Albert Emil Brachvogel
Friedemann Bach
Albert Emil Brachvogel

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XVIII.

Minister Brühl und Abraham von Eichstädt waren am Weißenfelsschen Hof zusammen Pagen gewesen. Sie hatten damals Freundschaft geschlossen und diesen Jugendbund über alle Wechselfälle des Lebens hinweg bis in ihre Mannesjahre treu bewahrt. Eichstädt hatte sich später vom Hofleben zurückgezogen und lange Jahre als Offizier in Meißen gelebt. Durch Brühls schnellen Aufstieg und das unerhörte Anwachsen seines Reichtums war auch in den Verhältnissen des Freundes die große Wendung erfolgt; er konnte mit des allmächtigen Staatsmannes Hilfe das Gut Trotha erwerben und dieser, in einer der landschaftlich besonders bevorzugten Gegenden der Saaleschleifen nordwestlich Halle gelegenen Besitzung noch ein zweites Gut bei Potsdam hinzufügen. Auf solcher Grundlage weiterbauend, vermochte er durch Glück, Klugheit und kaufmännisches Geschick sein Vermögen ständig zu mehren und zu einem bedeutenden Wohlstand zu gelangen. Nie aber vergaß sein schlichtes Herz, wessen Förderung und Unterstützung, in freier Zuneigung gewährt, er seinen Reichtum und die Gesichertheit seiner Existenz verdankte. Gar oft hatte er es daher mit Bedauern empfunden, daß die starke Inanspruchnahme durch Geschäfte jeglicher Art es sowohl ihm wie dem Freunde versagte, sich öfter zu sehen, ja, daß sogar ihr Briefwechsel langsam versickerte.

Bis dann eines Tages – es lag schon etliche Jahre zurück – ein Reitknecht auf dem Herrenhofe erschien und dieses Schreiben überbrachte:

»Ich schreibe per Expressen. Du wirst also begreifen, daß die Angelegenheit, die diesen Brief veranlaßt, höchst wichtig ist. Wenn ich Dich bitte, den Inhalt nicht einmal Deiner Ehefrau mitzuteilen und die Epistel, wenn Du sie gelesen hast, zu verbrennen, so denke, daß die ganze Angelegenheit geheim ist. Ich weiß, daß mich die Welt haßt, weiß, daß mein Leben in Wahrheit mühevoll und elend ist, und überlasse Dir, meinem einzigen Freunde, das Urteil: ob ich alle die Schmach verdiene, die man mir antut. Zu den vielfachen Kränkungen, die ich erdulde, den Intrigen, die ich bestehen muß, um über Wasser zu bleiben, kommt mein häusliches Elend. Es ist so groß, daß ich Dir's nicht einmal sagen darf. – Kurz und gut, ich bin gezwungen, tyrannisch zu sein. Meine Pflegetochter Antonie, deren Vater Du kennst, hat sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht. Deswegen soll sie sogleich aus Dresden und nicht eher wieder in meine Nähe kommen, bis sie mit einem honetten Mann verheiratet ist. Ich kann und will sie aber niemand anders anvertrauen als Dir, einmal, um mein Geheimnis nicht bloßzugeben, zum anderen, weil ich weiß, daß Du sie am richtigsten behandeln wirst. Ich fordere diesen Dienst von Dir als einzigen Beweis Deiner Liebe. Vor allem muß ich Dich bitten, ihr jede Gelegenheit zu nehmen, Briefe abzusenden. Auch an mich oder ihre Mutter hat sie nicht zu schreiben! Sie mag in euch so lange ihre Eltern erkennen, bis ich sie rufen werde. Dies ist mein strenger Wille. Gib ihr keine Bedienung, der sie sich etwa mitteilen kann. Will sie ihr Herz erleichtern, so mag sie es Dir oder Deiner lieben Ehefrau ausschütten. Ihr werdet dann erkennen, daß nicht wirkliche Schlechtigkeit, sondern ihr überspannter Sinn, ihre einseitige Erziehung an allem schuld ist.«

