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Kapitel 6

Am nächsten Abend erzählte Agathe weiter: Wir gingen nun regelmäßig in die Schule und lernten fleißig. Die anderen Kinder blieben uns fremd; damals wußte ich nicht, warum; aber ich merkte so etwas, als ob ich ihnen nicht gut genug sei. Zum öfteren wisperten sie zusammen und schauten auf mich; wenn ich dann in ihre Nähe kam, schwiegen sie still. Da war es nötig, daß ich mich meines Namens erinnerte und gut gegen sie war. Aber auch daheim war's nötig. Die Dienstboten legten es darauf an, mich durch Zurufen der früheren Nachnamen zu necken und aufzureizen. Wenn ich dann bereits losfahren wollte, tönte die Mahnung, »sanft Und gütig« an mein erregtes Gemüt, und ich antwortete nur: »Ich heiß' aber Agathe und höre nur auf den Namen.«

Der Sepp gab mir nun vollends Gelegenheit, mich in der Sanftmut zu üben. Er wuchs zu einem gewalttätigen Unband heran; dabei war er trotzig und gleich übellaunig, wenn sein Wille nicht geschah. Der Peter wurde sein Sündenbock. Wenn sein Stein eine Henne traf, wenn er im Stall die gelegten Eier austrank, wenn er sich mit der verbotenen Sichel verwundete und dann heulend in die Stube lief – alles mußte der Peter getan haben. Der Peter schwieg und ließ sich widerstandslos strafen, während der Sepp hinter der Tür stand und ihn dafür auslachte. Auch jetzt erinnerte ich mich meines Namens, bemeisterte meinen Zorn und begnügte mich damit, es seiner Mutter zu sagen. Anfangs wollte sie bös gegen mich sein, wie zuvor; als sie aber selbst aufmerkte, und als ich immer gesetzter und ordentlicher wurde, glaubte sie mir und sagte: »Überwach' du den Sepp, ich hab' keine Zeit dazu, sonst wird's ein Heimtücker, der Kaiserhof braucht aber einen richtigen Erben.« Hernach sperrte sie zur verdienten Strafe den Sepp in den Stall; das war ihm gerade recht, dort trieb er erst recht Unfug und lachte nur dazu.

So verstrich die Zeit. Ich lernte Lesen, Rechnen und Schreiben und bekam ein wunderschönes Geschichtenbuch als Preis. Daheim gab es kein ruhiges Winkelchen zum Auswendiglernen und zum Lesen. Deshalb flüchtete ich mich, so oft es nur anging, zur elterlichen Hütte, die immer mehr in Verfall geriet. Dort las und lernte ich, und dazwischen- sah ich wieder in der Erinnerung den schwarzbärtigen, braunen Mann, der so fremde Worte gesagt, mich aufs Knie genommen, geküßt und sein Kind genannt hatte. Da überkam mich wieder heiße Sehnsucht nach dem Vater, jetzt ganz besonders, seitdem alle gut gegen mich geworden waren und ich die Elternliebe spürte. In der einsamen Hütte fiel mir wieder der Schreck ein, als ich gehört, mein Vater sei plötzlich gestorben. Ich lief heim und fragte zuerst den Bauern, an was er gestorben. Und als der mich so finster stirnrunzelnd ansah und doch nichts antwortete, lief ich mit der gleichen Frage von einem Knecht zum anderen; aber die schüttelten nur den Kopf. Zuletzt wandte ich mich an die Mutter; sie antwortete: »Armes Kind, frag' mich nicht und bet' mit mir: Gott geb' ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm, Amen!«

Am selbigen Abend vor dem Schlafengehen betete die Mutter wirklich ein Vaterunser für meine Eltern laut, und das ganze Gesinde stimmte in den Schluß ein: »Herr, laß sie ruhen in Frieden, Amen!« Da zog mich's zum Gottesacker, wo ich nicht mehr gewesen, seit die Katharine fortgegangen war. Ich wußte aber genau das Grab meiner Eltern zu finden, dort in der Ecke, entfernt von den andern Gräbern. Es war verwittert, Gras wuchs auf dem Hügel, das Holzkreuz neigte sich zur Seite, das Blechtäfelchen darauf war mit Schmutz überzogen; man konnte die Inschrift nicht mehr lesen. Schnell entschlossen zog ich die Tafel aus meiner Schultasche, an der ein Schwamm hing. Ich lief zum nächsten Wasserbehälter und netzte ihn. Dann fuhr ich damit über die Blechtafel, rieb und rieb, bis die Inschrift deutlich zum Vorschein kam. Da stand ich nun und las, wobei mir fast die Sinne vergingen, und las ungläubig immer von neuem. Dort stand:

Hier ruhen:
Ilka Pinterschich
aus Böhmen, und ihr Ehegatte
Johann Pinterschich,
erschossen.

