ein Frevel an Gott, verunreinigt durch den Blick eines Gottlosen, gebannt von diesem Blick, dem sie sich nicht entziehen und den sie nicht vergessen konnte, der Andacht beizuwohnen. Der Raum war voller Menschen, sie war ohnehin zu spät gekommen, ein Entweichen war durchaus möglich. Das Fräulein schob sich langsam zwischen den Menschen vorwärts und zum Seitenschiff hin, wo auf den Steinfließen die Tritte, ging man auf den Zehenspitzen, weniger dröhnten als auf dem mit Brettern belegten Boden des Mittelschiffs. Dann schlich sie an den Pfeilern vorbei und gelangte zu dem Seitenausgang, der früher von den Fürstlichkeiten benützt worden war, drückte die mit Leder gepolsterte Pforte lautlos auf, und als sich diese mit einem leisen, ein wenig atemlosen Seufzen sanft hinter ihr schloß, da atmete auch sie sanft auf, und sie griff an ihren Nacken, sei es um dort etwas wegzuwischen, sei es um die schmerzende Stelle zu reiben. Sie befand sich in dem kleinen Hof zwischen der Kirche und dem Seitenflügel des Schlosses, und, welche Erlösung, hier war sie wirklich ganz allein. Eine Art Vorhalle ohne Dach, streng und festlich, lag der kleine Hof da mit seinem großen, so außerordentlich ebenen und gefügten Quaderpflaster, und der Sperling, der zögernd darauf herumhüpfte, hatte hier eigentlich nichts zu schaffen. Gäbe es eine Bank, so könnte man hier bleiben, obwohl der gedämpfte Choral, der jetzt aus der Kirche heraus klang, wie eine Mahnung war. Zögernd trat das Fräulein durch die nicht minder festliche, nicht minder strenge offene Doppelarkade, die auf den Schloßplatz hinausführt, und beinahe listig ließ sie die Augen um den Platz kreisen. Der Photograph war noch immer da, beim Monument stand ein offenbar fremdes Ehepaar, drüben gingen einige Frauen. Sonst niemand. Sie hatte also den Verfolger überlistet, sie hatte sogar Gott überlistet, da sie nun dorthin schaute, wohin sie vordem nicht schauen durfte, sie hatte einen Bogen geschlagen, um nach rückwärts schauen zu dürfen, und es war gelungen. Nein, jetzt war niemand mehr hinter ihr, obwohl der Nacken noch immer schmerzte, obwohl sie noch immer den Blick, den brennenden, im Nacken spürte, [und] als wollte sie sich ein für allemale schützen, als wollte sie die Gefahr aller Ungewißheit, aller Dunkelheit, die rückwärts liegt, für immer bannen, lehnt sie sich an den Pfeiler zwischen den beiden Torbogen, oder richtiger, sie nähert sich ihm soweit, daß sie die strahlende Kühle des beschatteten Mauerwerks im Rücken fühlt. Darf sie hier nicht lehnen und den schönen Platz betrachten? darf sie hier nicht lehnen an der Grenzscheide zwischen der Dunkelheit des schattigen Hofes hinter ihr und dem besonnten Platze, der vor ihr sich dehnt? darf sie dies nicht? viele Leute haben von hier oder daneben von den Kirchenstufen aus den Platz schon betrachtet, haben hinübergeschaut zu den Gärten, deren Alleen im Abhang des Hügels sich verlieren und nun kommt auch das Ehepaar vom Monument herüber: ihre Beine gehen nebeneinander, vier Beine, die zwei Körper und zwei Köpfe tragen; in der Hand des Mannes ist ein roter Bädeker. Der Apparat des Photographen steht auf drei Beinen, und das gekrümmte Bein des Pferdes auf dem Monument schlägt in die Luft, schlägt in den lichtblauen Himmel, der über den Gärten tief sich herniederwölbt, angesaugt von der Erde, die im Grenzenlosen sich verliert. Der amerikanische Ehemann schlag den Bädeker auf, jetzt blickt auch seine Frau hinein, blickt auf Buchstaben, an denen ihre Blicke sich treffen.

Das Fräulein steht an den Pfeiler gelehnt, und falls sich der Verfolger in dem kleinen Hof befinden sollte – er tut es aber nicht, oh, er tut es gewiß nicht – so kann er sie nicht sehen, der Pfeiler deckt sie vollständig. Aber nun läßt sie die Hand mit dem Gebetbuch sinken, und, weil sie ein wenig schwach sich fühlt, greift sie nach der Kante des Pfeilers, sie berührt die kühle Kante nur ein wenig, nur mit dem kleinen Finger und wohl auch ungeschickt, denn das Gebetbuch in seinem schwarzen Deckel klafft dabei auf, und wenn der Verfolger gute Augen hätte, er könnte mit seinem roten Blick nicht nur den Finger und das aufgeklappte Buch an der Pfeilerkante sehen, sondern auch die Buchstaben entziffern. Rasch zieht das Fräulein die Hand und das Buch zurück.

In dem Torbogen zwitschern Sperlinge. Das Ehepaar kommt näher; sie sind verheiratet und daher sozial gleichgestellt. Sie kommen, um den ovalen Platz zu betrachten und um des fürstlichen Erbauers zu gedenken; für sie ist Ordnung und sie haben soeben aus ihrem roten Buch erfahren, daß dies eine schöne Architektur sei. Der Verfolger in dem Hofe ist ein Mensch mindern Standes, und dennoch kann man ihm nicht enteilen, dennoch ist man hier gebannt an den Pfeiler gleich einer Bettlerin. Das Fräulein hat nun das Gebetbuch wieder an den Leib gepreßt, aber sie weiß zugleich, daß das Herz, gegen das sie das Buch preßt, die Worte nicht zu entziffern vermag, daß nichts als Buchstaben auf den weißen Seiten zwischen den schwarzen Deckeln stehen. Das Rund des Himmels spiegelt sich im Rund des Platzes, das Rund des Platzes spiegelt sich im Kreise um das Monument, der Gesang der Engel spiegelt sich im Gesang, der aus der Kirche heraustönt, und die Kirchenlieder sind in dem Buche an ihrem Herzen, aber man muß wissen, daß es so ist, man muß wissen, daß Gott im Fürsten sich spiegelt und der Fürst in dem Sterblichen, der den Platz überquert: weiß man es nicht, dann ist das Rund um das Monument niemals der Himmel, ist das Wort im Gebetbuch niemals der Gesang der Engel, dann dürfen die Kinderwagen durch das Portal des Parks geführt werden, und, schändlicherweise, es stört niemanden. Schwarz sind die Kinderwagen, so schwarz wie der tote Blick des schwarzen Photographenapparates, der alles im Bilde festhält, festhält, damit nicht eines in das andere stürze, damit Erde und Himmel geschieden bleiben, wie Gott am ersten Tage es befohlen hat.

Doch ist nicht jede Wolke schon Mittlerin zwischen Erde und Himmel? löst sie nicht die Erde auf, zieht sie nicht den Himmel herab, auf daß sein Rund sich dränge zwischen die Häuser und die Mauern der Plätze, sie zu sprengen, das sträfliche Rund der Nachahmung? Weiß sind die Mauern, weiß die Wolken, die dem schwarzen Gewölke voranfliegen, schwarz die Bücher und ihre Worte, doch rot und brennend ist der Blick, der herausbricht aus der Höhle der Dunkelheit, einsaugend das Ich immer weiter zurück durch das lärmende Tor des Todes, immer weiter zurück in die brennende Kälte der Finsternis. Es verschlingen sich die geraden Wege des Parkes, schlagen Bogen um Bogen, sie verschlingen sich zu einem unzüchtigen Knäuel, in dem alles gleich ist, und einander verschlingend, fressen sie einander auf, stets aufs neue einander gebärend. Da nützt kein Wachtposten, da nützt es nichts, daß ein rotes Buch das Brennende zu spiegeln trachtet, denn die Spiegelung des Großen im Kleinen ist aufgehoben, es ist das Schöne und die Schönheit aufgehoben, es jagen die Pferde der Monumente aus der Schönheit ihrer Erstarrung und sie fliegen davon, es ersticken die Lungen der Menschen in den Hallen der Kirche, kein Bild kann mehr festhalten, was geschieht, da das Geheimste nunmehr hervorbricht, sich über die öffentlichen Plätze zu ergießen. Und nicht achtend, daß der Verfolger sie nunmehr packen würde, ihre Arme nehmen und sie zurückreißen wird, zu sich und in seine Tiefe, breitet das Fräulein die Arme aus, ja sie greift nach rückwärts, und, angepreßt, angeklebt an den Pfeiler, der nun ihr einziger Halt ist, klammert sie sich an ohne Rücksicht darauf, daß sie ihren dunklen Mantel an der Mauer beschmutzte. Das Zwitschern der Sperlinge im Torbogen wird immer ärger, es ist zu einem pfeifenden Sausen angeschwollen, und es ist, als wäre aller Schatten von der Welt abgelöst worden, der Schatten weggeflogen, Welt, die nicht mehr Welt ist, in unerträglicher Nacktheit zurücklassend.

Doch das fremde Ehepaar, vierbeinig noch immer, war jetzt bei den Kirchenstufen angelangt, und, immer den entfalteten Plan des Bädekers in der Hand, schickten sich die beiden sogar an, in den Hof einzudringen. Vielleicht war es gleichgültig geworden, wenn dies nun geschähe und wenn die Menschen das Geheimnis und die Schande des siegenden Verfolgers dort entdeckten, es war wohl gleichgültig, denn es gab keinen Schatten mehr, und selbst der Hof, in dem jener stand und befahl, ein Mann niederer Herkunft, und doch in der Mitte des Hofes ragend wie ein Monument, selbst der Hof war jetzt des Schattens entblößt. Aber vielleicht auch, um den Verfolger zu schützen, vielleicht um mit ihm zu flüchten, ehe es zu spät sein würde, vielleicht, um ihn in einem Schrank zu verstecken, löste sich das Fräulein mit großer Anstrengung von der Mauer los und wandte sich dem Hofe zu.

Der lag schattig und leer da, so wie sie ihn verlassen hatte, und der Sperling saß noch immer auf den Fließen. Die Mauern umschlossen das Geviert, streng und kühl, gleichsam eine freundlich helle Verdunklung des Tages, und für einen Menschen niedern Standes oder einen Kommunisten war hier kein Raum. Das Fräulein wandte sich zum Schloßplatz zurück: der breitete sich vor der weit ausladenden Bedächtigkeit der Gebäude im schönen großen Oval und spiegelte, ein abgeschlossenes Erlebnis, das Rund und die friedvolle Stille des Himmels, die Schatten der Türme reichten jetzt nur mehr knapp bis zum kleinen Oval des Monuments, auf drei Beinen stand das Pferd des Kurfürsten in schöner Starrheit, auf drei Beinen stand das Stativ des Photographen, und von schwarzen schnurgeraden Schatten gesäumt, dehnten sich die Alleen des Parks den Hügel abwärts, überwölbt von der lichtblauen Kuppel, an der die Zirruswölkchen langsam dahinglitten, – Reinheit, die über alle Unreinheit geschichtet ist.

Aus der Kirche drang der Choral. – Und das Fräulein, erfüllt von Treue, durchschritt den kleinen Hof und betrat die Kirche durch die gleiche Türe, durch welche ehedem die großherzogliche Familie ihren Einzug in das Gotteshaus gehalten hatte und durch die sie, so Gott will, unablässig einziehen wird. Kein Teil der Seele des Fräuleins brauchte mehr mit einem andern zu sprechen, so einstimmig klangen die Teile ineinander, kaum daß das Fräulein, süßer Hoffnungslosigkeit voll, an sich selbst zu denken vermochte: es schlug das Gebetbuch auf.

Ein Abend Angst

Novelle

Unter dem gestreiften Sonnensegel, das auch jetzt bei Nacht ausgespannt ist, stehen die leichten Korbtische und die Korbstühle. Zwischen den Häuserreihen, durch die jungbelaubten Kronen der Alleen streicht der leise Nachtwind, man könnte meinen, der käme vom Meer. Aber es ist wohl nur das feuchte Pflaster; der Sprengwagen ist soeben durch die leere Straße gefahren. Ein paar Ecken weiter liegt der Boulevard, von dort hört man das Hupen der Autos.

Der junge Mann war vielleicht schon ein wenig angetrunken. Ohne Hut, ohne Weste ist er die Straße heruntergekommen; er hielt die Hände im Gürtel, damit der Rock weit aufklaffe und der Wind möglichst bis zum Rücken gelange: das war wie ein lau-kühles Bad.

Der Boden vor dem Café ist mit leicht stickig riechenden, braunen Kokosmatten belegt. Ein wenig unsicher wand sich der junge Mann zwischen den Korbstühlen hindurch, streifte da und dort einen Gast, lächelte entschuldigend und gelangte zu der offenstehenden Glastür.

Im Lokal war es womöglich noch kühler. Der junge Mann setzte sich auf die Lederbank, die unter der Spiegelreihe die Wände entlang lief, er setzte sich mit Bedacht der Türe gegenüber, damit er die kleinen Windstöße sozusagen aus erster Hand in die Lunge bekäme. Daß das Grammophon auf dem Bartisch gerade jetzt sein Spiel abbrach, ein paar Augenblicke lang zischte es noch kreiselnd und dann überließ es das Lokal seinen eigenen stillen Geräuschen – das war unangenehm boshaft, und der junge Mann schaute auf das blauweiße Schachbrett des Marmorfußbodens. Ein Glas dunkles Bier stand vor ihm, und die Bläschen des Schaumes dehnten sich und zerplatzten.

Am Nebentisch, gleichfalls auf der Lederbank, saß jemand. Es wurde ein Gespräch geführt. Aber der junge Mann war zu faul, den Kopf hinzuwenden. Es waren eine fast knabenhafte männliche Stimme und die Stimme einer Frau. Ein dickes und dunkles Mädchen muß das sein, dachte der junge Mann, guttural-mütterlich ist sie. Aber jetzt sah er absichtlich nicht hin.

Die männliche Stimme sagte:

»Wieviel Geld brauchst du?«

Als Antwort kam ein guttural dunkles Lachen.

»So sag mir doch, wieviel du brauchst.« (Stimme eines gereizten Knaben.)

Wieder das dunkle Lachen. Der junge Mann denkt: Jetzt hat sie nach seiner Hand gegriffen. Sodann hört er:

»Woher hast du denn soviel Geld? … und selbst wenn du's hättest, von dir nähme ich es nicht.«

Der junge Mann schaut auf den Marmorfußboden. Reste von Sägespänhäufchen sind noch sichtbar, sie verdichten sich um die Grundplatten der gußeisernen Tischfüße zu kleinen Dünen.

Nach einer Weile denkt der junge Mann: Wahrscheinlich ist ihr mit hundert Franken geholfen; ich habe noch zweihundert, ich könnte ihr also hundert geben.

Dabei hat er das Gespräch daneben verloren. Jetzt hört er wieder hin. Die Knabenstimme sagt:

»Ich liebe dich ja.«

»Eben deshalb darfst du nicht von Geld sprechen.«

Der junge Mann denkt: Beide schicken sie ihre Stimmen aus, aus ihrer beider Münder kommt der Atem mit der Stimme, über ihren Tisch hin fließen Atem, fließen die Stimmen zusammen, sie vermählen sich, das ist das Wesen eines Liebesduetts.

Und richtig hört er wiederum:

»Ich liebe dich ja.«

Ganz leise kommt es zurück:

»Oh, mein Kleiner.«

Jetzt küssen sie sich, denkt der junge Mann. Es ist gut, daß drüben kein Spiegel ist, sonst würde ich sie sehen.

»Noch einmal«, sagt die tiefe Stimme der Frau.

»Brauchst du das Ganze auf einmal? … in Raten könnte ich es schon aufbringen.«

»Lieber stürbe ich, als daß ich von dir Geld annähme.«

Hallo, denkt der junge Mann, das ist falsch; so spricht eine mütterliche Frau nicht, mit mir dürfte sie nicht so sprechen; sie will ihm das Geld doch wegnehmen. Und dann fiel ihm ein, daß man den Knaben vor dieser Frau schützen müsse. Aber weil er schon einiges getrunken hatte, vermochte er den Gedanken nicht weiter zu verfolgen; er hatte nun auch das Bier mit einem Zug geleert und fühlte sich ein wenig übel. Um die Magengegend fühlte er sich kalt, das Hemd klebte, und er holte tief Atem, um die vorherige Behaglichkeit wiederzugewinnen. Es wäre gut, eine mütterliche Frau an der Seite zu haben.

Wenn ich mich umbringe, dachte er plötzlich, so gehe ich mit gutem Beispiel voran und der Kleine ist von ihr befreit.

Hinter der Bar bewegte sich eine ältliche Person in einem nicht sehr reinen rosa Kleid. Wenn sie mit dem Kellner dort sprach, dann sah man ihr Profil und zwischen Ober- und Unterkiefer ergab sich ein Dreieck, das sich öffnete und schloß.

Ich bin froh, daß ich die Frau neben mir nicht sehen muß, dachte er, und dann halblaut sagte er unversehens:

»Man kann sich ruhig umbringen.«

Das hatte er gesagt, er war darüber selbst erschrocken, aber nun erwartete er, daß seine Stimme sich mit den Stimmen jener beiden verflechten werde, und er maß aus, an welchem Punkte der Luft vor ihm dies geschehen könnte, so etwa zwei Meter vor seinem Tisch mußten sich die Linien der Stimmen treffen. Jetzt wird es ein Trio, dachte er, und er horchte, wie sich die beiden dazu verhalten würden.

Aber sie hatten es wohl nicht beachtet, denn die Frau sagte halb spielerisch, halb ängstlich:

»Wenn er jetzt käme!«

»Er würde uns töten«, sagte die Knabenstimme, »aber er kommt nicht.« Die beiden reden Mist, dachte der junge Mann, jetzt ist mir wohler, ich will jetzt einen Schnaps, und als der herbeigerufene Kellner kam, sagte er etwas deutlicher als zuvor:

»Jetzt kommt er.«

Aber die beiden gaben wieder nicht darauf acht, obwohl sie es möglicherweise doch gehört hatten, denn nun sagte die Frau:

»Vielleicht wäre es doch besser, wegzugehen.«

»Ja«, sagte der junge Mann.

»Nein«, sagte daneben die Knabenstimme, »das wäre sinnlos … wir können ihn ebensowohl auf der Straße treffen.«

Dort stehen Polizisten, dachte der junge Mann, und laut setzte er hinzu:

»Und hier bin nur ich.«

Doch die Frau sagte:

»Auf der Straße kann man davonlaufen.«

Sie hat mich doch gehört, dachte der junge Mann, aber sie enttäuscht mich, eine mütterliche Frau läuft nicht davon. Jetzt habe ich wieder Durst, was könnte ich noch trinken? Milch? Kellner, noch ein Bock, wollte er sagen, aber es war, als müßte er seine Stimme aufsparen, und so wartete er vorderhand. Dagegen rief die Frau am Nebentisch den Kellner, und es war ein Beweis für die vollzogene Verflochtenheit der Stimmen, als sie nun verlangte:

»Eine heiße Milch.«

Ich sollte weggehen, sagte sich der junge Mann, ich werde immer tiefer in dieses Schicksal verflochten, es geht mich nicht an, ich bin allein, er aber wird uns alle töten.

Der Kellner hatte eine spiegelnde Glatze. Wenn er unbeschäftigt war, lehnte er an der Theke und die Kassiererin mit auf- und zuklappendem Gebiß sprach mit ihm. Es war gut, daß man nicht verstand, was ihre Stimmen redeten.

Knäuel der Stimmen, die sich ineinander verflechten, die einander verstehen und von denen doch eine jede allein bleibt.

Nun sagte die Knabenstimme am Nebentisch:

»Oh, wie ich dich liebe … wir werden uns immer verstehen.«

»Das ist meine Angelegenheit«, sagte der junge Mann, und er dachte: ich bin besoffen.

Die Frau aber hatte geantwortet:

»Wir lieben uns bis zum Tode.«

»Er wird schon kommen und schießen«, sagte der junge Mann und war sehr befriedigt, weil er den Reflex der Mittellampe auf der Glatze des Kellners entdeckt hatte.

»Ich werde dich schützen«, sagte es nebenan.

Das hätte nicht er, das hätte sie sagen müssen, dachte der junge Mann, so ein kleiner blonder Bursch kann niemanden schützen, ich werde ihm eine herunterhauen und zur Mutter nach Hause schicken; es ist lächerlich, so einen Jungen ermorden zu lassen.

»Wir werden uns an den Händen halten«, sagte nun die Frau.

Ein Mann war hereingekommen, ein etwas dicklicher Mann mit schwarzem Schnurrbart; ohne ins Lokal zu schauen, hatte er sich an die Bar gelehnt, die Zeitung aus der Tasche gezogen, und während sein Vermouth neben ihm stand, begann er zu lesen.

Der junge Mann dachte: sie sehen ihn nicht. Und laut sagte er:

»Jetzt ist er da.«

Und weil sich nichts rührte, und auch der Mann an der Bar sich nicht umdrehte, rief er überlaut:

»Kellner, noch ein Bock.«

Der Wind draußen war stärker geworden, die herabhängenden Zacken des Sonnendaches bewegten sich, und wer an den Korbtischen dort Zeitung las, mußte oftmals die Blätter mit einem kurzen, knisternden Schlag glätten.

Er hält die Zeitung verkehrt, dachte der junge Mann, aber das schien doch nicht zu stimmen, denn der Gast an der Theke unterhielt sich mit dem Fräulein offenbar über den Inhalt des Gelesenen; zumindest schlug er oftmals wie empört mit dem Handrücken und mit den Fingerknöcheln gegen eine bestimmte Stelle des Blattes.