Das delikate Ansinnen erfüllte Eichstädt mit Unruhe und begreiflicher Besorgnis. Er hatte zwei Söhne; Friedrich, der jüngere, war Jurist und sah einer vielversprechenden Laufbahn beim zweiten Senat des Kammergerichts zu Berlin entgegen, Georg, der ältere, war Landwirt und teilte sich mit dem Vater in die Verwaltung der Güter. Eine Aufnahme des »gefallenen Mädchens« in seinem Hause bedingte also als erste Vorsichtsmaßnahme einen deutlichen Wink an den Sohn in Berlin, die Urlaubszeit bis auf weiteres auf Reisen zu verbringen, und sie bedingte die sofortige Übersiedlung Georgs nach dem Gut bei Potsdam. So unwillkommen diese und alle noch nicht absehbaren Störungen im Familienleben und einer liebgewordenen Hausordnung aber auch waren, die Betroffenen mußten sich damit abfinden; denn ablehnen konnte man Brühls Ersuchen auf keinen Fall.

So rumpelte denn eines Nachts ein schwerer Reisewagen auf den Gutshof, und ihm entstieg der unerwünschte Gast. Er wurde mit gebotener Zurückhaltung, der jedoch jede Schroffheit fehlte, empfangen, aber auch mit dem Vorsatz und Willen, der Gestrauchelten die Tage der Buße so erträglich als möglich zu machen. Freilich, an Brühls deutlichen Weisungen war nicht zu rütteln, und trotz aller Schonung würde sich ein Leben »in Klausur« nicht umgehen lassen.

Antonie, deren Herz von dem erlebten Unglück erschüttert war und das unter der ewigen Erinnerung an den Geliebten, der um sie auf dem Königstein schmachtete, ächzte, ließ die Strenge, die ihr der alte Herr von Eichstädt als eine schuldige Pflicht angekündigt hatte, still über sich ergehen. Sie blieb verschlossen und wie erstarrt. Der Herr und die Frau des Hauses verspürten keine Lust, sich wider ihren Willen in ihr Vertrauen zu drängen, und so überließ man sie sich selbst.

Vereinsamt in der Einsamkeit des Landlebens, verbrachte Antonie das erste Jahr ihrer Verbannung, immer im gleichen Sinnen, im gleichen schmerzlichen Gefühl, im selbstquälerischen Wiederholen aller furchtbaren Einzelheiten des Erlebten. Aber allmählich wurde dann der Schmerz dumpfer, verwehender, die Seele erlahmte mit jeder erneuten Heraufbeschwörung der Unglücksbilder mehr und mehr und ließ schließlich nur noch schattenhafte Eindrücke zurück. Grübelnd mußte Antonie sich gestehen, daß ihre Schuld am Elend des Geliebten nur leicht wog. Des Geliebten? Liebte sie denn Friedemann noch? War nicht überhaupt das, was sie für Liebe gehalten hatte, nur sehnsüchtiger Überschwang einer liebeleeren Jugend? Und zudem – eine große Torheit? Denn so viel war ihr doch klar geworden, daß sie bei ihrer gesellschaftlichen Stellung, als Sprößling eines Königs, als Pflegetochter eines Ministers nie und nimmer das Weib des Musikers Friedemann Bach hätte werden können. Nur . . . ja, wenn nur eben nicht der unheimliche Klotz der Festung Königstein über alle Gedanken, Erkenntnisse und Empfindungen seinen düsteren Schatten lagerte!

Langsam begann Antonie, sich dem alten Ehepaar von Eichstädt zu nähern; sie nahm an Geschäften des Hauses teil, entfaltete ihren natürlichen Liebreiz, und man vergalt ihr mit Teilnahme, Liebe und Milde, so daß mit der Zeit die Fesseln lockerer wurden. Gleichwohl hörten sie nie ganz auf. Antonie hatte mit der Außenwelt nur geringe Beziehungen, und die ihr zugewiesene Dienerschaft vermied jede nahe Berührung. »Wer sich um das Fräulein, meine Nichte, mehr bekümmert, als sein Dienst nötig macht, den schicke ich gleich fort!« hatte der Herr von Trotha gesagt; das schreckte ab, denn der Dienst dort war der beste weit und breit.