Mir war's als hörte ich die Kugel sausen, so ging es in meinem Kopfe zu. Ja, was ist denn das? Ich heiße doch Baumayer; alle Kinder heißen wie ihre Eltern. Warum trag' nur ich einen anderen Namen? Da hörte ich im Geiste das Gewisper der Kinder und sah ihre verächtlichen Blicke. Ich konnte mir nichts zusammenreimen; aber wie ein angeschossenes Reh, das sich im Waldesdickicht verbirgt, lief ich fort, fort, atemlos fort und sah nicht um, bis ich im hintersten Winkel meiner elterlichen Hütte stand. Dort kauerte ich mich zusammen und wiederholte das fremde, niemals gehörte Wort: Pinterschich – erschossen! Da saß ich und dachte nicht mehr ans Heimgehen.

Es wurde Abend; ich fürchtete mich nicht in der Totenstille; als aber Stimmen von Männern hörbar wurden, kam mir die Furcht, ich hielt den Atem an und lauschte.

Erst verstand ich kein Wort, weil die Männer meinem Verstecke zu ferne waren. Endlich vernahm ich Tritte, sie hielten inne. An der Seitenwand befand sich das Hausbänkchen mit der Aussicht auf die Berge. Dort setzten sie sich, und ein schauerliches Stöhnen drang an mein Ohr. Dann sagte der eine: »Mußte mir der Absturz just hier passieren, als ob mich hier unser Herrgott eigenhändig hinabgeworfen hätte, jetzt, wo ich ein rechtschaffenes Gewerbe treibe! Wenn ich mich wenigstens von der Hütte weg ins Dickicht schleppen könnte!«

Da entgegnete der andere: »Ich meine, es wäre gerade der gelegenste Ort. Ich trag' dich hinein und hol' aus dem Städtel Hilfe herbei.«

Sei's, daß den Verunglückten der Fuß aufs neue schmerzte oder etwas anderes ihm weh' tat: genug, ich vernahm deutlich einen Seufzer. Dann sagte er: »Du redest, wie du's verstehst. Daß ich mich nicht leicht fürchte, weißt du ja. Aber in der verfallenen Hütte gruselt's mir. Dort fürcht' ich mich, zuerst vor mir selbst und meiner Erinnerung, dann vor dem kleinen Mädchen des Pinterschich, weil mir's wie ein Mühlstein auf der Seel' liegt, daß sie durch mich, durch meine Schuld den braven Vater verloren hat. Sie soll zwar im Kaiserhof gut aufgehoben sein; aber Vater bleibt Vater, und meine vier Kinder daheim täten mich für alle Schätze des reichsten Bauernhofes nicht vertauschen.«

Als ich das hörte, stockte mir fast das Blut in den Adern, denn obgleich ich damals erst neun Jahre zählte, verstand ich nicht nur jedes Wort, auch den Sinn. Mein Herz hämmerte so laut, daß ich fürchtete, durch die löcherige Wand gehört zu werden. Da gab es aufs Neue was zu erhorchen.

Der andere Mann sprach: »Was ficht dich jetzt an, Isidor! Warst ja gut Freund mit dem Böhmen und hast ihm nie was zuleid' getan.«

Der Verwundete lachte wild auf und entgegnete: »Nichts zuleid' getan! Allerdings sonst nichts, als daß ich an seinem Tod schuld bin. Da es mir einmal doch vom Herzen herunter muß, so laß dir's jetzt erzählen, hier angesichts der Unglücksstätte und der verlassenen Hütte.«