Er liest schon seinen eigenen Prozeß, dachte der junge Mann, und er ist darüber empört. Es ist sein gutes Recht, sie zu töten, uns alle zu töten. Und der junge Mann starrte auf die Stelle, an der sich seine Stimme mit denen der beiden verflochten hatte, verflochten, um sich immer wieder dort zu verflechten.

»Wir sind hier«, sagte er schließlich.

»Wenn ich das Geld aufbringe«, sagte die Frau, »… er ist käuflich.«

»Ich werde zahlen«, sagte der junge Mann, »ich …« und er legte einen Hundertfrankenschein auf den Tisch.

Das Blut auf dem Marmorboden wird aufgewaschen und Sägespäne werden darüber gestreut werden.

»Ich will nicht, daß du Sorgen hast«, sagte die Knabenstimme, »ich …«

»Ich will zahlen«, sagte angeekelt der junge Mann, und starrte auf den Punkt der Verflechtung in der Luft. »Hier«, rief er, erwartend, daß der Mann an der Bar sich endlich umdrehen und einen Schrei des Erkennens ausstoßen werde, einen Schrei, der mit den anderen Stimmen an diesem Punkt sich treffen werde.

Doch nichts geschah. Sogar der Kellner kam nicht, der war draußen auf der Terrasse beschäftigt, seine weiße Schürze wurde von der auffrischenden Brise hin- und hergeweht. Der Mensch an der Bar aber sprach ungerührt mit dem Fräulein weiter, der er das Zeitungsblatt hinübergereicht hatte.

Die Frau am Nebentisch sagte:

»Ich mache mir keine Sorgen, aber meine Füße und Hände sind schwer, wenn er käme, ich wäre wie gelähmt …«

»Man kann nicht fortgehen …«, sagte der junge Mann.

»Wir wollen heute nicht mehr daran denken«, sagte die Knabenstimme.

»Es nützt nichts …«, erwiderte der junge Mann, und er fühlte, daß sein Gesicht blaß war und wie der Schweiß auf seiner Stirne stand.

»Oh, mein süßer Freund …«, sagte nun leise die Frau.

Der junge Mann nickte. Nun nimmt sie Abschied. Der Mensch an der Bar hat nun auch wirklich den Revolver hervorgezogen und zeigt dem Kellner, wie die Waffe funktionieren wird. Die Sache mit der Zeitung war also Vorbereitung gewesen, eine sehr richtige Vorbereitung, warum soll nicht alles einmal verkehrt ablaufen?

Um den Kellner abzulenken, rief der junge Mann:

»Noch ein Bock«, und dabei schwenkte er die Hundertfranknote, um sie dem Schützen zu zeigen. Aber der kehrte sich nicht daran, sondern schraubte an der Waffe weiter herum, um sie schußbereit zu machen.

Das Fräulein setzte eine Reihe Gläser auf den Bartisch, eine Kette von Gläsern, und immer, wenn sie eines hinstellte, klirrte es leise und klingend. Der Revolver knackte. Die Instrumente werden gestimmt, dachte der junge Mann, wenn alle Stimmen zusammenklingen, dann ist der Augenblick des Todes da.

»Schön ist heute die Nacht unter den Bäumen, unter den klingenden Sternen«, sagte die sanfte Stimme der Frau.

»Unter den klingenden Sternen des Todes«, sagte der junge Mann, und wußte nicht, ob er es gesagt hatte.

Die Knabenstimme aber sagte:

»In einer solchen Nacht könnte ich an deiner Brust sterben.«

»Ja«, sagte der junge Mann.

»Ja«, sagte die Frauenstimme ganz tief, »komm.«

Und nun bewegte sich der Mensch an der Bar, ganz ohne Eile und ganz langsam bewegte er sich. Er nahm erst das Zeitungsblatt aus den Händen der Kassiererin zurück, und nochmals schlug er bekräftigend auf die Stelle, die von seinem Prozeß berichtete. Hierauf wandte er sich langsam zum Lokal und sagte laut und deutlich:

»Die Exekution kann beginnen.«

Seine Stimme war weich und doch abgehackt. Sie trug bis zu dem Punkt der Verflechtung, bis zu diesem Punkt, auf den der junge Mann mit aller Anstrengung hinstarrte, und dort blieb sie hängen.

Der junge Mann aber sagte: »Nun ist die Kette geschlossen.«

Und wohl, weil es galt, die gebannten und gelähmten Blicke aller Anwesenden auf sich zu ziehen, hob der Mensch an der Bar mit großer runder Geste den Revolver, er hob ihn empor und dann verbarg er ihn hinter seinem Rücken. So kam er näher. Man hörte seinen Atem. Selbstverständlich ging er auf den Nebentisch los, ja das war selbstverständlich. Und weil nun der Augenblick der Katastrophe da war, weil die rücklaufende Zeit das Jetzt nun erreicht hatte, um an diesem Punkte des Todes zur Vergangenheit zu werden, da gestattete sich der junge Mann, den Traum aufzudecken, ehe er endgültig in ihn versinken sollte, und den daherkommenden Menschen verfolgend, blickte er zum Nebentisch.

Der Nebentisch war leer, das Paar war verschwunden. Und gleichzeitig begann das Grammophon, den »Père de la Victoire« zu spielen.

Der Kellner war dem Menschen gefolgt. Der junge Mann hielt ihm den Hundertfrankschein hin:

»Haben die Herrschaften, die hier saßen, gezahlt?«

Der Kellner sah ihn verständnislos an.

»Ich wollte nämlich auch für sie bezahlen.«

»Alles ist bezahlt, mein Herr«, sagte der Kellner.

Der Fremde sagte mit seiner weichen und eigentlich fettigen Stimme:

»Seien Sie doch nicht so ehrlich, mein Freund.«

Ich bin wirklich besoffen, dachte der junge Mann, zum Sterben besoffen.

Die Kassiererin begann nun die Gläserreihe zu reinigen. Sie nahm ein Glas nach dem andern, es klirrte klingend, und jedes Glas spiegelte die Lichter des Lokals. Doch der Wind draußen war abgeflaut.

Die Heimkehr

Erzählung

Vor der Reihe der Hoteldiener im Bahnhofsvestibül wurde er unschlüssig.

Er ging an ihnen vorbei und gab seine Koffer in der Gepäckaufbewahrung ab. Draußen regnete es. Ein dünner, beinahe zarter Sommerregen, und hauchdünn schien die Wolkendecke, die den Himmel unterwölbte. Drei Hotelomnibusse, zwei blaue und ein brauner, standen vor dem Bahnhof.

A., von der Fahrt ein wenig benommen, überquerte den körnig glänzenden Asphalt und befand sich am Rande einer Gartenanlage; ohne viel nachzudenken, wandte er sich nach links, dem Gehsteig folgend, der die Anlage säumte. Erst sah er bloß das feuchte Gras und die Sträucher zu seiner Rechten, oder besser, er roch sie, leicht hingegeben der plötzlichen Gelöstheit, die in der feuchten Luft flutete, und da die Äste eines Strauches über den eisernen Zaun ragten, griff er ins feuchte Gelaub und ließ es durch die Finger gleiten. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit gesammelt hatte, daß er sich orientieren konnte.

Hinter ihm also lag der Bahnhof und bildete die Basis eines Platzes, der, ein langgezogenes gleichschenkliges Dreieck, mit seiner Spitze zur eigentlichen Stadt hinwies, um wie ein Trichter den freilich jetzt nicht vorhandenen, zu anderen Tageszeiten aber vielleicht stattfindenden Verkehr in eine der Hauptstraßen dort einzugießen. Das stand mit dem feuchten Wetter in einem angenehmen und ruhigen Einklang, und der Ankömmling hätte sich ohne weiteres in einem stillen englischen Badeort wähnen können. Denn dieser Platz, den man zweifellos zur Zeit des Bahnbaues, sohin zwischen 1850 und 1860, angelegt hatte, trug – trotz aller unverkennbaren städtebaulichen Voraussicht – die Spuren jener strengen Grazie, die als ein letzter Nachklang des Empire es zuwege brachte, das neue technische Zeitalter mit den alten höfischen Aspekten spielerisch zu vermengen, weil die Herrschaft des einen noch nicht verklungen, die des andern noch nicht völlig in Kraft getreten war. Und so erweckte dieser Platz den Eindruck eines zwar kühlen, dennoch festlichen Vorraums, der Prächtigeres erwarten ließ. Beinahe gleichförmig und ausnahmslos zweistöckig gebaut, zeigten die beiden Häuserreihen an den Schenkeln des Dreiecks den unaufdringlichen, zurückhaltenden Stil jener Zeit, und da man die Rasenflächen der Gartenanlage wohlweislich in sanfter Mulde vertieft hatte, erhoben sich die Häuser wie am Ufer eines grünen Teiches, von diesem bloß durch die beiden Zufahrtsstraßen getrennt, deren still-aristokratisches Gepräge – nun waren auch die mit dem Zuge angekommenen Leute verschwunden – jetzt erst richtig in Erscheinung trat: ganz selten fuhr ein Auto vorüber, und schließlich kam gar eine Droschke einhergezackelt.

Zwei symmetrische s-förmige Fußwege durchschnitten das Dreieck der Gartenanlage. An ihrer Kreuzung stand ein Kiosk, überhöht von einer großen Uhr, die ihre drei Zifferblätter den drei Straßenseiten des Platzes zukehrte. Die Zeiger bewegten sich in Minutenspüngen; 17.11 konstatierte A. und verglich es mit seiner Armbanduhr; 17.11, Grenzscheide zwischen Nachmittag und Abend. Und plötzlich hatte er jede Lust verloren, mehr von dieser Stadt zu sehen. Was hinter diesem Bahnhofsplatz noch liegen mochte, das war gleichgültig geworden. Es war, als sei der Bahnhof bloß für diese dreieckige Siedlung gebaut, als würden die Züge bloß für deren Einwohner hier halten. Alles andere mußte mit Omnibussen weiterbefördert werden. Und A. hatte mit einem Male den starken Wunsch, zu jenen Einwohnern zu zählen.

Er betrachtete die Häuser. Es fand sich kein Hotel darunter, ja, nicht einmal Geschäftsläden gab es hier. Auch dies war in Ordnung. Wenn er nicht irrte, hatte er einen Gasthof gleich bei der Bahn bemerkt, aber der gehörte schon nicht mehr zum Platz, Fenster und Eingang waren der Bahn zugekehrt gewesen. Wollte man hier auf dem Platze wohnen, wollte man Fenster haben, die hinausschauen auf die grüne feuchtglänzende Fläche des Rasens, wollte man an diesen Ufern weilen, so hieß es auf jene Bequemlichkeit verzichten, mit der einem bei der Ankunft im Hotel die Sorge um das eigene Schicksal abgenommen wird. Vor allem mußte man wohl die beiden Häuserzeilen abgehen und suchen, ob nicht irgendwo ein Vermietungszettel heraushänge; das war sicherlich nicht bequem, doch A. hatte nun einmal, da er von der Reihe der Hoteldiener abgeschreckt worden war, auf Bequemlichkeiten verzichtet, und er mußte nun wohl oder übel die Konsequenzen daraus ziehen.

A. begab sich also auf die systematische Suche. Er ging bis zur Spitze der Anlage, warf einen schnellen Blick in die dort beginnende Hauptstraße und schritt dann langsam die linke Häuserzeile entlang dem Bahnhof zu, wobei er jedes Tor genau nach Vermietungsanzeigen musterte. An der Dreiecksbasis angelangt, benutzte er den dort ansetzenden s-förmigen Weg durch die Anlagen, kam wieder zur Spitze und nahm von hier aus die rechte Häuserzeile in Angriff, um sodann durch die Anlage hindurch neuerlich zur Spitze zurückzukehren. Dieses Spiel wiederholte er zweimal, konnte aber trotz solch doppelter Musterung keinen einzigen Zettel entdecken. Sollte er nochmals beginnen, ein drittes Mal sich vergewissern? Durfte er es bei zwei Malen bewenden lassen? Und irgendwie war es ihm recht, daß er nichts gefunden hatte, denn der Ekel vor fremden Wohnungen und berufsmäßigen Vermieterinnen war in ihm aufgestiegen, je mehr er sich mit diesen Häusern befaßt hatte, er sah sie mit Hausrat angefüllt, mit Betten und Waschgeschirr, das von fremden Ahnen ererbt worden war, er sah das Konglomerat von Lebensmechanismen – ja, Konglomerat war der richtige Ausdruck hiefür –, das Konglomerat, das in all den Zimmern aufgeteilt, dennoch eine Ganzheit, diese beiden Häuserzeilen ausfüllte und um das grüne Dreieck sich staute.

Indes waren die Uhrzeiger auf dem Kiosk beinahe bis sechs vorgerückt, und auf der rechten Seite des Platzes begannen die Fenster golden zu schimmern. Denn der Regen war versiegt, der Wolkenschleier zerrissen, und metallisch hell glänzte das Grün der Bäume und des Gesträuchs. Nun belebte sich auch der Platz, offenbar weil jetzt die Angestellten aus den Büros strömten und weil um diese Zeit wohl auch ein Zug vom Bahnhof abging: zumindest sah man eine Anzahl von Leuten bahnhofwärts dahineilen. Aber schon gab es auch einige, die, von der Frische des Grüns angelockt, sich auf den Bänken niederließen, obwohl diese noch ein wenig feucht waren.

Ohne daß ihm die plötzliche Veränderung, die der Platz durch die Überschwemmung mit menschlichen Lebewesen erfahren hatte, recht zu Bewußtsein kam, fühlte A. sich nun selber verändert. Denn so isoliert die Seele des Menschen auch sein mag und so wenig es sie eigentlich angeht, daß sie in einem Leib wohnt, der mit Magen und Gedärm ausgestattet ist, und so gleichgültig es ihr auch zu sein hätte, daß andere derartige Geschöpfe gleichfalls auf der Erde sich befinden und einen abgeschlossenen Platz bevölkern, sie wird doch – sobald sie eines solchen Lebewesens ansichtig wird – in eine unbezwingliche, gleichsam unterirdische Verbindung mit ihm gesetzt, sie verliert ihre Einheitlichkeit, wird gleichsam zerdehnt und deformiert, aufgespalten zwischen Trauer und Glück im Bewußtsein des Irdischen und des Todes. Und A., der auf diesem zwar von Menschenhand und in nicht allzu ferner Vergangenheit gebauten Platz eine Stunde so tiefer Verwirrung verbracht hatte, daß er, entrückt seinem sonstigen Sein, schier hatte vermeinen wollen, es werde niemals mehr ein Bett zu finden sein, darin seinen Leib auszustrecken, er, der schier vermeint hatte, eines solchen Bettes auch niemals mehr zu bedürfen, er ging stracks auf den Kiosk unter der dreigeteilten Uhr zu, betrachtete die dort ausgehängten und vom Regen ein wenig weich gewordenen illustrierten Zeitschriften und kaufte ein Exemplar des in dieser Stadt erscheinenden Kreisblattes. Und beim Wechseln des Geldes fragte er die Verkäuferin, ob hier in der Nähe denn sicherlich besorgten die Leute aus der Nachbarschaft ihre Zeitungen in diesem Kiosk – nicht ein passendes Zimmer zu vermieten wäre.

Das Mädchen im Innern des Kiosks dachte eine Weile nach und meinte dann, daß er wohl bei der Baronin W. nachfragen könne, die (sie streckte dabei den Arm über den Verkaufstisch und wies auf ein Haus an der Ostseite) dort ihre Wohnung habe und von dieser ein oder zwei überflüssig gewordene Zimmer abgeben wolle, vorausgesetzt natürlich, daß dies noch nicht geschehen sei.

A., den Blick auf das Haus und die funkelnden Fensterscheiben geheftet, wunderte sich, daß er nicht von allem Anfang an dort nachgefragt hatte. Das Haus gehörte zu jenen, die in der wohlausgewogenen Reihe durch einen Balkon oberhalb der Haustüre ausgezeichnet waren, und gleichsam in einem zweiten Grade der Auszeichnung war eben dieser Balkon durch Blumenschmuck am Fuße des Eisengeländers auffällig gemacht worden: die roten Pelargonien leuchteten im Einklang mit dem funkelnden Glas, als sei die Seele zu lauterer Freude geboren, ja mehr noch, ewig vorhanden seit jeher und für immerdar. Das war natürlich nur Fassade, das wußte auch A., und er wußte nicht minder, daß hinter der hellsten, man möchte wohl sagen, zeitlosesten Fassade sich dunkle Gelasse befinden, er wußte wohl, daß es keine Farbe gibt ohne Substanz, die sie trägt, aber in all dem Wissen strömte – es lockernd und auflösend – die Bläue der Luft und die beglückende Abwandlung des Regenbogens, der bruchstückweise nun über den Platz sich spannte, vieladerig strömte in ihm solche Transparenz, die Dunkelheit und Unermeßlichkeit des Weltenraumes dahinter ahnen lassend: Skala, die das Dunkle und Irdische, das Substantielle und Geschlossene verbindet mit dem geöffneten Licht des Himmels und trotzdem wieder zur Dunkelheit des Unermeßlichen zurückleitet. Vielleicht wußte dies auch das Mädchen im Kiosk, und wenn sie es nicht selber wußte, so wußte es doch ihre Hand, denn die vielgelenkige, vieladrige, vielknochige Fingerhand, sie wies noch immer auf das Haus hin, unsichtbar zum Hause hin verlängert, unsichtbar die Einheit zwischen der toten Architektonik dort und der lebendigen Hand, ein Hinüber- und Herüberstrahlen, in dem die leuchtenden Pelargonien gleich sanften Vermittlern schwammen. So war also A. von mancherlei verborgenen Strömen getragen, da er zu dem Hause hinüberschritt, sein Ziel im Auge, und so wie ein jeder der hier wandelnden Menschen sein eigenes Ziel im Auge hatte und ein jeder auf seinem eigenen Strom dahingetragen wird, so schritt er dahin in dem Gewebe der Ströme, er, ein nackter, vielknochiger, vieladriger, vielgelenkiger Mensch unter den mehrteiligen Kleidern, die auf ihm saßen.

Was zwischen den Stationen des Lebens liegt, wird zumeist vergessen. Doch während A. jetzt über die Straße schritt, den schütteren Strom der Leute, die zur Bahn eilten, durchquerend, da fiel ihm ein, daß er diesen Augenblick nie mehr vergessen und ihn zu jenen gesellen wolle, die er in der Stunde des Todes sich ins Gedächtnis rufen werde, ihn mit hinüberzunehmen in die Ewigkeit. Warum er eben diesen Augenblick auswählte, diesen fluktuierenden, kaum zu erhaschenden, anstatt eines erhabenen und festgefügten, das hätte er wohl nicht angeben können, denn die Leichtigkeit, mit der er die Straße überschritt, ein göttliches Überwandeln des erhabenen Regenbogens, diese Gelöstheit der Glieder, sie war zwar in sein Wissen gedrungen, drang aber nicht in die Überlegungen seines Bewußtseins, und hätte man ihn gefragt, woran er jetzt denke, er hätte wahrscheinlich von dem zu erwartenden Zimmerpreis gesprochen, oder er hätte versucht, sich des praktischen Zweckes zu entsinnen, um dessentwillen er in diese Stadt gekommen war. Aber das wäre ihm nicht gelungen, und nun schon gar nicht, denn es trat ihm aus dem Haustor eine Dame entgegen. Gleichsam wählend, welcher Strömung sie sich hingeben sollte, sah sie die Straßen hinauf und hinab. Oder war es etwa gar, weil sie den Gast erwartete, ihn einzuholen, ihn zu begrüßen? Und A. fand es natürlich, daß er sie nach der Baronin W. und dem vermietbaren Zimmer fragte.

Sie stutzte betroffen:

»Ja, meine Mutter …«, und dann fügte sie schroff hinzu: »aber wir vermieten jetzt nicht.«

Und ohne sich auf weiteres einzulassen, ja, ohne A. überhaupt zu bemerken, geschweige also seine Enttäuschung, verschwand sie wieder im Hause, als müßte sie zurückkehren, um die Wohnung vor dem Eindringling zu schützen.

Wäre dies vor einer Stunde geschehen, da noch der Regen herabgerieselt war, es wäre verständlich gewesen, jetzt aber fiel das Verhalten des Fräuleins – denn um ein Fräulein handelte es sich offenbar – in so aufdringlicher Weise aus dem gesamten Naturgeschehen, daß A. nicht daran glauben konnte. Entweder gab es noch verborgene Zusammenhänge innerhalb des Sichtbaren und Erfüllbaren, oder es mußte hier irgendein Irrtum, ein Beobachtungsfehler vorliegen. A. wagte sich in den Hausflur. Der war am andern Ende durch ein weißgestrichenes, verglastes Tor gegen einen Garten abgeschlossen, welcher in Hausbreite sich weit nach hinten erstreckte, weit genug, daß die weißen Bänke in seinem Hintergrund noch außerhalb der Schattengrenze sich befanden, von der Abendsonne berührt und feucht glänzend. Ein angenehmer Küchenduft, Zeichen der baldigen Abendmahlzeit, vermischte sich mit dem Geruch der weißgekalkten Wände im Stiegenhaus, und A. wußte auch, daß man bloß die Tür zum Garten öffnen mußte, damit der Geruch der abendfeuchten Erde und der Pflanzen gleichfalls hereinfließe. Das war alles so sehr in Ordnung, daß A. wieder voller Zuversicht wurde und kurzerhand die Treppe hinaufstieg.

Im ersten Stockwerk stand er vor einer ebenfalls weißgestrichenen Glastüre, und die trug den Namen des Freiherrn v. W. auf einer kleinen, sehr blanken Messingtafel. Die Messingbeschläge der Tür glänzten golden im Widerschein des Stiegenhausfensters, das auf den Garten führte, doch unter dem altmodischen messingnen Klingelzug war ein moderner elektrischer Druckknopf angebracht, und das störte die Einheitlichkeit. A. wartete ein wenig, und dann drückte er kurzentschlossen auf den Knopf.

