Albert Emil Brachvogel
Friedemann Bach
Albert Emil Brachvogel

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XXII.

Dem schicksalhaften Königstein liegt der Lilienstein gegenüber. Als im Oktober 1756 sich Friedrich II. hier zwischen das sächsische Heer, das von Pirna her heranzog, und das österreichische, das diesem von Lobositz aus entgegenstrebte, dazwischenschob und die Sachsen zur bedingungslosen Kapitulation zwang, als am Tage nach diesem vernichtenden Schlag der König und bald darauf auch der Ministerregent nach Polen flohen, als später selbst der Kurprinz mit Gemahlin am schwiegerelterlichen Hofe zu München ein Asyl suchte, blieben in Dresden nur zwei Frauen zurück, um die Last der Verantwortung zu tragen: die Königin und die Ministerin Brühl.

Josepha war im Innersten vernichtet und ihr ganzes Trachten nur noch darauf gerichtet, selbst im Lager des Feindes Pläne gegen ihn zu schmieden. Friedrich sah das Treiben seiner »chère pauvre cousine de Saxe« längere Zeit mit an, beobachtete aber, so streng seine sonstigen Maßregeln auch waren, jede erdenkbare Rücksicht gegen sie. Als ihm aber ihr Aufenthalt in Dresden gefährlich zu werden begann, entzog er ihr kurzerhand die monatlichen Gelder, die sie für sich und ihren Hofstaat benötigte. Josepha legte Verwahrung dagegen ein, aber Friedrich ließ ihr sagen, sie möchte sich an ihren Herrn Gemahl wenden. Der Königin blieb nichts anderes übrig, als ihre Residenz zu verlassen. Sie verweilte einige Zeit in München und trat dann, an Leib und Seele gebrochen, die Reise nach Polen an. Aber unweit ihres Zieles starb sie, ohne den Gatten wiedergesehen zu haben.

Zur gleichen Zeit wurden von Friedrich sämtliche Güter des Ministerregenten (im Wert von acht Millionen) zugunsten das Staates beschlagnahmt, und die Gräfin Brühl, die das Unglück ihrer Familie aufzuhalten vermeinte, wenn sie auf eigene Hand intrigierte, wurde durch eine Kabinettsorder zu ihrem Manne nach Polen ausgewiesen. Ehe sie aber zu ihm reisen konnte, erlag auch sie ihren vielfachen Leiden.

Im Jahre 1762 begann endlich die Friedenssonne ihre ersten matten Strahlen über das verödete Sachsen zu ergießen. Kurprinz Christian und seine Gemahlin Antonie kehrten zurück und trugen sofort Sorge, durch Ankauf von Lebensmitteln aus Böhmen der furchtbaren Hungersnot abzuhelfen. Die Bewohner Dresdens strömten vor die Tore, ihrem geliebten Prinzen entgegen, von dem sie eine bessere Gestaltung der Zukunft erhofften. Zum erstenmal seit langer Zeit hielten wieder Freude und Zuversicht ihren Einzug in die Herzen der Menschen.

Sobald als angängig richtete denn auch im Namen des Kurprinzen der Etatsminister von Fritsch an den in Meißen weilenden preußischen König die Anfrage, ob er zum Frieden geneigt sei, und Friedrich, der Christian persönlich sehr hoch schätzte, ging willig darauf ein. Die Verhandlungen begannen und führten am 15. Februar 1763 zum Frieden von Hubertusburg, einem Jagdschloß in der Nähe Grimmas.

Der Friedensschluß brachte auch König August III. und Brühl, den Unzerstörbaren, nach Dresden zurück. Der Regent war alt und wunderlich geworden, und seine Josepha, die er sonst stets vernachlässigt hatte, fehlte ihm überall. Gebückt und finster schritt der Minister, einst so strahlend und siegesstolz, einher; seine Gemahlin war tot, sein Palast zerstört, sein Vermögen mußte er erst wieder von der Konfiskation befreien. Vollkommen passiv der eine, unlustig der andere: so begannen August und Brühl die Zügel des Regiments wieder zu ergreifen.