Und nach einer lautlosen, kurzen Pause erzählte der Mann seinem Kameraden: »Der Pinterschich hat gleichzeitig mit mir an der Brennerbahn gearbeitet, und so sind wir als gute Kameraden hierhergekommen. Er aber gelangte zu einem besseren Posten; und als er sich gar noch verheiratete und dieses Haus erbaute, verdroß mich's und verleidete mir meine Arbeit. Ich wollte auch ein Haus und ein Weib haben und schnell reich werden. Da hab' ich mich an diesem Grenzort den Schmugglern angeschlossen und kam nach Jahresfrist durch dieses einträgliche Geschäft zum gewünschten Ziel. Da ich einen Handel mit Kleinvieh betrieb, so war es den Leuten und meinem rechtschaffenen Weibe nicht auffällig, wenn ich zeitweise im Land herumzog. Mein Hauptgeschäft bestand aber darin, zollbare Waren mit meinen Spießgesellen aus dem österreichischen des Nachts über die Berge ins Byerische tu schwärzen, so die Maut zu umgehen und den Kaiser um das, was des Kaisers ist, zu betrügen.

Zur Zeit, als mein Schmugglergeschäft gerad' am besten ging, starb dem Pintschich sein Weib. Von da an war er verändert, wild und unmutig, und anstatt des Nachts zu rasten und daheim zu bleiben, stieg er auf den Bergen umher und übernachtete bei Fuchs und Dachs. Dort traf er auf uns. Damit er uns nicht verrate, suchten wir ihn zu bereden, die Taglohnarbeit aufzugeben, seine Hütte zu verkaufen und sich uns anzuschließen. Anfangs war er dazu geneigt. Er rief: »Dies Leben halt' ich nicht mehr aus! Weib und Kind verloren!« Er berichtete mir, daß sein Mädel im Kaiserhof zwar untergebracht sei, daß man ihn dort jedoch verachte und wie einen kläffenden Hund vom Hofe gejagt habe. Hätte er Geld, so wollt' er sich das Kind schon holen und forttragen in sein Vaterland.

Ich lachte: »Geld? Das kannst leicht haben und zwar in einem halben Jahr mit uns mehr als in dreien bei der Eisenbahn.«

Er entgegnete verdrossenen Tons: »Damit ist's ohnedem aus; ich muß mich um anderen Erwerb umschauen.« Ich drang nun in ihn; aber er war in seinem Entschluß bereits wieder schwankend geworden und murmelte vor sich hin: »Zuerst muß ich mein Kind nochmals sehen!« Dann richtete er den Kopf empor und sagte mit fester Stimme: »Übermorgen um Mitternacht treff ich dich dort oben an der Felswand bei der Wettertanne!« Fort war er.

In der bestimmten Nacht war der Himmel stark umzogen, der Mond schaute nur bisweilen zwischen Wolken hervor. Das war just recht für unser Unternehmen, auf dem Rücken die Waren über den Berg zu schmuggeln, vorüber bei der Wettertanne. Wir brauchten den Vollmond nicht, sondern kannten jeden Stein, jede senkrecht abfallende Felswand und waren schwindelfrei. Der Berghiesel führte uns an und kundschaftete mit seinem scharfen Adlerblick alles aus, indem er sich über den Abhang bog und spähte. Nun befanden wir uns ganz nah' dem verabredeten Orte. Der Mond brach ein wenig durch und zeigte uns die hohe Gestalt des Böhmen, der sich an die Tanne lehnte. Also schlich ich mich von den andern fort und fragte mit unterdrücktem Tone: »Ja oder nein?«

»Nein!« sagte der Böhme laut, daß es wie ein Schwur durch die Nacht klang. Dann fügte er bei: »Ich hab' heut' mein Kind auf den Knieen gehabt; es hat seine beiden Arm' um meinen Hals geschlungen, mich geküßt und Vater genannt. Nein! Mein Kind soll wenigsten von mir einen unbefleckten Namen erben! Es soll von seinem Vater sagen können: arm ist er gewesen, aber ehrlich und fleißig! Es soll des Vaters Segen und nicht seinen Fluch erben, auch wenn –«

Er konnte nicht ausreden. Über unsere Köpfe sauste eine Kugel, dann pfiffen andere von rechts und links, daß es zwischen den Felsen knatterte. Meine Spießgesellen waren bereits ins Handgemenge mit den Grenzjägern geraten. Jetzt leuchtete eine Fackel durchs Dunkel und beschien uns beide abseits bei der Tanne. Da stürzte einer auf mich zu und legte an. Pinterschich hatte sich wie der Wirbelwind gedreht und hielt ihn vorwärts umklammert. So rangen sie ein paar Augenblicke um Leben und Tod; sie kamen dabei immer näher dem senkrecht abfallenden Felsen – da ging der Schuß los, der Böhme stieß einen gellenden Schrei aus, brach zusammen und stürzte kopfüber in den Abgrund.

