Ida Boy-Ed
Um ein Weib
Ida Boy-Ed

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VIII.

Der Bürgermeister Mandach fühlte sich von einem fast napoleonischen Bewußtsein getragen. Er ging noch imposanter einher als sonst. Und sein Eckermann, sein Las Casas, der Amtsrichter Dr. Fritz Haldenwang, fragte, ob er nun recht behalten habe oder nicht? Denn er, als er damals unter der Hand die Wahl Mandachs dringend befürwortete, obschon sich noch sechsunddreißig andere Persönlichkeiten von gutem Anschein für die Bürgermeisterstellung gemeldet gehabt, er wußte gleich: so'n ganzer Kerl wie Mandach konnte einfach nicht noch mal unter den Bewerbern sein. Es gab ja kein Gebiet, über das Mandach nicht raschen und genauen Überblick gehabt. Es konnte keine volkswirtschaftliche Frage aufgeworfen werden, in der Mandach nicht die praktische Lösung gewußt hätte. Er war der geborene Herrscher. Wenn die Verhältnisse ihn in das Licht gebracht hätten, wohin er eigentlich gehörte – er wäre vielleicht schon Minister. Alles wußte er, konnte er, faßte er praktisch an – mit der bekannten Ausnahme natürlich seiner eigenen Finanzen.

Und nun war es ihm gelungen, mit einer noch nicht dagewesenen Raschheit die »Geembeha« zu konstituieren und die Sache derart zu beschleunigen, daß schon vier Wochen nachdem der erste Gedanke aufgetaucht war, die Erdarbeiten begannen. Ein glücklicher Zufall hatte gewollt, daß ein geeigneter Plan zum Hotelbau fix und fertig vorlag. An der pommerschen Küste trug sich eine kleine Stadt mit dem Gedanken an ein ähnliches Unternehmen. Dort brütete man aber schon seit Jahresfrist darauf herum, weil eben kein Mandach da war. Jene Stadt hatte erst mit großen Kosten eine Konkurrenz ausgeschrieben und sich dann doch nicht entschlossen, den prämiierten Plan des Architekten Trieloff zu erwerben, weil einer der Stadtväter dem eigenen, baubeflissenen Sohn den Auftrag zuzuwenden wünschte. Ansehen der Person kannte Mandach natürlich nicht. Auch in Wachow gab es »Baumeister«, die sich für die Berufenen hielten. Es waren biedere Maurer- und Zimmermeister, die sich etwa einen Zeichner hielten, oder deren Söhne kurze Zeit ein Polytechnikum besucht hatten. Mit donnernder Kraft hielt der Bürgermeister eine Rede über die schädlichen Folgen jeglicher Protektionswirtschaft, so daß die Stadtverordnetenversammlung nicht anders konnte, als sich von dieser Rede begeistert fühlen. Und alle braven Bürger gingen nachher mit katonischen Gefühlen, als bessere Männer, erhobenen Bewußtseins heim und wiederholten abends an ihren Stammtischen als ihre eigene, reinliche Überzeugung, was ihnen der Bürgermeister des Morgens gesagt.

Der Trieloffsche Plan paßte für den landschaftlichen Hintergrund, für die Terrainverhältnisse, in der Größe und mit dem Kostenanschlag, als sei er von vornherein einfach für Neu-Wachow und kein anderes Fleckchen auf dem weiten Erdenrund erdacht.

Mandach, der sich vergleichend und kritisierend auf dem Laufenden hielt über die wichtigsten Vorkommnisse in der Verwaltung kleinerer norddeutscher Städte, speziell solcher, die ähnliche geographische und wirtschaftliche Verhältnisse wie Wachow hatten, wußte auch von dem Architekten Trieloff und seinem prämiierten, aber nicht zur Ausführung gekommenen Plan.

Er hatte schon an den Mann geschrieben, ehe die letzte entscheidende Versammlung über die Gründung der Geembeha stattfand. In eben dieser Versammlung lag dann auch schon der Plan aus und Trieloff war selbst zur Stelle, ihn noch zu erläutern.

Trieloff war jung, er war unverheiratet und er war ein stattlicher dunkler Mensch. Man hatte ihn schon vor der Versammlung einen Tag in Mandachs Gesellschaft über die Straße gehen und im »Erbgroßherzog« sitzen sehen. Eine in ihren unbewußten Ursachen nicht ganz aufklärbare günstige Strömung für diesen Architekten war schon vor der entscheidenden Versammlung bemerkbar. Sogar eine der Fedderschen Damen sagte: »Gott, das wäre ja reizend, wenn wir Herrn Trieloff herbekämen, wo wir so wenig junge Leute in der Gesellschaft haben.«

Und Fanny Röder, des Holzhändlers Tochter und Erbin, fragte ihre Freundin Erna: »Hast du schon den Architekten gesehen? Das ist ja ein entzückender Mensch, er sieht aus wie ein Italiener.« Sie hatte zwar noch nie einen gesehen, und Trieloff sah auch nicht so aus, aber Erna sagte fast andächtig: »Ach –« und man ahnte schon undeutlich allerlei Sensationen durch ihn. Und als er an jenem Versammlungsmorgen an Mandachs Seite zum Rathaus ging, sagten die Leute, die hinter den Fenstern saßen oder in den Türen standen: »Guck mal, das ist der Architekt, der das Strandhotel baut.«

So war es eigentlich schon in der Vorstellung der Stadt ausgemacht, ehe die Entscheidung fiel.

