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7. Puschkin und Lermontow

(1888)

I.

Mit Alexander Sergejewitsch Puschkin wird die russische Poesie eine selbständige Macht, wie die Poesie bei Goethe, Oehlenschläger oder Hugo. Sie dient nicht mehr dazu, edle Gefühle oder nützliche Lehren einzuprägen; sie ist – im Principe wenigstens – weder die Dienerin der Moral, noch der Vaterlandsliebe. Sie erhebt sich wild und frei.

Wie die anderen slavischen Hauptdichter zu jener Zeit unterliegt Puschkin der tiefen Einwirkung Byrons und muss durch dessen Einfluss hindurch um er selbst zu werden. Am eigenthümlichsten ist er gleich anfangs durch sein gewaltsames Temperament. Er stammt mütterlicherseits vom Neger Hannibal, den Peter der Grosse gekauft und in Frankreich zum Ingenieur-Offizier hatte ausbilden lassen und der als General und wohlhabender Gutsbesitzer starb. Das Gesicht des Dichters wie seine Poesien sprechen laut von dem afrikanischen Blute in seinen Adern. Sein Vater war ein französisch gebildeter Weltmann, der nie eine andere Sprache als die französische sprach und nach aristokratischer Weise auch den Sohn in dieser Sprache erziehen liess. Puschkin hatte seine frühe und so fruchtbringende Bekanntschaft mit Russlands Volksliedern, Märchen und Bylinen allein seiner Amme, einer braven russischen Bauersfrau, zu danken.

Zeitig reif, zeitig ausschweifend, zeitig und lange Dandy, gehört er zu den nicht wenigen künstlerischen Genies aus dem Anfange des Jahrhunderts, in denen eine innere Kraft, die von keiner Verderbniss angegriffen wird, sich gesund und schaffenstüchtig unter Verhältnissen bewahrt, die geringere Geister aushöhlen und zu Grunde richten würden. Der Schaden, den er an der Seele nahm, kam nicht von der Wildheit und Unregelmässigkeit seines Lebens, sondern vom Druck der politischen Verhältnisse, denen sein Charakter nicht gewachsen war, und von Kaiser Nikolai's persönlichem Versuch, ihn zu gewinnen, dem der junge Aristokrat nicht zu widerstehen vermochte.

Schon als Zehnjähriger hatte Puschkin seines Vaters französische Bibliothek mit Voltaire, Rousseau und den Encyklopädisten verschlungen. Von seinem zwölften bis zu seinem achtzehnten Jahre besuchte er das kaiserliche Lyceum in Zarskoje-Selo, wo Unterricht und Geist französisch waren – die französische Sprache wurde den Zöglingen von Marat's leiblichem Bruder beigebracht – wo die Erziehung äusserst schlecht war und wo die älteren Schüler ihre Ideale in den Gardelieutenants der Garnison sahen, nach deren Muster sie sich Geliebte hielten, spielten und tolle Streiche machten. Der junge Puschkin galt für einen der ärgsten Tollköpfe der Schule, genoss aber gleichzeitig einen gewissen Ruf für erotische und epigrammatische Verse. 1817 bekam er eine Stellung im Ministerium des Aeussern, die er vernachlässigte um sich kopfüber in den Wirbel des Petersburger Gesellschaftslebens zu stürzen, anscheinend keiner anderen Ehre nachstrebend als der, sich zu einem vollkommenen Weltmanne und aristokratischen Löwen zu entwickeln. Wie viel Gewicht er bis in seine letzten Tage auf geckenhafte Verfeinerungen legte, beweist am besten die Schilderung, die er in seiner nachgelassenen Novelle »Die ägyptischen Nächte« von sich selbst unter dem Namen Tscharsky gegeben hat. Er wollte, wie Byron, auf keinen Fall als Dichter »von Fach« betrachtet werden, sprach äusserst ungern über Litteratur, dagegen äusserst gern von Pferden, Spiel und Essen, »obgleich er die Gebirgsrace nicht von der arabischen unterscheiden konnte, sich nie der Trümpfe erinnerte und heimlich gebratene Kartoffeln allen Erfindungen der französischen Küche vorzog«. (»Die ägyptischen Nächte.«)

Trotz aller Zerstreuungen gab er 1820 seine erste Dichtung »Ruslán und Ljudmila« heraus, die ausserordentliches Aufsehen machte, obgleich dieses versificirte Märchen, das sich auf einer russischen Sage aufbaut, an Ariosto, an Wieland, an Szukowski erinnert und keine andere Originalität hat als seine sorgfältige Composition und die grosse Kunst des Vortrages. Das Gedicht galt für reine Romantik, es interessirte durch eine gewisse Schalkhaftigkeit des Tons und eine kräftige Sinnlichkeit der Farbe, war im Uebrigen ohne alle psychologische Bedeutung.