Am 5. Oktober, gerade als man die Vorbereitungen zur Namenstagsfeier des Königs traf, wurde August III., während er sich beim Diner mit Brühl unterhielt, vom Schlag gerührt. Man brachte ihn sofort in seine Gemächer – er war tot.

Des Ministers Antlitz wurde aschfarben, seine Augen umflorten sich; er taumelte, seinen Wagen verschmähend, zu Fuß nach Hause. Tränenlos saß er die Nacht über in einem Sessel und stierte vor sich hin. So fand ihn der Oberhofmeister des Kurprinzen, Baron von Wackerbarth, am anderen Morgen.

»Ich weiß, was Sie mir bringen, Herr Baron«, begrüßte ihn Brühl mit einem matten Lächeln, »bitte, reden Sie!«

»Herr Graf von Brühl! Im Namen unseres Durchlauchtigsten jetzt regierenden Kurfürsten habe ich Ihnen zu eröffnen, daß Sie mit dem heutigen Tage Ihrer sämtlichen Bedienstungen enthoben sind. Ich bitte, mich der unangenehmen Pflicht zu entbinden, Ihnen die Gründe anzugeben. Da der hochselige Monarch Sie aber solange seines Vertrauens würdigte, wünscht der Durchlauchtigste Kurfürst, Ihnen das Peinliche einer offiziellen Entlassung zu ersparen und gibt Ihnen anheim, Ihre Demission aus Gesundheitsrücksichten zu erbitten. Ihr Gehalt bleibt Ihnen auf Lebenszeit, doch kann ich Ihnen die Mitteilung nicht ersparen, daß Sie noch im Laufe des Tages Ihr Privatvermögen dem bestellten Kommissarius zu übergeben haben!«

»Also Sequestration!« erwiderte Brühl höhnisch und präsentierte die Kabinettsorder Augusts, die jede Verfügung des Staates über sein Vermögen ausschloß. Der Baron zuckte nur die Achseln.

»Ich danke Ihnen, Herr Baron, und bin überzeugt, daß der heutige Tag Ihnen große Freude macht. Grüßen Sie alle meine Feinde und sagen Sie ihnen, daß ich ihnen nicht mehr lange Gelegenheit geben werde, mich zu bespötteln!«

»Von jetzt an haben Sie keinen Feind mehr, Herr Graf!«

Am 28. Oktober 1763, dreiundzwanzig Tage nach dem Tode seines Herrn, starb Heinrich Graf von Brühl.

Unter dem Volk, das neugierig die Stätte umlagerte, an der der Weniggeliebte, aber Vielgehaßte zur letzten Ruhe gebettet wurde, trieb sich auch ein älterer Mann von vagabundenmäßigem Aussehen umher, der eine Violine unter dem Arm trug. Aus seinem finsteren, von grauen Bartstoppeln umrahmten Gesicht sahen traurige, verschleierte Augen suchend über das Menschengewoge hin. Wenn sein Blick an der einen oder anderen Frau haften blieb, ging es zuweilen wie ein Ruck freudigen Erkennens durch die hagere Gestalt, freilich nur, um unmittelbar darauf wieder in sich zusammenzusacken. Schließlich entfernte sich der alte Musikant mit den schleppenden Schritten des Enttäuschten.

 

Fünf Jahre später.

Der Kantor der Thomaskirche von Leipzig war gerade von der Gedächtnisfeier, die am Grabe Johann Sebastian Bachs alljährlich am Johannistage mit Gebet und Gesang der Thomasschüler veranstaltet wurde, nach Hause zurückgekehrt, hatte sein Weib mit einem Kuß begrüßt und den Kindern über die blonden Haarschöpfe gestrichen, als es an der Haustür klopfte.