Trotz wachsendem Anschluß an die Familie wahrte Antonie ihr Geheimnis, ging sie nie über die selbstgesteckte Grenze innerer Zurückhaltung hinaus. Nur bei dem Müller des Dorfes, einem lustigen alten Burschen, dem sie wegen seines biederen Wesens und seiner gleichbleibend guten Laune zutraulich verbunden war, machte sie eine Ausnahme; ihm gegenüber verhehlte sie ihre Stimmung nicht und lieh ihren Klagen oft verstohlene Worte.

Zwischen diesem Müller und Abraham von Eichstädt bestand ein inniges Freundschaftsverhältnis. Sie waren Milchbrüder und wie Zwillinge zusammen aufgewachsen. Als Eichstädt seinen Dienst als Page antrat, wurde der Müller sein Bursche und blieb es auch in Meißen; er war der Vertraute seines Herrn gewesen, als dieser lange und anfangs hoffnungslos um seine Ehefrau werben mußte, und seit er ihn bei einem Hochwasser mit eigener Lebensgefahr vor dem Tode des Ertrinkens gerettet hatte, war aus dem Freundschafts- ein Bruderbund auf Du und Du geworden. Als Eichstädt Trotha kaufte, schenkte er dem Milchbruder die Mühle, und die Dörfler wählten ihn zu ihrem Schultheißen; denn was kein anderer Mann durchsetzte, kostete den lustigen Müller nur einen Gang zum »Herrn Bruder« und es geschah. Trotz allem besaß er aber feinen Takt genug, in dem seltsamen Verhältnis immer die rechte Mitte zwischen Freund und Gebieter einzuhalten.

Was es mit der »Mamsell Antonie« für eine Bewandtnis hatte, wußte der Meister Müller; er war der einzige, dem es nicht verschwiegen worden war. Da aber Antonie nicht ahnte, daß ein Mann in solch untergeordneter Stellung mit ihren Verhältnissen vertraut sein könnte, war sie gegen ihn unbefangener als gegen ihren Gastgeber. Seinem begütigenden Einfluß verdankte sie manche Erleichterung, und als gar das erste Jahr vorübergegangen war, ohne daß der gemutmaßte Fehltritt Folgen gezeigt hätte, schrieb der Gutsherr an Brühl: »Ich glaube, Du hast dem armen Kinde großes Unrecht getan; denn was mich Dein erster Brief argwöhnen ließ, ist nicht eingetroffen. Sie ist zwar noch immer kalt und wenig zugänglich, aber ein sittiges, gutes Mädchen, das man hegen und pflegen muß. damit ihr Gemüt nicht ganz abwelkt.«

Demgemäß war auch Eichstädt von nun an viel herzlicher zur Antonie, und nach und nach lebten sich die Menschen immer mehr ineinander ein. Eines Tages sprach er sich mit ihr aus: »Sie ersehen, mein liebes Kind, aus allem, daß ich dem Willen Ihres Stiefvaters genau nachkommen mußte; denn ich verdanke ihm das Glück und den Wohlstand meiner Familie. Daß ich Ihnen das nun offen sage, als alter Mann sage, mag Ihnen Beweis sein, wie lieb ich Sie habe. Ich sehe jetzt ein, daß Ihre Eltern Sie viel zu streng beurteilen, daß der Fehler, den Sie begingen und den ich nicht zu wissen brauche, nicht von der Art war, daß Sie so hart bestraft werden mußten. Gleichwohl bin ich's meinem Freunde Brühl schuldig, noch immer nach seinem Willen zu handeln, auch in Zukunft. Eins sollen Sie aber wissen: daß ich es mit schwerem Herzen tue!«

Antonie richtete einen dankbaren Blick auf den alten Mann. »O, ich habe es längst gewußt, daß Sie alles nur gezwungen taten, und glücklich macht es mich, daß Sie mir's nun sagen. Ach, Sie wissen nicht, wie leer mein Herz ist, wie wohl mir wäre, einmal ganz zu fühlen, wie einem Kinde ist, das Eltern hat. Ich hatte keine! – Wenn ich meinen Fehler gestehe . . .«