Zu diesem Zeitpunkte fiel Puschkin zum ersten Male in Ungnade. Er war als Jüngling politisch-poetischer Revolutionär gewesen. Eine Ode von ihm: »An den Dolch« wurde in allen russischen Garnisonstädten gesungen, wahrscheinlicher Weise aber ohne dass man den Namen des Verfassers kannte. Er verabscheute den Despotismus, unter dem man gegen Ende der Regierung Alexander I. litt, hasste die Censur, welche die Poesie unterdrückte, und das Polizeiregiment, dessen Willkür die Jugend ihre Wohlfahrt überlassen sah, und witzig, wie er war, und beissend spöttisch, durchbohrte er die herrschenden Persönlichkeiten und Zustände mit Epigrammen, die im Lande herumliefen. 1820 klagte der St. Petersburger Generalgouverneur ihn beim Kaiser wegen einer »Ode an die Freiheit« an, aber Alexander las sie ohne Entrüstung und verlangte nur von dem jungen Dichter, dass er ihm alle seine übrigen Gedichte vorlegen solle. Unglücklicher Weise war ein Spottgedicht über den Liebling des Kaisers, Araktschejew, darunter, und zornig über diesen Hohn gegen einen Mann, dem er ausgezeichnetes Vertrauen erwies, verbannte Alexander den Sünder zuerst nach Sibirien, dann auf die Fürbitten Mehrerer nach Kischenew in Süd-Russland als Collegien-Secretär beim dortigen Generalgouverneur. Während dieses Aufenthaltes erhielt Puschkin nach einer Krankheit Urlaub, den Kaukasus und die Krim zu sehen, und die epochemachende Wirkung ihrer Naturschönheiten ist deutlich in seiner Poesie zu spüren. Im Kaukasus lernte er Byrons Dichtungen kennen, und der Eindruck Byrons schmolz in seinem jugendlichen Gemüthe mit dem Eindrucke des Kaukasus zusammen, unverwischbar wie dieser, aber noch tiefer gehend. In Kischenew und Odessa gab er Aergerniss durch sein wildes Leben und seine Byronschen Manieren und war desswegen bereits bei seinen Vorgesetzten schlecht angeschrieben, als ein Privatbrief von ihm nach St. Petersburg aufgefangen wurde, der, von einem jungen Engländer, einem Freunde Shelley's, handelnd, den sogenannten Atheismus Shelley's vertheidigte. Die Folge war eine neue Verbannung. Puschkin erhielt Befehl, sich unter polizeilicher Aufsicht auf seinem Gute Michailowskoje im Gouvernement Pskow aufzuhalten.

Bekanntlich rettete diese sechsjährige Verbannung von St. Petersburg Puschkin's Leben. Er hätte ohne Zweifel am December-Aufstande von 1825 bei Nicolai's Thronbesteigung Theil genommen, wenn er zur Stelle gewesen wäre. Als er nach dem furchtbaren Ende der Revolution und nach der Vernichtung seiner nächsten Freunde sich entschloss, den Kaiser in einer Bittschrift um Aufhebung seiner Verbannung anzugehen, gestand er auf die directe Frage des Kaisers ein, seine Sympathien seien am 25. December auf Seite der Rebellen gewesen. Unter die wenigen Punkte aus der Geschichte der russischen Litteratur, die Gemeinbesitz geworden sind, gehört das Gelöbniss des Dichters an den Kaiser in Betreff künftiger Loyalität, die Umarmung, mit der Nikolai dies Gelöbniss beantwortete, und sein Versprechen, Puschkin vor den Chicanen der Censur zu beschützen, indem er in Zukunft selbst sein Censor sein wolle. Puschkin stand vor der Wahl einer Versöhnung mit dem Kaiser und seinem Systeme oder lebenslänglicher Verfolgung und Verbannung und ging das Compromiss ein.