Die Kantorin ging, um zu öffnen. »Was will Er?«

»Nichts, verehrte Frau! Nur bescheiden erkundigen will ich mich, wer jetzt hier wohnt.«

Beim Klang der Stimme wich alle Farbe aus dem Gesicht der Frau. »Alle guten Geister! – Friedemann Bach!«

»Ulrike!« Er schrie es hinaus, vor Überraschung so laut und gellend, daß der Kantor besorgt herbeigestürzt kam.

»Doles!«

Die Freunde lagen sich in den Armen. Aber Friedemann riß sich nach der ersten freudigen Betäubung los: »Laßt mich! Lebt wohl, ich muß fort!«

Doles und Ulrike hielten ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Nein, du gehst nicht, Bruder! Hast du mir nicht versprochen, daß du zu mir kommen willst, wenn du in Not bist? In dem Zustand lasse ich dich nicht weg! Es muß erst wieder anders mit dir werden, und Ulrike und ich wollen so lange an dir arbeiten, bis du an Leib und Seele gesund bist und deinem Namen keine Schande mehr machst!«

»Meinetwegen«, ließ er sich schließlich bewegen, »ich bleibe! Aber meine Schuld ist's nicht, wenn es euch später leid wird, euch einen Kerl wie mich auf den Hals geladen zu haben!«

Friedemann Bach lebte von dieser Stunde an im Hause seines Freundes, und das Kantorpaar unterließ nichts an zarter Aufmerksamkeit, um der Lage des Gastes alles Peinliche zu nehmen, ihm sein Unglück weniger fühlbar zu machen. Er bewohnte die kleine Stube, die Sebastian einst innehatte, und Ulrike ließ es sich als erstes angelegen sein, seine Kleidung so herzurichten, daß er überall erscheinen konnte. Als er alles Landstreichermäßige glücklich abgestreift hatte, wurde er den maßgeblichen Kreisen Leipzigs wieder vorgestellt. Man redete ihnen ein, daß der seit langem Totgesagte bisher im Österreichischen gelebt habe.

Friedemann selbst schwieg hartnäckig über seine wahren Erlebnisse, sogar seinen Freunden gegenüber. Wie hätte er ihnen auch seinen Aufenthalt bei den Zigeunern, wie das unermeßliche Glück seiner Ehe mit Towadei begreiflich machen sollen? Wie hätte er ihnen erzählen können, daß er Monat um Monat das ganze Gebiet der Elbe abgestreift hatte, um die Verlorene wiederzufinden. Wie, daß er dann als bettelnder Organist von Kirchspiel zu Kirchspiel gezogen war und die Pfarrer um Almosen angegangen oder ihre Orgeln gespielt hatte, daß er, wieder in den Besitz einer Geige gelangt, von der Kneipe zum Kirmesplatz und wieder zur Kneipe gepilgert war, jahraus, jahrein, ein Ewiger Jude der Musik?!

Besonders schwer fiel es Doles, den Freund, der jeden Schaffenstrieb verloren hatte, zu einem Mindestmaß geregelter Tätigkeit anzuhalten, und er sah mit Beunruhigung dem ersten Orgelkonzert entgegen, das die alten Verehrer seiner Kunst mit Recht alsbald von ihm verlangen durften. Friedemann blieb sorglos und gelassen.

Und dann saß er vor den Pfeifen und spielte wieder, und Doles hörte, daß Sebastians Sohn nichts von seiner Kunst eingebüßt hatte, daß er dem Gewaltigen und Erhabenen seiner Spielweise vielmehr eine solch unnennbare Innigkeit, einen wehmütigen Schmelz, eine so religiöse Begeisterung vermählte, daß es war, als wenn der Geist des alten Bach über den Räumen der Kirche schwebe. Friedemann sah Doles und Ulrike an und nickte ihnen zu, seine Mundwinkel verkniffen sich zu einem wehmütig-bitteren Lächeln, er fugierte als Schluß des Konzertes das alte Lied: »Willst du dein Herz mir schenken?« Nur die Freunde erkannten, wie tief das Elend des Mannes war.

