Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Das Thier im Menschen.

(1890)

1.

Es ist auffallend, in wie hohem Grade die Dichtung der jüngsten Zeit bei den hervorragendsten ihrer europäischen Vertreter mit der Vorstellung einer Doppelheit unseres Wesens beschäftigt ist.

Bei einem einzigen französischen Schriftsteller – Paul Bourget – tritt diese Zweitheilung im menschlichen Geschöpf wissenschaftlich begründet auf. Bourget ist nämlich auch als Dichter der psychologische Kritiker, der er ursprünglich gewesen. Bei der Erklärung des Trieb- und Gefühlslebens seiner Personen geht er niemals rein künstlerisch zu Werke; er hat stets die Sonde des Forschers in der Hand.

Ueberblickt man daher seine gesammte dichterische Production von seiner ersten Novelle, »L'irréparable«, an bis zu seinem Roman, »Le disciple«, so wird man gewisser gemeinsamer Züge gewahr. Alles dreht sich im Grunde um die Verdoppelung des Ich. Jene erste Novelle ist die Geschichte eines jungen, originellen Mädchens; eine Ueberrumpelung in der Einsamkeit der Nacht von Seite eines gewissenlosen Mannes, mit welchem es sich in eine unschuldige Koketterie eingelassen, bildet die kritische Begebenheit seines Lebens. Die Erzählung beginnt, sehr bezeichnend, mit einem Gespräche zwischen dem Verfasser und einem Professor der Psychologie, der ein Werk über die Auflösung der Ideen-Associationen geschrieben. Da nun, was wir unser Ich nennen – die Vorstellung von etwas Innerem und Bleibendem, das mit einem Körper verbunden ist – eine durch Ideen-Association entstehende Vorstellung ist, so betrifft unzweifelhaft das von dem Professor in Wahrheit studirte Problem die Formen der Auflösung des Ich und seine Doppelnatur, wie sie bei den zahlreichen Krankheiten des Gemüthes und des Willens auftreten. In dem zuletzt erwähnten Romane von Bourget begegnen wir nun aufs neue dem Professor der Psychologie, aufs neue dem gleichen Thema. Die Arbeit, die der junge, des Mordes angeklagte Verbrecher Robert Greslou einem berühmten Professor einsendet um dessen Urtheil zu erfahren, ist eine Studie über das Doppelwesen des Ich.

In der Novelle wird vor Allem entwickelt, worin die einfachste Verdoppelung des Ich bestehe. Das Ich ist theils bewusst, theils unbewusst. Daraus erklären sich im Allgemeinen die Irrthümer und Missgriffe im Leben. In uns verbirgt sich ein Geschöpf, das wir nicht kennen, von dem wir niemals wissen, ob es nicht das gerade Gegentheil des Wesens sei, das wir zu sein vermeinen. Darauf beruhen die seltsamen Umschläge im Benehmen und in der Handlungsweise, die wir erleben oder beobachten. Dieser z. B. arbeitet auf ein Ziel hin, von dem er sein Glück abhängig wähnt, und hat er es erreicht, entdeckt er, dass er die heimlichen, wahren Forderungen seines Gefühlslebens verkannte. Jener wieder sieht aus wie andere Menschen, handelt wie die Anderen. Da erhebt sich mit Einemmale das Bild seines Unglücks vor ihm, einer steten Sorge, einer steten Gefahr, deren er zu vergessen strebte, die ihn jedoch plötzlich überwältigen und seinem Leben eine völlig veränderte Richtung geben kann.

In dem Roman liefert die Hauptperson eine vollständige Analyse ihres eigenen Wesens, indem der junge Mann jeden seiner Gemüthszustände auf ein wissenschaftliches Schema: Vererbung, Einfluss der Umgebung, Versetzung der Person u. s. w. zurückführt. Er bestimmt seine herrschende Eigenschaft als die Gabe oder den Trieb der Selbstverdoppelung. Es walten in ihm gleichsam zwei sich deutlich von einander unterscheidende Persönlichkeiten: eine, die kommt und geht, handelt und fühlt, und eine, die da als Zuschauerin der anderen Lebensführung beobachtet. Er ist nicht im Stande, anzugeben, welche der beiden Personen sein wahres Ich sei. Er versucht diese seine Zwiefältigkeit von einer Racenmischung, der Abstammung von einem Grenzvolke herzuleiten. Von Kindheit auf hat er an Verstellung und Unwahrheit seine Freude gehabt, nicht aus Prahlsucht, sondern einfach um in seiner Phantasie und dem Bewusstsein der Umgebung ein Anderer zu sein. Es machte ihm das grösste Vergnügen, Meinungen auszusprechen, die den von ihm als wahr angesehenen schnurstracks entgegengesetzt waren, und zwar aus demselben sonderbaren Grunde. Seine Lust ist, neben seiner wahren Natur eine erdichtete zum Ausdruck zu bringen. Die ganze Lügenhaftigkeit in seinem Auftreten, seine Freude zu betrügen, verführen, überlisten, sich ein edelgesinntes Weib, für das er keinerlei Zuneigung hegt, zu erschleichen, all das ist nur die Folge dieses unüberwindlichen Zwiespaltes in der Anlage seines Menschenwesens.

Wie man sieht, ist die Zweitheilung, die den wissenschaftlich gebildeten Bourget beschäftigt, eine solche, die nur auf philosophischem Wege vollständig verstanden werden kann. Sie entspricht allerdings einigermassen der Spaltung unseres Wesens, die man in alten Tagen zwischen dem sogenannten Leiblichen und dem sogenannten Seelischen fand, fällt aber mit dieser keineswegs zusammen. Nur insofern dürfte Bourget sie nach althergebrachter Weise auffassen, als er in seinen späteren Schriften als einziges Mittel gegen dieselbe die religiöse Andacht verherrlichen zu wollen scheint.

II.

Andere bedeutende Schriftsteller der Gegenwart, die gleichfalls bei der Vorstellung einer Doppelheit unseres Wesens verweilen, haben diesem Dualismus einen Ausdruck gegeben, der fast an das Mittelalter gemahnt. Sie sprechen von dem Thierischen im Menschen und dem Menschlichen im Menschen, wie von zwei verschiedenen Welten, die in uns zusammengekoppelt sind. Sie zeigen sich in einer Weise von dem Gedanken dieses Verhältnisses beherrscht wie ungefähr die Theologen von dem Verhältnisse der göttlichen und der menschlichen Natur im Gottmenschen. Nicht gar wenigen der zeitgenössischen Dichter ist das menschliche Geschöpf eine Art Centaur, halb Thier, halb höheres Wesen, das der Schall der eigenen Hufschläge, wenn es sich in hochfliegende Gedanken verliert, aus seinen Träumen weckt.