Bald war seine Stellung in der vornehmen Welt wie in der litterarischen gesichert. Der Kaiser gab ihm eine Pension von 6000 Rubel jährlich gegen die Verpflichtung mit welcher der Dichter es leicht nahm), eine Geschichte Peters des Grossen zu schreiben, und ernannte ihn gleichzeitig zum kaiserlichen Kammerjunker. Er nahm wieder mit brio am St. Petersburger High Life Theil, grämte sich aber im Grunde heimlich über die peinliche Gunst, die er genoss, während seine Jugendfreunde in Festungscasematten und sibirischen Bergwerken verschmachteten oder als Landflüchtige in fremden Hauptstädten lebten.

Er betäubte diese Stimmung, indem er seine Zuflucht zu dem bei hervorragenden Russen nicht seltenen Bewusstsein des Stolzes über Russlands Umfang und Kraft als Militärmacht nahm; der ehemalige Radicale genoss die Vorstellung, dass Russland jeden Widerstand niederzuschlagen vermöge, dieser entspringe nun aus dem Selbständigkeitsdrange aufrührerischer Polen oder aus der Freiheitsliebe der mit diesen sympathisirenden westlichen Racen. So muss seine bekannte »Ode an die Verleumder Russlands« von 1831 verstanden werden.

Trotzdem war er allzu verschieden von der weltlich gesinnten Umgebung, unter die er versetzt war, zu tief original, zu eigen, stolz und spöttisch, zu bewundert und anerkannt von Denen, die seine Originalität begriffen, um nicht von Hass und schäumender Missgunst umbraust zu leben. Dieser Hass war es, der sich Genugthuung schaffte, indem er den französisch-holländischen Abenteurer Dantés (de Heekeren) in seinen Annäherungen an Puschkin's Gattin beschützte und diesen dadurch in einen frühen Tod trieb. Berechtigt war daher der Zornesausbruch, mit dem das junge Geschlecht in Russland durch Lermontow's Stimme die Nachricht von Puschkin's Tod in dem bekannten Duelle beantwortete.

Puschkin ist die erste moderne Persönlichkeit in der russischen Poesie, oder wie man es auch ausdrücken könnte, der erste hervorragende Mann, der den Muth hatte, seine Persönlichkeit vollauf in der Dichtung geltend zu machen. Im Gegensatze zu seinen Vorgängern tritt er schon als Jüngling herrisch auf, ohne Respect für litterarische Traditionen noch Autoritäten, und er hat, schon ganz jung, den Stempel von Grösse auf seiner Stirn, den Schwung und die Macht in seiner dichterischen Haltung, welche die Zeitgenossen zwingen, in ihm einen Häuptling zu begrüssen. Er trägt jenen autokratischen Zug an sich, über den sich selbst die Gegner nicht irren. Er gehört zu denen, die gelästert, angegriffen, beneidet, gehasst werden, aber denen niemand den zweiten Rang beilegt. Die Vereinigung von Gewalt und Liebreiz in seiner Sprache übertraf in allzu hohem Grade, was man bisher gekannt hatte.

Einem Ausländer erscheint Vieles in seiner Dichtung jetzt veraltet. Der überwältigende Einfluss Byrons, unter dem er reifte, ist in seinen kürzeren epischen Gedichten in allzu hohem Grade merkbar. Von den vieren, die er zwischen 1821 und 1824 schrieb: dem »Gefangenen im Kaukasus«, dem »Springbrunnen in Bachtschissarai«, den »Räuberbrüdern« und den »Zigeunern«, ist das erste am ansprechendsten durch seine Naturbilder, die beiden folgenden durch die Echtheit des persönlichen Gefühls, die durch die directe Nachahmung von Byrons »Giaur«, »Der Gefangene in Chillon«, »Der Corsar« nicht angefochten wird; Puschkins Räuber empfinden ganz gewiss nicht wie wirkliche Räuber, aber er hat sein Gefühlsleben naiv und unverfälscht durch sie zu Worte kommen lassen. »Die Zigeuner« stehen am höchsten. Die frische Wildheit, in der die Gestalt des Zigeuner-Mädchens hervortritt, wirkt bezaubernd im Vergleiche mit der Haltungslosigkeit Aljeko's, der die Civilisation flieht und eines ihrer abscheulichsten Laster mit sich trägt: die Eifersucht, die ein anderes Wesen als dessen Eigenthum betrachtet, den es einmal geliebt hat. Vermuthlich hat diese feine Dichtung Prosper Mérimée, der sie übersetzte, die Idee zu seiner Meisternovelle »Carmen« gegeben. Wie der Gefangene im Kaukasus, leidet Aljeko an Byron'schem Spleen und Skepsis.