Mit feinem Verständnis und Einfühlungsvermögen wirkte das Kantorpaar auf eine Erneuerung, zumindest eine gesunde Umänderung des Wesens Friedemanns hin. Kein Mittel blieb unversucht, seine Überempfindlichkeit, seine Verachtung des »Menschengesindels«, seine Eigenliebe und grenzenlose Selbstüberschätzung, seinen Hang zum Nichtstun zu bekämpfen. Ihn sich selbst zu entreißen, ihn seinem Talent, dem Leben wiederzugeben, war Doles' und Ulrikes edles Ziel.

Friedemann machte ihnen ihr Liebeswerk nicht leicht, und oft mußte der Freund gehässige Worte über sich ergehen lassen: »Halt's Maul, Herr Thomasorganist! Du kannst leicht schöne Redensarten machen! Schimpftest auf meinen Vater und bist selber nur ein Esel, konntest aber sein warmes Nest recht hübsch einnehmen! Ein feiner Nachfolger! Beim Satan! – willst du die paar Bissen, die ich hier esse, an mir abbläuen?!« Freilich reute ihn dann sein Benehmen im gleichen Augenblick und er fiel dem Freund um den Hals. »Ich bin ein gemeiner Lump, Bruder! Warum nur hast du mich aufgenommen?! Ach, verzeihe, ich bin zu unglücklich!«

Am besten wurde noch Ulrike mit ihm fertig, und sie brachte es auch dahin, daß er nach langen Jahren wieder Geschmack am Schaffen, am Komponieren fand. Die ersten Versuche fielen glücklich aus und spornten ihn zu neuer Tätigkeit an; eine Reihe von Kompositionen entstand, die allgemein bewundert wurden, weil sie dem Geist des toten Meisters nahekamen. Auch die Unterrichtsstunden, die Doles ihm verschafft hatte und die er regelmäßig wahrnahm, übten einen wohltätigen Einfluß auf ihn aus.

Ulrike, von den sichtbaren Erfolgen zu neuen Anstrengungen ermuntert, ließ Friedemann noch größere Fürsorge angedeihen und kam ihm dadurch auch innerlich näher. Je enger sich nun aber auch der Mann derjenigen anschloß, deren Liebe er einst verschmäht hatte, je mehr er ihren Frauenwert erkannte, desto tiefer entwickelte sich in ihm eine seltsame Art der Zuneigung, die in ihrer Mischung von Erinnerungsträumen an Towadei und nebelhaften Wirklichkeitsvorstellungen um Ulrike allmählich die Form eines sinnlichen Zwittergefühls annahm. Ulrike war weit davon entfernt, auch nur in Gedanken eine Untreue an ihrem Gatten zu begehen, aber die tragische Wirkung, die der in sich gebrochene erste Geliebte ihres Herzens auf sie ausübte, und der Wunsch, ihn ganz zu retten, versetzten auch sie in einen Zustand, der der Liebe nahekam.

Doles konnte das eigentümliche Verhältnis nicht verborgen bleiben; er war verzweifelt, brachte es aber nicht über sich, den Störer seines Glückes, den »Hausfreund«, wie ihn der Klatsch der Nachbarinnen bereits nannte, aus dem Hause zu jagen. Er wußte, dann verkam der Freund und ging im Elend unter. – Trotz festem Vorsatz und gutem Willen verließ ihn aber gleichwohl öfter die Selbstbeherrschung. Er wurde mürrisch und wortkarg, ohne es zu wissen; er war unfreundlich oder gar hart zu Ulrike, abweisend und bissig gegen Friedemann, ohne es zu wollen.

Langsam dämmerte in dem Ahnungslosen die Erkenntnis. Und als er eines Nachts später als gewöhnlich nach Hause kam und lautlos die Treppe zu seinem Stübchen hinaufstieg, hörte er aus dem ehelichen Schlafgemach verhaltenes Weinen und die Stimme Doles'. Er konnte sich nicht enthalten, das Ohr an die Zimmertür zu legen.