Die sich so in die Betrachtung des Thieres im Menschen versenken, wollen es entweder einfach schildern, es in seiner ganzen Furchtbarkeit und Abscheulichkeit ausmalen, oder sie wollen es bekämpfen, zuweilen sogar es ausrotten, ohne dass es ihnen jemals gelänge, scharf und klar die Scheidewand anzugeben, wo das Thierische aufhört und das Menschliche beginnt. Hat doch der Mensch nur allzu viele Functionen und Organe mit den niedrigeren Geschöpfen gemein.

Eine zum Nachdenken anregende Erscheinung ist nun die principielle Uneinigkeit der bedeutendsten Dichter unserer Zeit in Bezug auf die Frage, ob das sogenannte Thierische ein Ueberrest des ursprünglichen Naturzustandes aus den Tagen der Wildheit und jenen der Barbarei, oder ob es mit seinen uns bekannten Zügen ein Culturproduct, ein Product der Uebercultur ist, so dass es, wie man sich auszudrücken pflegt, allein durch die Rückkehr zur Natur, das heisst zu einfacheren, ländlicheren Zuständen bekämpft werden kann.

Einzelne Dichter, wie Maupassant oder Zola, neigen der ersteren Ansicht zu; ihnen bedeutet das Thier die primitive Wildheit. Andere hingegen, wie Strindberg, Tolstoi, huldigen der zweiten Auffassungsweise; nach ihnen entstammt das Thierische der Unnatur unserer falschen Civilisation.

Tolstoi's neue, in Russland verbotene, aber stark gelesene Erzählung »Die Kreutzer-Sonate« ist eine rein moralisirende Arbeit und insoferne seinen für das russische Volk geschriebenen erziehenden Legenden und Geschichten verwandt, nur dass eben dieses Buch sich an einen Leserkreis, der zu den civilisirtesten der Welt gehört, wendet.

Hier, wie in »Gespenster« oder in »Ein Handschuh«, ist die Reinheit oder Unreinheit des geschlechtlichen Verhältnisses der Mittelpunkt, um den sich Alles dreht; doch herrscht in der Anschauungsweise des grossen Russen eine wildere, leidenschaftlichere Consequenz, als bei den Norwegern. Ibsen hat in den »Gespenstern« die schrecklichen Folgen gezeichnet, welche der Leichtsinn des Mannes für die Familie, für das nächste Geschlecht nach sich zieht, Björnson ein junges Mädchen an den Mann die Forderung der unbedingten Enthaltsamkeit vor der Ehe stellen lassen. Es schien nicht möglich, in den Ansprüchen auf diesem Gebiete weiter zu gehen, sie höher zu spannen. Doch Tolstoi läuft als echter Russe bis an das äusserste Ende der Leine – ein von der Reitkunst entlehnter Ausdruck, mit welchem ich in meinem Buche: »Eindrücke aus Russland« russische Eigenart zu kennzeichnen versucht habe. Er nimmt die an den Mann gestellte Forderung der Reinheit vor der Ehe wieder auf, erweitert diese aber noch durch die neue Forderung der sogenannten Reinheit in der Ehe.

Zwar spricht Tolstoi in seiner neuen Erzählung nicht im eigenen Namen. Doch lässt sich theils aus einem im Eisenbahncoupé geführten Gespräche, in welchem die den Sieg davontragende Meinung der eigenen des Dichters sehr nahe zu kommen scheint, theils aus den weitläufigen Betrachtungen der Hauptperson über ihr Leben, die den grössten Theil des Buches einnehmen, Tolstoi's Einverständniss mit der zu Worte kommenden Lebensanschauung heraushören. Er dürfte wohl kaum eine Nichtübereinstimmung der eigenen mit der Grundauffassung Posdnysjew's behaupten wollen. Wenigstens hat er nichts gethan, um in dem Leser den Eindruck wachzurufen, als ob eine solche stattfände. Was sich hier einwenden Hesse, wäre höchstens, dass er in seiner Schrift: »Worin besteht mein Glaube?«, in welcher er allerdings dieselben Bahnen wie seine Hauptperson gewandelt ist, nicht so weit geht wie diese.

Tolstoi tritt mit Leidenschaft für die altchristliche Auffassung des jungfräulichen Standes als des eigentlich hohen und werthvollen ein. Er verurtheilt mit kräftigen Worten den Aberwitz der Gesellschaft, die so manches liebenswürdige junge Mädchen einem sittenlosen, verderbten Manne in die Arme treibt, nur damit es nicht die vermeintliche Schande, Jungfrau zu bleiben, erleiden müsse, was in Tolstoi's Augen eine Ehre ist. Ehe oder Nicht-Ehe, Trauung oder Nicht-Trauung gilt Tolstoi vollkommen gleich; auf die Form legt er keinen Werth. Doch an das erste Weib, dem ein Mann sich verbunden, den ersten Mann, dem eine Frau die Treue gelobt, ist er, ist sie für Lebenszeit, unauflöslich geknüpft. Sie sind durch ein Pflichtverhältniss aneinander gefesselt. Ob Freude in seinem Gefolge, kommt nicht in Betracht; darauf wird kein Gewicht gelegt. Die moderne Anschauung, dass, was die Ehe begründe und ihr Werth gebe, die Liebe sei, erscheint Tolstoi als eine Frivolität in der Art, wie sie den Menschen früherer Zeit, ja im Grunde noch Hegel mit seiner substantiellen Gesinnung als solche erschien. Tolstoi dürfte zu dem – nach der Meinung etwelcher Pessimisten richtigen – Resultate gelangt sein, dass, was man früher Ehe nannte und zumeist noch so nennt, nur möglich ist, wo sich Alles auf Autorität und Gehorsam aufbaut, wo die Eltern, wenn der Zeitpunkt hiezu gekommen, der Tochter einen Mann, dem Sohne eine Gattin wählen, und die Frau vor dem Gatten zittert, den sie zu lieben verpflichtet ist. Dies nämlich ist ja die classische Form der Ehe; keine Wahl, keine Scheidung; Ein Herr, Ein Wille, im Falle von Widersetzlichkeit Prügel, viel häusliche Zucht. Will man dies nicht, so gelangt man allmälig, scheint er zu meinen und fürchten, dazu, die Liebe zur Alleinherrscherin, die Verbindung der Geschlechter zu einer Privatsache zu machen, wobei sich die Wirksamkeit der Gesellschaft darauf beschränkt, das Wohl der Kinder nach Kräften zu sichern.