»Lassen Sie es, mein Kind! Behalten Sie für sich, was Ihnen zu entdecken schwer wird. Meine Frau und ich, wir lieben Sie wie unser Kind! Sehen Sie uns also als Ihre Eltern an, Antonie! Vielleicht kommt bald die Zeit, wo sich Ihre Lage ändert, ohne daß ich meine Pflicht zu verletzen brauche. Und nun noch eins, meine Liebe: Ich habe um Ihretwillen damals meinen Sohn Georg fortgeschickt und auch meinen Sohn Friedrich in der ganzen langen Zeit nicht gesehen; sie kommen zu Besuch, und ich denke, sie werden heute eintreffen. Ich sage Ihnen das, damit Sie die Anwesenheit der jungen Leute nicht mißverstehen. Die Söhne besuchen die Eltern! Ich bin von meinen Kindern überzeugt, daß sie nichts tun werden, was meine kleine Gastfreundin verletzt.«

Gerührt wollte Antonie die feinen Hände des alten Herrn an ihre Lippen ziehen. »Nein, nein, meine kleine Gefangene«, wehrte er ab, »ich küsse Sie lieber auf die Stirn. Mut, Kind! Auch die bösen Tage im Leben gehen vorüber!«

Zur gleichen Stunde rief der Müller seiner Frau zu: »Sabine, mach mir meinen Schulzenrock gut sauber und kram deinen Kirchenstaat 'raus. Wir müssen heute nobel aussehen, wenn wir auf den Herrenhof gehen!«

»Ja, ja, tu nur deine Arbeit, ich tue schon die meine!« scholl's aus der Wohnstube herüber.

Der Herr war lustig samt der Frau, und die Gesellen waren's, weil es der Meister war. Das war nun zwar alle Tage, aber so kreuzfidel wie heute, das kam doch selten vor. »Sechs Uhr! Feierabend! Hebt aus! Schützt das Rad! Wir tun keinen Streich mehr!«

Die Gesellen wischten sich den Staub aus den Augen und sahen den Meister verwundert an. – »Ja, ja, wir hören eine Stunde eher auf! Warum? Nun, meines Bruders Herren Söhne kommen heute zu Besuch. Sind jahrelang nicht in Trotha gewesen! Da muß ich doch auch sehen, wie sie sich ausgewachsen haben seit der Zeit.«

»Herr Jesus! – Ach du meine Güte!« schrie und zeterte es drüben in der Stube. Und als der Müller und die Gesellen zur Meisterin stürzten, ließen zwei junge Männer in Reisekleidern schnell von ihr ab und wandten sich dem Alten zu: »Hurra! Da ist er ja!« – und beide lagen dem Müller am Hals, und herüber und hinüber ging's, bis er ebenso atemlos war wie seine Ehehälfte.

»Ja«, sagte der Ältere, »wir ließen in Zöbritz Papas Wagen mit unserem Gepäck zurück und gingen zu Fuß.«

»Das war gescheit, Kinder! Hab's doch gleich gesagt, der Müller ist der erste, den sie sehen müssen!«

»Und ob!« bestätigte Friedrich. »Und unsere kleinen Mitbringsel wollten wir auch bald loswerden.«

Schmunzelnd betrachtete der Alte die mit Silber beschlagene Tabakspfeife, die der eine der Brüder, und die sechs Pfund Tabak, die der andere hervorholte; und Sabine wog gerührt eine kleine Schachtel in der Hand, in der sich eine goldene Halskette mit einem Henkeldukaten und ein fein besticktes seidenes Tuch befanden.

»Aber nun los, Kinder!« mahnte endlich der Müller, nachdem er rasch in seinen Besuchsanzug geschlüpft war und die Mühlknechte mit einem Zechgroschen ins Wirtshaus entlassen hatte. »Eins jedoch noch, bevor ihr ins Vaterhaus tretet« – und er nahm die beiden jungen Leute beiseite – »ihr werdet ein junges Mädchen dort finden oder vielmehr eine Dame. Ich mein's gut mit euch, wenn ich euch warne, daß sich keiner von euch in sie vergafft! Es würde doch zu nichts helfen und nur Elend und Gram über die Familie bringen. Forschet nicht nach, ich sag' euch nicht mehr! Je weniger ihr euch um die Mamsell bekümmert, desto besser wird's für uns alle sein. Nun kommt, Kinder!« Ohne auf das Erstaunen der beiden jungen Leute zu achten, ging der Müller voran, machte den Kahn los, und bald befand sich die kleine Gesellschaft am jenseitigen Ufer.