II.

An Byron (am meisten an »Beppo«) erinnert auch das Gedicht »Graf Nulin«, das einen leichteren, frivoleren Ton anschlägt. Ganz unter dem Eindrucke des »Don Juan« begann Puschkin 1823 planlos sein Hauptwerk »Jewgeni Onjägin«, zu welchem er sieben Jahre hindurch beständig zurückkehrte, um immer eigenthümlicher eine dichterische Selbstschilderung und überhaupt weit mehr Erlebtes darin niederzulegen, als in seinen übrigen Poesien vorhanden ist. Schliesslich ist seine grosse epische Dichtung »Poltawa« augenscheinlich von Byrons »Mazeppa« inspirirt, obgleich sie, an und für sich betrachtet, Byrons Jugendgedicht bei weitem durch die malerische Kraft der Schilderungen und die treue historische Wiedergabe von dem fürchterlichen Charakter des alten Hetmans übertrifft, die stark gegen das Romanzengepräge absticht, das Byron dieser Gestalt gegeben.

Nimmt man kurze lyrische Poesien und Prosanovellen aus, in denen Puschkin selbständig dasteht, so lässt sich kaum eine einzige Dichtung von ihm anführen, zu der er kein Vorbild gehabt. Seine versificirten Erzählungen im Volkstone, wie das »Lied von Oleg« oder seine Märchen, sind modernisirte Bylinen (Puschkin war einer der ersten in Russland, der epische Volkslieder sammelte). Sein einziges grosses Drama »Boris Godunow«, dessen meisterliche Exposition so grosse Erwartungen erweckt, ist eine Nachahmung von Shakespeare's historischen Dramen (besonders von »Richard III.« und »Macbeth«). Wie wenig gerecht der litterarische Ruhm oft vertheilt wird, zeigt sich darin, dass dieses Drama weit berühmt ist und höchlich bewundert wird, während Merimée's »Les débuts d'un aventurier«, das mit unendlich grösserer Originalität und Wahrheit denselben Stoff, die Erhebung des falschen Demetrius, behandelt, fast ganz unbekannt geblieben. Was endlich Puschkins Balladen betrifft, so sind sie nicht bloss stark von Mickiewicz beeinflusst, sondern zwei von den bekanntesten und am häufigsten übersetzten, die Balladen von den »Drei Budryssen« und vom »Wojewoden« sind wortgetreu dem polnischen Dichter nachübersetzt, ohne dass dies ausdrücklich genannt worden. Vielleicht haben einige der älteren Puschkin-Ausgaben eine Notiz darüber enthalten, die Volksausgabe hat keine, und in Bodenstedts Uebersetzung von 1855 sind die Balladen ohne Weiteres als Puschkin'sche bezeichnet.

Selbstverständlich bricht gleichwohl in den besten dieser metrischen Werke und noch mehr in den Prosanovellen, in denen Puschkin die von dem grossen russischen Historiker Karamsin geschaffene Kunstprosa übernahm und weiter entwickelte, eine starke Selbständigkeit durch. Wo Puschkin sich am höchsten erhebt, da hat er in auffallendem Grade das Kennzeichen des grossen Künstlers, selbst krank, Gesundes hervorzubringen. Der Künstler ist in der Regel ein Outlaw, eine lebendige Unregelmässigkeit, eine Uhr, die bald zu rasch, bald zu langsam geht – selbst Shakespeare und Molière waren pathologisch angelegt – aber seine überraschende Gabe ist es dann, dass sein Product, das er hervorbringt, gesund wird, gesetzbestimmt, eine Uhr, die richtig zeigt. So ist es mit Puschkin. Als Mensch war er nur in allzu hohem Grade ein Kind der St. Petersburger Civilisation, ein Opfer der Saloncultur und ein Sclave der Mode; als Dichter bezeichnet er, je mehr er sich entwickelt, desto deutlicher die beginnende slavische Reaction gegen St. Petersburg und den Hass gegen alle Saloncultur wie gegen die wahnsinnige Herrschaft der Mode, der die Grundleidenschaft in »Jewgeni Onjägin« ist und seinen schärfsten Ausdruck da findet, wo Onjägin seinen besten Freund, den jungen Lensky, in einem von der Gesellschafts-Convenienz geforderten Duell tödtet.