Es dauerte ziemlich lange, bis geöffnet wurde. Eine alte Frau mit weißem Stubenmädchenhäubchen steckte den Kopf heraus.

»Ich komme wegen der Wohnung«, sagte A.

Das alte Stubenmädchen zog sich zurück. Nach ein paar Minuten erschien sie wieder und hieß ihn eintreten. A. fand sich in einem Vorraum, der mangels einer direkten Belichtung – es gab hiefür bloß die Eingangstüre und eine gegenüber befindliche, deren Glasscheiben mit Spitzenvorhängen dicht verhängt waren –, aber auch infolge der Überfüllung mit Möbeln einen unfreundlichen und düsteren Eindruck erweckte. Und daran änderte auch nichts, daß es nicht die üblichen Einrichtungsstücke eines Vorzimmers, sondern gute Stilmöbel waren, die man hier angehäuft hatte. Das bejahrte Stubenmädchen machte sich in einem Winkel zu schaffen, um den Wartenden zu bewachen. Dann wurde sie der Diskretion müde, sie blieb einfach stehen und gesenkten Kopfes ließ sie den matten Blick an dem Fremden haften.

Hier roch es dumpfig; der gute abendliche Küchengeruch hatte also in einer andern Wohnung seinen Ursprung gehabt. A., der sich den Plan der Wohnung zurechtgelegt hatte, schloß, daß die Glastüre zu dem großen Mittelraum des Hauses führen und daß zu diesem der große, mit Pelargonien geschmückte Balkon gehören müsse, und er war voller Ungeduld, eintreten zu dürfen.

Hinter der Glastüre wurde gesprochen; zwei gedämpfte höfliche Frauenstimmen:

»Bei den gedrückten Zimmerpreisen … ich begreife nicht, daß du noch immer an die Vermietung denkst.«

»Es ist immerhin ein Beitrag.«

»Wir werden es in Reparaturen wieder dransetzen.«

»Oh, wir wollen doch nicht so pessimistisch sein.«

»Und ein Fremder in der Wohnung … wenn es wenigstens eine Dame wäre. Man wird sich ständig geniert fühlen.«

»Vielleicht ist es gut, männlichen Schutz zu haben.«

Nun wurde ein Stuhl gerückt.

»Ja, wenn ich dich nicht überzeugen kann …«

»Mein Gott, ein Versuch, ich verstehe nicht, daß du dich so wehrst.«

»Bitte, ich werde ihn hereinrufen … aber ich gehe, ich will damit nichts zu schaffen haben. Du mußt mich entschuldigen.«

Das war in aller Höflichkeit und Ruhe gesagt, obwohl vielleicht eine Unterschwingung von Zorn darin klang. Dann wurden Schritte hörbar, es ging eine Tür, und durch den schmalen Korridor kommend, der wahrscheinlich auch die Verbindung zur Küche herstellte, erschien das Fräulein im Vorzimmer. Die Dunkelheit des Raumes verhinderte sie, den Fremden sogleich zu erkennen. Mit einem kurzen, gleichmütigen »Bitte« gab sie dem alten Stubenmädchen die Weisung, ihn eintreten zu lassen, doch bei der Ausgangstüre bemerkte sie, wen sie vor sich hatte. Sichtlich überrascht und empört, fand sie nichts zu sagen als:

»Ich begreife nicht.«

A. verneigte sich:

»Ich meinte, daß ein Mißverständnis vorläge.«

»Meine Mutter würde sich aufregen, wenn Sie jetzt weggingen, aber ich empfehle Ihnen dringend …« Sie wollte weiterreden, indes das alte Stubenmädchen war vorgestreckten, aufmerksamen Gesichtes nähergeschlichen, und so schwieg das Fräulein; bloß mit einer kleinen, beinahe bittenden und heimlichen Geste deutete sie an, A. möge sein Quartier doch anderwärts aufschlagen. Allein gerade diese heimliche Verbundenheit erweckte in A. neue Zuversicht, Zuversicht, daß eine verborgene Gesetzlichkeit die kleinen Störungen des Weltgeschehens, von denen er in der letzten Viertelstunde betroffen worden war, bereinigen werde. Und obgleich er doch gehört hatte, daß das Fräulein mit der Vermietungsangelegenheit nichts zu tun haben wollte, ja, vielleicht eben deshalb brachte er den Mut zu der Frage auf, ob sie an der Unterredung nicht teilzunehmen wünsche.

Sie überlegte auch tatsächlich ein wenig; dann sagte sie kalt: »Ich hoffe, daß dies nicht notwendig sein wird«, und ging hinaus, während die Alte die Glastüre zum Mittelraum öffnete.

A. hatte sich nicht getäuscht; es war ein großer dreifenstriger Raum, der sich nach dem Balkon hin öffnete, durchleuchtet von der untergehenden Sonne. Am Fuße der Eisenbalustrade draußen glühte das Rot der Pelargonien zwischen den starken Blättern; schwarz war die Erde in den grüngestrichenen Blumenkisten. Hierher hatte die Hand des Mädchens gezeigt, und es war wundersam, daß er, der damals neben dem Kiosk gestanden und die unsichtbare Linie hier herauf verfolgt hatte, nunmehr ans andere Ende der Linie geraten war, herübergetragen von etwas, das mit dem Leib und den Beinen des Leibes, die das besorgt hatten, eigentlich kaum mehr eine Verbindung hielt. Und daß die alte Dame, die in einem Lehnstuhl beim Fenster saß und deren Profil sich dunkel gegen das blendende Licht abzeichnete, nun ihrerseits die Hand ausstreckte, sie ihm zur Begrüßung zu reichen, das war eine jener Übereinstimmungen, die ihn immer mehr verstricken wollten und die doch beglückend waren.

»Sie haben also die freundliche Absicht, bei uns zu mieten«, sagte die Baronin W., als er ihr gegenüber Platz genommen hatte.

Ja, dies beabsichtige er. Im Grunde war er von ihrer Anwesenheit gestört: er war gezwungen, sich ihr zuzuwenden, während seine Blicke lieber von dem Raum Besitz ergriffen hätten, der ordentlich mit blankem Parkettboden und vielerlei Möbeln und vielerlei Gegenständen um ihn herum sich aufbaute. Durch die geöffnete Balkontüre wehte das gemäßigte Geräusch des Platzes; das Zwitschern der Vögel in den Baumkronen war vernehmlicher als alles andere.

»Wurden Sie an uns empfohlen? … meine Tochter ist einer Vermietung überhaupt abhold … wenn Sie aber an uns empfohlen wären …«

»Ich bin dem gnädigen Fräulein bereits begegnet«, wich A. aus.

»So?« es klang etwas beunruhigt, »haben Sie mit ihr gesprochen? … wir leben sehr zurückgezogen, ich möchte beinahe sagen einsam.«

»Ich hatte den Eindruck«, sagte A., »und will selbstverständlich nicht störend in Ihre Gewohnheiten eindringen.«

»Meine Tochter fürchtet für meine Ruhe … sie nimmt allzuviel Rücksicht auf mich, ich bin noch nicht so alt.«

Kein Mensch ist alt. Die Jahre waren über das Gesicht und den Körper der Baronin dahingegangen, zeitlos jedoch sprach ihr Ich: ich bin nicht alt. Und zeitlos bewahrt das Gedächtnis das Gewesene. Es senkte der Abend sich rasch herab, doch wie zeitlos stehen die Möbel und die Wände der Räume, es blühen und verwelken die Pelargonien, sie werden im Winter vom Balkon hereingetragen, Schlaf senkt sich auf den Menschen, der Mensch geht durch die Räume seiner Behausung, er tritt zu seinem Bette, er geht durch die Behausung seines Schlafes, doch unabänderlich lebt sein Ich von Schlaf zu Schlaf, getragen von den Strömen und Linien, die herüberreichen über den Platz und über die Anlage, im Seienden gebundene Linien, trotzdem hinausführend in das Firmament des Regenbogens.

Die Baronin sagte:

»Seit dem Tode meines Mannes leben wir einsam.«

Er erwiderte:

»Ihr Heim ist überaus friedlich, Frau Baronin.«

Sonderbarerweise schien die Baronin den Kopf zu schütteln. Aber vielleicht war es bloß das Wackeln eines Greisenkopfes. Denn ohne näher zu antworten, erhob sie sich mühselig, so daß A. schon glaubte, es sei die Unterredung damit beendet, doch da er sich anschickte, seinen Abschiedsgruß anzubringen, sagte sie:

»Sie könnten auf jeden Fall die Zimmer besichtigen.«

Und gestützt auf ihren schwarzen Stock schritt sie zur Türe, betätigte die neben dem Türstock befindliche Klingel, schritt voran ins Vorzimmer, wo sich das alte Stubenmädchen zu ihr gesellte, und durch den in das Vorzimmer mündenden dunklen Korridor geleiteten die beiden Frauen den Gast in ein dämmeriges Gemach, dessen dunkle Möbel schwarz von der weißen Wand sich abhoben. Und als hätte man den Gast erwartet, stand auf der geblümten Kretonnedecke des runden Mitteltisches eine Vase, gefüllt mit frischen Korn- und Mohnblumen.

»Meine Tochter sorgt stets für Blumen«, sagte die Baronin, und dann befahl sie: »Marie, öffne das Fenster.«

Die alte Marie tat es, und alle Milde des Hausgartens schlug mit einem Male herein.

»Es ist stets unser Gastzimmer gewesen«, sagte die Baronin, »und daneben ist der Schlafraum.«

Nicht anders als führte sie einen Bräutigam in die Kammer der Braut, so huschte die alte Marie jetzt in den Schlafraum, und mit einer beinahe listigen Bewegung der gichtischen Hand lud sie ein, doch einzudringen und das Bett zu begutachten, auf das sie jetzt hindeutete.

Die Baronin war im ersten Zimmer stehengeblieben und rief nun herein:

»Marie, ist der Schrank leer und hast du ihn gründlich gereinigt?«

»Ja, Frau Baronin, der Schrank ist leer und auch das Bett ist bereits frisch bezogen.« Und dabei öffnete sie den einen der beiden Schränke, strich mit der Hand über ein Fach, um sich selbst und A. zu überzeugen, daß alles spiegelblank sei. »Kein Stäubchen«, sagte sie, indem sie ihre Finger betrachtete.

»Du sollst auch das Schlafzimmer lüften.«

»Ich bin ohnehin schon dabei, Frau Baronin«, und Marie setzte das Gespräch fort: »Ich habe beide Krüge mit frischem Wasser gefüllt.«

»Ja«, sagte die Baronin, der es offenbar schwer fiel, ein Lob zu äußern, »das ist schon recht, aber du kannst es abends nochmals wechseln.«

»Abends bringe ich einen Krug warmen Wassers«, übertrumpfte sie die Dienerin.

A. war inzwischen an das Fenster getreten und atmete den Duft des Gartens. Noch dämmerte es, aber im Erdgeschoß hatte man bereits ein Zimmer erleuchtet, und der Lichtstreif fiel auf die Beete, er gab den Rosen und ihren vielfältigen Farben ein unwirkliches Aussehen, verwandelte die Blätter zu lackiertem Blech. Doch weiter hinten, dort wo die weißen Bänke standen, da waren die Farben noch die natürlichen des Tages, bloß stumpf geworden in der Dämmerung, und die zwei dichtgesetzten Nelkenreihen neigten sich auf matten, blaugrünen Stengeln über den Mittelweg des Gartens.

Indes bei aller Geborgenheit, die dem Garten entströmte, mit Sanftheit wurde A. von seinem ursprünglichen Vorhaben abgezogen, das fühlte er, und er machte einen schwachen Versuch zur Richtigstellung:

»Eigentlich habe ich auf ein Straßenzimmer reflektiert.«

»Die schöne Morgensonne hier«, sagte die alte Marie als Antwort, und als er zustimmend dazu lächelte, sagte sie leise, so daß die Baronin es nicht hören konnte, »jetzt haben wir einen Sohn.«

A. hätte gern darüber gelacht, aber er vermochte es nicht. Er ging ins erste Zimmer zurück, wo die Baronin, auf ihren Stock gestützt, noch immer stand. Und als wäre eine unterirdische Gedankenverbindung zwischen den beiden Frauen vorhanden, selbst da noch, wo sie voreinander etwas verbargen, fragte die Baronin:

»Wie alt sind Sie eigentlich, Herr A.?«

»Schon über dreißig, Frau Baronin.«

»Über dreißig«, wiederholte sie, »über dreißig, meine Tochter …« Sie sprach nicht weiter, sie war offenbar daran gewesen, das Alter der Tochter preiszugeben. Hingegen fuhr sie nach einer Weile fort: »Und welchen Beruf üben Sie aus?«

In einer Art verbissenen Übermuts, aber auch, um auszuprobieren, was alles einem Sohn im Elternhause erlaubt sei, was alles ihm verziehen werde, hätte A. gerne gelogen und sich als politischen Agenten ausgegeben. Doch warum den bereits errungenen Sieg wieder aufs Spiel setzen? Also sagte er, daß er Edelsteinhändler sei. Allerdings war auch dies noch gewagt genug. Denn wie leicht konnte die Baronin mutmaßen, daß er unter der Decke des Edelsteinhandels gefährliche Schiebergeschäfte betreibe oder gar, daß er sich mit Absichten auf ihren Familienschmuck hier eingeschlichen hätte.

Fürs erste freilich schien die Baronin nicht so weit zu denken. Sie verband mit dem Worte wohl überhaupt keinen Begriff, sie hatte die Miene des Menschen, der nicht recht gehört hat, und sah hilflos drein: »Edelsteinhändler?«

Marie, die nachgekommen war, bestätigte sogleich die Richtigkeit: »Ja, ja, Edelsteinhändler.« Aber ganz im Gegensatz zu ihrer Herrin sagte sie dies in einem ermunternden Ton, als sei da ein sehr ehrenvoller Beruf zum Vorschein gekommen, mit dem man sich ganz gut abfinden könne.

»Wir wollen das weitere drüben besprechen«, entschied schließlich die Baronin, der der Aufenthalt in dem Zimmer eines Edelsteinhändlers sichtlich unbehaglich wurde, und so begab sie sich mit A. in den großen Mittelraum zurück, während Marie in der Küche verschwand.

Als sie wieder einander gegenübersaßen, fragte die Baronin mit zögernder Stimme:

»Sie betätigen sich also als Juwelier, Herr A.?«

»Nein, Frau Baronin, als Edelsteinhändler, das ist etwas anderes.«

Vielleicht war es das Wort »Händler«, das die Baronin störte, vielleicht war sie an Gemüsehändler, an Kohlenhändler und an sonstige kleine Leute gemahnt, wahrscheinlich war für sie ein Händler überhaupt nicht gesellschaftsfähig. Und nicht einmal mit einem Juwelier hätte sie gerne das Badezimmer geteilt. Und so sagte sie:

»Über die geschäftlichen Dinge weiß meine Tochter besser Bescheid als ich. Sie ist leider außer Haus …«

A., welcher den wahren Sachverhalt spürte, erläuterte weiter:

»Der Diamantenhandel ist ein sehr schöner Beruf. Ich war zwei Jahre lang auf den Diamantenfeldern Südafrikas.«

»Oh«, sagte die Baronin und hatte wieder Vertrauen.

»Und wenn meine Geschäfte in Europa erledigt sein werden, kehre ich auch wieder nach Afrika zurück.«

»Oh«, sagte die Baronin in wachsendem Vertrauen und vergaß, nach der Art der Geschäfte zu fragen, die ihn gerade in diese Stadt führten, »man würde Sie nicht für einen Engländer halten.«

»Ich bin holländischer Staatsbürger.«

Das war ausschlaggebend. Die Baronin atmete auf. Einem Fremden, der aus großer Ferne kommt, gewährt man leichteres, selbstverständlicheres, willigeres Obdach als dem Einheimischen, und was sonst zu einem Geschäft unter armen Leuten wird, das gewinnt bei dem Fremden aus weiter Ferne den Nimbus großmütiger Gastfreundschaft. Und so war, ohne daß es eigentlich hätte ausgesprochen werden müssen, in dem nun völlig dämmerig gewordenen Zimmer ein Einverständnis zwischen den beiden Menschen hergestellt worden. Die Architekturkupfer an den Wänden in ihren Kirschholzrahmen reduzierten sich auf dunkle Schattenflecken, und nur die beiden, römische Landschaften darstellenden Ölbilder an den Schmalseiten neben den Fenstern zeigten noch die Linien und die grauer gewordene Farbe. Erinnerung fernen Leuchtens. Wie Mutter und Sohn des Abends manchmal miteinander schweigen, so saßen sie da, und durch die Fenster hellgrün, seidengleich leuchtete der wolkenlos gewordene Himmel, rötlich irisierend über den westlichen Dächern. Und in der so entstandenen Vertrautheit erbat sich A. die Erlaubnis, auf den Balkon hinaustreten zu dürfen, und tat es.

Da lag nun der dreieckige Platz vor ihm, nicht ganz aber doch beinahe so, wie er ihn sich ersehnt hatte. Dunkel bereits standen die Bäume der Anlage, gesäumt von dem lichtgrau sich dagegen abhebenden und bereits völlig trocken gewordenen Asphalt des breiten Uferwegs. Im Innern des Bahnhofgebäudes brannten schon die Lichter, dort war die Vorhalle mit den Hoteldienern, aber A. dachte ihrer nicht mehr. Er sah hinab auf die wenigen Menschen, die langsamen Schrittes die Häuser entlang gingen, er hörte das Knirschen des Sandes unter den Schuhen der Wandelnden auf dem s-förmigen Weg in der Anlage, und er freute sich der Hunde, die spazierengeführt wurden. Dann und wann zirpte noch ein Vogel, milde war die Luft, von Feuchtigkeit geschwängert und manchmal bellte ein Hund. Geboren werden von einer Mutter, leiblich geboren werden von einem Leib, selbst Leib sein, Körper, dessen Rippen sich dehnen, wenn man atmet, Körper, dessen Finger sich um eine Eisenbalustrade legen können, das Tote mit Lebendigem zu umfangen, ewiger Wechsel des Belebten und Unbelebten, eines das andere bergend in unendlicher Transparenz: ja, geboren werden und dann über die Welt und ihre sanften Straßen hin spazieren gehen, unverlierbar die Hand der Mutter, die des Kindes umfangend, dieses natürlichste Glück menschlichen Daseins wurde ihm sehr offenbar, da er hier stand auf einem Balkon an der Hauswand, Geborgenheit des Hauses im Rücken, hinabschauend auf den dunklen Rasen und die dunklen Bäume, aber wissend von den Rosenhecken des Gartens hinter dem Hause, Streifen der Häuser zwischen dem Lebendigen und Lebendigen, zwischen Wachstum und Wachstum, Streifen aus Stein und Holz, totes Menschenwerk, dennoch Heimat. Und A. wußte, daß es ihm gestattet war, wann immer zurückzukehren, und daß die Wartende im Zimmer geduldig warten werde, so geduldig wie eine Mutter ihr Kind erwartet.

Er kehrte heim in den tiefverdämmernden Raum und an seinen alten Platz der Baronin gegenüber. Und diese lächelte ihm zu, und dann, sich vorbeugend, sagte sie: »Da draußen ist es schön, nicht wahr?«

»Ein unvergeßlich herrlicher Abend. Doch wir bekommen nochmals Regen.«

»Hildegard« (sie bezeichnete sie zum ersten Male mit Namen), »Hildegard ist spazierengegangen …«, und als sei er ein Familienmitglied, das man korrekterweise in die Verhältnisse des Hauses einweihen müsse, fuhr sie fort: »… mich natürlich hält sie hier gefangen.«

Er war durchaus nicht verwundert, er zweifelte nicht an ihren Worten, wollte ihnen jedoch eine scherzhafte Wendung abgewinnen: »Ach, Baronin sind eine Gefangene.«

»Ja, das bin ich wirklich«, antwortete sie ernsthaft, »es wird Ihnen nicht entgehen, sobald Sie hier sein werden, ich bin eine Gefangene.«

A. nickte. Denn ein jeder hält den andern gefangen und jeder glaubt, der einzige Gefangene zu sein. War doch auch sein eigener Lebensraum nun schon eingeschränkt auf diesen dreieckigen Platz und auf dieses Haus, war eingeschränkt worden, ohne daß er anzugeben vermocht hätte, wer dies bewirkt hatte, wer ihn gefangen hielt.

Die Baronin fuhr in ihren Erklärungen fort:

»Ich lasse den beiden ihren Willen … ich sage ›den beiden‹ weil Marie, meine alte Zofe, die Sie ja gesehen haben, mit Hildegard gemeinsame Sache macht … ja, ich lasse ihnen die Freude, denn ich habe meinen Teil vom Leben gehabt, und das Verzichten fallt mir jetzt leicht.«

»Sie haben jetzt andere Freuden, Frau Baronin«, sagte A.

Doch die Baronin fuhr fort:

»Marie war schon Zofe bei meiner Mutter und immer im Hause … verstehen Sie das? sie ist eine alte Jungfer …«

Wem gilt die Liebe der alten Magd? den Möbeln, die sie tagtäglich berührt? dem Fußboden, den sie seit vierzig Jahren immer wieder scheuert und von dem sie jede Ritze kennt? Sie schläft allein, und wenn sie einstens, vielleicht noch in ihrem Heimatdorf, mit einem Burschen unterm Tor gestanden hat, es ist längst vergessen, obwohl nichts vergessen wird in der Zeitlosigkeit des Ichs, nichts vergessen und nichts vergeben.