Ein allgemeiner Schreck ergriff die Verfolger, daß sie wie erstarrt vor der Felswand standen. Wir aber ergriffen die Flucht und waren gerettet.«

Der Mann schwieg und der andere auch; eine Totenstille lag um die Hütte.

Während der ganzen Erzählung klopfte mein Herz wie mit Hammerschlägen, und in meinem Gehirn flogen die Gedanken umher wie Schneeflocken im Sturm. Dann kam's wieder wie ein heller Blitzstrahl über mich: Ich sah plötzlich allerlei mitleidige Augen, höhnische Mienen und verächtliche Gesichter und verstand das alles nunmehr; man hielt meinen Vater für einen Schwärzer oder Wildschützen, man verachtete ihn und verachtete mich, sein Kind. Und das alles mit Unrecht. Er war rechtschaffen und fleißig gewesen, er wollte mir seinen guten Namen und seinen Segen hinterlassen, und er hatte mich so, so gerne gehabt! Der Mann jedoch da draußen war an allem ganz allein schuld; ohne den Mann lebte mein Vater noch, und ich besäße eine richtige, eigene Heimat; die Stadtkinder dürften mir nicht mehr ausweichen und über mich und meinen Vater Böses zusammen wispern.

So ähnlich rumorte es damals in mir, wenngleich erst später mit den Jahren sich's zu Worten gestaltete, wie ich sie euch erzähle. Damals verdiente ich den Spottnamen »Wilde Katze«, den man mir vor der Krankheit beigelegt; denn ich wollte über den Mann herfallen und mit allen Nägeln meiner zehn Finger sein Gesicht zerkratzen.

Da brach aus dem Wald das Licht einer Kienfackel hervor und näherte sich dem Hause. »Agath'!« tönte es durch die Luft. Näher und näher leuchtete der Fackelschein; näher und näher tönte der Ruf: »Agathe, Agathe! Wo bist du?« Nun war mir's, als vernähme ich wie zum erstenmal des Lehrers Worte: »Agathe, sanft und gütig«, und es kam mir vor, als saß' ich auf meines Vaters Knie, als läge segnend seine Hand auf meinem Kopf. Alle Wildheit schwand, nur Tränen flössen mir über die Backen; ich trat unter die Hüttentür und sagte: »Da bin ich!« Mit einem Jubelschrei stürzte der Peter auf mich zu, ihm folgte der Kaiserhofbauer, der mich gleich ergriff, mich auf seine Schulter setzte und sagte: »Haben wir dich endlich, Mädel! Aber so weine nur nicht, die Mutter tut dir nichts und ist froh, wenn ich dich heimbringe nach der ausgestandenen Angst.«

Während wir drei schnurgerade zum Kaiserhof zogen, hatten die Dienstleute den Verunglückten entdeckt und berieten mitsammen, wie sie ihn zum Kaiserhof für die Nacht bringen könnten. Einer lief in die Stadt, um den Doktor herauszuholen. So verbrachte der Mann die Nacht in der Stube neben der meinen. Ich aber schlief sanft, ich hatte solch wunderschönen Traum vom Himmel und von Engeln und von einer Frau, die auf mich zukam, immer mir winkend, während ich immer ihr nachlief, endlos – endlos – bis ich erwachte.

Hierauf nahm das Leben seinen herkömmlichen Gang. Ich weiß nicht, weshalb ich ganz und gar über das Vernommene schwieg, vielleicht aus Furcht, vielleicht aus Scham - kurz, ich weiß nicht, weshalb. Aber inwendig rumorte es seitdem, wenn mich ein Mensch nur von der Seite ansah oder mit einem Blick auf mich einem anderen ins Ohr flüsterte, oder wenn das Wort »Schwärzer« genannt wurde. Ich fühlte es dabei heiß über mein Gesicht ziehen: und hätte ich nicht den schönen Namen gehabt, wer weiß, ob ich nicht losgebrochen wäre.