Als Geist steht Puschkin weit hinter Byron zurück, in dem keine Blasirtheit die flammende Freiheitsbegeisterung angriff, die sein Leben war und ihn in den Tod führte, während Puschkins jugendlicher Freiheitsglaube beim Eintritte des Mannesalters umschlug. Aber er übertrifft Byron in seiner Fähigkeit, Gestalten zu zeichnen. Seine schöne historische Erzählung »Die Tochter des Capitäns« ist Vorläuferin von Gogols »Taras Bulba«, und seine feinen Novellen bahnen den Weg für die Wirklichkeitsschilderungen der folgenden Generationen in dem von einem russischen Kritiker so genannten »sentimental-naturalistischen Stile«.

III.

Wie weit näher steht nicht Puschkins Nachfolger Michael Jurjewitsch Lermontow meinem Herzen! Wie viel tiefer und intensiver wirkt er nicht auf ein empfängliches Gemüth! Nie vergesse ich den Eindruck, den »Ein Held unserer Zeit« in Marmiers französischer Uebersetzung auf mich als Schulknabe machte. Das war der Byronismus in seiner stärksten und feinsten Essenz, Grösse in diesem Kaukasus, nach welchem Lermontow immer und immer wieder verbannt wurde, Grösse in der Natur, Grösse und Kälte in der Seele des Helden. Das war der Prometheus der neuen Zeit, an den Kaukasus-Felsen geschmiedet. Das war Muth, Prunklosigkeit, Genussverlangen, Ueberlegenheitsgefühl, durch Verbannung gefesselt, gemartert vom Adlerschnabel der lebensmüden Zweifelsucht. Wie habe ich dies Buch geliebt und bewundert, das erste, das ich als halberwachsener Mensch verstand, wie habe ich mit der armen Tscherkessin Bela gefühlt, mit der leidenschaftlichen und krankhaften Wera und mit der kleinen Fürstin Mary, mit allen diesen Frauen, die den harten, stolzen Petschorin lieben – und fast noch mehr mit dem alten Capitän Maxim Maximitsch, dessen bewundernde Ergebenheit Petschorin mit gleichgültiger Kälte lohnt. Und in der Vorrede zum Roman das von Marmier vortrefflich wiedergegebene Gedicht, das so bezeichnend für Lermontow ist:

Je te rends grâces, ô Seigneur!
Du tableau varié d'un monde plein de charmes,
Du feu des passions et du vide du coeur,
Du poison des baisers, de l'âcreté des larmes,
De la haine, qui tue et de l'amour, qui ment,
De nos rêves trompeurs perdus dans les espaces,
De tout enfin, mon Dieu! Puissé-je seulement
Ne pas longtemps te rendre grâces.

Bodenstedt hat eine Schilderung von Lermontow gegeben, wie er ihn im Winter vor seinem Tode in einer Restauration zu Moskau sah: ein junger Offizier von Mittelgrösse, mit vornehm ungezwungener Haltung und ungewöhnlicher Elasticität in allen Bewegungen. Um den Hals trug er ein nachlässig geknüpftes Halstuch, die Uniform war nicht ganz zugeknöpft und nicht ganz neu, aber unter ihr sah man blendend weisse Wäsche. Er bückte sich nach etwas, was er verloren hatte, sagt Bodenstedt, »mit einer solchen Geschmeidigkeit, als ob alle Knochen in seinem Körper geknickt wären, obgleich man nach Brust und Schultern auf einen ziemlich starken Knochenbau schliessen musste«. Und er schildert den Gegensatz zwischen dem grossen, ruhigen, seelenvollen Auge und dem spöttischen Ausdrucke um den feingeschnittenen Mund; er malt den Cynismus Lermontows im Gebrauche der Sprache, seine Lust, sich an den Anwesenden zum Ritter zu schlagen und seinen aufrichtigen Eifer, wieder zu versöhnen, wenn er jemand gekränkt hatte.