Die conservativste, doch keineswegs befriedigende Deutung der »Kreutzer-Sonate« ist die, Tolstoi habe sagen wollen: Wie die Männer heutzutage sind, macht ihr Wandel in der Jugend sie für das eheliche Zusammenleben untauglich. Kein Zweifel, wie Björnson ist auch er sehr erbittert über das Schlechte und Unwürdige jenes Lebens, das die Männer, bevor sie in die Ehe treten, der Sage nach in der Regel führen. Tolstoi hat sogar in seiner »Beichte« selbst Bekenntnisse recht unheimlicher Natur abgelegt, die, wenn sie auch übertrieben, immer darthun, dass er aus eigener Erfahrung kennt was er am schärfsten verurtheilt: »Es ist mir unmöglich, jener Jahre zu gedenken, ohne dass mich ein Gefühl von Entsetzen, Abscheu und Schmerz überfiele. Es giebt kein Laster, dem ich mich damals nicht hingegeben habe, kein Verbrechen, das zu begehen ich nicht fähig gewesen wäre. Lüge, Diebstahl, Ausschweifungen aller Art, Gewaltthätigkeit, Mord – all dessen habe ich mich mehr oder minder schuldig gemacht ... Draussen auf dem Gute, auf dem ich weilte, vergeudete ich in Saus und Braus, im Kartenspiel Alles, was meine Leibeigenen durch ihre Arbeit mir erwarben ... zugleich peinigte und strafte ich sie bei jeder Gelegenheit, opferte sie meinen Ausschweifungen, betrog sie, verkaufte sie u. s. w . ... « Man vergleiche hiemit die Schilderung Posdnysjew's in der »Kreutzer-Sonate«, wie er sich »im Schlamm der Ausschweifungen gewälzt« habe. Die Pointe ist hier eben wie in Björnson's Darstellungen verwandter Art: die Männer, wenigstens alle Männer der besser gestellten Klassen, führen in ihrer Jugend ein geradezu schändliches Leben, lieblos, roh, in wüster Weibergemeinschaft.

Das Eine ist gewiss, dass derartige Schilderungen und Aussprüche im Grunde nur für diejenigen ein lebendigeres Interesse haben können, deren Entwicklung der jener Dichter entspricht. Der Eindruck einer nicht geringen Anzahl männlicher Leser wird ohne Zweifel der sein: wir fühlen uns nicht getroffen. So Mancher, den man nicht im Verdacht hat, ein Scheinheiliger zu sein, wird sich in seinem Innern sagen: »Ich bin dieses Geredes müde. Was ist es anders als Geschwätz für den gebildeten Pöbel.« Wie trefflich solche Bücher auch geschrieben sein mögen, in diesem Punkte sind es Volksbücher, die es Einem nur aufs neue zum Bewusstsein bringen, dass alle wahre Kunst sich an die Höchstentwickelten der Zeit wendet.

Wir begegnen in dieser Beziehung in den verschiedenen Ländern verwandten litterarischen Erscheinungen. Da tritt der jüngere Dumas auf, der, seinen eigenen Angaben zufolge, in seiner Jugend keineswegs wie ein Heiliger gelebt, man dächte denn an den heiligen Augustinus in dessen erster Periode; er hat später ein geordnetes Leben geführt und predigt dann an der Schwelle des Alters die strengste Geschlechtsmoral – sie höchstens hie und da aus alter Gewohnheit mit gewagten Redensarten und schlüpfrigen Anspielungen spickend. Es tritt Björnson auf, der, ohne eben die Pariser Jugenderfahrungen Dumas' zu haben, sich zu einem ebenso hart gesottenen Moralisten als dieser entwickelt, dabei aber das von einem echten Norweger hat, dass er mehr Aufrichtigkeit und Frische als eigentliche Feinheit besitzt. Er verkündet uns den geschlechtlichen Verfall der Männer. Er hat, wie es scheint, gar viel Rohheit um sich gesehen, und er will sich das Verdienst erwerben, zu ihrer Verminderung beizutragen. Ob sie durch eine rundreisende Moral-Agitation, wie er dieselbe seinerzeit in Scene setzte, vermindert wird, ist eine offene Frage. Sicher aber ist, dass er den ästhetischen Werth seiner pädagogischen Romane durch das Seelsorgerartige, das in ihnen herrscht, verringert hat.

Nunmehr kommt Tolstoi. Er hat die Civil- und Militär-Erfahrungen eines russischen »Junkers« hinter sich, und aus diesen heraus argumentirt er Männern gegenüber, die niemals »Junker« gewesen, niemals ein Junkerleben geführt und in ihrem Verhalten gegen das andere Geschlecht sich vielleicht niemals roh gezeigt. Auf solche Leser aber macht er wie die anderen Moralisten in ihrem Kampfe gegen die Moral der Gesellschaft nothwendig den Eindruck von Puritanern, welche Papisten angreifen. Der entwickelte Leser interessirt sich nicht für innere theologische Fehden. Mönchsgezänke! wie Hutten von Luther's erstem Angriffe auf den Papst schrieb.

Es giebt sicherlich noch in unseren Tagen Männer, die in entscheidenden Punkten wie Griechen aus der besten Zeit des alten Hellas empfinden; Männer, für welche der Dualismus des Thierischen und Menschlichen nicht existirt; Männer, welche sich nie im Pfuhl gewälzt, die kein böses Gewissen haben und keiner Bekehrung bedürfen. An diese treten nun jene Dichter heran und behandeln sie gleich professionellen Säufern. »Um Gotteswillen«, rufen sie den Lesern zu, »keinen Tropfen Wein über eure Lippen! Seht um euch her! Ihr lebt in einer Welt von Trunkenbolden und Deliristen. Seht, hier liegt Einer in der Gosse, besoffen bis zur Verthiertheit, dort Einer zitternd, mit tanzenden Muskelfiebern, todtkrank in einer Zelle von Matratzen. Um Gotteswillen, leert kein Glas Wein!«

Und unterdessen reifen Trauben unter der Sonne Strahlen. Hell und dunkel hängen sie da, und Dionysos, der Gott des Weines und der Tragödie, reicht, die Stirne mit grünem Laube umkränzt, dem Durstigen und Müden den Trank dar, den Trank, der des Menschen Trost ist. Diese Moralisten machen Bakchos selbst zu einem Deliriums-Candidaten. Und sie vergessen, dass nicht selten ihre Worte sich an Männer richten, die wie Griechen fühlen, den Weingott verehren, den Wein, mit Wasser gemischt, trinken, des leichten Rausches gemessen und Trunkenheit gleich der Pest scheuen.

Doch Tolstoi lässt sich an dem Björnson'schen Standpunkte nicht genügen. Er geht weit gründlicher zu Werke. Aus seinem Buche schlägt der Fanatismus eines mächtigen Gefühles flammengleich empor, und sein streng folgerichtiger Gedanke geht um so viel tiefer denn Björnson's Verkündigung, als das Urchristenthum tiefer ist denn die Seminarien-Weisheit der Entwicklungslehre.