In den sonst so stillen Herrenhof zu Trotha brachte die Anwesenheit der beiden Brüder ein neues Leben, und es war niemand, von den Eltern bis zum geringsten Dörfler, der sich nicht über die Liebenswürdigkeit der Zwei gefreut hätte.

Georg, eine kräftige, lebensfrische Natur, deren Derbheit durch eine fast kindliche Herzensgüte gemildert wurde, galt für einen der tüchtigsten, betriebsamsten Landwirte. Er besaß Mutterwitz, Weltklugheit und Unternehmungsgeist. Friedrich, der jüngere, war entschieden der Hübschere; er hatte viel Grazie der Bewegung, große Leichtflüssigkeit der Unterhaltung, Zierlichkeit und gedrungene Schärfe der Sprache. Seine Bildung war vorzüglich. Ein besonderer Freund der Künste, musizierte er ausgezeichnet und kannte die Literatur, namentlich die französische. Er war ein besonders befähigter Jurist und mit seinen knapp dreißig Jahren bereits Kammergerichtsrat in Berlin.

Papa Eichstädt machte, obwohl er wußte, daß der Müller schon vorgebaut hatte, seinen Söhnen das gemessenste Benehmen gegen Antonie zur Pflicht; er deutete an, daß das Mädchen ein seiner Ehre anvertrautes Pfand sei, und er es für ein schweres Unglück ansehen würde, wenn es einem einfiele, in ihr mehr als den Gast des Hauses zu sehen.

Indessen . . .

Georg, der den Liebreiz Antonies wohl erkannte, dem aber die Art des Mädchens nicht anstand, kostete es wenig Überwindung, den elterlichen Wünschen nachzukommen. Friedrich aber, der in der Residenz Gelegenheit genug gehabt hätte, sein Herz an die Frau zu bringen, verlor es gerade hier in der Einsamkeit und an ein Mädchen, das ihm unerreichbar scheinen mußte. Je mehr er aber seine Zuneigung zu ihm unterdrückte, desto heftiger wurde sie, und er beschloß daher, abzureisen. Er eröffnete dem Vater, daß er, Briefen zufolge, Trotha sofort verlassen müsse.

»Ich fasse das nicht!« meinte der Alte bestürzt. »Ich glaube es nicht, Friedrich! Du kannst mir nicht offen ins Auge sehen!«

Durch Rede und Gegenrede in die Enge getrieben, gestand Friedrich schließlich seine Liebe zu Antonie ein: »Ich kann nichts dafür, Vater, daß mein Herz gegen dein Gebot rebellisch wird; aber wenn ich länger hierbleibe und Antonie merkt, daß ich sie liebe, dann ist's zu spät. Darum reise ich!«

Lange stand Eichstädt sinnend da, dann reichte er dem Sohne fest die Hand: »Ich danke dir, Friedrich! – Aber sollen dich deine Eltern, nachdem sie so endlose Zeit auf dich verzichten mußten, nun schon wieder wegschicken? Noch ehe die vier Urlaubswochen zu Ende sind? Nein, nein!« – und er sah wehmütig drein – »doch halt . . . ja, machen wir's so: du ziehst zunächst einmal für eine Woche hinüber zum Müller, und was dann weiter wird . . . na, wollen's abwarten!«

»Du willst doch wegen Antonie nichts unternehmen, lieber Vater?«

»Nein, gewiß nicht!«

»Dann ist's gut! Ich ziehe in die Mühle und bleibe noch.«

Abraham von Eichstädt aber schrieb sofort an Brühl und teilte ihm offen und ehrlich die Sachlage mit. Schon wenige Tage später hielt er die Antwort in Händen »Du treue Seele«, las er, »hast mir mit Deinem Brief einen wahrhaften Beweis Deiner aufopfernden Freundschaft gegeben. Herzlichen Dank dafür! Ich antworte Dir darauf kurz bestimmt folgendes: Wenn Dein Sohn Antonie heiraten will, so soll er's tun. Dann ist die Prüfungszeit aus, und ich werde ihr zeigen, daß ich auch ein gütiger Vater sein kann.«

Eichstädt vernahm's mit gemischten Gefühlen; denn einerseits war ihm Antonie lieb wie ein eigenes Kind geworden, und er wußte kein Mädchen, das ihm als Schwiegertochter willkommener gewesen wäre, andrerseits kannte er die Art ihres Vergehens immer noch nicht, und das schnelle Einverständnis Brühls zu einer ehelichen Verbindung machte ihn von neuem stutzig.