Was Einen an dieser Beschreibung verwundert, ist, dass sie an Lermontows Beschreibung vom »Helden unserer Zeit« nicht bloss lebhaft erinnert, sondern bis auf einzelne Ausdrücke und Wendungen der Stelle entspricht, wo Petschorin im Abschnitte: »Maxim Maximitsch« eingeführt wird. Dort heisst es: »Er war von Mittelgrösse, elegant und fein; aber seine breiten Schultern deuteten auf einen starken Körperbau, und wenn man ihn beobachtete, sah man leicht, dass die Natur ihn mit Kräften ausgerüstet hatte, um die Strapazen eines unstäten Lebens, den Einfluss verschiedener Klimate, den Wirbel des Weltlebens und die Stürme des Seelenlebens auszuhalten. Unter seiner Sammtjacke, die nachlässig zugeknöpft war, sah man vollständig reine Wäsche, eines der Kennzeichen eines Mannes von gutem Geschmack ... Als er sich auf die Bank setzte, schien seine Gestalt sich gleichsam zusammenzufalten, ganz als wäre kein Rückgrat in seinem Rücken. Seine ganze Stellung verrieth dann eine Art nervöser Schwäche.«

Diese Parallele zeigt, in wie hohem Grade Lermontow seine eigene Persönlichkeit beim Ausmalen von Petschorins Wesen vor Augen hatte, und wer mit seiner ganzen Production vertraut ist, wird leicht sehen, wie viel von Petschorin sich wieder in den zerrissenen Hauptpersonen seiner beiden grössten Dichtungen, »Der Dämon« und »Ismail-Bey« wiederfindet.

IV.

Lermontow wurde in Moskau geboren, sah schon als Knabe die wilden Berggegenden des Kaukasus, nahm das Byron'sche Wesen in sich auf, studirte an der Universität seiner Geburtsstadt, machte die Junkerschule in St. Petersburg durch, verliess sie als Cornet vom Leibhusarenregiment und war schon als ganz junger Offizier durch seine ausgelassenen und unanständigen Verse bekannt. Die Dichtung »Hadsji-Abrék« aus seiner ersten Jugend ist energisch und hart, wie eine in Verse gesetzte Phantasie von Merimée. 1837 wurde der dreiundzwanzigjährige Dichter zum ersten Male nach dem Kaukasus verbannt, aus einem nur in Russland möglichen Grunde, wegen seines Klagegedichtes über Puschkins Tod, das nur wiedergab, was Alle fühlten, der Kaiser auch, worin Lermontow aber die Kühnheit gehabt hatte, Nikolai um Rache gegen den Mörder anzurufen, der einer der Lieblinge der Gesellschaft war, wie er später unter Napoleon III. einer der Männer des französischen Kaiserhofes wurde, besonders durch sein freches Auftreten im Senate gegen Sainte-Beuve bekannt.

Nach Verlauf eines Jahres wurde Lermontow begnadigt und lebte nun einige Jahre in St. Petersburg, bereits hochangesehen als Dichter. Er gab sein »Lied vom Zaren Iwan Wassiljewitsch, von seinem jungen Leibwachehäuptling und dem kühnen Kaufmanne Kalaschnikow« heraus. Schon Puschkin hatte versucht, den Ton der alten Bylinen anzuschlagen, doch nur in ganz märchenhaften Poesien, Lermontow belebte den Vortrag der historischen und heroischen Bylinen in einem anmuthsvollen kleinen Epos aufs neue, das im strengsten Stile gehalten war und in welchem der Zeitgeist aus Iwans III. Periode in reiner Naivetät zum Ausdrucke kommt. Welch ein Künstler war er, dieser Dämon in Menschengestalt, der schon als Knabe Mann gewesen und der als Jüngling starb, nachdem er Werke von unvergänglicher Bedeutung hervorgebracht hatte.