Tolstoi empört das Thier im Menschen, das Menschthier. Es empört ihn der Umgang der Gatten in der Ehe. Der leidenschaftliche Verkehr Neuvermählter untergräbt seiner Anschauung nach alles innigere Wohlwollen, alle wahre Achtung zwischen Mann und Weib und trägt die Schuld an all dem Bösen, das später zwischen ihnen auftaucht: Er erzeugt Selbstverachtung wie Verachtung des andern Theiles. Er lässt in den Zwischenpausen der Perioden körperlicher Anziehung jenen tiefen Hass entstehen, der Tolstoi's Auffassung nach unter Ehegatten bei jedem Zwist über den unbedeutendsten Gegenstand zum Ausbruch zu kommen pflegt. Er ist überdies die Ursache der halb wahnwitzigen Eifersucht, welche nach der Voraussetzung des Buches stets einen der Gatten oder auch beide verzehrt und deren häusliche Existenz zu einer ewigen Hölle macht.

Es ist interessant, in unseren Tagen solch altchristlicher Gefühlsweise zu begegnen. Keine Spur der gesunden, antiken und modernen Lebensauffassung, die im Zusammenleben zweier Liebenden, wie leidenschaftlich es auch sein mag, etwas Schönes und Reines erblickt. Keine Spur des Naturcultus, der im Alterthume das Sinnenleben adelte; keine Spur jener unendlichen Zärtlichkeit, die es beim modernen Menschen adelt und den rohen Genuss zu Freude oder Glück wandelt.

Den Ausgangspunkt bildet das Bibelwort, wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der sündigt mit ihr in seinem Herzen. Und das Neue ist, dass in den Augen Tolstoi's dieses Wort auch in der Ehe gilt. Die Ehe wird dadurch gebrochen, dass die Gatten einander begehren. In dem idealen Verhältnisse ist das Weib für den Mann die Schwester, nichts Anderes. Die klare, vollständige Consequenz wäre die von den religiösen Sectirern, den Skopzen, in Russland gezogene: die Selbstverstümmelung. Tolstoi scheut diese offenbar. Dafür aber wünscht er, so viel sich entnehmen lässt, das sensuelle Element entweder ganz ertödtet oder doch auf ein Minimum herabgedrückt zu sehen. Nicht allein jedes Blossstellen der körperlichen Formen durch ausgeschnittene oder fest anschliessende Kleider, nicht bloss der Tanz ist ihm als Sinnenerhitzung ein Gräuel, er fürchtet die Kunst überhaupt, besonders die Musik, weniger als einen Appell an die Sinne denn als Gefühlserweckerin. So ist denn auch das Buch nach einem Musikwerke betitelt. Der Gedankengang ist der, dass jede bedeutende Composition eine hinreissende Gewalt hat, ja, dass der Zuhörer förmlich besessen wird von der bewegten Stimmung, in der sich der Componist befand, als er sie schuf. Die Seelen des Zuhörers und des Tondichters fliessen ineinander. Und ebenso lässt die Musik auch die Zuhörer, zuweilen ihrer zwei und zwei mit einander, in dieser selben Stimmung verschmelzen, sich abtrennen von der Umgebung, sich vereinen. Sie kann insofern Kupplerdienste verrichten.

III.

Nach der langen Dauer der Erziehung Europas in christlich-spiritualistischem Sinne ist die Auffassung des Geschlechtsverhältnisses als eine Erniedrigung kein seltenes Vorkommniss. Man findet sie indessen in unseren Tagen bei Persönlichkeiten von durchaus heidnischem Typus nicht minder entwickelt, als bei Spiritualisten und Christen. Die moderne Entwicklung hat verfeinerte Menschen der verschiedensten Ueberzeugungen sich von dem griechischen Einheitsgefühle in seiner Freiheit und Gesundheit gleich weit entfernen lassen. Ich entsinne mich aus meiner frühen Jugendzeit einer philosophischen Unterredung mit einem jungen französischen Freunde, die sich um diesen selben Punkt, die geschlechtliche Vereinigung, drehte, die auch ihn empörte. Es erregte seinen Unwillen, dass der Weltenbaumeister keine feinere, edlere Form für die Vereinigung der Geschlechter gefunden. Noch liegt mir sein Ausruf in den Ohren: »Pourquoi cette insulte!« Wozu diese Verhöhnung, dieser Schlag ins Angesicht?

Es ist dieser Gedanke, der in Maupassant's letzter Novellensammlung »L'inutile beauté« sich an verschiedenen Stellen variirt findet. In »Un cas de divorce« sagt der Heid von seiner jungen Gattin, er wäre schliesslich dahin gekommen, sie weder mit Hand oder Mund berühren zu können, ohne einen unüberwindlichen Ekel zu empfinden, nicht gerade vor ihr, nein, einen viel umfassenderen, viel mehr mit Verachtung gepaarten Ekel vor der Umarmung selbst, die »allen verfeinerten Wesen als etwas erscheint, dessen man sich schämen, das man geheimhalten müsse, wovon man nur flüsternd, mit Erröthen spricht«.

Und als in der Novelle, nach welcher die Sammlung den Titel führt, die Rede auf eine sehr schöne, vornehme Dame kommt, deren Schönheit unter zahlreichen Geburten leiden könnte, und die Bemerkung fällt: Was lässt sich dagegen sagen, es ist der Lauf der Natur! lautet die Antwort, dass Alles, was auf Erden lauter, schön, elegant, ideal, nicht Gottes, sondern des Menschen Werk sei. »Wir sind es, die der Schöpfung, indem wir sie besingen, sie deuten, sie als Poeten bewundern, als Künstler idealisiren, als Männer der Wissenschaft erklären, einen Hauch von Schönheit und Anmuth leihen, einen Reiz, etwas Geheimnissvolles in sie legen. Denke an die Fortpflanzung! Kann man sich etwas Unedleres, Widerwärtigeres denken? ... Es ist, als hätte die Natur aus einer Art boshaften Cynismus' jeglichem Versuche des Mannes, sein Verhältniss zum Weibe zu verschönen, zu veredlen, für immer unübersteigliche Hindernisse in den Weg legen wollen. Der Mensch hat gleichwohl die Liebe erfunden, was als Antwort an eine hinterlistige, hohnneckende Gottheit nicht gar so übel ist.«

Hier bei Maupassant ist also in Beziehung auf dieses Verhältniss die Natur als Feind aufgefasst. Bei Tolstoi ist sie das nächste Ziel, doch ein Ziel, über das er immer wieder hinausstrebt, ein hinter uns liegendes Ideal, zu dem man zurückkehren soll, nur dass er eben noch ein höheres als dieses kennt, nämlich die Verleugnung derselben. Bei ihm ist der Kampf gegen das sexuelle Leben eine blosse Anwendung seines allgemeinen Gesichtspunkts, demzufolge die Cultur vom Uebel ist: Geld, Prachtgebäude, Verfeinerung, Ueberfluss, jedes andere als das Bauern- und Handwerkerleben ist vom Uebel. Vorlängst schon hatte er die Wissenschaft verworfen und verurtheilt. Nun kam die Reihe an die Kunst.