Friedrich kümmerte der Zwiespalt der väterlichen Empfindungen nicht; ungezwungen überließ er sich nun seiner Neigung, doch mit der schlauen Zartheit und List der Liebe, die erobern will, und Antonie schien nicht unempfänglich für die Galanterie zu sein, die ihr auf die ausgesuchteste Weise erwiesen wurde. Sie mochte sich nach Freiheit sehnen, und diese fand sie im Umgang mit Friedrich. Alle drückenden Fesseln fielen unter seinen Händen von ihr ab, und das Zutrauen, das beide einander einflößten, wuchs um so mehr, je rücksichtsvoller Friedrich es vermied, nach Dingen zu forschen, die sich auf ihre Vergangenheit bezogen. Gleichwohl war die Erinnerung an Friedemann noch nicht ganz verblaßt und blieb als eine spürbare Zurückhaltung und eine leise Traurigkeit in Antonies Wesen haften. Friedrich fand nicht den Mut zu einem Geständnis, das so wenig erwartet zu werden schien.

Eines Abends, als Antonie und Friedrich mehrere Stücke auf dem Klavier gespielt hatten, wandte sich das Gespräch dem Musikleben Berlins zu, und der dort Heimische wußte gar vieles zu erzählen: von den tausend Gelegenheiten, die größten Meister bewundern zu können, von der Oper Grauns, der überall vergötterten Astrua. »Schade«, fügte er hinzu, »daß ich nicht gewußt habe, welche Musikenthusiastin auf Trotha weilt; ich hätte sonst Emanuel Bach um einige gute Stücke gebeten, die wir zusammen hätten spielen können.«

»Sagen Sie, Herr Kammergerichtsrat« – Antonies Stimme zitterte leise – »sind Sie mit Herrn Bach bekannt?«

»Mehr als das, meine Gnädige, Ich bin sogar mit ihm befreundet!«

»Ist er auch ein Genie? Ebenso groß wie sein Vater?«

»Nein, das nicht! Er ist ein bedeutender Künstler, aber seinem Vater kommt er nie gleich. Das könnte man eher von seinem ältesten Bruder, Friedemann, sagen, wenn dieser nicht von zu unstetem Charakter und zu exzentrischer Natur wäre!«

»Mein Gott!« stammelte Antonie und unterdrückte mit gespanntester Kraft die gewaltsame Bewegung ihres Innern. »Ach, das habe ich gar nicht gewußt, daß er einen älteren Bruder hat. – Kennen Sie ihn?«

»Was man so kennen heißt, mein Fräulein: nein! Aber ich habe ihn gesehen, als er auf Befehl des Königs mit seinem Vater in Potsdam war, und ich werde mich ewig eines Orgelkonzertes erinnern, bei dem man wirklich nicht wußte, wem von beiden der Lorbeer gebührte!«

Ohnmächtig glitt Antonie vom Sessel.

Sie mußte mehrere Tage das Bett hüten, und nun öffnete sich endlich ihr gequältes Herz vor ihrer mütterlichen Freundin, der Frau von Eichstädt.

Von ihr über das Vorgefallene in Kenntnis gesetzt, machte Friedrich der Kranken den gewünschten Besuch, lehnte aber ihre Bitte, Näheres über Friedemann Bach zu berichten, entschieden ab. »Zürnen Sie mir nicht, mein liebes Fräulein«, bat er, »aber wenn ich alles von ihm sagte, würde ich Ihrem Gesundheitszustand wie Ihrem Herzen zuviel zumuten. Außerdem kann ich deshalb nicht offen sein, weil ich selbst Partei in der Sache bin.«

Das Mädchen sah ihn fragend an: »Sie selbst Partei in der Sache?«

»Ja, Antonie! Und ich will Ihnen sagen, warum mein Herz Partei ist: – Ich liebe Sie! Ich hätte vielleicht nie den Mut gehabt, es Ihnen zu offenbaren, doch ich tu's, damit Sie mich nicht zwingen sollen, Dinge zu erzählen, die Ihnen Friedemann entfremden müssen. Eins kann ich Ihnen aber sagen: er lebt ganz in Ihrer Nähe, als Oberorganist und Musikdirektor in Halle; es geht ihm also gut.«