Und gleichzeitig schreibt er jenes Gewimmel kurzer lyrischer Gedichte, in denen seine stolze Seele ohne Umschweife ihre Unbeugsamkeit an den Tag legt. Puschkin konnte nachgeben, sich gewinnen lassen, Brutalitäts-Patriot werden, er nie. Seine Freunde täuschten und verriethen ihn. Er verblieb treu in Freundschaft. Andere verglichen sich mit dem, was sie gehasst. Er verblieb treu gegen sich selbst in seinem Hass. Die Grösse und Hoheit seines inneren Wesens brachten ihn beständig aufs neue zu Falle. Er fuhr fort, gross zu fühlen und frei zu denken. Er war von Spionen umgeben, verdächtig, wenn er schwieg, preisgegeben, wenn er redete, verketzert, verleumdet, verhasst, verlassen. Er war immer weit grösser und stärker als sein Geschick. Nie hat er vor Baal das Knie gebeugt.

Sie schalten ihn einen schlechten Patrioten. Er antwortete: »Ich liebe mein Vaterland, aber für Barbarei kann ich keine Begeisterung fühlen. Ich mag nicht den Ruhm, der für Blut gekauft wird, nicht das stolze Vertrauen, das sich auf Bajonetten stützt, auch nicht die Glorie des grossen Alterthums.« (Gedicht: »Mein Vaterland«.) Aehnliche Ausbrüche von Geringschätzung und Abscheu blutigen Waltens enthält die meisterliche Schlachtmalerei: »Walerik«. Wie nimmt sich dagegen Puschkin herkömmlich aus!

Lermontows innerstes Stimmungsleben liegt offen zu Tage in der Sammlung: »Kleine Einfälle und Ausfälle«. Sie haben ihn gepeinigt, weil er wagte zu denken, gesteinigt, weil er zu reden wagte; sie konnten nichts antworten, daher ihre Raserei. Aber er beneidet ihnen nicht ihre Ordensbänder; auch nicht die Geschmeidigkeit des Rückens, wodurch sie gewonnen wurden. Alles haben sie ihm geraubt, nur nicht seinen Stolz und seinen Muth. Er hat für das Schöne geglüht, für das Wahre gefochten; das schien den Anderen schlecht und gefährlich. Nun, da ihm die Freiheit geraubt ist, hat langes, einsames Nachdenken seinen Hass in grenzenlose Verachtung verwandelt. Er weiss, dass Eine Bitte um Gnade, Ein reuiges Wort ihm alle Wege öffnen würde, aber eher bricht er zusammen in seinen Ketten, ehe er dies eine, lügenhafte Wort sagt, das ihn retten könnte. Er gönnt den Anderen ihre Freuden; er schenkt den Anderen ihr Bedauern; Alles will er eher werden, als ihnen gleich.

1840 wurde Lermontow zum zweiten Male in den Kaukasus verwiesen wegen eines Duells mit dem Sohne des französischen Gesandten, des Litteratur-Historikers Baranze. Er war ein grundsätzlicher Gegner des Duells, konnte aber als Edelmann und Offizier sich von den Forderungen der Gesellschaft nicht freimachen, denen um ihn herum gehuldigt wurde. Bald nachdem er die Hauptstadt verlassen, erschien sein Roman »Ein Held unserer Zeit«. In diesem Buche war Mehreres, wozu die höhere Gesellschaft der damaligen Zeit die Modelle auffinden konnte. Ein Kamerad Lermontows, Martynow, fühlte sich durch verschiedene Stellen des Romans beleidigt (wahrscheinlich glaubte er sich in Gruschnitzki's Person portraitirt), und als der Dichter eines Tages seinen Witz über ihn ausgehen liess, ergriff er die Gelegenheit zu einer Herausforderung. In dem Duell, das folgte, fiel Lermontow am 15. Juli 1841, ins Herz getroffen. Ein Denkmal wurde ihm in Pjatigorsk errichtet, in dessen Nähe er gefallen war.