Er hatte im Gelde nie verdichtete Arbeit, immer nur verdichtete Gewalt sehen wollen. Nun sieht er im geschlechtlichen Verkehr nur einen thierischen, erniedrigenden Zustand. Er hat nachgegrübelt über das Tragische und Komische, dass der Mensch ein vervollkommtes Thier ist und daher nur theilweise seinen Ursprung in Vergessenheit zu bringen, dessen Spuren nie gänzlich auszulöschen vermag. Und die Cultur wird ihm diejenige Macht, die all das Thierische in uns die Oberhand gewinnen lässt. Man fühlt aus seinem mit den Jahren sich mehr und mehr entwickelnden Abscheu gegen das rein Natürliche, das allzu Menschliche, sowohl russische Religiosität heraus als jenen Greisenblick angesichts dieser Mysterien, der sich auch im skandinavischen Norden bemerkbar gemacht hat. Der Abscheu vor der Frivolität, vor dem potenzirten Triebleben, vor der Leidenschaft und dem Laster hat bei ihm schliesslich die Form des Abscheues vor dem Thiere im Menschen angenommen.

Wendet man sich nun von dem Buche zu dessen Verfasser, von diesem zu dem grossen Publikum, das sich in Bewunderung für ihn verliert, so dürften sich folgende Bemerkungen aufdrängen. Es ist merkwürdig, wie sehr die Menschheit sich noch heutigentags von Moralisten imponiren lässt. Es liegt den Meisten von uns die biblische Erziehung noch so im Blute, dass wir unwillkürlich meinen: hier, wo Sittlichkeit gepredigt wird, trägt sich etwas Hochernstes und Feierliches zu. Hatten da die Russen einen feinen, liebenswürdigen, gutmüthigen Schriftsteller wie Turgenjew, einen Weltmann, der anspruchslos ein dichterisches Meisterwerk nach dem andern schrieb. Er bildete sich nicht ein, das Menschengeschlecht dadurch umzumodeln. Er war ein schlichter Künstler, mit einzelnen Schwächen, mit grossen Tugenden; ein Gentleman. Nach ihm nun kommt ein Poet wie Tolstoi. In seiner Jugend ein ziemlich ausschweifender Gutsbesitzer und Officier, wird er im reiferen Alter ein grosser moralisirender Dichter, mit den Jahren ein immer leidenschaftlicherer Moralist, zuletzt ein Johannes der Täufer. Er hat in der Ehe 18 Kinder in die Welt gesetzt; er endigt damit, die legitime Kindererzeugung zu verdammen. Er bildet sich seine eigene Religion, er predigt, ist ein Rufer und Züchtiger; er geht im härenen Hemde oder richtiger in einem Muschik-Kittel einher – und ist er mit diesem angethan, so lässt er sich photographiren. Er lässt sich den Bart wachsen und scheitelt das Haar in der Mitte ober der Stirne gleich einem russischen Bauer; er lebt auf seinem Landgute, in Betrachtungen und körperliche Arbeiten vertieft. Bald ähnelt er einem Bauernpropheten, und da die mit Ernst gepflogene alltägliche Wirksamkeit den Zügen endlich sein Gepräge aufgedrückt, gestattet er einem zugereisten Photographen, ihren Ausdruck auf der präparirten Platte festzuhalten. Er geht hinter dem Pfluge einher, den weissen Gaul vor das altväterische hölzerne Geräthe gespannt; er träumt sich in den Naturzustand zurück, fernab von aller Cultur, von seinem in nächster Nähe gelegenen Herrensitz, und lässt Riepin kommen, um sich so, in den Naturzustand zurückversetzt, von ihm malen zu lassen.

Der Unterschied zwischen ihm und dem ursprünglichen Johannes der Täufer ist somit deutlich genug. Bekanntlich hatte dieser keinen Herrensitz, wodurch es ihm um ein Weniges leichter geworden sein muss, sich von der Civilisation gänzlich losgetrennt zu fühlen. Und weiters liess er sich, als er das härene Hemd angethan, nicht darin photographiren.

Auf seinem Höhepunkte angelangt, greift denn nun Tolstoi die Menschen der heutigen Zeit auf Grund von Verhältnissen an, kraft welcher der Mensch ein zum Menschthume entwickeltes Thier ist. Stände es in seiner Macht, er würde das Thier im Menschen gerne gänzlich ausrotten.

Es ist etwas Sonderbares um diese Bezeichnung Thier. Das ist ja ein uralter christlicher Ausdruck. Man wird nicht leicht der lebendigen Schilderung des Thieres im dreizehnten Capitel der Offenbarung Johannis vergessen: »Und ich trat an den Sand des Meeres, und sahe ein Thier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner, und auf seinen Hörnern zehn Kronen, und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung. Und das Thier, das ich sahe, war gleich einem Pardel, und seine Füsse als Bärenfüsse, und sein Mund eines Löwen Mund. Und der Drache gab ihm seine Kraft ... und sie beteten das Thier an und sprachen: Wer ist dem Thiere gleich? Und wer kann mit ihm kriegen?«

Bekanntlich war den damaligen Christen das Thier zunächst die römische Weltmacht. Wir wissen dies mit aller Genauigkeit. Das Sinnbild ist uns völlig durchsichtig bis zur mystischen Zahl 666 im Vers 18, die Nero's Namen bildet, Nero Kaesar, mit hebräischen Buchstaben geschrieben und nach dem Zahlwerthe derselben zusammengelegt. Tiefer aufgefasst war jedoch den ersten Christen das Thier selbstverständlich das Heidenthum überhaupt als Wesen und Macht, all das Ungetaufte, insoferne Thierische im Menschen, das überwunden werden sollte. Mit anderen Worten, um den modernen Kunstausdruck zu gebrauchen: das Thier war kein wirkliches Thier, es war das Menschenthier.