Jetzt ging auch der Sepp mit uns zur Schule. Der Bub' machte sowohl uns als auch dem Lehrer viel zu schaffen. Bei den Stadtkindern dagegen war er gut angeschrieben, denn er brachte ihnen allerlei mit, Apfelschnitz, getrocknete Birnen, Eier, kurz, was er heimlich erwischen konnte. Wenn es die Bäuerin merkte, mußte stets der Peter es büßen, bis er beinah' gleich einem Küchendieb verschrieen war. Der stille, eingeschüchterte Bub' ließ alles auf sich sitzen und wehrte sich so wenig wie ein Lamm bei der Schur. Dies verdroß und ärgerte mich so, daß ich dem Peter fast bös wurde. Die Erzählung, die ich in der Hütte angehört, hatte mir einen Abscheu vor jedem Diebstahl beigebracht und mir Mitleid mit jedem Geschöpf, dem Unrecht angetan wird, eingeflößt, sodaß ich mich sogar ins Mittel legte, wenn ein stärkeres Tier über das schwächere herfiel oder die frechen Spatzen vom Schwalbennest Besitz ergriffen und die Eigentümer verdrängten. Um wie viel mehr mußte mir also der Peter zu Herzen gehen!

Da erbat ich mir einmal die Erlaubnis, nach Beendigung der Schule den Lehrer etwas zu fragen. Als ich allein vor seinem Pulte stand, schaute ich ihm gerade ins Gesicht und sagte: »Herr Lehrer, was bedeutet der Name Peter?«

Der Lehrer erwiderte mir: »Das könntest du aus der Biblischen Geschichte wissen. Sagte nicht der Herr Jesus zu seinenr Apostel: Du bist Petrus – Mann wie ein Felsen? Es bedeutet also felsenfest und stark.«

Er sah mich forschend an, denn meine Augen mögen vor Freude geleuchtet haben. Dann fügte er bei: »Ah so, du fragst wegen deines Peters. Ja, ja, der könnte schon etwas von seinem Namen lernen. Der Bub' hat in seinem Charakter zu wenig Widerstandskraft, und das ist für einen künftigen Mann nichts nutz. Kleine Wetterhexe, stell' es ihm nur vor!«

Ich ging triumphierend heim und beschloß, bei nächster Gelegenheit, wenn Sepp gegen Peter falsch austfumpfte, dagegen meinen Trumpf auszuspielen. Und sie ergab sich baldigst, draußen bei meiner Hütte.

Als im Herbst der Sepp zum Schulbesuche mit Ränzchen, Buch, Heft, Tafel und Griffel ausstaffiert worden war, kaufte sein Vater gleich ein Dutzend Schiefertafeln im voraus. Aber so viel er seinem Buben auch zutraute, solche Fertigkeit im Zerschlagen hatte er ihm doch nicht zugetraut. Woche für Woche kam Sepp mit Scherben nach Hause. Anfangs meinte er, damit eine Heldentat vollbracht zu haben. Endlich wurde es dem Vater zu viel; er tadelte den Buben scharf, aber dieser fand immer wieder allerlei Ausreden. Als der Vater seinem Sepp die letzte Schiefertafel reichte, machte er ihm noch einmal ernste Vorstellungen. Doch sie halfen nichts, es mußte das dritte Dutzend ins Haus. Nun schob der Sepp jedes neue Tafelunglück auf den Peter, der die Schuld aber leugnete. Der Bauer wußte nicht mehr, wem von beiden er glauben solle. Da fügte es sich, daß ich selber Zeugnis ablegen mußte; das kam so: Auf unserm Heimweg hatten wir ein Vogelnest in den Zweigen eines Erlenbaumes entdeckt. Eines Tages streckten die Jungen kreischend die gelben Schnäbel über den Rand. Peter kletterte flugs am Stamm empor, sah in das Nest und lachte über die großen Äuglein der Vögel. Ich bat ihn dringend, er möge herunterkommen und die armen Vögel in Ruh' lassen. Aber er entgegnete, daß er ihnen nichts tue. Da kletterte Sepp auch hinauf und als er fast auf dem Ast daneben saß, langte er mit beiden Händen nach dem Nest, um es zusamt mit den Vögelchen herunterzunehmen. Jetzt entspann sich zwischen den zwei Buben ein Kampf. Peter war so erzürnt, daß er den Kleinen rücklings hinab ins Gras schleuderte. Dieser fiel auf den Rücken, wobei die neue Schultafel in so viele Stücke zerbrach, daß sie aus dem Rahmen fielen.