A. sagte:

»Maries Liebe gilt Ihnen, Frau Baronin.«

»Sie verzeiht es mir nicht«, sagte die Baronin, »sie und das Kind, sie verzeihen es mir nicht …«, und sie öffnete ihre Hände, als wollte sie die Liebkosungen zeigen, die diese Hände gegeben und empfangen hatten. »Es kostete alle Mühe, Marie zu bewegen, daß sie in mein Haus einträte, sie mochte ja nicht einmal das Kind leiden.«

Überwölbt von der hauchdünnen Durchsichtigkeit des Firmaments, eingebettet in der von Straßen und Schienensträngen durchzogenen Landschaft liegt die Stadt, verdichtete Landschaft; doch eingebettet zwischen dem Rasen des Platzes und dem Grün des Gartens liegt das Haus, gefügt mit den Nachbarhäusern zur Einheit des Platzes, und zwischen den toten, den unbeweglichen Wänden des Hauses spannt sich Beziehung von Mensch zu Mensch, unabänderlich auch diese, spannt sich die Rede von Mund zu Ohr, Hauch, durchschwebend den alles durchdringenden ewigen Äther, in dem der Regenbogen steht.

»Die ersten Sterne«, sagte A. und wies zum Fenster hin. Der Himmel hatte die milde Härte des Seidenglanzes verloren und wurde tief, seine Farbe war vom Grün in ein mattes Violett gewechselt, aufatmete der Himmel, denn es nahte die Zeit seiner Gewalt, es nahte die Nacht.

»Nun wird Hildegard bald hier sein«, sagte die Baronin und erhob sich, »wir wollen Licht machen.« Sie stand ein wenig schwankend, stand auf sicherlich dünn gewordenen Beinen den Rumpf tragend, in dem die Tochter einstens geworden, und die einstens liebende Hand hielt die Krücke des Stockes umklammert. Dunkel war der Raum, die drei Fensteröffnungen allein waren hell, doch sie gaben kein Licht, und die Tür, die hinüberführte zu den Schlafzimmern, hing geschlossen in den Angeln.

Und da nun das Außen wieder Gewalt ergriffen hatte, da mit der Nacht eine Umlagerung aller Beziehungen zu erwarten und zu befürchten war, galt es, die Reste, die noch draußen waren, einzuknüpfen in die Unlöslichkeit des Bestehenden, ehe dieses zerriß, und A., fürchtend, es könnte schon das Aufflammen des Lichtes die Zerstörung bringen, beeilte sich zu fragen:

»Darf ich jetzt mein Gepäck von der Bahn herschaffen lassen?«

Die Baronin zögerte einen Augenblick, dann sagte sie:

»Hildegard muß gleich hier sein … bitte machen Sie inzwischen Licht, der Schalter ist neben der Türe …«, es war so, als wollte sie nicht im Dunkeln mit ihm überrascht werden. »… und klingeln Sie bitte auch gleich nach dem Mädchen.«

Er gehorchte; das Licht, eine Glühbirne innerhalb des Kristallgehänges eines Biedermeierlüsters, war von unsicherer Schärfe, und die vordem in Dunkelheit getauchten Ecken des Zimmers wurden nun den anderen Einrichtungsgegenständen gleichwertig; das gab dem Raum einen geheimnislos strengen Aspekt, und man begriff mit einem Male, daß strenge, tüchtige, jedem Geheimnis abholde Männer hier gewohnt haben mochten, ja, daß die Frauen, die hier zurückgeblieben waren, ihnen noch immer dienten. Und es waren auch prüfende Augen, die A. auf sich gerichtet fühlte, freilich unsichtbar, denn sowohl die Baronin als auch Marie, die eingetreten war und die Fenster zu schließen begann, schienen mit anderem und Längstvergangenem beschäftigt. Doch in dieser Sekunde hauchdünner Stille und Spannung hörte man die Flurtüre öffnen.

»Das ist Hildegard«, sagte die Baronin.

»Ich möchte Ihre Unterredung nicht stören«, sagte A. und wollte sich entfernen.

»Bitte, bleiben Sie«, sagte die Baronin, »und entschuldigen Sie uns bloß für eine kurze Weile.«

Sie ging hinaus. Marie zog die Vorhänge vor, legte sie in ordentliche Falten. Sie schien verdrossen und erloschen, und wenn er ihren Blick suchte, schaute sie weg. Aber bevor auch sie ihn verließ, nahm sie vom Arbeitstische der Baronin eine dort liegende Zeitung und brachte sie A. Dann schaltete sie die Stehlampe ein, die neben der Sitzgruppe beim Ofen stand, löschte das Mittellicht und bewerkstelligte solcherart, daß A., fast wie ein Hausherr, der seine Zeitung liest, in dem großen Lehnstuhl Platz nahm.

Er las nicht. Die Zeitung, ein letzter Gruß des Mädchens aus dem Kiosk, hielt er in der Hand, der Raum hatte sich auf den von der Stehlampe beleuchteten Kreis verengt. A. saß vornübergebeugt, und die Zeitung in der lässigen Hand hing zwischen den geöffneten Knien. Und das Ich in dem vornübergebeugten Kopf sah hinab auf den Rumpf, der in die Beine sich spaltete, beleuchtet bloß er, der doch nicht zu ihm gehörte, herausgehoben aus der Umwelt, und so sehr eingebettet war in die Dunkelheit nächtlicher Umwelt; er war allein.

Auf der Kommode tickte eine Uhr. Mögen auch alle Fäden zur Umwelt gelöst sein, durch die Zeitlosigkeit des Ichs läuft der Faden der Zeit, und das unendliche Gewebe unendlich vieler Fäden, selbstgeschaffenes, dennoch unentrinnbares Netz, es dient bloß dazu, den Faden der Zeit zum Verschwinden zu bringen, auf daß in unendlicher Breite, in unendlicher Größe des Raumes alles Sein wieder zur Zeitlosigkeit werde.

Aber nun schlug es acht Uhr.

Und A. hörte Schritte, in ihrer Raschheit beinahe unmutige Schritte, und gleich darauf erschien Hildegard mit einer Miene, die tatsächlich allen Unmut ausdrückte.

»Sie haben also Ihren Zweck erreicht, Herr A.«, begann sie ohne weitere Umschweife, »ich gratuliere Ihnen.«

»Die letzte Entscheidung liegt in Ihrer Hand, meine Gnädige.«

»Es war nicht sehr schwierig, sich in das Vertrauen zweier alter Frauen einzuschleichen! Würde ich jetzt Nein sagen, es würde meine Mutter zu sehr aufregen« – das hat sie heute schon einmal gesagt, dachte A. –, »so bleibt mir nichts mehr zu tun übrig, als das Geschäftliche mit Ihnen zu regeln.«

»Leider waren Sie bei unserer Besprechung nicht zugegen; Sie würden mein Verhalten sonst anders beurteilen.«

»Ich habe Sie gebeten, von Ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen.«

Nichts ließ sich vorbringen gegen die Empörung, die sie gehemmt und vielleicht etwas gouvernantenhaft – das stimmte mit ihrem sonstigen gemessenen, ein bißchen eckigen Gehaben überein – in Blicken und Tonfall äußerte. Hier stieß Schicksal gegen Schicksal, und der Bruch im Naturgeschehen hatte also noch immer keine Aufklärung gefunden. Warum war es ihm verwehrt, eine andere Unterkunft zu suchen? Warum war er gleichsam gebannt an diesen Platz, gefesselt an ein Geschehen, das sich unaufhaltsam und unabweislich bis zu diesem Punkte entwickelt hatte: floß nicht alles Geschehen gleich Straßenzügen im Punkte seines Ichs zusammen? seines Ichs, das nun einsam im Lichtkegel der Stehlampe sich befand? Mußten sich in diesem Punkte nicht alle Gegensätze klären und auflösen? und darum sagte er zu dem Fräulein, das steif und eckig am Lichtrande saß:

»Sie kennen mich nicht und sind dennoch voller Aversion gegen mich. Ob ich es bin oder ob ein anderer Mieter gekommen wäre, ist doch gleichgültig.«

»Es handelt sich nicht um Ihre Person … ich würde höchstens eine Dame in mein Haus aufnehmen.«

»Ich hatte den Eindruck, daß der Frau Baronin gerade der männliche Schutz – soweit ich wagen kann, mich als solchen zu betrachten und anzubieten – genehm sei.«

»Wir bedürfen keines Schutzes«, sagte das Fräulein streng.

War es das Vermächtnis des alten Barons und seiner Strenge, daß die Frauen allein blieben? behütete die Tochter im Verein mit der Magd dieses Vermächtnis? dann wurde der Bruch im Naturgeschehen verständlich: denn das Schicksalhafte, das Unabänderliche ist immer der Tod, ist immer das Tote, das ins Leben eingreift, es ist die Zeitlosigkeit des Todes, die sich an die Stelle der Zeitlosigkeit des Ichs setzt, Seele, die erstarrt ist in der Architektonik des Todes, Glück der Erstarrung.

Das Fräulein sagte langsam und starr:

»Ich habe das Geschäftliche mit Ihnen zu regeln.«

»Darüber werden wir bald einig sein«, sagte A., »ich möchte bloß noch bemerken, daß ich sicherlich viel weniger Ungelegenheiten machen werde als eine Dame, im Gegenteil, daß Sie stets auf meine Dienste rechnen können.«

»Damit haben Sie wohl die alte Marie geködert«, sagte das Fräulein, »mich kann das wenig locken … ich hoffe, daß Sie als Ausländer einen anständigen Preis für Unterkunft und Pension werden bewilligen können.«

Nun war auch dies nicht eben im ursprünglichen Plan gelegen, denn A. hatte ja mit dem billigeren Preis des Privatlogis gerechnet, aber da vom Materiellen her kaum etwas gelöst werden kann, verzichtete er auf weitere Erörterung und einigte sich auf den geforderten Preis. Und als die Baronin eintrat und mit zuversichtlicher Fröhlichkeit fragte, ob alles in Ordnung sei, mußte die Tochter die Frage bejahen.

»Das freut mich«, sagte die Baronin, »da kann Herr A. gleich mit uns zu Abend essen.«

»Herr A. hat den Wunsch geäußert, immer auf seinem Zimmer zu speisen«, erwiderte Hildegard, »so haben wir es gerade vereinbart.«

»Nun, für heute sollen Sie aber unser Gast sein«, bestand die Baronin, und sie wandte sich an Marie, die inzwischen das Abendbrot melden gekommen war: »Lege ein Gedeck für Herrn A. auf, Marie.«

»Ja«, sagte Marie, »das habe ich bereits getan.«

Wohlerzogen nahmen sie es ohne Erstaunen zur Kenntnis und taten, als wäre die Handlungsweise Maries etwas durchaus Selbstverständliches, etwas ebenso Selbstverständliches wie die Blumen, die in A.s Zimmer schon vorbereitet gewesen waren. Aber was damals selbstverständlich geschienen hatte, in der Anwesenheit des Fräuleins war es dies nicht mehr, und aufgehoben war die beglückende Übereinstimmung der Dinge, denn noch war die Lösung nicht gefunden. Immerhin zeigte sich dafür jetzt eine andere Übereinstimmung, freilich eine viel äußerlichere: da sie jetzt unter dem geblümten Schirm der Hängelampe saßen, und das Licht vom weißgedeckten Tisch grell auf ihre Gesichter zurückgestrahlt wurde, und Marie mit den Speisen um den Tisch herumging und dieselben mit weißbehandschuhter Hand servierte, da wurde es offenbar, daß die Gesichter der drei Frauen einander ähnelten, teils infolge natürlicher Verwandtschaft wie bei denen der Baronin und ihrer Tochter, teils infolge des langen Zusammenlebens, wie dies bei Marie der Fall war. Drei Formabwandlungen ein und desselben Gesichtes in verschiedenen Personen! Gewiß gab es noch viele andere Möglichkeiten der Abwandlung, aber es waren gewissermaßen drei Grundtypen, die sich hier zeigten, nicht unvergleichbar den drei Grundfarben, die in ihrer Dreizahl alle übrigen Schattierungen des Regenbogens enthalten, und wenn die Baronin das eigentlich Weibliche in diesem Dreieck war, so waren die jungfräulichen Gesichter Maries und Hildegards, bäurisch und alt das eine, verfeinert und jung das andere, ohne Rücksicht auf jung oder alt von nonnenhafter Zeitlosigkeit und in dieser Nonnenhaftigkeit seltsam vereint. Die Vorhänge des Raumes waren zugezogen, man wußte nichts von den Bäumen draußen, man wußte nichts vom Garten hinter dem Hause, unlebend und einsam stand das Haus, man war in einer Zelle: man wußte nicht, woher das Leben in diese Welt der toten Dinge geraten war, und man wußte noch viel weniger, warum das Lebendige, aus dem Staube kommend, zum Staube zurückkehrend, bloß Staub zu formen vermag, und doch damit das Leben schafft. Aber so sehr man auch vom Außen abgeschlossen war, oder eben weil man es war, abgeschlossen von dem Platz, über dem der Himmel sich wölbte, abgeschlossen von der Welt, abgeschlossen von dem Wissen und jeder Möglichkeit des Wissens, es wurde der Teil zum Spiegel des Ganzen, es wurde der Raum und seine von den Wänden umschlossene Luft zum Teil des unermeßlichen Äthers, begreifbar die vieladrige Unendlichkeit in den Beziehungen des Endlichen, und die äußere Ähnlichkeit der drei Frauen wandelte sich zum Spiegelbild, wurde zur Hoffnung auf eine Lösung, die man nur hier und niemals draußen finden konnte.

Flutende Skala, die das Dunkle und Irdische, das Substantielle und Geschlossene verbindet mit dem geöffneten Licht des Himmels und trotzdem wieder in die Dunkelheit des Unermeßlichen zurückleitet, umspült die Luft alles Seiende, umspült ätherhaft das Konglomerat der Dinge. Die Augen A.s wanderten in dem mit dunkler Luft erfüllten Raum, versuchten, die Dinge außerhalb des Lichtkreises zu erkennen. Luft stößt an die Wände, stößt an die Möbel. Marie bewegte sich in diesem Raum, sie trat in den Lichtkreis und huschte wieder ins Dunkle zurück, dorthin, wo der breite Anrichtetisch sich befand. Durchflutet von Luft ist das Innere der Schränke, aber sie umspült auch die Menschen, sie ist in ihrem Innern, ist in allen Hohlräumen ihrer Körper, wird ein- und ausgeatmet, schlägt von einem zum andern. Zwischending zwischen Lebendigem und Lebendigem, die Seele in sich tragend, sie bergend und verbergend, Rechtfertigung und Leben, durchflutet vom Licht und von der Transparenz des Blickes. Dort in der Mitte der Wand über der Anrichte hing ein großes Bild, ein Porträt, und jetzt erkannte A., daß es einen Herrn in richterlichem Ornat darstellte.

Hildegard, die unwohlwollend und unverwandt den mißliebigen Gast beobachtete, sagte zu ihm:

»Sie wundern sich, daß wir ein Porträt im Eßzimmer hängen haben … es ist das Bild meines Vaters.«

»Wir haben es hierher placiert, damit er an unseren Mahlzeiten teilnehme«, sagte die Baronin.

Marie, die aufmerksam zugehört hatte, schaltete stillschweigend die links und rechts neben dem Bilde befindlichen Wandleuchter an, und während sie selbst andächtig auf die Züge des Entschlafenen schaute, schwante ihr wohl, daß ihr das irdische Dasein dieses Mannes immer bloß eine Störung gewesen war. Denn bei aller Andacht machte sie ein zufriedenes Gesicht und wartete offenbar darauf, belobt zu werden. Der Mann dagegen in der gemalten Luft des Bildes besaß die gleichen Augen wie seine Tochter, unverwandt und unwohlwollend beobachtete er mit ihnen die Tafelrunde.

Nun hatte auch Hildegard ihre Blicke zu dem Bild erhoben; gleich zwei zusammenlaufenden Straßen mündeten ihr Blick und der Maries in dem Auge des Vaters, und nur die Baronin, die doch dem Manne dort droben am nächsten gestanden hatte, schaute beinahe schuldbewußt auf ihren Teller. Und A., der mit dem Gerichtswesen vertraut war und an den Samtstreifen auf dem Talar den Rang des konterfeiten Richters erkannte, sagte:

»Herr Baron W. war Gerichtspräsident.«

»Ja«, sagte die Baronin.

Gleich dem Soldaten, der stets auf den Krieg vorbereitet sein muß, dort zu töten und getötet zu werden, gleich dem General, der stets darauf vorbereitet ist, Menschen in die Schlacht zu schicken, muß jeder Richter bereit sein, wenn es nottut, ein Todesurteil zu fällen, und die vielen Alltagsstrafen, die er tagtäglich über die Alltagsverbrecher verhängt, sind immer Vorbereitung, Annäherung, sind Spiegelbild und Ersatz der kapitalen Handlung, die im Leben des Richters den furchtbaren Höhepunkt bildet. Er, der zwischen den vier Wänden des Gerichtssaals noch die gleiche Luft wie der Verbrecher atmet, er, eingebettet in der gleichen Luft, muß bereit sein, jenen auszuschließen und ihm die Seele zu nehmen.

Mit dem Mund, der auf dem strengen Mund des Richters geruht hatte, mit dem Mund, der den Atem des Richters einst getrunken hatte, mit diesem Mund, in dem sich noch immer der Atem zu Worten formt, aß nun die Baronin kleingeschnittene Bissen Kalbsbratens. Und mit dem gleichen Munde sagt sie dann:

»Marie, du kannst die Lichter wieder auslöschen.«

»Ist das Zimmer so nicht freundlicher?« widersprach Hildegard und Marie, ohne die Lichter auszulöschen, beeilte sich, in die Küche zu kommen, ehe noch die Antwort der Baronin erfolgte. Warum taten die beiden das? Zweifelsohne war sie mit dem Fräulein darüber einig, daß das Bild beleuchtet bleiben müsse; vielleicht eine Warnung an den Neuankömmling, sich den Gesetzen des Hauses unterzuordnen.

Die Baronin sagte:

»Gut, lassen wir heute die Festbeleuchtung zu Ehren des Gastes.«

»Richter«, sagte A., »ein großer Beruf.«

»Ja«, sagte Hildegard, »so wie ein Priester, über die Menschheit gestellt, eigentlich dürfte ein Richter nicht heiraten.«

Die Baronin lächelte:

»Ein Richter muß menschlich sein.«

Hildegard sah auf das Bild, sie hatte zusammengekniffene Lippen:

»Auch Priester müssen menschlich sein, aber es ist eine reinere Menschlichkeit … eine strengere.«

»Mein Mann hat oftmals unter der Strenge gelitten, wenn er sie anwenden mußte. Glücklicherweise war er niemals in die Lage gekommen, ein Todesurteil auszusprechen.«

Hildegard sah so aus, als würde sie dies jetzt an seiner Stelle nachholen wollen. Aber da war Marie mit dem Nachtisch eingetreten und, gewissermaßen als Kompromiß den Befehl der Baronin nachträglich ausführend, verlöschte sie die Lichter neben dem Bild.

»Schluß mit der Festbeleuchtung«, sagte A.

»Man muß sich dem Geschehen fügen«, sagte die Baronin und lachte ein wenig, »es ist immer stärker als der menschliche Wille.«

Steif saß Hildegard da und aß einen Pfirsich. Ihr schmaler Mund war ungeküßt, ihr Atem hatte noch niemanden beglückt. An welchem Punkte des Lebens verliert ein Mund die Gabe der Beglückung? Wann sinkt er herab zum Eßwerkzeug, trotzdem noch veredelt durch die Gabe der Rede, die ihm innewohnt bis zur letzten Vergreisung? Und doch könnte Marie sich jeden Augenblick herabbücken und mit ihren Greisenlippen schwesterlich den Mund Hildegards berühren, sie zu versöhnen, weil sie Verrat geübt hatte an der bisher Verbündeten.

Doch wahrlich, es hatte nichts gefruchtet, daß die Lichter verlöscht worden waren. Im Gegenteil, es hatte viel eher den Anschein, als sei das Bild an der dunklen Wand nunmehr ein wenig gewachsen, als sei die gemalte Luft nunmehr einbezogen in die Luft des Raumes und als sei der Gerichtspräsident, umfangen von der Luft, die sie alle umfing, nun auch räumlich in das Dreieck der Frauen eingeschlossen, ein Mittelpunkt, obwohl er der Vergangenheit angehörte und an der Wand hing. Denn in den Beziehungen zwischen Ich und Ich herrscht die Zeitlosigkeit, und der Raum wird unendlich klein und unendlich groß zugleich.

Jetzt nahm die Baronin den Stock, der an ihrem Stuhl gelehnt hatte, sie erhob sich, vielleicht um dem übermächtig und zu straff gewordenen Kreis der Beziehungen zu entrinnen. Nichtsdestoweniger streckte sie A. die Hand hin und gleichsam als Ersatz für den Trinkspruch – augenscheinlich hatte der Gerichtspräsident den Wein verpönt – sagte sie:

»Und nun seien Sie uns nochmals willkommen, Herr A.«

Marie stand daneben und lächelte zustimmend, es war ihr, als hätte die Baronin ihre Stellvertretung übernommen und führte ihren Auftrag aus, besonders als sie sich jetzt ihrer Tochter zuwandte und, sei es aus Gerechtigkeit und um sie zu versöhnen, sei es, um durch solch beidseitige gleichmäßige Behandlung einen Gleichklang und eine Verbindung zwischen Hildegard und A. herzustellen, sie auf die Stirne küßte. Marie aber beteiligte sich an der Zeremonie, indem sie die Türe zum Mittelzimmer weit öffnete und dort das Licht andrehte.