So fasste es auch Alexander Dumas auf, als er 1870 mit geistreicher Anwendung der alten Bibelstelle von seinen Versuchen, den Menschen in dem grossen Schmelztiegel Paris zu analysiren, erzählte. Er behauptete, der Mensch, selbst der Pariser, enthalte stets einen, wenn auch noch so winzigen Bruchtheil von Seele, ungefähr wie die sechzigste homöopathische Verdünnung noch immer ein Atom der ursprünglichen Flüssigkeit enthält. Und er berichtete, wie er aus den Dämpfen des Tiegels männliche und weibliche Dummköpfe sich habe formen und bilden gesehen, als er plötzlich ein Brodeln vernahm, und empor aus dem Kessel stieg, nicht aus dessen Schaum oder Dampf, sondern aus den darin enthaltenen Stoffen selbst gebildet, ein ungeheures Thier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, und auf diesen Hörnern trug es zehn Kronen und auf den Köpfen Haar, das Metallglanz und die Farbe des Alkohols hatte. Das Thier war gleich einem Pardel, und seine Füsse als Bärenfüsse und sein Mund eines Löwen Mund. Und der Drache gab ihm seine Kraft. Und das Thier war bekleidet mit Purpur und Scharlach und geschmückt mit Golde und Edelgestein und Perlen, und in den weissen Händen hielt es, wie man eine Schale mit Milch trägt, einen goldenen Becher, voll all des Gräuels und der Unsauberkeit Babels, Sodoma's und Lesbos'. Von seinem Leibe ging aus ein berauschender Qualm, durch dessen Gewölk es wie der schönsten von Gottes Engeln Einer strahlte, und darin Tausende von Menschlein sich bewegten, die vor Wollust sich wanden, vor Schmerz heulten und mit einem leichten Puff oder Knall verschwanden, das heisst sie barsten, und nichts blieb zurück als ein Tropfen einer Flüssigkeit, eine Thräne oder ein Blutstropfen. Aber das Thier wurde nicht satt. Es zertrat sie mit seinen Füssen, zerriss sie mit seinen Nägeln, zermalmte sie mit seinen Zähnen, erdrückte sie an seiner Brust. Und die es so erdrückte, wurden am meisten beneidet. Seine sieben Köpfe bildeten einen Kranz, der in den Himmel reichte, seine sieben Munde lächelten stets, seine Lippen waren brennend roth und über seinen zehn Kronen flammte im Lichtglanz das Eine Wort: Prostitution. Dieses Thier, sagte er, war die neueste Verkörperung des Weibes. Das Thier ist sonach hier das brüllend nach dem Manne begehrende, ihm entgegenlächelnde, weibliche Geschlecht, das nach tausendjähriger Knechtung und Ohnmacht, bewaffnet mit seiner Schönheit und seinen Schönheitsmitteln, sich am Manne rächt und diesem eine Liebe schenkt, die ihn zu Grunde richtet und verdirbt. Es ist dieses das Thier, das er auf die Bretter der Bühne hinaufwarf, als er das grosse, grobe Symbol, Césarine, in »La femme de Claude« aufrichtete.

In Dumas' Augen ist es demnach, so ziemlich wie in Tolstoi's, die Cultur, genauer die Uebercultur, die den Menschen im biblischen Sinne thierisch, d. h. lasterhaft macht, denn das wirkliche Thier ist ja nicht lasterhaft, und auch die Menschen waren es, der Voraussetzung nach, nicht, so lange sie nicht moderne, sondern der unbedingten Zucht der Autoritäten unterworfene, Menschen waren.

IV.

Zur selben Zeit, als Tolstoi in Russland die Kreutzer-Sonate ausarbeitete, schrieb Zola in Frankreich seinen Roman, »Das Menschthier«.

Hier ist das Verhältniss von einer ganz verschiedenen Seite gesehen. Für Zola ist »das Thier« nicht etwas, das die Civilisation in uns entwickelt, sondern ein als schlummernder Rest aus der Urzeit in uns Zurückgebliebenes, das unter gewissen Umständen zu unserem Schrecken erwachen kann. Zola's Standpunkt ist nicht der moralische, sondern der naturhistorische. Er legt das Verhältniss nur so dar, wie es sich ihm vor Augen stellt, ohne Anklage, doch mit grossartigem Ernste. Im Grunde war es stets das Menschthier, was Zola beschäftigte. Gewisse jüngere Schriftsteller, wie Bourget und Rod, interessiren sich nur für das menschliche Wesen in dessen letzter und höchster Entfaltung unter einer verfeinerten Civilisation; Zola greift immer auf die ursprünglichen Instincte und sinnlichen Regungen, aus denen der Urmensch besteht, zurück. Man erinnere sich zum Beispiel seiner Schilderung der Liebe des Bauers zu dem Boden, zum Besitz und Gewinn in »La terre«, oder jener des Selbsterhaltungstriebes in dessen naivster Form in »Le venire de Paris«. Hier nun hat er auf einen ursprünglichen Hang der unheimlichsten Art, auf den Zerstörungstrieb, den grausamen Instinct, der zu Mord und Vertilgung führt, zurückgegriffen und ihn in seinem Zusammenhange mit dem erotischen Triebe aufgefasst.

Während Tolstoi in seiner Novelle principiell den erotischen Trieb in dessen Ueberentwicklung studirt und zeigt, wie aus ihm die Mordmanie hervorkeimt indem der Zerstörungstrieb als ein blosser Ausschlag der Eifersucht entsteht, vertieft Zola sich principiell in den Mordinstinct und schildert eine ganze Reihe Morde und Mordversuche, weist jedoch secundär in ihnen allen den Zusammenhang mit einer kurzstämmigen, aber lebenskräftigen Erotik nach. Wir sehen alle Menschen, die er vorführt, von dieser ursprünglichen Mordgier beherrscht. Ein Ehemann, der erfährt, dass ein alter Wüstling sich seiner Gattin, als sie ein junges Mädchen war, bemächtigt habe, rächt sich nach einem Anfalle rückblickender Eifersucht durch einen Mord, den er im Eisenbahnwaggon an ihm verübt, seine Frau zwingend, dabei behülflich zu sein. Die Blutthat lastet schwer auf den beiden Gatten und entfremdet sie einander bald gänzlich. Das junge Weib nimmt einen Liebhaber und fordert, dass er ihren Mann tödte. Er willigt mit vollem Bewusstsein ein, doch im selben Augenblicke, wo er seines Opfers harrt um die That zu vollbringen, ermordet er, von einem unwiderstehlichen Drange getrieben, wider Willen die Geliebte.