Sepp lief laut weinend dem Kaiserhof zu. Als der Vater fragte, was denn so Arges geschehen sei, stieß der Knabe die Worte heraus: »Peter – ist schuld – an meiner zerschlagenen Tafel.« Wir standen furchtsam vor dem erzürnten Vater, denn seine Drohung klang uns noch in den Ohren. Da fuhr dieser den Peter mit rauher Stimme an: »Heraus mit der Sprach'! Hast du die Tafel zerbrochen oder nicht?« Der Peter stotterte; er wußte nicht, sollte er mit ja oder nein antworten; schließlich, als ihn der Vater wiederholt noch zorniger anschrie: »Hast du die Tafel entzwei geschlagen?« stotterte Peter: »Nein.«

Ich stand daneben und wurde über und über rot; der Peter hatte gelogen, denn hätte er den Sepp nicht vom Baum geworfen, so wäre die Tafel noch ganz. Der Vater merkte mir's an und fragte mit forschendem Blick: »Mädel, bekenn's, wer von den zweien ist schuld an der zerbrochenen Tafel?« So leid mir's tat, ich mußte es sagen, aber ich sagte es beinahe unhörbar: »Der Peter.« Da bekam der arme Bub' den Stecken zu fühlen, und der Vater rief: »Wart, ich treib' dir das Lügen und Leugnen aus!« Von daher hatte der Sepp ein leichtes Spiel. Unter sechs Tafeln mußte wenigstens vier der Peter auf sich nehmen; so eingeschüchtert war jetzt der Bub', daß er gar keine Widerrede mehr wagte.

Schließlich reizte das Tafelzerbrechen den Bauern zum Zorn. Als das letzte, vorrätige Stück an die Reihe kam, sagte er zu beiden: »Wenn der Kaiserhof, anstatt mit Ziegeln und Schindeln, mit Schiefertafeln gedeckt wär', ihr zwei brächtet ihn sicher um sein Dach. Jetzt paßt auf: Das ist heuer die letzte Tafel! Wer von euch sie zerschlägt, dem hänge ich den leeren Rahmen um den Rücken und führ' ihn mit diesem Schandzeichen selber zum Lehrer, damit er ihm den Denkzettel aufmesse, und sollte er dazu den Polizeidiener brauchen. Dabei bleibt's so sicher, als ich der Kaiserhofbauer bin!«

Wenn der Bauer diese Beteuerung anwendete, dann wußte jeder, wie viel die Uhr geschlagen habe.

So lange wie dieses Mal hatte noch keine Schiefertafel ausgehalten. Es ging schon dem Ende des Schuljahres zu, die Ernte war im vollen Gange, wobei alles vollauf beschäftigt war. Wir Kinder hatten einen Freipaß, der niemals visiert wurde, wenn wir uns nur vor Gebetläuten bei der Abendsuppe einfanden.

Unser liebster Spielplatz war der Hechtsee und auch meine leere Hütte, wo wir unser Schulgerät ablegten, die ausgezogenen Schuhe einstellten, um ungehindert ins Wasser zu gehen und die Füße baden zu können.

Eines Nachmittags gingen wir von der Schule schnurgerade dorthin. Ich und der Peter setzten uns auf die Bank, zogen die Schiefertafel heraus und machten die Hausaufgabe, um dann ungehindert spielen zu können. Aber die Rechnung war schwer, die Probe kam nie heraus.

Dem Sepp dauerte das zu lange. Er ging an den See, wie er sagte, um inzwischen flache Steine zu suchen. Wir warfen diese so gerne über das Wasser hin und zählten, wie oft sie aufsprangen und weiterflogen, oft fünf- bis sechsmal. Wir wetteiferten in dieser Geschicklichkeit, aber meist tat es uns darin der Sepp zuvor. Immer noch waren wir bei unserer Aufgabe. Da rief ich erfreut: »Ich hab's heraus!« Peter, der seine Tafel auf den Knieen liegen hatte, neigte sich zu der meinen. In diesem Augenblick flog vom Dach herab ein Stein, gerade auf Peters Tafel, daß die Scherben und Splitter nur so herumflogen. Wir waren beide erschreckt aufgesprungen. Peter schaute auf seine nun am Boden liegende Tafel, ich sah empor zum Hüttendach; dort erblickte ich noch den Sepp, wie er sich gleich einer Katze herabließ; wahrscheinlich ging er um die Mauer, kam dann ganz langsam, als komme er vom See, zu uns heran, beide Hände auf dem Rücken. Er blickte auf die zerbrochene Tafel und sagte zu Peter: »Du kannst dich freuen, wenn du heimkommst. Ich geh' morgen nicht mit dir in die Schule, ich schäme mich.«