Ein Dämon war in ihm, ein Herrschergeist, heiss und kalt, gut und grausam, wild und zärtlich; Unabhängigkeit liebend bis zum Trotze gegen Alles, was über ihm stand, und bis zum Losreissen von Allem, was sich an ihn klammern wollte. So jung, wie Lermontow war, hat er oft sich selbst fragen müssen, ob nicht ein böser Geist in ihm lebte: der Geist, der ihm Frauen gewann, die ihm bald zur Last wurden, und der hohnlachte und spottete, wo Andere sich gerührt fühlten. Wäre er über die 27 Jahre hinausgelangt, die ihm vergönnt waren, so hätte diese Frage ihn nicht mehr geplagt. Er hätte dann gefühlt, dass seine Kraft gesund, sein Recht sicher, seine Natur reich und gross war, und dass der Ursprung seines Wesens jenseits von dem Gegensatze zwischen Gut und Böse lag.

Was wir von ihm besitzen, ist nur der eine unvergleichliche Prosaroman und einige Bände Poesien, die von der Censur (derselben Censur, die alle bildlichen Darstellungen von Frauen verbot, »die nicht vollständig angekleidet waren, d. h. vom Kinn bis an die Knie«) mit wahren Breschen durchlöchert worden. Aus seinem »Märchen für Kinder« sieht man, dass das, was wir z. B. vom »Dämon« besitzen – diesem Gedichte, dessen Popularität in Russland schon dadurch bezeugt wird, dass man die Illustrationen dazu an allen Wänden sieht und dass Rubinstein den Text zu einer Oper daraus genommen – in Wirklichkeit so wenig ist, dass nach des Dichters Meinung »auch nicht eine Spur von der dämonischen Natur des Geistes übrig geblieben«. Wie hoch steht nicht dennoch dieser »Dämon« über de Vigny's berühmten »Eloa«!

Es ist die ganze Romantik des Kaukasus-Gebietes in dieser Poesie lebendig: Natur und Menschen durchdrungen von einer wilden, heroischen Stimmung, beleuchtet von jugendlichem Trotz wie von Blitz auf Blitz. Keiner schildert hinreissender als Lermontow den einsamen Ritt eines jungen tscherkessischen Fürsten längs der kaukasischen Bergpfade. Niemand hat wie er eine Schlacht zwischen Kosaken und Tscherkessen gemalt. Puschkins Schlachtmalerei in »Poltawa« ist mächtig und pompös, aber sie ist die phantastische Reconstruction einer Vorzeit durch einen Dichter. In Lermontows »Walerik« ist auch der kleinste Zug erlebt, gesehen, so schlagend wahr und so bewunderungswürdig wiedergegeben, dass keine andere Dichtung uns ihm näher bringt. Man sieht ihn vor sich, wie er daliegt, ehe die Schlacht beginnt, das weisse Zeltlager vor seinem Auge ausbreitet, während die Kosaken-Pferde, klein und mager, mit hängendem Kopfe an seiner Seite stehen. Man fühlt die Sonne brennen, sieht die Kosaken-Posten, zwei und zwei in der Ferne, hört die ersten Kugeln und die ersten Rufe. Und je eindringender man Lermontow als Menschen und Schilderer kennen lernt, desto lieber gewinnt man ihn.

Es ist sinnbildlich, dass sein Leben eine Reihe von Zurücksetzungen und Verbannungen in dem Lande war, von dem er selbst irgendwo sagt: Niemand komme da vorwärts ausser Denen, die zurückgehen. Seine Dichtung wirkt durch ihre starke persönliche Originalität. Er begann, wie alle russischen Schriftsteller, unter fremdem Einflusse, zunächst deutscher Schreckensromantik – eine Arbeit aus seiner Jünglingszeit führt den deutschen Titel »Menschen und Leidenschaften« – später sah er, wie die zeitgenössischen Polen und Puschkin zu Byron als zum grossen Dichter des Zeitalters auf; aber obgleich er so ganz jung stirbt, jünger sogar als Shelley, steht seine männliche und stolze Physiognomie mit reinen und deutlichen Zügen vor uns.

Er war zu sehr von sich und seinem Eigenen erfüllt, um das breite Russland vor unserem Blick entfalten zu können, er war ein revolutionärer Geist, aber ein revolutionärer Romantiker. Bald nach ihm oder gleichzeitig mit ihm begannen neue Richtungen sich in Russlands Litteratur und Geistesleben geltend zu machen, Richtungen, die Puschkins und die seinige ablösen sollten.


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