»So wahr ich meinem seligen Vater Frieden wünsche«, schluchzte gerade Ulrike, »ich habe nur Mitleid mit dem Unglücklichen! Gewiß liebe ich ihn noch, aber nicht, wie du meinst! Ich habe ihn gern wie eine Schwester den verlorenen Bruder!«

»O, wenn ich gewußt hätte«, antwortete der Gatte, »wie teuer ich seine Hilfe in Dresden dereinst würde bezahlen müssen, ich wäre lieber auf Stroh verendet! Friedemann, Friedemann, du bist mein Unglück!«

Der heimliche Horcher nickte vor sich hin. Er schlich weiter, in seine Stube, schnallte die alte Tasche um, klemmte seine Violine unter den Arm und tastete sich leise wieder treppab. Er schloß die Haustür auf, schloß sie zu, schob, wie vormals in seinen Jugendtagen, den Schlüssel durch die Lücke der ausgetretenen Schwelle.

Er drückte den Hut tief ins Gesicht und schritt davon.

 

Zehn Jahre später.

Auf dem Landgut des Tribunal- und Hofrates Friedrich von Eichstädt wurde die Feier des Erntedankfestes begangen. Nie ließ es sich die Gutsherrschaft nehmen, während der Wochen, in denen der Segen des Ackers in die Scheunen strömte, der stickigen Hitze Berlins und dem Treiben der Residenz zu entfliehen, um in Begleitung einer Schar auserwählter Gäste sich in gesunder Landluft zu erholen.

Während die Bauern, angetan mit langem Rock und Lederhosen, sich im Dorfwirtshaus mit den Schönen im Tanze drehten, daß die schwarzen Bänder ihrer Hauben flatterten und die Henkeltaler am gebräunten Halse klingelten, saß die Gutsgesellschaft im Gartensalon des Sommerhauses in angeregter Unterhaltung. Die Fenster und Glastüren waren weit geöffnet, die würzige Sommerluft durchstrich den behaglichen Raum, und wenn der Blick der Versammelten sich von der Blumenpracht des parkartigen Gartens löste, so schweifte er über die Weite der Felder, Wiesen und Wälder bis hin zu den Potsdamer Bergen, die in der Ferne verdämmerten.

Die stattliche Dame des Hauses, Antonie von Eichstädt, reich, geistreich, liebenswürdig, trotz ihrem Alter noch jugendschlank und schön, sagte mit gerunzelten Brauen zu einem Gast: »Sie sind in ihren Urteilen zu bitter, lieber Bach, so gerecht ich sie auch in mancher Beziehung finde. Es ist wahr, unsere Berliner Musik ist im Sinken. Seit Graun tot ist und Seine Majestät, von Alter und Sorgen geplagt, nicht mehr so eifrig wie sonst der Kunst pflegt, entweicht die Muse langsam aus den Mauern. Reichardt und Benda können den großen Meister nun einmal nicht ersetzen. Gewiß, ihre Arbeiten sind durchaus kunstgerecht, aber zu verstandeskalt.«

»Verstandeskalt, meine Gnädige, das ist das rechte Wort! Und nicht etwa nur in Berlin, nein, überall in Deutschland ist die Musik jetzt so! Verzeihe mir's unser Freund« – er machte eine Verbeugung gegen den neben ihm sitzenden und aufmerksam zuhörenden Moses Mendelssohn – »aber unsere ganze jetzige Zeit ist verstandeskalt! Und die Musik ist nun einmal eine Herzenswissenschaft, die vor dem anatomischen Messer der Philosophie absterben muß. Mag es wie Arroganz im Munde des Sohnes klingen, aber ich behaupte, gnädige Frau, daß die ernste, die höchste Bedeutung der Musik, die der Kirche, seit meines Vaters Tode schlafen ging. Solange er lebte, war die Musik noch eine Macht der Glaubenslehre und in ihrer schönsten Mannbarkeit, jetzt, in der neuen Atmosphäre der Toleranz, ist sie erblichen!«

