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IV.

Am nächsten Morgen kam ein Brief, der uns meldete, daß der Onkel seinen Besuch verschieben müsse und erst in vierzehn Tagen eintreffen könne. Das versetzte uns in nicht geringen Schrecken. Erstens verzögerte dies unsere Wiedererstattung des Geldes, denn der Onkel blieb gewöhnlich eine Woche und gab sein Geschenk beim Abschiede; zweitens kamen wir dadurch um die beste Gelegenheit, uns von den Kindern und dem langen Michel abzusondern. Doch auch ohne dieselbe zogen wir uns zurück und spielten im engeren Kreise auf dem Anger. – Inzwischen wurde die Tyrolerwalburg zusehends matter und schwächer. Das fiel gleich einem Froste auf unsere Jugendfreuden und mahnte uns mit Gewissensbissen an das schuldige Geld.

Eines Tages erklang das Posthorn durch unseren stillen Heimatort, der Onkel fuhr endlich an mit seinem einzigen Töchterchen Marie. Damit begann eine glückliche Vakanzwoche. Er hatte uns so lieb, der gute Onkel Anton! Er verstand es mit Kindern umzugehen, trug beständig bunt eingewickelte Zeltchen in seiner Tasche und war sehr freigebig damit, hatte einen eigenen Wagen, einen Kutscher in Livree, der so schön das Posthorn blies und unser guter Freund war, es reihte sich Festtag an Festtag, es kamen Besuche und man fuhr auf Besuch. – Dazu lachte der blaue Himmel hernieder, und wir lachten zu ihm hinauf, nichts störte uns, sogar nicht die bedenkliche Miene, als der Onkel von der Tyrolerwalburg kam und sagte: »Sie hofft bald zu mir nach Illertissen zu kommen; ich fürchte, sie hat eine weitere Reise zu machen!«

Bereits waren zehn Tage in Glückseligkeit verlebt und das Ende nahte. Der Reisewagen stand im Hofe, der Koffer lag gepackt im Zimmer, der Abschiedsschmaus war beendet; am andern Morgen schon wollten unsere Gäste abreisen. Eben hatte man sich vom Essen erhoben, als die Nanny bleich und erschrocken herein sah.

»Was gibt's?« frug die Mutter ängstlich und zählte mit einem Blick die Häupter ihrer Lieben; keines fehlte, wir standen um den Onkel versammelt. Die Nanny winkte die Mutter herbei, – sie flüsterten miteinander, worauf über der Mutter Antlitz ein wehmutsvoller Ernst zog. Darauf ging sie zum Onkel und sagte: »Wir sind zu spät dran mit unserem Abschiedsbesuche bei der Walburg. Sie ist tot. – So fand man sie, vom Schlage berührt, in ihrem Lehnsessel.«

Auch auf den Vater und den Onkel machte diese Nachricht einen schmerzlichen Eindruck; jedoch keines ahnte, was in zwei Kinderherzen vorging. Plötzlich war unser Gewissen, das die Lustbarkeit in Schlaf gewiegt hatte, erwacht und zwar unter so heftigem Stoße, daß wir meinten, in die Erde versinken zu müssen. Man beachtete uns nicht und der Onkel frug: »Wie kam das doch so plötzlich? – Bei meiner Ankunft war sie noch munter und wollte in bälde zu mir reisen.«

»Das war die Freude des Wiedersehens« – sagte die Mutter. »Mir tut jetzt nur leid, daß ich sie in den letzten Tagen nicht mehr besucht und ihr kein Geld geschickt habe. Das zuletzt gesandte muß längst aufgezehrt sein; es sind bereits vier Wochen verstrichen und die Arme war so bescheiden, daß sie eher Hungers gestorben wäre, als etwas zu verlangen.«

Nanny fiel der Mutter in die Rede und bemerkte: »Die Bäuerin sagte mir, sie hätte schon seit drei Tagen keinen Appetit gehabt, und nichts, als einige Löffel Suppe über die Lippen gebracht.«

Während diesem Gespräche waren wir beide wie zu Stein erstarrt und wie wir uns später bekannten, tönte es wie die Posaunen des Weltgerichts in unsern Ohren: »Hungers gestorben – nur einige Löffel Suppe über die Lippen gebracht.«

Als Nanny schwieg, klang durch die Stille ein lauter Ton des Schluchzens, der sich gewaltsam aus Antons Brust emporrang. Er stürzte auf die Knie, hob die Hände empor und sein Weinen und Schluchzen wurde zum Jammerschrei. Da wandten sich alle zu ihm und zu mir, welche leise weinend daneben stand.

Die Mutter frug ängstlich: »Was ist Dir, Kind, warum weinst und jammerst Du so sehr?«

Der Knabe rief mit halb erstickter Stimme: »Ich bin schuld – daß die Walburg – Hungers gestorben ist! – Ich hab ihr zehn Groschen genommen!«

Was hierauf folgte, ist mir undeutlich. Fragen, Entrüstung, des Vaters Zorn, der Mutter Schmerz, des Onkels Besänftigung, Mariechens und Sophiens Flehen, unser Bekenntnis, unsere Reue, unser Herzensjammer - alles dies mischte sich untereinander. Endlich folgten wir den Eltern und dem Onkel in das Haus des Todes.

Die alte Tyrolerwalburg lehnte in ihrem Stuhle, den Kopf auf die Seite gelegt, die Hände gefaltet, in ihrem Antlitz selige Verklärung, auf ihrem Schoß lag die Büchse mit den übelriechenden Arzneigegenständen. Wahrscheinlich war ihr übel geworden und sie wollte ihre Sinne beleben.

Wir knieten vor der Leiche nieder, küssten die welken Hände und benetzten sie mit heißen Tränen. Es war unnötig, uns eine Strafpredigt zu halten; ernster, als jemals eine tönen kann, sprach sie zu uns aus den milden Zügen der Entschlafenen.

In ihrem Sacke fand sich jedoch zu unserem unsäglichen Tröste ein ledernes Beutelchen mit kleiner Münze und den zwanzig Groschen. Auch in ihrer Schublade befand sich ein Notpfennig von mehreren Talern. So war unsere geängstigte Seele doch wenigstens frei von den Folgen unserer leichtsinnigen Handlung.

Auf dem Friedhofe zu Jettingen liegt das einsame Grab der Tyrolerwalburg, die ferne von den Heimatbergen in die ewige Heimat eingegangen ist. Wir setzten ihr damals aus dem Geschenke des Onkels ein Kreuz. Nun ist der Hügel geebnet und die Spur, wo sie eingesenkt wurde, verloren. Nur,wenige werden sich ihrer noch erinnern, aber in meinem Gedächtnisse lebt sie fort, mit treuem, dankbarem Andenken.


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