Da nun die Luftmassen ungehindert zwischen den beiden Räumen zirkulierten, wurde durch diese plötzliche Veränderung ihrer Gleichgewichtsverteilung nicht nur das Gewicht des Luftraumes im Bilde des Gerichtspräsidenten verkleinert, es wurde dadurch nicht nur seine eigene Gewichtigkeit und die beherrschende Stellung, die er im geschlossenen Speisezimmer innehatte, herabgemindert, sondern es war nun auch, da die Luft sich nur ein wenig regte, zweifelsohne eine gewisse Lockerung aller Straffheit und eine gewisse Labilität der Beziehungen eingetreten, und aller Haß und alle Liebe zwischen den drei Frauen – ihres sichtbaren Mittelpunktes und eigentlichen Urgrundes entkleidet – war in die Unbemerktheit des Alltags zurückgesunken, eines Alltags ohne Festbeleuchtung, mochte auch das Mittelzimmer nun hell erleuchtet sein und das Licht sich in den Glasscheiben der Bilder so stark spiegeln, daß viele der Architekturstücke unkenntlich wurden. A. hätte gern geraucht, aber niemand forderte ihn auf. Hatte der Gerichtspräsident auch dies verboten? Ein wenig unschlüssig standen sie in der Mitte des Zimmers, bloß in weiter Ferne und Dunkelheit das Bild des Gerichtspräsidenten noch ahnend. Und angesichts dieses Sachverhalts war es nur folgerichtig, daß A. sagte:

»Gestatten Sie, daß ich jetzt auch wirklich einziehe und mein Gepäck hole.«

»Oh, das ist noch nicht hier?« entsetzte sich die Baronin, »was fangen wir da an!« und sie schaute hilfesuchend nach Marie.

»Herr A. wird eben sein Gepäck holen«, sagte Hildegard trocken.

»Sehr richtig«, sagte A. und verabschiedete sich rasch von den Damen; er hatte hier vorderhand nichts mehr zu hoffen, viel eher etwas zu befürchten, und überdies war es ratsam, je eher auf den Bahnhof zu kommen, da möglicherweise zu einer späteren Stunde kein Dienstmann zur Stelle sein würde.

Doch im Vorzimmer war sein Hut nicht zu finden, und auch in dem als Kleiderablage benützten Korridor, der zur Küche hinführte, konnte A. nichts entdecken. Er wurde ungeduldig, denn während er noch suchend umherspähte, spürte er, wie durch die offene Küchentüre leichte Fäden frischer Gartenluft hereingeweht wurden, und da merkte er erst, daß ihm die Dienstmänner am Bahnhof keineswegs so wichtig waren, daß es sich um Wichtigeres handelte: gewiß, er freute sich darauf, vom Flur aus einen Blick in den Garten werfen zu können, sodann auf die Straße hinauszutreten, zum Bahnhof hinzuschlendern, vielleicht den Weg durch die Anlage einzuschlagen, den knirschenden Kies unter den Füßen, ein Mann, der ein Heim hat, in das er zurückkehren kann, eingewoben in feste Beziehungen und von keinem Altern bedrückt, all dies jedoch wäre an sich sinnlos, wenn es nicht die logische Fortsetzung jenes Augenblickes sein sollte, in welchem Marie die Türen des Speisezimmers geöffnet und die Verbindung des Abgeschlossenen und Begrenzten mit der Unendlichkeit wieder hergestellt hätte. Und in seiner Ungeduld, diese Einheit verwirklicht zu sehen, war er schon daran, sich ohne Hut auf den Weg zu machen, als Marie einhergehuscht kam:

»Sie suchen Ihren Hut, Herr A., ich habe ihn in Ihren Schrank gelegt.«

Das entsprach der Selbstverständlichkeit seines Hierseins, und mochte es sogar auf den Befehl Hildegards geschehen sein, die keine Männerhüte im Vorraum dulden wollte, so zeigte es dennoch, daß sogar sie sich mit seinem Bleiben abgefunden hatte. Und ehe er selber den Hut aus dem Zimmer holen konnte, hatte Marie, krummrückig und lautlos, es besorgt, und nicht viel hätte gefehlt, daß sie ihm den Hut auch aufgesetzt hätte.

Auf dem Kopfe den Hut, eine merkwürdige Verlängerung der Wirbelsäule, den Hut über die Haare gestülpt, so stieg A. langsam die Stiege hinab, und nachdem er durch die Glastüre im Hausflur den Garten begrüßt hatte, der freilich bloß so weit sichtbar war, als die Wohnungslichter in ihn hineintauchten, trat er auf die Straße, überquerte sie rasch und sah sich erst um, als er drüben am Rande der Anlage stand, in der er noch vor wenigen Stunden beinahe hilflos umhergeirrt war. Da stand er nun und musterte neuerdings das Haus und den von Bogenlampen bestrahlten Balkon mit den Pelargonien. Es fügte sich richtig, daß die Balkontür oben inzwischen geöffnet worden war, und er sah den gelblich erleuchteten Kristallüster im Mittelzimmer, er sah die oberen Rahmenkanten der italienischen Veduten und der Architekturstücke, er sah die weißgemalte Decke, deren Nachdunkelung über dem Ofen er nun schon so gut kannte, und aufmerksam musterte er die beiden toten Fenster des Speisezimmers, genau die Stelle wissend und sie bestimmend, an der das Bild des Gerichtspräsidenten hing. Doch oberhalb der Bogenlampen war der dunkle Himmel gespannt, und zwiefach dunkel gegen solche Helligkeit, so daß man kaum die Ränder der Wolken und dazwischen einige Sterne erkennen konnte. Rot und satanisch glühte eine Lichtreklame über den Dächern beim Stadteingang, und durch den Raum der Finsternis wehte kühl und nächtlich der Wind.

Und wie es das vorgefaßte Programm verlangte, betrat A. die Anlage, verfolgte den s-förmigen Weg, auf dessen Bänken jetzt Liebespaare saßen, Schatten ineinandergeflossen in gemeinsamem Atmen, und A. horchte auf den Kies unter seinen Füßen. In gewissen Abständen traf man auf eine Straßenlaterne, die Teile von Sträuchern und blaugrünen Rasen aus der Dunkelheit herausschnitt, hölzern gerade standen Baumstämme, überkrönt von sonderbar unduldsam rauschendem schwarzen Laub, das manchmal sich öffnete und einen Stern durchblicken ließ. Dies alles befand und vollzog sich innerhalb des steinernen Dreiecks, und A. kam nun zu dem Kiosk. Die Fensteröffnung war mit einem braunen eisernen Rollbalken verschlossen, aber die Uhr, die auf eisernem Ständer das Häuschen überhöhte, war in ihrem Innern beleuchtet und beherrschte mit ihren drei hellen Zifferblättern all die unbeleuchtete Natur ringsum, hielt sie im Zaum, Licht vom Menschen geschaffen, Licht, unlebendig wie die Gestirne selber, unlebendig wie die Luft und der weithin sich dehnende Äther, trotzdem das Bett des Lebens. Mücken tanzten hoch droben um die Uhr, ihr schütterer Schwärm zerfloß im Unermeßlichen, hier schwebten die Seelen empor aus den Augen der Toten, aus dem Hauch der Liebenden.

Hier war der Mittelpunkt der Anlage, der Mittelpunkt des umschriebenen Kreises, und A., die Hände in den Hosentaschen, umwandelte im Kreise den Kiosk und sein Blick schweifte in den Himmelsrichtungen, sah den helleren Schein, der sowohl über dem Bahnhof lagerte als über der eigentlichen Stadt, und nun bemerkte er auch, wie die erwarteten Wolken wieder heraufrückten und sich zusammenschoben, dunkler am dunklen Himmel. Bald mußte der Regen da sein, und A., der weder Mantel noch Schirm mitgenommen hatte, nur einen Hut, A. beschleunigte seinen Schritt, um zum Bahnhof zu gelangen.

Er verließ die Anlage, er überquerte den Platz, auf dem vordem die Hotelomnibusse gewartet hatten, er betrat das Bahnhofsvestibül, das geschwängert war vom Geruch der Reise, Geruch des Rußes, vom Geruch der Speisen und des Biers aus dem Restaurant und vom Geruch der Aborte und des Staubes, aufsteigend von der Kühle des Fliesenbodens, dunstig herab sich senkend, Geruch der Müdigkeit und des eilenden Aufbruchs. Welch ein Unterschied! Hier an der Basis des Dreiecks das Brodeln und der Schmutz der Friedlosigkeit, doch draußen die Kühle und die Gemessenheit des Platzes. Und drohend an der Spitze der Pyramide schon der, dessen gemessene Strenge hinausragt über das Gewirr des Menschlichen und des Schmutzes, über den Menschen schwebend gleich der Gerechtigkeit! war es da nicht besser, eine Fahrkarte zu lösen, die Einheit, die niemals erreichbare, niemals zu verwirklichende aufzugeben, wieder zurückzukehren in die Vieldeutigkeit und Beziehungslosigkeit unendlicher Welt, in der alle Straßen und alle Gleise sich verkreuzen? Hier war der Punkt der Entscheidung, es galt nochmals den Versuch zu wagen oder zu fliehen.

Die Guckfenster der Fahrkartenschalter waren mit Messingblech gerahmt, das Blech war matt und schmutzig, es schimmerte schäbig im Lichte der nackten Glühlampen; ein Schalter war geöffnet, hinter den Fenstern der übrigen hingen grüne staubige Vorhänge. A. ging an ihnen vorbei. Die Gepäckkarren, braun gestrichen, abgefasert das Holz an den Kanten, standen in einem Rudel beisammen wie in einem Stall. Die Träger, Mützen im rötlichen Genick, Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die behaarten Hände gefaltet, saßen weit vornübergebeugt auf einer Bank. A. fragte sie, ob einer von ihnen sein Gepäck über den Bahnhofsplatz tragen wolle: nein, das durften sie nicht, sie durften den Bahnhof nicht verlassen, aber sie wollten ihm einen Mann besorgen.

Durch einen offenen Durchgang sah man die langgestreckten Dächer der spärlich beleuchteten Bahnsteige, und man sah die Bahnhofssperre, in deren Verschlag ein Bediensteter stand und gelangweilt seine Zange in der Hand hielt.

Ja, meinte A., es sei doch nicht nötig, daß die Herren ihm einen Dienstmann suchten, sie möchten ihm bloß sagen, wo vermutlich einer anzutreffen wäre. Die Träger dachten eine Weile nach und sagten dann, daß im Wartesaal sicher einer – sie nannten ihn sogar beim Namen – säße und sein Bier trinke. So verhielt es sich auch. Der Dienstmann saß dort, trank sein Bier, rauchte seine Pfeife und verhehlte A. durchaus nicht, daß er sich gestört fühlte. A. fiel es auf, daß sein sonst stets bereiter Nikotinhunger sich nicht einstellte, und bloß weil er sich auf dem Bahnhof befand, zündete er eine Zigarette an, während er den Dienstmann zur Gepäckaufbewahrung begleitete. Die Entscheidung war gefallen, ohne daß er es eigentlich gemerkt, ohne daß er sie überlegt hätte. Erst als sie aus dem Bahnhof traten, wurde es ihm bewußt.

In der spezifischen Haltung eines jeden, der einen Karren schiebt, ging der Mann neben ihm her, rundgebeugten Knies, rundgebeugten Rückens und mit gebeugten, auf die Stangen des Karrens gestützten Armen. Die Räder des Karrens drehten sich langsam und knarrend, ihre Eisenreifen rollten hohl über den Asphalt. Die Straße war jetzt ganz leer und still, selbst von der Stadt her drang kaum mehr Lärm herüber. Das Feuer der Lichtreklame, die vordem den Stadteingang so höllisch erleuchtet hatte, der Höllenrachen, in den der Platz gemündet, schien zu erlöschen; der Pfeil wies ins Friedliche, ja, es schien, als stiege die Straße in sanfter Hebung nach aufwärts. Würde der Mann neben ihm sonst so mühselig den Karren schieben? denn würde der Weg abwärts sich senken, die Räder würden sich von selber drehen! Hinter dem Einfriedungsgitter der Anlage schwärzlich das Gebüsch, doch von den Bogenlampen zu scharfem Grün erweckt, lag der obere Teil der Baumkronen wie ein Streif über der Schattenmasse. Der Wind war verstummt, aber auch der Himmel war es, denn die Wolkendecke hatte sich nun vollends unter ihm zusammengeschoben, und es war, als senkte sie sich immer tiefer herab, sich mit der emporsteigenden Straße zu vereinigen.

Fast schämte sich A., daß er so aufrecht einherstolzierte, geradezu mit der Nase in der Luft, während der Mann neben ihm zur Erde gebückt den Karren schieben mußte, indes er konnte den Blick von dem, was über ihm geschah und gewissermaßen ausschlaggebend war, nicht abwenden. Die beleuchteten Kronen der Bäume drüben, wie der bewölkte Nachthimmel, wie die steilen Fronten der Häuser zu seiner Linken, dies war alles von einer wachsenden Bedeutung, und als sie nun zu dem Hause kamen, in das er heimkehrte, da war es nahezu eine Bestätigung: er sah auf dem Balkon eine helle Gestalt, und es war das Fräulein, das dort stand und mit beiden Händen sich auf die Balustrade stützte, steif und eckig abgeknickt, über die Pelargonien zur Straße gebeugt, als würde sie – wohl wußte er, daß sie es nicht tat – ihn erwarten. Doch jetzt, da er mit dem Gepäck halt machte, verschwand sie vom Balkon, und eine kurze Weile danach erschien Marie in der Haustüre, so daß unter ihrer Leitung und Mithilfe die Hinaufbeförderung der Stücke sich vollzog.

Oben war die Tür zum Mittelzimmer geöffnet, und A. traf hier auf das Fräulein. Sie sagte spöttisch:

»Wir mußten Sie erwarten, denn über all den Empfangsfeierlichkeiten hatte man vergessen, Ihnen Haus- und Wohnungsschlüssel einzuhändigen.«

»So habe ich Ihnen wirklich sofort eine Ungelegenheit verursacht«, sagte A.

»Ich wollte, es gäbe keine ärgeren Ungelegenheiten«, sagte Hildegard, und man wußte nicht, ob dies liebenswürdig oder feindselig gemeint war, »lassen Sie das Gepäck in Ihr Zimmer schaffen, und ich will Ihnen dann gleich die Schlüssel geben.«

So geschah es. A. entlohnte den Mann und kehrte sodann ins Wohnzimmer, dessen Tür noch immer offenstand, zurück, um die Schlüssel in Empfang zu nehmen.

»Und ich dachte, daß Sie bloß den Abend auf dem Balkon zu genießen beabsichtigten«, sagte A.

»Das tat ich vielleicht auch«, sagte Hildegard.

»Ich bitte Sie nochmals um Verzeihung«, sagte A., »ich hoffe bestimmt, daß meine Anwesenheit Sie in keiner Weise mehr stören wird.«

Hildegard machte eine Bewegung, die Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, aber vielleicht auch gewährte Verzeihung ausdrücken mochte, und auf den Balkon hinaustretend, ließ sie A. im Wohnzimmer zurück. Es war alles noch unerledigt, noch war es keine Entscheidung, so nahe sie auch geschienen hatte.

Schon wollte er sich leise entfernen, als er bemerkte, daß sie sich umwandte.

»Herr A.«, rief sie.

Er gesellte sich zu ihr auf den Balkon.

»Da Sie nun einmal hier sind, ist es besser, wenn ich Ihnen gleich die notwendigen Erklärungen gebe.« Obwohl sie mit ihrer gewöhnlichen trockenen Stimme und sehr leise sprach, war ihre Erregung vernehmlich.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte A.

»Meine Mutter hat Vertrauen zu Ihnen; sie sagte, Sie kämen aus den Kolonien und wären ein Gentleman. Meine Mutter hat leicht Vertrauen, allzu leicht …, ich will es diesmal ebenfalls haben.«

»Sie verschwenden Ihr Vertrauen an keinen Unwürdigen«, sagte A.

»Nun denn«, fuhr sie fort, »Sie sind hier kein gewöhnlicher Mieter.«

»Wenn ich nach mir schließen darf, so bin ich es nicht. Es war gewissermaßen eine Schicksalsfügung, durch die ich hierher gelangte.«

»Oder Ihre etwas unverständliche Beharrlichkeit«, stellte sie fest, »aber nicht darüber will ich reden, sondern über die Position, in der Sie sich dank Ihrer Beharrlichkeit nun befinden.«

»Ja«, sagte A.

»Kurzum, meine Mutter will mich verheiraten, sie glaubt, damit eine Pflicht zu erfüllen. Sie sucht unentwegt nach einem Mieter, aber in Wirklichkeit sucht sie einen Schwiegersohn.«

»Das ist merkwürdig«, sagte A. und war eigentlich uninteressiert.

»Es ist nicht sehr merkwürdig«, entgegnete sie, »es entspricht den Anschauungen ihrer Generation.«

»Aber«, sagte A., »Sie können Ihr Schicksal doch selbständig bestimmen.«

»Nein«, sagte sie, »ich könnte es, aber ich darf es nicht.«

Zwischen das Dreieck der Anlage, dessen Konturen jetzt nicht deutlich zu erkennen waren, und das Dreieck der Häuser hatte sich ein neues eingeschoben: das Dreieck der Bogenlampen, die in der Mitte der drei Straßen hingen. Nur wenige der Lampen auf der gegenüberliegenden Seite waren durch Baumwipfel verdeckt.

Nach einer Weile sagte er:

»Soll ich morgen die Wohnung verlassen?«

Hildegard schüttelte den Kopf:

»Es hat wenig Zweck …, jetzt sind Sie schon hier, und es ginge der Kampf dann bloß wieder von vorne an.«

»Ein Kampf?«

Hildegard schwieg. Dann ließ sie sich auf den Korbstuhl sinken, der an einem Ende des Balkons sich befand. Sie hatte die Füße parallel nebeneinander gestellt, hielt die gefalteten Hände zwischen die Knie gepreßt und bewegte den leicht vorgeneigten Kopf hin und her. Das war im Gegensatz zu ihrer bisherigen Haltung von einer eigentümlichen Weichheit und gab ihm den Mut zu fragen:

»Sie lieben jemanden?«

Nun lächelte sie gar, es war das erstemal, daß sie lächelte, und dabei wurden ihre Lippen voll, beinahe sinnlich, ließen starke, gleichmäßige Zähne sehen. Es waren nicht die Zähne ihrer Mutter, und A. hätte gerne gewußt, ob der Gerichtspräsident auf dem Bilde auch lächeln könne und hinter den abkonterfeiten schmalen Lippen ebensolche Zähne verberge.

Hildegard bewegte noch immer den Kopf hin und her, und dann sagte sie leise:

»Meine Mutter will mich aus dem Hause haben, deswegen will sie mich verheiraten. Vor sich selber verbirgt sie es unter Pflichtgefühl.«

»Die Welt ist schön«, sagte A., »Sie müssen nicht hier bleiben.«

»Und was geschähe dann mit meiner Mutter? Wer soll über sie wachen?« Das klang fast leidenschaftlich.

»Die Baronin ist doch scheinbar durchaus rüstig. Und außerdem ist sie, meine ich, in guter Hut.«

Unten ging eine einsame Frau vorüber. Wie sie Bein vor Bein in dem pendelnden Rocke vorwärtsbewegte und den Kopf über etwas schrägem Körper wendete, machte sie einen entweiblichten, einen geradezu männlichen Eindruck.

Hildegard sagte:

»Meine Mutter ist willenlos. Und Marie ist ihren Wünschen gegenüber zu schwach. Das haben Sie selber gesehen.«

An der Schmalseite des Balkons sitzend, hatte sie ihre Blicke der Stadt zugekehrt, sie heftete sie an den Stadteingang, als suchte sie dort etwas.

»Marie hat kein Kind«, sagte sie, »sie weiß nicht, wen sie als Kind behandeln soll, mich oder meine Mutter.« Und es war nun, als suchte sie Mariens Kind dort oben, wo die beiden Straßenschenkel des Dreiecks spitz zusammenliefen.

»Es wird bald regnen«, sagte A.

»Ja«, sagte sie.

Die Luft war so still, daß man den Regen, der bereits eingesetzt hatte, nicht bemerkte. Sie selber waren durch das Gesims des Hauses geschützt, und nur an den schwarzen Punkten auf dem Asphalt war das Ereignis sichtbar. Menschenleer war die Straße, die Frau, die unten gegangen war, war um die Bahnhofsecke verschwunden. Hinter den Häusern des westlichen Ufers zuckte manchmal der Widerschein eines Wetterleuchtens auf.

A. sagte:

»Die Wünsche Ihrer Frau Mutter können doch nicht so maßlos sein, daß sie derart bewacht werden müßte.«

Hildegard zögerte, dann sagte sie:

»Wäre sie nicht schon gebrechlich, sie würde alles im Stiche lassen … sie würde sich unter das Volk mischen und dritter Klasse fahren, bloß um in die Welt zu reisen, das beteuerte sie viele Male.«

Es konnte also unmöglich die Angst um den Verlust der Mutter sein, die das Fräulein zu solch abseitigen Erwägungen veranlaßte. Nun mußte die Lösung kommen. A. hatte wieder das Eisen der Balustrade erfaßt, nackt und atmend unter seinen Kleidern beugte er sich hinaus in den stärker und dichter werdenden Regen, und leise surrte das Laub in den Baumkronen drüben. Erde atmete drüben, Erde atmete hinter dem Haus, und der Atem des Lebendigen stieg auf und schlug zusammen über dem Dach des Hauses, in dem das Lebendige und Menschliche geborgen war. Vielgliedrig, vielknochig, vieladrig schwebten sie hier im Atem des Lebens, emporgetragen über die Erde. Von einer Mutter geboren werden, eingehen in die Geborgenheit, ausgehen aus der Geborgenheit des Hauses und wieder in sie zurückfinden: Angst des Leibes, nicht mehr Kind sein zu dürfen, zu erstarren im Unleben, nur mehr bergend, nicht mehr geborgen. Angst aller Frauen im nackten Körper unter ihren Kleidern.