»Und wenn Sie das so lebendig fühlen«, warf Mendelssohn ein, »wenn Sie selbst wissen, was zur Wiederbelebung des Kirchenstils not tut, warum schaffen Sie nicht selbst Werke in diesem Sinne, da Sie doch schon so viel Schönes komponiert haben? Warum wollen Sie sogar von Berlin weggehen, diesem Zentralpunkt des Nordens, in dem allein alle Bestrebungen weitgreifende Wirkung haben?«

»Das allerdings, Verehrtester, schlägt mich! Es soll mich aber nicht abhalten, freimütig zu antworten. Wie sehr ich recht damit habe, daß jene Kunst wirklich verloren ist, erhellt daraus, daß auch ich viel zu sehr Mensch dieser Zeit bin, als daß ich meinem Vater nachstreben könnte. Einer allein, wenn er noch lebte, wäre fähig, meinen Vater wirklich zu ersetzen: mein Bruder Friedemann!«

Die Unterhaltung stockte. Frau von Eichstädt hatte sich betreten abgewandt; sie gab, da eben die Musik aus dem Dorf sich näherte, einem Diener Befehle.

Es war Brauch, daß die Bauern beim Herannahen des Abends ihrem Gutsherrn den Erntekranz brachten, der mit mancherlei Zeremonien und unter Musik im Flur des Edelhauses aufgehängt wurde. Man brachte das Wohl der Herrschaft aus und zog dann in die Schenke zurück, wo mit einem guten Trunk auf Kosten der Herrschaft und unter Sang und Tanz der Tag beschlossen wurde.

Einen Marsch aufspielend, erschienen die Musikanten im Gefolge des Kranzes, vor dem gewichtig der Bürgermeister einherschritt, und paarweise folgten fröhlich die Landleute. Der Schulze hielt seine Rede, der Erntekranz wurde mit Juchzen und Hallo aufgehängt, der Herr von Eichstädt bot der Schulzin, der Schulze der Gutsherrin zum herkömmlichen Ehrentanz, einem Zweitritt, den Arm.

»Wahrhaftig, die Leute spielen gar nicht übel! Ich habe noch keinen falschen Ton gehört!« bemerkte Emanuel Bach zu seinem Nachbarn, dem Historienmaler Bernhard Rode.

»Es sind böhmische Musikanten dem Aussehen nach«, stellte Mendelssohn fest, »sie sind ihres Talentes wegen bekannt und ziehen durch die ganze Welt.«

»Unseren jungen Freundinnen zuckt's in allen Gliedern. Sehen Sie nur, die kleine Geuder ist schon ganz Tanz!« lachte Rode.

»Nun, wenn ich wüßte, daß ein Impromptu der Gesellschaft wünschenswert wäre und die Musici etwas Vernünftiges aufspielen könnten, würde ich, während die Bauern hier ihren Umtrunk tun, ein Entrement dansant vorschlagen!« meinte Frau von Eichstädt schelmisch.

»Ach ja! Bitte, bitte!« riefen die jungen Damen wie aus einem Mund.

Herr von Eichstädt trat zu den Musikanten und erkundigte sich, ob sie sich wohl getrauten, der Gutsherrschaft zum Tanze aufzuspielen.

»Wir können alles, Euer Gnaden«, näselte der kleine Klarinettist, »Sarabanden, Menuett, Polonäse, Gigue und Galliarde, was befohlen wird.«

Ein Tanz folgte dem anderen, die Fächer der Damen kamen nicht mehr zur Ruhe, die Zöpflein der jungen Herren wippten verwegen auf den reichbestickten Röcken von Atlas. Sogar die älteren Vertreter der Männerwelt schlossen sich von dem Vergnügen nicht aus, atmeten aber doch erleichtert auf, als die Zeit des Abendessens herangekommen war, das ihnen mit seinen auserlesenen Speisen und vorzüglichem Weinen geschätztere Genüsse bot. Geistreiche Witzworte flogen hin und her, und leises Geflüster ins Ohr einer schönen Tischnachbarin zauberte manch schämige Röte auf liebliche Mädchenwangen.