Da überkam mich die Entrüstung. Schnell trat ich zwischen die beiden so ungleichen Buben. Der Peter stand da wie ein armer Sünder, die Zipfelkappe in der rechten Hand, mit der linken wischte er sich die Angstzähren aus den Augen; der Sepp dagegen kreuzte immer noch die Hände auf dem Rücken, um den zweiten Wurfstein zu verbergen, und schaute verstockt und trotzig zur Seite, denn er getraute sich nicht, mir ins Gesicht zu lügen. Da streckte ich meine Arme gegen den Buben aus und rief: »Untersteh' dich, Sepp, und klag' wieder einmal den Peter unschuldig an! Willst du leugnen, daß du den Stein vom Dach herabgeworfen hast? Her mit dem zweiten, den du versteckst, er soll gegen dich zeugen!« und ich nahm ihm den Stein aus der Hand.

Dann wandte ich mich zu Peter und sagte: »Du aber, Peter schäm' dich, alles auf dir sitzen zu lassen! Der heilige Petrus im Himmel droben muß sich deiner schämen und denken, der verdient meinen Namen »felsenfest« nicht, wenn er ihn gleichwohl in der Tauf empfangen hat. Ja, felsenfest, daß du es nur weißt, bedeutet dein Name! Schau' einmal den Fels dort an! Kümmert der sich um Sturm und Schnee und Unwetter aller Art? Der hält aus mit Widerstand. Dem Felsen dort mach's nach! Dein Name paßt richtig für einen Buben, wie der meinige für ein Mädel. Jetzt merk' dir's! Und wenn dich der Sepp wieder falsch anklagt, so bleib' felsenfest dabei, daß er lügt! Sonst wird im Leben kein handfester Mensch aus dir.«

Bei diesen Worten schaute der Peter vom Boden auf; seine zwei blauen Augen glänzten wie der Himmel über uns, als wollten sie Ja und Amen sagen. Der Sepp hatte sich fortgeschlichen; ich packte die Tafel ein und ging mit Peter dem Kaiserhof zu, indem ich ihn bisweilen anstieß und mahnte: »Felsenfest, fürcht' dich nicht, Peter!«

Des Abends, als die beiden Buben eben gute Nacht gesagt hatten, legte ich die zerbrochene Tafel vor die Eltem hin. Da fuhr der Vater zornig in die Höhe und rief: »Wem seine Tafel ist's?« Peter trat auf meinen Wink vor ihn und sagte: »Die meinige; aber der Sepp hat sie zerschlagen.« »He, Sepp, ist's wahr?« fragte der Kaiserhofbauer. Sepp wagte keine Widerrede.

Da geriet sein Vater wohl in Zorn und sagte: »O, du nichtsnutziger Schlingel, zuletzt bringst du uns noch um den Hof! Aber wart' nur, es ist dir nicht geschenkt! Jetzt hab' ich nur keine Zeit, meine Drohung auszuführen.« Hierauf langte er in seine Tasche und reichte dem Peter das nötige Geld, um sich eine neue Tafel zu kaufen.

Damit war es, wie schon so oftmals, abgetan; natürlich lachte sich der Sepp triumphierend ins Fäustchen. Daß ich es nur gleich sage: diese elterliche Nachsicht trug keine guten Früchte. Es gibt nun einmal böse Buben in der Welt, die die Güte nicht vertragen können und mit Strenge erzogen werden müssen. Das aber brachte leider der Kaiserhofbauer nicht zustande. Aber Peter hielt fürder seinen Namen in Ehren!

Agathe schwieg eine Weile und ergriff dabei die Hand des fremden Studenten, der sich zu ihren Füßen gelagert hatte. Sie schaute ihn von der Seite freundlich an und nickte ihm zu. Da ging ein lauter Ausruf des Erstaunens durch den Zuhörerkreis, denn sie hatten in ihm den Peter erkannt.

Das Mädchen schaute zum Himmel empor. Bereits wurden die Schatten länger, und alle Anzeichen des Abends stellten sich ein. Da sagte sie: »Eigentlich wär's genug für heute; aber ich möchte die Geschichte zu Ende bringen, – was meint ihr?«

Da riefen alle: »Erzähl weiter!« Auch die Eltern, die unter die Tür zur Großmutter getreten waren, nickten ihr ermunternd zu.


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