Und sie, von der alle Gelöstheit und Weichheit wieder geschwunden war, sie, die wieder mit schmalen Lippen nonnenhaft dasaß und starr zur Spitze des Straßenpfeiles hinblickte, sagte:

»Mein Vater hat den Frieden hier gestiftet … ich muß dafür sorgen, daß er gehalten werde.«

A. strich über sein blondes Backenbärtchen und antwortete:

»Eine wundersame und schwere Aufgabe, die Sie sich gestellt haben.«

»Ja«, war ihre Gegenantwort.

Vom Bahnhof her drang der Pfiff einer Lokomotive, und das Rollen eines Zuges mischte sich in das Geräusch des Regens und in das vieladrig tönende Leben des Laubes. A. blickte nun gleichfalls zum Stadteingang hinauf, als erwartete er von dort die Stimme, die den Stimmen der Ferne die letzte Antwort geben würde. Wird es die Stimme des Kindes sein oder die des Gerichts, wird der Blick des Kindes dort aufscheinen oder der des Vaters? Es war beides zugleich, denn der verhallende leise Donner, der jetzt über den Himmel hinzog und die Stadt einhüllte, er nahm das Rollen des Zuges in sich so sanft auf, er verklang so leise in dem Rauschen der Bäume, daß das Gewesene und das Kommende zur Einheit wurde, aufgenommen in unhörbarem Nachklang, in Zeitlosigkeit versinkend und in einer Ewigkeit, die das Lächeln des Lebens und das des Todes zugleich ist.

Immer kehrt der Mensch zum Atem zurück, auch wenn er der Starrheit völlig verfallen zu sein glaubt. Hildegard war ein wenig zusammengesunken, sie sah nicht mehr auf den Platz, sondern, die Ellbogen auf den Knien, hielt sie ihr Gesicht in Händen, die mit den Fingerrändern sich berührten. Dunkel glänzte der nasse Asphalt der Uferstraße, dunkel rauschte das schwarze Dreieck der Bäume und Sträucher. Und die erleuchtete Uhr über dem Kiosk im Mittelpunkt des Dreiecks, sie war jetzt wie ein wachsames Auge.

Der Meeresspiegel

Novelle

Hinab sich senkend zum Spiegel des Meeres, in drei Zonen geteilt, steinig und weiß die oberste, graugrün von Feigen- und Olivenbäumen die nächste, doch im dunklen Lorbeergebüsch die unterste, die sanft zur Küste auslaufende, so sank der Abhang vor den Augen des Fremden, der auf dem Kamm des Bergzuges stand und hinabsah, hinsah über das Gelagerte und Ruhende, stumpf die Farben der hinsinkenden Erde, doch glänzend der Spiegel, der in ihr ruhte, auf dem sie ruhte, bestrahlt von dem schrägen Licht der steigenden Sonne.

Zwischen niedern Steinwällen, Grenzen der nur spärlich, oftmals gar nicht bebauten Grundstücke, führte der Weg hinab, und der Fremde, der in der Kühle des Morgens heraufgekommen war, getrieben von der Sehnsucht nach dem Bilde der glänzenden Fläche, auf der die weißen Punkte der Fischersegel dahingleiten, der Fremde, dessen Sehnsucht nunmehr erfüllt war, entschloß sich zum Abstieg. Aus den Hütten, die hie und da als schüttere Besiedlung des Berghanges zwischen den Steinwällen lagen, stieg Rauch senkrecht zum weißlichen Himmel, und es war still.

Welche Sehnsucht hatte ihn hergetrieben? Ein nordischer städtischer Mensch, in Kleidern und Schuhen steckend, die in irgend einer Großstadtstraße gekauft worden waren, den Stock bei jedem Schritt vorsichtig und hart in das Schuttgerölle stoßend, ging er über den steinigen Weg und seine feucht gewordene Hand brannte ein wenig, so fest hielt sie den Griff des Stockes umklammert.

Welche Sehnsucht hatte ihn hergetrieben? Sehnsucht nach einer Sehnsucht, die immer weiter wurde, je weiter der Horizont sich dehnt? Dunkle Streifen lagen über dem metallischen Spiegel, hingewischt von Windstreifen, man sah die Kräuselung der Wellen, und wenn die weißen Segelpunkte in einen solchen Streifen gerieten, dann bewegten sie sich rasch vorwärts, bis sie ihn schließlich verließen; dann ruhten sie wieder, verloren und weiß, ruhend im Grenzenlosen.

Welche Sehnsucht hatte ihn hergetrieben? Schon säumten die Ölbäume den Steig, und geschützt in Gruben innerhalb der Steingevierte war Gemüse gepflanzt. Was hatte all dies mit seiner Sehnsucht zu schaffen? Er hielt den Schritt an, halbgeschlossenen Auges sah er über das Meer hinweg, zum südöstlichen Firmament, der Sonne entgegen, die schon hoch stand und ihn blendete. Und nicht nur der Strahl seiner Augen verband ihn mit dem fernen Horizont, der Teppich des Seins, auf dem er stand, lief gleichfalls dorthin, die krausen Linien der Erde kamen her, glitten über die Glätte des Spiegels, hoben sich mit dem Hang des Berges, sie liefen über die Wege, sie vereinigten sich mannigfach, liefen über seine Schuhe, liefen den Körper hinauf, im Auge wieder zu münden. Und damit er noch verbundener wäre den Linien der Landschaft, berührte er den Steinwall, der heiß und staubig sich anfühlte. Aber es nützte nichts. Was hatte ihn hergeführt? Wer war er? Auf den heißen Steinen lagen grüne Eidechsen und sonnten sich.

Nun gelangte er zu dem ersten der Häuser hier oben. Als er in der Kühle des Morgens hier vorbeigekommen war, noch lagen die Schatten allenthalben lang und kühl, da hatte er das Haus nicht beachtet, kaum daß er den Gruß der Frau, die aus dem Hause getreten war, erwidert hatte, so sehr war er von seiner Sehnsucht nach aufwärts gezogen worden, so unwiderstehlich hatte es ihn hinaufgezogen, den Blick über den Meeresspiegel zu finden. Jetzt stand er vor dem Hause, das seine Schattenseite ihm zukehrte, ein mäßig großes Geviert beschattend, auf dessen unregelmäßigem Steinpflaster ein wackliger, einstmals braunpolierter Zimmertisch mit irdenem Kochgeschirr stand. Längs der Hauswand, bloß unterbrochen von der Eingangstüre, zog sich ein Steinsockel, der, mit brüchigen Brettern belegt, als Bank diente, und darüber rankte sich ein Weinstock. So war dieses Anwesen. Durch die offene Türe sah man den gemauerten Küchenherd, sah man zwei Öldrucke, von denen der eine die Madonna in blauer Gewandung, der andere den flott rauchenden Vesuv zeigte.

Als wollte er das nachholen, was er vorher versäumt hatte, blieb der Fremde stehen, beinahe erstaunt, weil niemand sich zeigte, seinen Gruß entgegenzunehmen: da er nun seiner Sehnsucht Genüge getan und sie doch nur gegen eine andere und weitere ausgetauscht hatte, war er gleichsam schwerelos geworden, er selber hingeweht auf dem Meere der Sehnsucht, und er wartete, daß jemand ihn zurückrufen werde, daß eine Stimme ihn wieder verbinden werde mit der Erde und der irdischen Gemeinschaft. Und so horchte er auf die Geräusche des Hauses. Aber er sehnte sich, näher zu treten.

Man brauchte nicht scharf hinzuhören, um zu erkennen, daß hinter dem Hause sich etwas regte; auch aus dem Hause selber drangen Geräusche. Und in der Tat dauerte es bloß einige Minuten, bis hinter dem Hause ein Mann hervorkam, der ohne viel Erstaunen den Fremden zur Kenntnis nahm und ihm einen guten Tag wünschte, ja, ihn sogleich aufforderte, den schattigen Sitzplatz zu benützen und auszuruhen, anstatt in der sengenden Sonne zu stehen.

Der Fremde, der Landessprache mächtig, dankte sehr verbindlich, er trat näher, setzte sich auf die Hausbank und lehnte den Rücken gegen die Mauer. So saß er da, sah den Hang hinauf, der die hohen und schroffen Berge verdeckte und den ganzen Norden, der dahinter lag. Und den Herrn des Hauses betrachtend, der bloß mit Hemd und Leinenhose bekleidet, lässig und schlank an dem wackligen Tisch vor ihm lehnte, erinnerte er sich der ältlichen Frau, die ihn morgens begrüßt hatte und schlecht zu diesem verhältnismäßig jungen Menschen taugte. Der aber, lächelnd herab sich beugend, fragte ihn, was sie beide ohnehin wußten, nämlich, ob er hier fremd sei.

Ja, entgegnete er und blickte den Hang hinauf, über dessen Kuppe der Weg verschwand, um übers Gebirge hin zur Heimat zurückzuführen, ja, entgegnete er, er sei fremd, doch er habe kein Heimweh.

Wahrlich, er hatte so wenig Heimweh, daß er sich am liebsten der in der Heimat angefertigten und gekauften Kleider auf der Stelle entledigt hätte. Aus der Küche roch es nach Öl, und in dem schwarzgrünen irdenen Gefäß auf dem Tische befand sich halbangerührter Teig.

Der Mann sagte:

»Auch ich war in der Welt, ich war in Amerika, ich bin zur See gefahren.«

Der Fremde nickte. Er spürte den Geruch des roten Weins, der hier des Abends unter den Sternen getrunken wurde, getrunken aus billigen, starkwandigen, kleinen Gläsern, und er sah zum Himmel empor, der von dieser dunklen beschatteten Ecke aus in harter Bläue sich jetzt zeigte. Welche Sehnsucht hatte ihn hergetrieben? Wo war das Namenlose, das er suchte und das so stark war, daß er seinen eigenen Namen daran verlor? Wer war er selbst, er, ein namenloser Reisender voll namenloser Sehnsucht.

Angelockt von dem Sprechen, kam nun auch die Frau aus dem Hause, ein etwa vierjähriger, sehr schmutziger Junge klammerte sich an ihren dünnen Rock und ließ sich mitziehen. Sogleich sagte sie, und dabei setzte sie ein vertrautes Gesicht auf:

»Der Herr ist heute morgens hinaufgestiegen.«

»Ja, das tat ich«, antwortete dieser freundlich, obschon ihm das vertraute Gehaben der Frau unangenehm war, »und es war dort oben sehr schön.«

In dem Munde der Frau fehlten Zähne, und der Fremde mußte daran denken, daß der Mann sein bartstoppliges Gesicht zu diesem Munde beugt, ihn zu küssen. Denn Nacht für Nacht schlafen sie zusammen in einem Bett, und sie sind einander Eigentum und Heimat. Und als ob er diese Gedanken hätte in jenem geheimen Einverständnis, das in der Einsamkeit und in der Stille des Himmels zwischen zwei Männern aufblühen kann, schickte der andere seine Frau mit dem Befehl ins Haus, Wein und Gläser zu bringen. Aber da sie sich beide dieses Einverständnisses vielleicht schämten, so schwiegen sie, und als der Fremde das Schweigen endlich brach und fragte, ob der Gastgeber auf seinen Reisen auch in den Tropen gewesen sei, da lachte dieser und sagte:

»In Singapur sind die größten Bordelle … ja.«

Indes kam die Frau mit dem Wein und den starkwandigen, billigen, kleinen Gläsern, sie schob das Teiggefäß ein wenig zur Seite und stellte das Trinkzeug auf den Tisch. Und dann setzte sie sich zu dem Gast auf die Bank, während das Kind ihm ins Gesicht starrte.

Der hingegen dachte an Singapur, und unbegreiflich schien es ihm, daß dieses Kind gerade in dieser Frau und in dieser Heimat gezeugt worden war; er lehnte sich fester gegen die Mauer des Hauses, das zwischen ihm und dem Süden und den Tropen nunmehr hier errichtet war, und schließlich fragte er, als wollte er damit dem Zufall entrinnen, ob sie nur dieses eine Kind hätten.

»Giacomo«, rief der Vater, und aus dem Hause kam ein anderer Junge, etwa sechs oder sieben Jahre alt, der scheu dreinsah und sich zu dem Tische stellte.

Der Mann schenkte die Gläser voll: »Gute Fahrt«, sagte er und hob das seine.

Freundschaft im Unendlichen! und es war wohl unkameradschaftlich, daß der Gast diese Freundschaft zurückwies und nicht nur, halb zu der Frau gewendet, »Auf die Familie« antwortete, sondern sogar verlangte, daß sie, dieses verblühte Weib, mit ihnen trinke und anstoße. Sie hatte dies auch sicherlich gespürt, denn erst nach einem fragenden Blick auf ihren Mann stand sie auf, noch ein Glas zu holen, und nur verschämt und beinahe betreten füllte sie es, ja, sie wagte nicht einmal, richtig anzustoßen und zu trinken.

Das Fenster hinter ihm war mit einem grünen Fliegennetz überspannt und Fliegen tanzten aus der Küchentüre und wieder hinein, umkreisten das Gefäß mit dem Teig. Das war alles ganz lautlos, und man vergaß das Meer.

Der Mann freilich schien sich mit dem Sachverhalt abgefunden zu haben, allzuviel lag ihm an dem Einverständnis mit dem Gaste, und ohne die verschämt Lächelnde zu beachten, sagte er, gleichsam sie anbietend:

»Sie ist eine gute Frau.«

»Ja«, sagte der Gast, sie beide anblickend, »gewiß ist sie das, und es sind schöne Kinder.«

»Wo sind Ihre Kinder?«, fragte die Frau, und es war ihm, als böte sie sich damit an, dem Befehl des Mannes folgend, dennoch dem Mann zu Trotz, ihm, dem Fremden, ein Kind zu gebären. Und vielleicht war es wirklich so, denn sie fügte hinzu: »Wo wohnen Sie?«, mit enttäuschter Gebärde vernehmend, daß er drunten im Gasthof des Fischerdorfes Quartier genommen hatte.

Doch da nahm der Mann den Gedanken seiner Frau auf:

»Sie könnten hier wohnen.«

Das war mit drängendem Ernst gesagt, so daß der Fremde kaum zu lächeln wagte. Er betrachtete das sehr einfache längliche Gesicht des Mannes, die rosa Lippen, die zwischen den Bartstoppeln lagen, die gegerbte, vielfach durchfurchte Haut des Halses, aus der Adern und Sehnen stark hervortraten, diese Adern, an denen der Mund der Frau sich festsaugen mochte, wenn er sie umarmte. Und weil dieses Gesicht und diese Haut darauf schließen ließen, daß der ehemalige Matrose jetzt den Beruf des Fischers ausübte, und weil dieses einfache Gesicht jetzt nichts als Erwartung und Hoffnung ausdrückte und weil es wohl verzweifelt geworden wäre, hätte der Gast die Einladung rundweg abgeschlagen, so lenkte dieser ab, indem er neuerlich das Glas hob:

»Auf frohe und gute Fahrt und auf gute Beute.«

Und wieder war es wie eine Verführung, da die Frau sagte:

»Die Männer fischen bei Nacht.«

»So ist es«, bekräftigte der Mann, »wir fahren bei Nacht.«

Der doppelten Verführung zu entrinnen, und doch sich ihr hingebend, sagte der Fremde:

»Dann will auch ich in der Nacht mit Euch hinausfahren auf den schwarzen Spiegel des Meeres.«

»Auf dem schwarzen Spiegel des Meeres«, summte die Frau, sie hatte das kleinere der Kinder auf den Schoß genommen, und den Oberkörper leise hin und herwiegend, halbgeschlossenen Auges und lächelnd, als verspräche sie den Kindern ein Geschwister, summte sie im Takte: »Auf dem schwarzen Spiegel des Meeres.«

Leicht und lässig stand der Mann noch immer gegen den Tisch gelehnt, hinter ihm der sonnige Hang des Berges, ihn und seine Befehlsgewalt stützend und unterstützend. Und der Mann sagte einfach:

»Ja, fahren Sie heute Nacht mit uns.«

Ziel gemeinsamer Sehnsucht, Wasser, in das die Netze leise fallen, Ziel namenloser Rückkehr. Allein die Frau, wissend, daß es eine trügerische Aufforderung war, daß das gemeinsame Ziel ihr zum Opfer gebracht werden mußte, sie sagte höhnisch und beinahe listig:

»Das ist eine schmutzige Arbeit, das Fischen, das wird Ihnen nicht behagen.«

Gleichsam zur Probe, doch auch um die Verstrickung der Eltern zu zerreißen, wandte sich der Fremde an den schweigsamen älteren Jungen:

»Wirst auch Du zum Fischfang mitgenommen?«

Das Kind antwortete nicht. Die Frau aber lachte:

»Nein, bisher durfte er nicht, einer der Männer muß immer zu Hause sein, jetzt freilich wird er es vielleicht dürfen.«

Und als wäre er nun seiner Sache völlig sicher, sagte der Mann:

»Ich werde die beiden abwechselnd mitnehmen.«

Oh, welche Veränderung! wie nahe ist das Unendliche dem Endlichen, das Unermeßliche dem Meßbaren im Augenblick des Jetzt. Wer sich noch hingetrieben wähnt über die Unermeßlichkeit des Spiegels, schwebend zwischen Nord und Süd, kaum die Linie erkennend, die von Unendlichkeit zu Unendlichkeit aus seinem Herzen sich spannt, er, der Namenlose, der namenlos Hingetriebene und Hingewehte, er ist schon in die Verflechtung aller Linien geraten, und vom Spiegel des Meeres ist er abgeschnitten durch die Mauern eines dürftigen Hauses, er ist gebunden in die summende Erwartung einer Frau, er ist gebunden von der Befehlsgewalt eines Mannes, und das Meer, unsichtbar, wird zur Nacht.

Da war die ziellose, unerkennbare Sehnsucht noch besser gewesen, besser als das Ahnen ihres Zieles, und der Befehlsgewalt des aufgerichteten Mannes sich zu entziehen, Angesicht zu Angesicht ihm gegenüber zu stehen, sich ihm zu entziehen und die Unendlichkeit wiederzufinden, erhob sich der Fremde:

»Ich kann nicht auf halber Höhe bleiben«, sagte er, »ich hätte höher steigen sollen, aber da ich nun einmal umgekehrt bin, muß ich auch zu Tal.«

Der Mann schüttelte den Kopf:

»Jetzt kommt die Hitze des Mittags. Erwarten Sie die Abendkühle, ruhen Sie hier, und wir steigen dann gemeinsam hinab.«

Doch die Frau, die wohl fühlte, daß ihr Mann von dem Entschluß des Fremden zu eindeutiger Entscheidung gedrängt wurde, und die die Gefahr sah, beide zu verlieren, rief:

»Nein, heute soll Giacomo mitgehen, Du hast es ihm lange genug versprochen.«

Der Fremde lächelte, und obgleich er wußte, daß er damit unschön an der Frau handelte, schlug er vor:

»Wie wäre es, wenn sowohl Giacomo als auch ich heute mit auf den Fischfang zögen.«

»Oh«, klagte die Frau, »so wollen Sie, weil Sie kinderlos sind, alle verführen, so wollen Sie, daß ich von allen verlassen werde, das wollen Sie, obwohl ich Ihnen Wein gebracht habe und Sie hier geruht haben.«

»Den Wein habe ich gekeltert«, sagte der Mann, »und das Haus mit der Bank davor, das hat mein Vater gebaut.«

»Ich betreue das Haus«, schrie die Frau, »und die Kinder, die es nach Dir erben werden, in mir hast Du sie gezeugt.«

Und da solcherart das Band zwischen den beiden Gatten plötzlich abriß, da war es dem Fremden, als sei er selber bloß durch dieses Band gehalten worden, als wäre die Verführung, die der Mann im Wege der Frau, die Frau im Wege des Mannes auf ihn hatte wirken lassen, bloß solange in Geltung gewesen, solange der geschlossene Ring zwischen diesen Menschen bestand. Ja, es wurde ihm, der aus der Ferne kam und in die Ferne strebte, durchaus klar, daß das Endliche, in dem das Unendliche sich verfängt, immer ein geschlossenes System sein müsse und daß es an der Kraft des geschlossenen Systems liegt, wenn derjenige, der in ihren Bann gerät, sich sogar veranlaßt sieht, eine unschöne und verblühte Frau zu umarmen und ein Kind aus ihrem Schoße zu erhoffen, ja, das wurde dem Fremden klar, aber es ward ihm auch klar, daß die Kraft des Systems sofort versagt, wenn die Geschlossenheit des magischen Ringes auch nur an einer einzigen Stelle sich öffnet und daß dann unaufhaltsam das Unendliche wieder hervorbricht, hervorbrechen muß, die Seele des Menschen mit sich tragend. Oh Bild des Unendlichen im Endlichen, das immer wieder verlöscht wird! Und mochte darum der Fremde es dem Gastfreund auch verargen, daß der Zauber nicht vorgehalten hatte, daß der Ring zerbrochen war, und nichts übrig blieb als eine keifende und betrogene Frau, die Einsicht in das Unabänderliche befähigte ihn, ohne Arg Abschied zu nehmen. Er legte den Arm um des Gastfreundes Schulter, so daß sie, vereint in ihrer Freundschaft, ein Mann vor der Frau und vor der Feindseligkeit ihres Blickes standen. Und in diese Feindseligkeit hinein sprach er:

»Ich habe Euren Wein getrunken und ich habe Eure Nähe gefühlt, was Ihr hattet, botet Ihr mir an, und ich habe es angenommen. Ich unterlag der süßen Verführung des Endlichen und Irdischen, doch zur Unendlichkeit muß keiner verführt werden, denn ihre Verführung ist ewig.«

Und damit wandte er sich zum Gehen.

»Bleibe bei uns«, rief die Frau.

»Fahre heute Nacht mit mir«, rief der Mann, »wirst du es tun?«

»Ich weiß es nicht«, gab der Scheidende zurück, der den Steinwall schon hinter sich gelassen hatte. Denn schon war er des Meeres wieder ansichtig geworden, dessen Spiegel, ein mächtiger Stahlschild unter den goldenen Strahlen des Mittags zwischen den schattenlosen Zweigen der Ölbäume emporglänzte.