Dieser junge Mann, der unfreiwillige Mörder, ist die Hauptperson des Buches. Zola wollte, wie er ausdrücklich erklärt hat, im Gegensatze zu den Russen – Dostojewski, Tolstoi – zeigen, dass man nicht vorsätzlich und mit klarem Bewusstsein, sondern aus blindem Antrieb morde. Er wollte eine Art Gegenstück zu Raskolnikow liefern und trifft nun merkwürdig mit Tolstoi zusammen. Jacques Lantier leidet an einem krankhaften Triebe, einer geheimnissvollen, unwiderstehlichen Sucht, jedes Weib zu tödten, das er entblösst sieht. Es ist das ein in der Natur vorkommender, den Aerzten wohlbekannter, auch in gelehrten Handbüchern beschriebener Hang. Zola fügt jedoch als persönliche Besonderheit, als unwahrscheinliche Erklärung aus Eigenem Folgendes hinzu: Was solcherart über Lantier kommt, ist nicht etwa eine plötzliche Krise blinder Raserei. Es ist eine immer wiederkehrende Gier, uralte Kränkungen zu ahnden, an welche alle deutliche Erinnerung aus seinem Gedächtnisse entschwunden ist. Es kam, heisst es, so weit, weit her, von all dem Bösen her, das Weiber je seinen Vorfahren zugefügt, von all dem Groll, der sich von Mann zu Mann aufgehäuft, von der ersten Untreue eines Weibes zur Zeit, da die Menschen noch Höhlenbewohner waren. Die Anfälle werden also durchaus als Atavismus betrachtet. Sie stammen aus vorhistorischer Zeit, während bei Tolstoi der Anfall Posdnyjew's gerade umgekehrt von der Uebercultur der modernen Zeiten hergeleitet wird. Wenn Lantier seine Krisen hat, fühlt er das unabweisliche Bedürfniss, sich im Kampfe ein Weib zu erobern um es allein für sich zu haben. Es erscheint dies in Zola's Phantasie als der entartete Hang, sie als eine Beute über den Rücken zu werfen, eine Beute, die er der Gemeinschaft mit Anderen für immer entrissen.

Bei Zola also schlecht verdauter Darwinismus, wie bei Tolstoi vernunftwidriges, wiedergeborenes Altchristenthum.

Um Lantier nun gruppiren sich andere Persönlichkeiten mit den gleichen Anlagen für das Mordhandwerk: ein junges Mädchen, eine Bahnwärterin, die aus Eifersucht einen ganzen Zug in Trümmer gehen lässt, weil sie in Lantier verliebt ist und sich an ihm und seiner Geliebten, die sich Beide in dem Zuge befinden, rächen will; ein alter Mann, ein moralisches Ungeheuer, der langsam sein Weib vergiftet um sich ihrer Ersparnisse zu bemächtigen, und endlich ein Heizer, der aus Eifersucht schliesslich Jacques ermordet. So ist denn das Ganze eine grosse Dichtung über vorhistorische Mordlust in ihrer Verbindung mit dem erotischen Triebe; insofern eine Art vorhistorischer Epopöe.

Es ist lehrreich, sie mit einer ernstgemeinten vorhistorischen Epopöe aus unseren Tagen zu vergleichen, z. B. mit Heinrich Hart's »Tul und Nahila«, dem ersten Bande eines Werkes »Lied der Menschheit«, das nach dem naiven Project aus nicht weniger als 24 Gesängen bestehen soll. Hart's Dichtung spielt auf Ceylon, im grauen Alterthum, Jahrtausende vor aller Civilisation. Die Hauptpersonen sind ein Paar, das unter Wesen der Uebergangszeit von den Vorfahren der Menschen zu den Menschen selber lebt. Noch treiben affenartige Zwerge und Riesen neben den Menschen ihr unheimliches Spiel. Nur wenige Begriffe haben sich entwickelt: das Feuer ist Schlange, die Feuerschlange; auf welche Weise man sich zum Herrn über sie macht, ist noch unbekannt. Man gebraucht Ausdrücke wie: »Die Feuerschlange hat am Fleisch genagt.« Wenige Geräthschaften: Keule, steinernes Beil, Steinspitzen für die Speere, Angelhaken aus Knochen, Bastschlingen zum Fang. Unter den Menschen herrscht Abhängigkeit von der Natur und Heerdengefühl. – Wir verfolgen die Lebensgeschichte des Menschenpaares. Nahila liebt Tul mit treuer, für's Leben verbindender Liebe, denn um ihretwillen, weil er sie der Gemeinschaft nicht preisgeben wollte, ist er von seinem Stamme ausgestossen worden. Das Schamgefühl, die Schamhaftigkeit entwickelt sich bei ihr aus einem originellen, nicht unwahrscheinlichen Motive: weil ihr eigenes Geschlecht ihr hässlich erscheint, darum flicht sie sich eine Schürze aus Blättern. Wir sehen, wie die Geburt des Kindes unter gewissen Verhältnissen die Zucht von Hausthieren nothwendig macht. Eine Ziege wird eingefangen, die mit ihrer Milch das Kind ernährt.

So grosse Schwierigkeiten der Stoff auch darbietet, die Dichtung ist nicht geistlos. Die Menschen haben hier wirklich den Charakter des Ursprünglichen, Wilden. Und doch ist Alles bei Zola in seiner Art wilder und grösser, wiewohl es sich in unseren Tagen (1870) zuträgt und die Dichtung als ein Roman auftritt, der von Eisenbahnbetrieb, von Eisenbahnunglück handelt, gleichwie von Verbrechen, die mit Eisenbahnschienen und in Eisenbahnwagen begangen werden. Jules Lemaître hat auf eine Schwäche des Buches hingewiesen, dass nämlich die Umgebungen mit dem Kerne in keiner organischen Verbindung stehen. Während in »L'Assommoir« zwischen der Branntweinkneipe und der Arbeiter-Bevölkerung oder in »Germinal« zwischen der Grube und den Minenarbeitern ein nothwendiger Zusammenhang herrscht, findet hier zwischen Mordgier und Eisenbahnbetrieb ein solcher keineswegs statt. Insofern steht dieses Buch hinter verschiedenen anderen vorhergegangenen Werken zurück; es ist zufälliger in seiner Composition. Doch ist es gross durch den Blick des Dichters für die einfachen, schrecklichen Grundtriebe der Menschheit, gross auch durch seine reiche Symbolik.

Ausser dem Menschthier ist, gleichwie in anderen Romanen Zola's, auch in diesem ein unpersönliches Wesen, welches in hohem Grade das Interesse des Autors gelangen nimmt. In früheren Romanen waren es der Kirchhof, die Hallen, die Branntweinschänken, das Verkaufsmagazin, der Ackerboden, die Kirche. Anderwärts ist der Nachweis versucht worden, dass Zola, während er das Menschliche überall auf das Animalische zurückführt, unpersönliche Gebilde mit all der über das Animalische hinausgehenden Kraft, deren er die Individuen beraubt, ja mit Selbständigkeit und Willen ausstattet. Ein solches unpersönliches Geschöpf ist im Eisenbahn-Romane die Locomotive. Sie hat einen Namen; sie heisst Lison, führt ein Eigenleben und weckt Gefühle wie ein Weib. Der Locomotivführer liebt seine Maschine, liebt sie, wie der Reiter sein Pferd. Es findet eine Art Ehe zwischen ihm und ihr statt.