»Fehlt nur noch die Tafelmusik!« äußerte Emanuel Bach, »Ich möchte wohl wissen, ob die Leute auch mit Besserem als mit Tänzen aufwarten können.«

»Fragen wir sie halt, mein Lieber!« erwiderte Eichstädt, und beide begaben sich in die Ecke des Salons, in der es sich die Musikanten wohl sein ließen.

»Ein Konzertstück, Euer Gnaden?« – der Klarinettist zuckte mit den Achseln – »nein, so weit haben wir's nicht gebracht. Aber der Lange da mit der Violine, wenn der aufgelegt ist, der kann's. Der ist ein Teufelskerl!«

Eichstädt ersuchte den Geiger, der gerade ein großes Glas Wein durch die Gurgel rinnen ließ, ein Solo zu spielen. Der Angeredete schob die schmutzige Halsbinde zurecht, zupfte an den Fetzen seiner welken Busenkrause; ein stolzes Lächeln überflog sein durchfurchtes, verkommenes Antlitz: »Sehr wohl, Euer Gnaden! Befehlen Sie Violine oder Klavier?«

»Klavier spielt Ihr auch?« rief Emanuel verwundert aus, indes der alte Musiker schon dem Instrument zuschritt. »Nun denn, Klavier!«

»Was wünschen Sie? Eine Sonate, eine Phantasie, eine Fuge?«

»Eine Phantasie!« bestimmte Frau von Eichstädt, ehe noch Emanuel Bach antworten konnte.

Der Alte begann. Es war ein einfaches Thema, abgerissen, verflatternd, so hingeworfen, wie wenn ein armer, wandernder Kerl auf der Landstraße ein schmuckloses Volkslied vor sich hinträllert. Die Melodie hatte etwas so kindlich Frisches, eine so ursprüngliche Heiterkeit an sich, daß die Zuhörer unwillkürlich lächeln mußten. Dazwischen fuhr's hin und wieder wie ein unendlicher Schmerz, und dann wandelte sich das Thema in schwermütige Klageseufzer einer einsamen, verlorenen Seele, die vor des Lebens Unwettern zagt, die sich aufbäumt zum Kampfe, zum letzten, äußersten Ringen, und unter des Schicksals Schlägen ächzend zusammenbricht und verklingt. Aber dem letzten Scheideton, der das ermattete Herz verläßt, vermählt sich ein fernes Klingen aus der Höhe, ein süßes Palmenrauschen aus besseren Sphären, das sich herniedersenkt und das wimmernde Elend mit unvergänglichen Blumen der Freude zudeckt. Die Scharen des Himmels steigen nieder, es kommt der heimgegangene Vater zu seinem Sohne, die Himmel träufeln den Nektartau der Genesung auf ihn, und aus den ewigen Urtiefen des Weltraums tönt es: »Kein Hälmlein wächst auf Erden . . .«

Atemlos saß die Versammlung. Bis plötzlich Emanuel Bach aufsprang, bleich und entsetzt: »Das ist . . . das kann nur mein Bruder Friedemann sein!«

Die beiden Männer blickten sich ins Auge, sie lagen weinend einander in den Armen. Frau von Eichstädt überkam es wie ein ferner, unmöglicher Traum; sie trat zu den Brüdern: »Um Gottes willen, Emanuel, sagen Sie, ist das wirklich – Friedemann Bach?!«

Jäh fuhr der Musikant empor, wurde leichenblaß, er griff sich nach dem Herzen, starrte die Sprecherin an: »Die Stimme? . . . Ah, Antonie! Antonie Brühl! . . . Ja, Friedemann Bach ist's! In Lumpen! – Weg, ich mag dich nicht sehen! Mich hat der Teufel hierher geführt!«

Er stürzte nach der Türe, schleuderte einen Diener, der ihm den Weg versperren wollte, beiseite und verschwand im Dunkel des Gartens.

Alle Nachsuche nach ihm blieb vergebens.

Und Moses Mendelssohn, der kleinwüchsige Mann und große Philosoph, sagte nachdenklich: »Ist der Geist über uns ein Gott der Rache oder ein Gott der Liebe?«


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