Mit dem Stock kräftig in den steinigen Boden stoßend, schritt der Fremde hinab, er hatte sich des Rockes entledigt, so daß er von ferne dem Gastfreund glich, und ohne Namen, ohne Ziel, die Sonne im Gesicht, war er doch wissend um das Ziel. Die Steinwälle neben dem Pfad verloren sich, die Feigenbäume und die Ölbäume blieben zurück, der Boden wurde weicher, schon knackten Zweige unter den Füßen des Wandernden und er drang ein in den Lorbeerhain, umsummt von dem Getier der durchsonnten Dunkelheit. Leben des Tönenden und des Geruches, Zone des Lebendigen und Irdischen, die immer wieder zu durchschreiten ist. Nun wurde der Abhang sanfter, in den kleinen Lichtungen des Lorbeerwaldes war der Boden grün, und da und dort glänzte ein hellerer Strauch durch das schwarzgrüne Gelaub. Der Wanderer nahm eines der ledernen Lorbeerblätter in den Mund und es war wie Erinnerung an den dunklen Wein, den er einstens – wie lange es her war, wußte er nicht – getrunken hatte. Nun war der Weg ganz eben, leicht und behaglich war es, dahinzuschreiten, es lichtete sich das Gebüsch, das metallische Rauschen des Wassers mischte sich schon in das Summen der Insekten und in die Ungeduld der Natur, die zum Ewigen hinstrebt, in das Sehnen der Landschaft nach dem Unendlichen, da glänzte die Fläche des Meeres zwischen den Stämmen und Kastanien.

Beinahe zögernd durchquerte der Wanderer den Garten der Küste, doch als er am Ufer stand, und als in den sonnigen Geruch der Landschaft sich der des Meeres mischte, da die Wellen in zarten Schlägen gegen die Felsen sich warfen, da kniete er nieder im Uferschotter, beugte sich ganz tief herab, daß seine Augen nicht höher waren als der Spiegel, und ohne Rücksicht auf die Kleider, die einstens in einer Großstadtstraße gekauft worden waren, tauchte er Gesicht und Hände in die mütterliche Flut.

Esperance

Noch immer bebt mir das Herz vor Fernweh, wenn ich an den Strand Sodoms denke, an das südliche Meer, das den kaumbewegten dunklen Rand an seinen Ufern zeichnete, an die Palmen, die ihn beschatteten. Und es ist mir, als wäre das Furchtbare, das mir dort begegnete und von dem ich doch hier berichten will, nie gewesen.

Unser Kreuzer war als Stationsschiff nach Sodom kommandiert. Nur ungern hörten wir den Befehl; ein längerer Aufenthalt in solch kleineren tropischen Hafenstädten ist lähmend und aufreibend. Die Tage vergehen, soweit sie nicht durch landesübliche Revolutionsunruhen belebt sind, in einem gereizten Nichtstun mit reglementierter Träumerei: man spürt verzweifelt, wie einem Zeit und Jugend gestohlen werden, blickt verzweifelt in sein eigenes leerstes Angesicht, das vom Menschenhaften nichts als die bloße Form noch trägt.

Es war selbstverständlich nicht daran zu denken, Frauen mitzunehmen. Wenn es mir trotzdem gelang, meine Schwester Esperance an Bord zu bringen, so konnte dies bloß geschehen, da sie ein Gazellenreh, ein Gazellenreh von außerordentlicher Schönheit war, und weil hiefür keine Vorschriften bestanden. Die Anwesenheit einer Dame an Bord verändert das Leben des Schiffes von Grund auf. Die Inhaltslosigkeit erhält den Pol, auf den sie sich konzentriert und erhebt sich zur Fiktion des Inhaltvollen. Die einzige Ehrlichkeit des Menschen: seine Verzweiflung und sein Schreck vor seinem unentrinnbaren Alleinsein verschwindet vor der Anwesenheit eines einzigen Wesens fremder Geschlechtlichkeit – – – ach, wie leicht akzeptiert der Mensch jene falsche und billige Ekstase, die die Einsamkeit zu durchbrechen wähnt, weil sie im Bette Du sagt.

Esperance wurde, wie man zu sagen pflegt, der Abgott des Schiffes. Trat sie des Morgens aus der Kajütentreppe, so konnte man gewiß sein, daß die dienstfreien Offiziere sie schon längst erwarteten. Sie blieb dann einen Augenblick in der Türe stehen, das rührend dünn-gefesselte Vorderbein leicht angezogen und auf die Spitze des Fußes gestellt, und bog mit unendlichem Liebreiz den Gazellenhals zu zartestem Gruße. Es gibt ein Wort unmäßiger Affektation – – – es heißt Minne. Zieht man die letzten Konsequenzen dieses Wortes und seiner Derivate – – – Minnedienst, Minnepfand, Minnelohn – – –, so kann man sich die Geschraubtheit vorstellen, unter welcher sich das sogenannte Leben auf S. M. leichtem Kreuzer »Loth« abrollte. Nichtsdestoweniger möge man die weiche und sehr keusche Stimmung jener Männer nicht allzu gering achten, möge nicht allzu sehr darob lächeln, daß es ihnen gleich dem eigenen Herzschlag klang, wenn Esperancens Trippeln während des abendlichen Spaziergangs wie ein wohlabgestimmtes Xylophon auf den Schiffsplanken tönte, denn selbst im Worte der Minne – – – und sei es noch so sehr vom ästhetischen Teufel vergiftet – – – ist ein Tropfen jener Göttlichkeit, die Hingebung heißt. – – –

Es vergingen die Tage in Leichtigkeit und Anmut, und als deren zweiunddreißig vorüber waren und die Küste Sodoms aus stillbewegter, morgendlicher See auftauchte, da war es, als steuerten wir zur Insel der Seligen. Süß und unbeschwert wehte vom Lande der Wind; man fühlte sich nackt und atmend unter den Kleidern, die sich dennoch leicht und selbstverständlich trugen. In schönem, weitgespanntem Rund lag die Bucht um uns; weiß schimmerten in der Morgensonne die Felsen und Steine der Ufer und die See war so ruhig, daß ihr feuchter, dunkler Rand auf dem Gestein kaum merklich breiter und schmäler wurde. Allüberall Palmenwald, unbewegt in der spielenden Brise, und zog sich die Hügel hinauf. An die Hügel angelehnt die Stadt mit gelblichen Häusern, flachen Dächern und einem kleinen Hafen, über dessen Molen die Segel der Fischerboote ragten.

In den Vormittagsstunden kamen einige prächtig uniformierte Mestizen an Bord, um die Landungsformalitäten zu erledigen, unter ihnen ein ganz vergoldeter Minister oder Bürgermeister, der den Kommandanten im Namen der Regierung begrüßte. Es verlautete, er hätte auch um Unterstützung gegen die Rebellen oder Affenstämme in den Wäldern gebeten, aber es war wohl anzunehmen, daß unser Alter jede Einmischung in die innerpolitischen Angelegenheiten eines befreundeten Staates, solange wir uns nicht mit ihm in Kriegszustand befanden, abgelehnt haben dürfte.

Immerhin verbot die ungeklärte Lage fürs erste, die Mannschaft an Land zu lassen. Bloß uns Offizieren war Landurlaub für den Nachmittag gestattet. Wir fuhren mit dem großen Boot, und es fiel den Leuten an den Riemen auf, wie schwer die Ruderarbeit wurde, je näher wir dem Ufer kamen. Das Wasser war wie verrottet. Geradezu wie mit Tang durchwachsen und dennoch konnten wir keinen wahrnehmen, bloß Aale in jeder Größe, solche von der Länge eines Fingers bis zu solchen von einigen Metern, Rochen, deren Kopf unmittelbar auf dem Schwanz saß, sonderbare Sägehaie. Als ein Mann unvorsichtig in das befremdende Wasser griff, schoß ein kleiner Aal aus dem Gewimmel und biß sich an seinem Finger fest wie ein Blutegel; noch viele Wochen später eiterte die Wunde.

Der Hafen machte einen fast sonntäglichen Eindruck. Oder, wenn ich mich richtig erinnere, eher den eines Panoptikums. Wir ruderten langsam zu den Kais; stumm schloß sich das Wasser hinter uns, denn in dieser Suppe von Melonen- und Kokosnußschalen, Zitronen und Tierkadavern hinterließ das Boot kaum eine Furche. Unbewegt lagen die Fischerboote nebeneinander, hie und da ein halb abgetakelter alter Dampfer, aber nicht ein europäisches Schiff. Die Segel und Flaggentücher klebten an den Rahen und wenn auch aus den Bars bei den Molen mechanische Musik herübertönte, wenn auch das Kreischen und wütende Klingeln der Straßenbahn hörbar war, ja sogar das Stimmengewirr und Geschrei südlich erregter Menschen aus den Straßenmündungen: die Laute amalgamierten sich nicht mit dieser Starrheit, der nur Stummheit entsprach, es waren Geräuschfetzen, die in der Stummheit herumschwammen.

Es mag sein, daß ich den Eindruck des Panoptikums bloß von den automatischen und eckigen Bewegungen zurückbehalten habe, mit denen die Kaffeehausgäste unter den Sonnendächern ihre Getränke zum Munde führten und wieder absetzten, vielleicht auch von der Unbeweglichkeit des Mannes mit dem Sombrero, der in voller Sonne an einer der gußeisernen Trossensäulen lehnte. Vielleicht war es die glühende Hitze, die solche Unbewegtheit hervorrief und es sogar verhinderte, daß die Hafenjugend uns mit entsprechender Neugierde und turbulenter Hilfsbereitschaft begrüßte: im Mauerschatten mit ein paar anderen Leuten stehend, sahen uns die Jungen zu und niemand war da, um in gewohnter Weise die Leine aufzufangen. Selbst die großen Eidechsen auf den Steinquadern ließen sich durch unsere Ankunft nicht stören, sondern blinzelten uns bloß giftig an.

Immerhin, als wir über den Hafenplatz gingen, folgten uns die Jungen, und wäre es nicht unter unserer Würde gewesen, so hätten wir uns umgedreht, um uns zu vergewissern, ob sie uns verhöhnten. Aber wir wußten es ohnehin.

Vor uns ging der erste Offizier zwischen dem Doktor und Leutnant Blake, ich folgte mit Kadett Enos. Der Platz war wie der Fleischerladen einer italienischen Kleinstadt, ich weiß nicht mehr welcher, mit großen Steinfliesen gepflastert; sie brannten unter den Sohlen und der Platz mit seinem gelben, geschlossenen Häuserrund erinnerte an irgend eine Arena für Tierhetzen oder sonstige blutige Spiele. Auch die Bars und Cafés mit ihren rot-weißen und rot-gelben Sonnendächern trugen zu solchem Bilde bei. Aber es änderte sich, als wir durch einen kurzen, kühlen Durchgang auf eine der Hauptstraßen traten. Die hatten einen fernher großstädtischen Charakter, ja man war fast versucht, an eine Vorstadt von Paris oder Marseille zu denken. Die Häuser zwar höchstens dreistöckig, doch voller Kaufläden, die Straße schmal, doch mit Lärm und Leben erfüllt, allein schon durch die gelben Tramcars, die mit außerordentlichem Aufwand von Geklingel einherholperten und quietschend um die Ecken bogen. Ungeheure grelle Firmenschilder und Plakate, die Türen der Geschäftslokale weit offen, die Waren halb auf dem Gehsteig, ein süßlicher Geruch faulenden Obstes. Auf der Schattenseite Limonadenverkäufer, Hausierer mit Konfekt, negroide Zeitungsjungen; überhaupt viele Neger. Eine Menge Tiere; Hunde und Schakale lagen in der Sonne, Meerschweinchen schnupperten in einem Rinnsal, auf den Telefondrähten saßen Chamäleons, mit dicker Zunge nach Fliegen zielend, am Puffer eines Straßenbahnwagens hatte sich eine Schlange angeringelt und ließ den Schwanz nachschleppen, ein Affe verfolgte seinen Weg längs der Firmenschilder.

Wir waren froh, Esperance, obwohl sie flehenden Rehauges gebettelt hatte, nicht mitgenommen zu haben. Enos hatte es für sie durchsetzen wollen, aber wir andern waren fest geblieben, und ich glaube wohl, daß er uns jetzt beistimmte. Fast bedauerten wir ja, selber an Land gegangen zu sein. Denn obwohl sicherlich keiner von uns feige zu nennen war, spürten wir alle eine ungute Stimmung um uns, und wenn wir nicht sogleich umkehrten, so war es, weil wir uns ein wenig lächerlich vorgekommen wären. Immerhin hatten wir von der Bevölkerung einer Stadt, die bei uns um Schutz angesucht hatte, eine andere Aufnahme erwartet: wir merkten, wie die Straße vor uns irgendwie stumm wurde, als würden wir die Unbewegtheit der Hafenatmosphäre mit uns getragen haben. Ja es war, als würde die Straße vor uns breiter und zugleich geräuschloser werden. Sogar die Hunde, die noch eben in der Sonne geschlafen hatten, standen auf, senkten den Kopf zum Pflaster und schauten mit offenem Gebiß feindselig zu uns herauf. Waren wir vorüber, so war es als schlügen die Wogen des Lärms hinter uns wieder zusammen.

So zogen wir also durch die Straßen. Auf dem Platz, an dem der Regierungspalast lag, setzten wir uns vor ein Café. Man brachte uns Eislimonade, die wir in sonderbarer Angst vor fremdartigem Gift nicht zu trinken wagten, und so saßen wir noch eine Weile untätig, schauten auf den Platz und seine verwahrlosten grau-grünen Anlagen mit den symmetrischen Palmenreihen, unter denen einige Alligatoren spielten und mit den Hunden sich begatteten, und warteten eigentlich auf Frauen, die der Gefahr, die wir nun doch einmal eingegangen waren, wert gewesen wären. Oh, es gibt Augenblicke im Leben des Seemanns, in denen selbst ein syphilitischer Kuß als romantische Gefahr begrüßt wird. Aber noch war es zu früh und zu heiß für den Korso, und so brachen wir auf, bummelten durch die Gassen. Enos schleppte uns von Laden zu Laden, um Eingeborenenschmuck für Esperance zu finden, und schließlich hatten wir alle die Arme voll Ketten, Ringe, Matten und Decken.

Der Abend brach unvermittelt an, Wind hob sich vom Lande her und die Luft wurde kühl. Nun hätten wir wohl zum Korso zurückgehen können, aber irgendetwas trieb uns zum Schiffe, vielleicht zu Esperance. Der Hafenplatz hatte sein Aussehen verändert und wenn mir die Menschen noch immer panoptikumhaft vorkamen, so war es wohl bloß, weil ich mich des nachmittägigen Bildes nicht ganz entledigen konnte. Es war der übliche Matrosenbetrieb. Viele Frauen mit dick geschminkten Gesichtern, Lippen aus chinesischem Lack, und wenn sie sie manchmal zu einer Art von vormenschlichem Lächeln öffneten, dann war das Zahnfleisch wie das Innere einer Wassermelone. Vorgebeugten Leibes ließen viele aus den Fenstern ihre Brüste hängen als wären es Trauben zum Trocknen, oder ließen nackten, fleischigen Arm wie lauernde Baumschlangen schlaff längs der Mauer pendeln. In den nun grell beleuchteten Bars saßen die Mädchen auf den roten Samtbänken unter den Spiegeln, starr den Zigarettenrauch vor sich hinblasend, oder hinaufgezogenen Knies zusammengekauert auf den hohen Barhockern. Manche der Frauen hatten Affen auf den Schultern, andere Papagein. Die Männer standen herum und kümmerten sich scheinbar überhaupt nicht um das Getriebe. Und es mag wohl sein, daß das Gespenstische bloß der augenblicklich scheinbaren Zwecklosigkeit entsprang: kein fremdes Schiff lag im Hafen und es war, als ob dieses ganze Fest, das doch keines war, aber den Eindruck eines solchen hervorrufen wollte, bloß wegen der wenigen Negersoldaten in ihren roten Uniformen angerichtet worden wäre. Wir schoben uns durch die Menge, und während ich noch darüber nachdachte, wie sehr derartige Veranstaltungen, die doch eine Höhe des Lebens dartun sollen, viel eher Sinnbild der Verwesung sein könnten und wie dennoch, als wüßte er von der Verschwisterung von Leben und Tod im Unendlichen, der Seemann, für den all die Mechanik vorgerichtet ist, an ihr jenen Überschwang des Gefühls zu erleben vermag, das dem Menschen eine Ahnung seines Daseins verleiht, ja daß unsere Leute im Boote jetzt wohl neidverzehrt und mit dem Gefühl, um ein Stück ihrer Jugend betrogen zu werden, auf das Gewimmel herüberstarren mögen, fühlte ich meine Finger von einer harten, kühlen Kinderhand umfaßt. Als ich herabblickte, war es ein mittelgroßer Schimpanse, der auf eine der dunklen Seitengassen mit unzüchtigen Gebärden deutete und mich mit der ganzen Kraft seines Körpers und seiner muskulösen Arme dorthin zu zerren sich mühte. Meinem Versuche, ihn abzuschütteln, begegnete er mit unwilligem Zähnefletschen und erst als ich ihm einige Kupfermünzen gab, konnte ich den Burschen loswerden.

Das Boot wartete und als die Riemen mit dem gewohnten hartklappenden Geräusch in die Dollen geworfen wurden, waren wir eigentlich alle etwas erleichtert. Das Wasser irisierte, wohl wegen der vielen sumpfigen Abfallstoffe, und wenn die Riemen eintauchten und emporgingen, dann fielen die Tropfen wie kleine Opallichter von ihnen herab. Weiß schimmerten die Uniformen im Boote; die Lichter der Stadt und des Hafenplatzes warfen lange Spiegelreflexe über das Wasser, am Ende der Molen blinkte das Drehfeuer auf.

Das Schiff lag erleuchtet, umkreist von einigen einheimischen Booten, die offenbar Händler, vielleicht doch auch Neugierige hergebracht hatten. Nachdem wir unsere Rückkunft gemeldet, gingen Enos und ich zu Esperance. Es war uns recht, sie nicht in der Kabine zu finden, denn wir richteten ihr dort vor allem mit unseren Geschenken eine Art Geburtstagstisch: wir bauten das Ganze malerisch auf und Enos, der von irgendwo kleine farbige Glühbirnen und Drähte herbrachte, verteilte die Lichter geschmackvoll über die Gesamtkonstruktion der Decken und Geschmeide. Wir trafen Esperance auch nicht auf dem Promenadedeck, sondern erst am Bug, wo sie sonst während der Fahrt gerne in die aufsprühende Gischt schaute. Aber wir trafen sie nicht allein. Vor ihr saß auf der Reeling ein großer Affe, ich schätze ein Gorilla. Mit der einen Hand hielt er sich bequem und gestreckt an einem der Drahtseile, die zum Geschützmast hinaufgespannt sind, den einen Fuß hatte er, die Reeling umklammernd, an den Leib gezogen, während er mit dem andern, der lässig herabbaumelte, Esperance an den Flanken kraulte. Esperance stand vor ihm, ließ es, wie es uns schien, geschmeichelt geschehen und hatte das Auge, kokett gedrehten Halses, bewundernd oder zärtlich oder wohlwollend zu dem Kerl emporgehoben.

Ich sah, wie Enos nach dem Revolver griff, und hielt seinen Arm fest. Die beiden ließen sich durch unsere Ankunft wenig stören; Esperance schien Miene machen zu wollen, uns vorzustellen, während der Gorilla uns kaum beachtete; er nickte uns bloß mit einem kurzen, negerhaften Feixen zu und ließ nicht ab, Esperance weiter an den Flanken zu kraulen. Enos war leichenblaß und auf dem Sprung, sich auf die beiden zu stürzen. Ich trat rasch vor ihn hin und bedeutete dem Gorilla, daß um diese Zeit keine Fremden mehr an Bord geduldet werden, Esperancen aber, daß sie sich in die Kajüte zu verfügen hätte. Sie war offenbar erstaunt, gehorchte aber: mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihrem Besucher und einem vorwurfsvollen Blick auf uns entfernte sie sich, und wir hörten ihr unschuldiges Xylophontrippeln auf den Planken verklingen. Der Kerl schaukelte noch ein wenig auf seinem Sitz, wohl um uns zu ärgern, dann erhob er sich auf der Reeling, glitt im Nu zur Ankerluke und wir sahen ihn, aufgerichtet über die gespannte Ankerkette hinabgehend, im Dunkeln verschwinden; augenscheinlich hatte ein Boot dort auf ihn gewartet.