Es kommt eine grossartige Schilderung des Kampfes der Locomotive vor um sich während eines Unwetters durch den aufgehäuften Schnee Bahn zu brechen; und als späterhin der Zug auf einen mit schweren Steinen beladenen Karren stösst und die Locomotive in Trümmer geht, stirbt sie ganz wie ein lebendiges Wesen. Es liegt darin eine Kunst, die zur Manier geworden. Die Locomotive, dieses Ungeheuer mit glühenden Augen und Eisenlenden, beschämt sozusagen den Menschen durch ihre Gelehrigkeit, ihre Disciplin, ihre ganze Brauchbarkeit, gleichwie durch die ungetheilte Liebe, welche sie ihrem Führer einflösst.

Und am Schlusse des Buches fehlt es nicht an einer anderen noch grösseren Symbolik. Nachdem der Heizer Jacques ermordet und ihn von seiner Locomotive herabgestossen hat und diese ohne Führer, ohne lenkenden Geist wie ein rasendes Wesen an Station nach Station vorbeisaust, im Juli-Monate jenes denkwürdigen Jahres 1870 einberufene französische Soldaten an die Grenze führend, schliesst die Beschreibung mit den Worten: »Sie wollte vorwärts, unaufhaltsam vorwärts, hinaus in die schwarze Nacht. Niemand wusste wohin. Was lag daran, wie viele Opfer die Maschine auf ihrem Wege zermalmte. Eilte sie nicht trotzdem der Zukunft entgegen, unbekümmert, ob sie Blut vergiesse? Ohne Führer mitten im nächtigen Dunkel, einem taub und blind hinstürmenden Thiere gleich, rollte sie in haltloser Schnelle dahin, all dies Kanonenfutter hinter sich her schleppend: die bereits tief ermatteten Soldaten, die in ihrer Trunkenheit johlten.« Diese von Niemandem gelenkte Locomotive ist, man fühlt es, das Sinnbild jenes Frankreich, das ohne einen Willen an seiner Spitze in den Krieg zieht. Der vom Vernichtungstriebe, vom Mordinstincte handelnde Roman gipfelt in diesem Hinschleppen von Tausenden und Abertausenden zum ungeheuren Massenmord. Das endlose Blutvergiessen des grossen Krieges ist in Einem Triumph und Niederlage des Menschthieres.

V.

Das ist das Anerkennenswerthe bei diesen grossen fremden Dichtern und Schriftstellern, dass sie vor unseren Augen das menschliche Wesen gleich einem Fächer auseinanderschlagen. Es giebt nichts, das aus Furcht vor einem Publikum oder vor einer Journalistik hinweggeheuchelt, hinweggelogen werden soll. Es erschliesst sich uns vom Lasterhaften und Niedrigen, vom Verbrechen aus ein weites Feld seelischen Lebens, ein Ausblick über das Thierisch-Menschliche, das blos Natürliche, das allzu Menschliche bis hin zum rein Menschlichen und dessen Menschenadel. Und Alles, was hier mitgetheilt wird, ist in der bewundernswerth freien Sprache der grossen Litteraturen, ohne Ziererei, ohne Sentimentalität gegeben.

Alle bedürfen sie, um eine Vorstellung von dem Reichthume und dem Elende des Lebens zu geben, der Idee einer Spaltung unseres Wesens in zwei Welten, die unbewusste und die bewusste, welche in dem poetischen Sprachgebrauche der jüngsten Zeit mit den Welten des Thieres und des Menschen in uns identificirt wurden, den Gebieten der Notwendigkeit und Freiheit, wie man in alten Tagen sagte.

Die moderne Wissenschaft glaubt nicht mehr an eine Willensfreiheit gleich jener, an die man sich in früherer Zeit klammerte. Einzelne Dichter erblicken eben hierin eine Gefahr. So Bourget, den der Eindruck zu schrecken scheint, welchen der philosophische Determinismus mitunter auf eine Jugend gemacht hat, in deren Augen er einen Freibrief zu rücksichtslosem Egoismus giebt. Bourget fürchtet, eben die Wissenschaft, eben die Civilisation würden in den kommenden Geschlechtern das Thier entfesseln, und in seinen letzten Büchern (»Mensonges«, »Le disciple«) hat er denn, nicht ohne eine gewisse frömmlerische Schlaffheit, auf den katholischen Abbé, auf die Religion, das Gebet als die einzige Macht hingewiesen, die das Thier niederzuhalten und den modernen Gemüthern Einheit wiederzugeben vermöge. Dumas, der ein hinlänglich echter Franzose ist um keinen Zweifel an der Willensfreiheit in sich aufkommen zu lassen, sieht das Thier im Moraste der Uebercivilisation sich entwickeln und lässt seinen Mahnruf dagegen ertönen.

Der Moralist Tolstoi und das Weltkind Maupassant betrachten mit dem gleichen Unwillen das Grundverhältniss zwischen den beiden Geschlechtern, welches ihnen als eine Kränkung der Menschenwürde erscheint, dem Pariser Schriftsteller als erniedrigend dünkt, als ein Stück unüberwundener und unüberwindlicher Urnatur, dem russischen hingegen als ein Product der überreizenden Unnatur der Civilisation. Zola endlich ist der durch und durch überzeugte Determinist, bei dem die Menschenpflanze, das Menschenthier, der Menschengedanke, der Menschenwille unabänderlichen Gesetzen gehorchen und der zum Entgelt eine Art phantastischer Genugthuung darin findet, leblose Gegenstände mit selbständigem Leben und unabhängigem Willen auszustatten. Menschlich, wahrhaft menschlich ist nur die Maschine, scheint Zola in seinem »La bête humaine« zu sagen. Menschlich, wahrhaft menschlich ist nur die Civilisation, scheint Maupassant in »La beauté inutile« zu sagen, wo er über Alles, was in uns Natur ist, als thierisch den Stab bricht. Menschlich, adelig menschlich, in der Sprache der alten Tage göttlich, ist nur die Sammlung der Seele im frommen Gefühl und im Gebet, sagt Bourget in den Büchern seiner reiferen Jahre. Menschlich ist nicht die Cultur, nicht die Civilisation, sagt Tolstoi in seinen letzten Werken, sondern allein jene Lebensweise, die dem Bösen gegenüber keine Nothwehr kennt, niemals Unrecht abwehrt, sich um Geld und Gut nicht kümmert und Mann und Weib dahin bringt, stets nur die Schwester, den Bruder in einander zu sehen.

Das ist also die Sprache, die von den Weisen unserer Tage, von den Männern, welche sich an den grössten und vornehmsten Leserkreis der Erde wenden, geführt wird.

Könnte ein alter Hellene der classischen Zeit Griechenlands aus seiner Asche aufstehen und diese Aussprüche hören, so würde er gewiss vor Staunen ob solcher Reden die Hände zusammenschlagen.


 << zurück weiter >>