In Antonies Innern flutete es auf und ab, aber sie beruhigte sich schnell und reichte ihrem bedrückten Gegenüber die Hand: »Ich achte Sie hoch, Friedrich, und meine innige Verehrung haben Sie. Ob ich Sie allerdings lieben kann, das weiß ich nicht! Ich muß erst wieder leben, atmen lernen. – Ja, Friedemann Bach war mir einst sehr teuer. Aber längst hat die inzwischen Erwachsene einsehen gelernt, daß eine Kinderliebe, so tief und wahr sie auch sein möge, sich wesentlich von jener Liebe unterscheidet, die eine Frau nur einmal im Leben zu vergeben hat. Ich kann es ehrlich aussprechen: so liebe ich Friedemann Bach nicht! Und jetzt, da ich weiß, daß er frei ist, fühle ich erst, wie weit wir voneinander entfernt sind. Je mehr er steigt und glänzt, je beruhigter werde ich sein; denn das Glück hat ihn dann schadlos gehalten. Mein Wunsch ist nur der, daß er ein Mädchen finden möchte, das für ihn paßt und das gegen die Schranken dieser Welt nicht zu freveln braucht, wenn es sein Weib wird.«

»Können Sie mir das aufrichtig versichern, Antonie?«

»Das kann ich, Friedrich!«

»Nun denn: Friedemanns Bruder Emanuel liebt die Primadonna der Berliner Oper, die berühmte Astrua, die ebenso groß in der Kunst wie schön als Weib ist. Aber auch Friedemann verliebte sich beim ersten Sehen in sie, und er wird wegen seines größeren Talentes offen von ihr begünstigt. Ich hab's aus Emanuels eigenem Munde, der sich oft bitter über beide beklagte. Sie steht in intimem Briefwechsel mit Friedemann, auch haben sie sich, wie es scheint, schon einige Male wiedergesehen.«

Antonie stand langsam auf. Mit einem stolzen Lächeln legte sie den Arm auf die Schulter Friedrichs und sah ihm in die Augen: »Ich glaube, Friedrich, ich – achte ihn sogar nicht mehr! Ich werde meinem lieben Freunde nicht mehr ohnmächtig werden!«

Friedrich verabschiedete sich, und die Zurückbleibende fuhr mit einer wegwischenden Bewegung der Hand über die Stirne: »Nach zwei Tagen schon wieder in Freiheit! Und nie einen Versuch gemacht, mich zu finden . . . und ich habe so lange um ihn geweint! – Antonie . . . und nun: Astrua!« Sie schmeckte bitter. »Er wird in einem Lied um sie geworben haben, er . . . hat ja die Schablone!«

Ein Woche später hörte Friedrich von Eichstädt das »Ja!« von den Lippen Antonies. Und Brühl schrieb:

»Mein Kind! – Mein alter Freund fragte bei mir an, ob ich in die Werbung seines Sohnes Friedrich um Deine Hand einwillige. Darauf antworte ich: daß ich meinerseits von Herzen damit einverstanden bin, die Entscheidung jedoch vollständig Dir überlasse. Ich bin überzeugt, daß Dein gesundes Urteil über gewisse Dinge und Personen, die ich nun gern vergesse, gerichtet hat und Du einsiehst, daß meine scheinbare Härte meinem Pflichtgefühl entsprang. Entscheide darum in eigener Wahl über Deine Zukunft. Zu Deiner Verlobung werde ich nicht kommen, Geschäfte verhindern mich; am Hochzeitstage jedoch will ich nicht fehlen. Durch Allerhöchste Munifizenz und das, was Dir aus dem Privatvermögen Deiner Mutter gewährt ist, wirst Du ein Deinem Stande gemäßes Haus in Berlin käuflich erwerben können, und ich werde dafür sorgen, daß Du es Deinem Zukünftigen als Mitgift zubringst. Was die sonstige Aussteuer betrifft, so magst Du hierzu jede erforderliche Summe bei mir in Anspruch nehmen. –

Dein aufrichtiger Vater.«


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