Der Vorfall regte uns mehr auf, als wir uns eingestehen wollten. Esperance war beleidigt und ließ sich nicht blicken, trotz der Geschenke, die sie doch in der Kabine vorgefunden haben mußte. Enos saß mit zusammengebissenen Zähnen auf Deck, war nicht zu bewegen, sein Lager aufzusuchen. Irgendwelche sonderbare und große Vögel schienen das Schiff zu umkreisen. Der Kapitän ließ die Schweinwerfer spielen, und wir entdeckten zwei Geier, die auf einem der Schlote saßen und uns mit hochgezogenen Schnabelwinkeln anlachten. Aber es mußten ihrer viel mehr gewesen sein. Wir stellten doppelte Wache auf, doch kaum lag ich zu Bette, als plötzlich die Dampfpfeife ertönte; als wir nach der Ursache fahndeten, trafen wir eine ganze Herde kleiner Affen, die über die Türme und Rahen turnten. Einer der Leute kam auf den guten Gedanken, sie mit dem Dampfstrahlgebläse der Hydranten zu vertreiben, und wir hatten den Spaß, die Tiere, soweit wir sie zwischen die Scheinwerfer bekamen, unter den Strahlen ins Wasser purzeln zu sehen. Gegen Morgen trat etwas Ruhe ein, und als der Tag nach kurzer Dämmerung unvermittelt und strahlend anbrach, schien es wie ein vorübergegangener Spuk. Bei solcher Versöhnung der Natur hätten wir doppelt erwartet, daß Esperance das Vergangene mit uns vergäße und in gewohnter Weise zum Morgenimbiß erscheine. Aber sie kam nicht. Schließlich ging ich zu ihrer Kabine; es regte sich nichts und ich klopfte. Als ich keine Antwort erhielt, drückte ich auf die Klinke; die Tür war unversperrt, die Kabine leer: unser Geburtstagstisch schien unberührt, noch brannten die farbigen Lichter, kaum sichtbar in der Tageshelle. Es war sonderbar. Wir durchsuchten das ganze Schiff – – – keiner der Leute hatte Esperance gesehen; sie war, daran war nicht zu zweifeln, verschwunden. Fassungslos starrten wir uns an. Selbstmord? ich fühlte mich schuldbewußt ob meiner Härte. Aber keiner der Wachen hatte ihren so wohlbekannten Hufschlag gehört. Sie mußte also weggetragen worden sein. Geraubt. Entführt. Wir stürzten nochmals in die Kabine. Keine Unordnung, nichts Außergewöhnliches, bis mein Blick auf ein Zeitungsblatt fiel. Wie kam dieses Lokalblatt her? ich sah es durch und blieb an einer Reihe von Inseraten haften, in denen Hebammen ihre diskreten Dienste, weiße Eselinnen und Ziegen ihre Reize, Masseusen ihre Künste, Kuppler ihre Waren anboten. Es war mir und Enos plötzlich klar, daß hier der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegen müsse.

Es galt, keine Zeit zu verlieren. Obwohl ich lieber allein gegangen wäre, mußte ich Enos mitnehmen. Wir fuhren mit zwei Mann, und hatte es mich schon erstaunt, ja geradezu gequält, daß wir, beide des Spanischen nicht mächtig, das vorgefundene Zeitungsblatt lesen und verstehen konnten, als wäre es unsere Muttersprache, so war es noch erstaunlicher, daß wir, fast ohne die Inserate einzusehen, als liefen wir in Geleisen, lückenlos die angekündigten Orte fanden, ja so lückenlos, daß all die Wohnungen wie zu einer einzigen zusammenschmolzen und es war, als gelangten wir von einer zur anderen, ohne auch nur die Straße zu betreten: durch dieses Gebirge von Wohnungen, in denen die Räume selten in einer Flucht lagen, sonderbar aber mit auf- und absteigenden Stufen verbunden waren, mit irgendwelchen undefinierbaren Gängen, die teils durch die Zimmer, teils wie Terrassen über Höfe führten, mit den offenen Türen, aus denen Viehzeug und geschminkte Frauen, halb erschreckt, halb verlangend uns nachblickten, fette, alte Weiber mit großen, einladenden Gesten uns zum Verweilen und guter Ruhe aufforderten, jagten wir, als berührten unsere Füße kaum den schmutzigen Boden.

Wie lange dieses fruchtlos atemlose Suchen dauerte, war nicht zu entscheiden – – – uns dauerte es Stunden. Plötzlich standen wir vor einem Vorstadthaus und wußten, daß es das gesuchte sei. Enos lief voran. Wir kamen durch eine Reihe Zimmer, die seltsam durch viele Küchen unterbrochen waren. Einige Frauen, die uns in den Weg kamen, sahen wir kaum, ein Pumakater, der sich fauchend uns entgegenstellte, erhielt von Enos einen Fußtritt, daß er winselnd in eine Küchenecke rollte. Ich schüttelte die Inhaberin, eine kleine, hagere Französin, die sich an meinen Rock gehängt hatte, ab und nach zwei weiteren Zimmern trafen wir auf Esperance.

Sie lag auf dem roten Ziegelboden eines Raumes an der Schattenseite des Hauses, die beiden geöffneten Fenster ließen die in der Sonne matt glänzenden Palmenwälder sehen; ein Eckchen des Meeres grüßte herein. Neben ihr auf dem Boden stand eine Schüssel mit blutigem Wasser; einige beschmutzte Tücher hingen über einem Stuhl. Sonst gab es keine Einrichtungsstücke. Es durchschoß uns mit großer Klarheit; man hatte ihr Gewalt angetan.

Ihre Flanken arbeiteten. Sie hatte die Augen geschlossen, aber kein Stöhnen und kein Schmerzenslaut war vernehmbar. Unseren Eintritt schien sie nicht zu bemerken. Ich beugte mich über sie und wußte, daß es zu Ende ging. Enos war auf die Knie gestürzt, seine Stirne berührte den Ziegelboden, seine Hände tasteten vor, aber er wagte nicht, sie zu berühren und so hielt er sie endlich wie segnend über sie.

Es war nichts mehr zu tun. Sollte ich zum Schiff zurück, den Doktor holen? Es war deutlich, daß er zu spät kommen müsse. – Es konnte nur mehr Viertelstunden währen. Ich ging in die Küche, holte Wasser und machte mit unseren Taschentüchern eine Kompresse, die ich ihr auf den zarten Nacken legte. Da bemerkte ich, daß sie doch eine der Ketten angelegt, die ihr Enos gestern mitgebracht hatte.

Ich setzte mich auf das Fensterbord und schaute in die Landschaft; unendliches und angstvolles Weh über die Dunkelheit alles Kreatürlichen erfüllte mich bis zum Rand. Als ich mich umwandte, sah ich, daß Esperance – vielleicht infolge der Kompresse, vielleicht erweckt durch Enos segnende Hände – die Augen geöffnet hatte und ihr Blick voll Tränen ruhte in dem Auge Enos. Und obwohl ihre Rede leiser war als der Hauch ihrer Münder, vernahm ich in meinem Herzen ihre Zwiesprach. Erst war es wie ein Rieseln in meiner Brust, das ich kaum erfassen konnte, und es war mir eine große schmerzliche Anstrengung, es zur Formung zu bringen; dann aber vernahm ich Enos Stimme, als käme sie aus einem Grammophon mit einer Wattenadel.

»… in Buchenwäldern, die mit Cyklamenduft bis zu den Wipfeln der Bäume erfüllt waren. Dort lebte der Knabe. Und wenn es Abend wurde, erlosch der Duft und nur der Geruch trockenen Holzes war noch knackend um mich. Der Abendwind kam und nahm den verblassenden Himmel, der durch die Wipfel noch hell hereinsah, mit sich.«

»Weiß waren die Planken des Schiffes in der Sonne und drückend der Schatten unter dem Sonnensegel. Doch dann standest du, Enos, aufrecht in der weißen Helligkeit, und in deinem Schatten wurde meine kühle Heimat.«

»Die Hände der Mädchen waren braun und schlank – – – oh, wie haßte ich die Jäger, da sie die Rehe töteten. Friedlich war die Wiese vor dem Schlosse und die Rehe ästen unter den schütteren Bäumen des Parkes.«

»Kam die Nacht, verging ich in Sorge um dich, Enos. Ich hörte die Schläge der Maschine, und das Wasser glitt längs des Schiffes. Du aber warst ferne und ich fürchtete den Abgrund des Meeres unter des Schiffes Kiel.«

»In ruhiger Anmut stand sie auf der Wiese und die Rehe lehnten den Kopf an den Gürtel ihres Kleides. Noch waren sie unter den Bäumen und blickten ihr nach, wenn sie im Hause entschwand. Ich aber in der dunklen Halle wartete ihres Eingangs – oh, welche Sehnsucht erfüllte mich, lieben zu können ohne zu begehren.«

»Als du kamst, Enos, wußte ich, daß ich lebe und daß ich sterben werde, weil du kamst.«

»Mit Efeu umrankt war der Hof unseres Hauses, Esperance, und die Eiche, von weißer Bank umschlossen, ragte über die Mauern. Das Mädchen war schön und unsere Hände lagen nebeneinander – – – fünfblättrig die ihre, fünfblättrig die meine. Und ich wußte nicht, ob ich sie begehrte, weil sie mir so fremd oder so ähnlich war.«

»Du warst mir fremd und nah wie ein Gott, Enos, und wenn ich in seltenen Stunden zu träumen wagte, dann war ich Leda oder Europa.«

»Und ich floh vor der Schönheit, die auf mich eindrang und die mein Herz nicht mehr ertrug, floh vor der verklärten Kühle morgendlicher Wiesen, vor der zitternden Dumpfheit des Schattens, der eingefangen war in dunklen Gebüschen mittäglichen Parkes, floh vor all dem, was mich erfaßte und mich zersprengte, weil nicht zu erfassen ich es vermochte, floh, um die Schönheit nicht mehr zu sehen.«

»Ich weiß nicht, Enos, ob du mir schön warst. Aber ich wußte, daß ich in dir geborgen war und doch in namenloseste Einsamkeit gestoßen durch dich, durch dich herausgehoben aus der Verbindung mit aller Kreatur.«

»Begehren zu können, ohne lieben zu müssen, fand ich in den Städten und der goldene Spiegel des Meeres schien mir Verzicht und Verheißung in meiner Angst, Esperance.«

»Ich weiß nicht, wo ich vorher war, ehe du kamst, Enos, ich war dein Geschöpf, das du erschufst.«

»Oh Esperance, du warst für mich das Lebendige, das ich lieben durfte, deine Zärte war so ferne, daß Rührung ohne Begehren war; einverwoben warst du mir, einverwoben allem, in dem ich aufwuchs, und deutliches Sinnbild all dessen, vor dem ich liebend geflohen, fand ich wieder losgelöst als Unantastbares in fremdestem Rahmen.«

»Wenn ich an dich dachte, dann sprach mein tiefstes Ich neue und vielsagendere Sprache, die kaum selber ich verstand.«

»Oh Esperance, warum verließest du mich.«

»Ich bin von dir weggegangen, Enos, und habe dich nie verlassen. Ich habe dich geflohen und floh nur zu dir. Ich mußte mich vernichten, um in dir zu leben.«

Da verdunkelte sich Enos Stimme, und noch leiser, selbst meinem aufhorchenden Herzen kaum vernehmbar, sagte er würgend:

»Esperance, ich habe dich – ich sah deinen dankbaren Blick als er dich an jenem Abend, oh« – kaum zu erraten war das heisere Wort – – – »streichelte.«

»Ach Enos, selig wäre ich gewesen, hättest du mich getötet – aber jetzt, Enos, verlohnt es sich nicht mehr. Laß mir deinen Blick.«

»Oh Esperance.«

»Und zweifle nicht an mir, Enos. Kann ich dir besseren Beweis geben als zu sterben? einmal mußte es mich noch ergreifen, die panische Nacht, in der wir geboren – sie war der Tod. Von deiner Hand wäre er süß gewesen.«

»Oh Esperance, ich liebe dich.«

»Es ist gut so, wie es gekommen ist, Enos, leide nicht – noch habe ich deinen Blick – es ist gut, in ihm zu ruhen.« –

Dann verstummten sie und Esperance tat es für ewig. Enos kniete noch immer gebeugt über die kleine Leiche, da spürte ich, daß irgendetwas Furchtbares herannahe. Ich sprang zur Tür, um sie abzuriegeln, doch entsetzt, mehr entsetzt, es nicht früher bemerkt zu haben als über die Tatsache selber, sah ich, daß keine Tür vorhanden war, bloß ein Vorhang von Glasperlenschnüren. Ungehindert konnte der Gorilla eintreten. Ich riß den Revolver heraus, kam aber nicht zum Schuß, denn Enos hatte auch schon den Riesen erblickt und, selber eher einem Tier gleichend, sprang er ihn an. Der Gorilla warf ihn zurück. Doch der Kampf war zu ungleich: einen Augenblick standen die Gegner, jeder auf die Brust mit den Fäusten trommelnd, einander gegenüber, dann stürzte sich der Gorilla auf Enos, hatte ihn schon umschlungen und ihm den Kopf, der kraftlos zur Seite sank, aus der Wirbelsäule gehoben. Über mich hinweg, der ich mich duckte, erwartend, daß das Untier nun auf mich losgehen werde, flog der Tote zum Fenster hinaus, – doch der Gorilla beachtete mich nicht weiter, ja nicht einmal meine Schüsse, die in seine Haut wohl kaum eindrangen oder ohne Verletzung durch seinen Körper hindurchgingen: er nahm den toten Körper Esperances und turnte mit ihm – fast war die Eile possierlich – zum Fenster hinaus.

All dies geschah so schnell, schneller als in einem Traum, daß meine Erinnerung die einzelnen Phasen kaum zusammenreimen kann; dennoch glaube ich, daß sie so abgelaufen sind, wie ich sie hier schildere. Wie ich zum Hafen kam, kann ich mich nicht mehr entsinnen, vielleicht, weil ich mich der Flucht schämte, vielleicht, weil es mich noch immer quält, die Leiche meines Freundes im Stich gelassen zu haben. Doch weiß ich noch, daß durch das Zimmergewirr ich den Ausgang suchte, daß mich der Pumakater ansprang und ich ihm einen Revolverschuß in den geöffneten Rachen schickte. Und sehe mich noch bei der Leiche Enos stehen und die Insekten, die ihn bereits umschwärmten, abwehren, sehe zwei Polizisten herankommen, höre, daß ich wegen gemeinen Mordes zu verhaften sei, sehe, wie einer ein Paar Handschellen hervorzog. Doch dann entsinne ich mich nur noch des Pfeifens von Kugeln, die sie mir nachsandten, und es war, als ob jene entlegene Vorstadt nun plötzlich eng an den Hafenplatz herangerückt wäre. Vielleicht lag sie wirklich so nahe und ich hatte nur durch unsere vorherige Kreuzfahrt die Orientierung verloren, kann es aber nicht glauben. Kurz, meine nächste Erinnerung sieht mich erst, wie ich über den Hafenplatz auf unser Boot zulaufe, während die Gassenbuben und Schimpansen um mich herumtanzten und mich zu Fall zu bringen suchten.

Aus dem Zollhaus kamen die Zollwächter und Polizisten herübergerannt. Woher sie den Befehl hatten, uns aufzuhalten war mir unerfindlich; aber sie kamen zu spät, denn wir hatten schon abgestoßen, und waren bald im Schutze unserer Kanonen.

Während ich über den entsetzlichen Vorfall noch Meldung erstattete, kam die Regierungsbarkasse heran, die Beschwerde überbringend, daß wir durch Anmaßung von Polizeigewalt, überdies aber durch Mord und Totschlag den Frieden der Stadt gestört hätten und meine Auslieferung verlangend. Die Schadenersatzansprüche der Bürger und der befreundeten Stämme würden noch später bekanntgegeben werden. Es verstand sich, daß sie keiner Antwort gewürdigt wurden, daß aber der Kommandant dagegen die unverzügliche Auslieferung des Leichnams Enos verlangte und hiefür eine dreistündige, also mit Abend ablaufende Frist setzte.

Bei Anbruch der Dämmerung war noch keine Nachricht von der Regierung eingelangt und so machten wir zwei Boote klar. Wir warteten noch eine Stunde und als dann noch immer nichts eintraf, fuhren wir, kriegsmäßig ausgerüstet, langsam dem Hafen zu.

Es war indessen völlig dunkel geworden und wieder warfen die Lichter der Stadt ihre Spiegelreflexe über das tote Wasser. Besonders der Hafenplatz schien uns ungewöhnlich erleuchtet und es war auch, als hätten die Geräusche dort einen eigenen Rhythmus erhalten. Wir waren bedrückt, ja eigentlich verzweifelt und mir zumindest war es zu Mute, als führen wir dem Höllenrachen entgegen. So ruderten wir stumm dahin, und bloß das Knacken der Riemen, das leise Plätschern vor dem Eintauchen war über der Wasserfläche hörbar.

Als wir zum Hafeninnern kamen, bot sich uns ein überraschendes Bild. Alle Häuser waren hellerleuchtet, alle Fenster mit Menschen besetzt. Auf den Stühlen der Kaffeehäuser standen Zuschauer. Eine Estrade war erbaut worden, auf der die Mitglieder der Regierung in ihren Goldfräcken saßen. Militär sperrte den Platz im Halbkreis ab. Vor dem Militärkordon eine Reihe Frauen, Kastagnetten und Tamburins in den Händen. Auf den Stufen der Regierungsestrade lagen einige Großkatzen, Pumas und ähnliches. Vor den Frauen aber hockten im ganzen Halbkreis die Gorillas. Es war ein Konzert von einer Schrecklichkeit und Schönheit, wie ich es nie wieder hören werde. Die Affen schlugen im dröhnenden Takt mit den Fäusten auf ihren Brustkorb, begleitet von dem Zwischenrhythmus der Kastagnetten. Am Beginn der beiden Molen stand je eine Gruppe von etwa fünfzig Männern, den Sombrero auf dem Kopf und Mandolinen in den Händen. Alles, die Hüte der Männer, die Schultern der Affen und in dicker Schichte die Steinplatten des Platzes waren mit bunten Coriandolis bedeckt und Papierschlangen zogen sich von Gruppe zu Gruppe und über den weiten Platz, als sollten sie das festliche Bild zur Einheit zusammenhalten. So war auch das Bailabile, das in der Mitte des Platzes um die Flaggenstange herum stattfand, mit dem Rund der Zuschauer und Musikanten verbunden: es tanzten hier an den Händen sich haltend, in alter spanischer Nationaltracht, züchtig und von unsagbarer Sinnlichkeit zugleich, eine Gruppe von acht Frauen einen Rundtanz um den Mast.

Wir waren gebannt durch das feenhafte Schauspiel. Plötzlich schrie ein Mann auf und deutet auf den Flaggenmast. Unbegreiflich uns allen, daß das, was doch den Mittelpunkt des Festes darstellte, uns nicht sofort aufgefallen war: an den Flaggenmast hatten sie – in seiner weißen Uniform hing er dort, den Tropenhelm auf dem herabgesunkenen Kopf festgebunden – den entseelten Körper Enos befestigt. Und tanzten um ihn herum.

Gelähmt vor Entsetzen schauten wir hinüber. Sollten wir hineinschießen? sollten wir landen? den Körper unseres Freundes befreien? Wir hatten keinen Befehl, Feindseligkeiten zu eröffnen, dennoch hätten wir es getan, wenn nicht in diesem Augenblick der Scheinwerfer des Schiffes dreimal aufgeblitzt hätte, als Aufforderung für uns, zurückzukehren. Offenbar hatten sie dort auch schon bemerkt, was hier vorging.

Wir wendeten also und kehrten zurück. Auf dem Schiff hatten sie das Fest durch den Feldstecher beobachtet, nicht aber gesehen, um was es sich drehte. Es war kein Zweifel, daß etwas geschehen mußte, und wir waren glücklich, als das Kommando ertönte, einen Warnungsschuß abzugeben. Wir wiederholten den Schuß dreimal. Als aber keinerlei Wirkung sich zeigte, das Fest vielmehr immer wilder wurde, so daß wir fürchteten, sie würden den Körper Enos zwischen sich und den Tieren zum Fraße aufteilen, drehten wir bei und waren froh, als sich die Geschütze mit öligem Gleiten auf die Stadt richteten.

Was auf den ersten Schuß erfolgte, war unfaßbar. Es war ein Augenblick Stille und nur das Dröhnen der Affenfäuste und das Klingeln der Mandolinen tönte herüber. Dann erhob sich mit dampfartigem Zischen, als sei die ganze Stadt aus Papier und Magnesium, eine ungeheure weiße Flamme gegen den Himmel, von einer Tageshelle, daß wir noch monatelang mit Augenschmerzen herumgingen. Wir schossen noch einige Male hinüber, und immer war der Schuß von dem Aufblitzen immer kleiner werdender, zischender, papieriger Stichflammen beantwortet. Als auf den letzten Schuß alles schwarz blieb, richteten wir die Geschütze gegen die Palmenwälder. Wir schossen die ganze Nacht, und wenn sich der schwarze Rauch von den Wäldern hob, dann sahen wir im rötlichen Licht des Brandes riesige Affenherden über die nackten Wipfel jagen.

Am Morgen stellten wir das Feuer ein. Ein Wald nackter Stämme, an denen schwarz der Bast und verkohlte Blattreste klebten, blickte herüber. Irgendwo lag dort Esperance. Die Stadt aber war tatsächlich verschwunden: keine Mauerreste, nichts, nicht einmal die Molen waren vorhanden, bloß eine Dünenlandschaft weißer, papieriger Asche. Wir fuhren hin, um den Versuch zu machen, die Gebeine Enos zu finden; es war aussichtslos, der Scheiterhaufen, den wir ihm errichtet hatten, hatte ihn aufgezehrt. Und angesichts der außerordentlichen Ereignisse, deren Zeugen wir gewesen waren, haben wir uns nicht gewundert, daß der Morgenwind seine Asche zu der Esperances leicht und voll kühler Minne hinübertrug und sie ihr vermählte.

Unverzüglich lichteten wir Anker. Als wir das tote Küstenwasser verließen, und die Wellen des Ozeans um uns rollten, waren die Ufer Sodoms nicht mehr auszunehmen. Ich ging über Deck. Am Bug saßen zwei Mann, nähten an den Rändern eines Sonnensegels und sangen zur Arbeit. Da erst fiel mir auf, daß wir seit unserer Ankunft in Sodom kaum ein Wort gewechselt hatten, ja daß sogar die dienstlichen Befehle geradezu lautlos erflossen und bestätigt worden waren. Und je mehr ich dem Gesange lauschte, der immer weiter sich erhob, zur Zweistimmigkeit anschwoll und den herbbewegten Himmel erfüllte, da war es mir, als würde über mein Herz mit einem linden feuchten Schwamm hinweggewischt und als würde der Schmerz um Esperancens Verlust, der in mir brannte, milde ausgelöscht werden.


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