Und doch hing die ganze Geembeha bis zur letzten Stunde wie über einem Abgrund – sie konnte noch zerschmettert hinabsausen, wenn nicht eine starke Hand sie hielt und auf den sicheren Weg brachte.

Immer fehlten noch fünfzigtausend Mark an den sechsmalhunderttausend, die aufgebracht werden sollten. Die Berechnung war so: eine Viertelmillion der Rohbau, hunderttausend Mark für Dekoration und einige gärtnerische Anlagen, siebzigtausend für Möbel, Geschirre und Leinen, dreißigtausend für einen Weg an den Strand und Badekarren, Hundertfünfzigtausend mußten als Reserve bleiben. Mandach hatte wohl unzählige Male erklärt: mit weniger könne man es nicht anfangen, dann sei's Klöterkram. Sähe man nach zwei Jahren die erwartete Prosperität, sollte Kapital und Bau um das Doppelte vergrößert werden. »Sachte und vorsichtig,« sagte er, »aber nicht zu beengt.«

Da entschloß sich Frau Marya Keßler, zu den dreißigtausend Mark Anteilscheinen, die sie schon gezeichnet hatte, weitere fünfzig Anteile à tausend Mark zu nehmen, und sicherte damit das Zustandekommen der Geembeha.

Es hatte sich an dem Skatabend gemacht, zu welchem sie den Major v. Lorenz, den Bürgermeister Mandach und den Oberleutnant Müller eingeladen.

Sie zeichnete an diesem Abend den Bürgermeister derart aus, daß »Oberst Ollendorf« seinen grauen Schnurrbart, der durch die »Anleihe« martialischer wirken sollte, voll äußerster Unruhe alle Augenblicke strich. Sein Avancement zum Oberstleutnant war in einem Vierteljahr ungefähr fällig und damit auch sicher die Umwandlung des z.D. in ein völliges a. D. Er fühlte immer gewisser: er mußte den entscheidenden Schritt tun, solange er noch den bunten Rock trug. Man wird von den Weibern höher bewertet... dachte er. Und er trug einen Brief im Ärmelaufschlag, den er beim Abschied heimlich in Marya Keßlers Hand gleiten zu lassen dachte. Der Brief erklärte ihr in höchst bewährten Sprachwendungen mit dem Feuer eines jungen Leutnants seine völlig selbstlose und ganz glühende Liebe. Es war unmöglich, diesen Brief ihr zuzustecken, wenn sie den ganzen Abend nur Blicke und Lächeln für den Bürgermeister hatte. Sich lächerlich zu machen, dazu war er ja nicht der Mann, fühlte der Major...

Frau Marya Keßler zeichnete wirklich den Bürgermeister aus, obschon sie hinsichtlich seiner noch zu gar nichts entschlossen war. Es bereitete ihr aber eine gewisse seelische Genugtuung, überhaupt einen Mann auszuzeichnen, ihm fast den Hof zu machen, nachdem der eine sich so »undankbar« benommen hatte.

Und des Bürgermeisters Manneswert war ja durch die Erbschaft, die er gemacht, sehr gestiegen. Nicht als ob seine dreitausendfünfhundert Mark Mehreinnahmen hierbei unmittelbar in Betracht kämen. Frau Marya war reich genug, das nur als »etwas mehr Taschengeld« ansehen zu können. Aber er war nun nicht länger der Mann, von dem Zungen sagen konnten, er habe heiraten müssen, um sich hinter den Ofen der Sorglosigkeit zu setzen.

Und da Frau Marya selbst eine böse Zunge hatte, fürchtete sie immer sehr die andern. Sie empfand unbewußt, wie Gehässigkeit funkeln und dem lieben Nächsten den Blick blenden kann.

Sie spielte mit dem Gedanken, wie »Er« sich denn doch wundern würde, wenn sie einen andern heiratete. Sie schloß von sich auf die Männer und dachte: seine Eitelkeit fühlt sich ja doch tödlich verwundet ... Sie bildete sich ein, daß es ihm schmeicheln würde, wenn sie trostlos, sehnend, unglücklich liebend fortfahre, ihn von fern anzubeten und auf jedes Glück zu verzichten. Sie hatte keine Ahnung davon, daß ein Mann sich nicht einmal ausschließlich mit dem Gedanken beschäftigt an die Frau, die er liebt, daß aber eine Frau, die er nicht liebt, gar nicht für ihn da ist. –

An diesen Skatabenden, zu denen Frau Marya Keßler meist alle vierzehn Tage lud, ergab man sich in den ersten beiden Stunden, von sechs bis acht, mit strengem Eifer dem Spiel. Sie selbst spielte mit großer Feinheit der Berechnungen, mit raschem Entschluß und untrüglichem Gedächtnis. So war sie den Männern ein ebenbürtiger Gegner.

Um acht Uhr aber wurde zu Abend gegessen. Und das Souper hatte immer den Charakter eines kleinen Festmahls.

An diesem wichtigen Skatabend nun war die Speisenfolge vortrefflich und jede Schüssel ein Meisterwerk. Die Weine ließen sich vom Essen keine Konkurrenz machen. Niemand konnte nachher sagen, was eigentlich schöner gewesen.

So war denn die Stimmung der Tafelnden recht harmonisch, wenn es auch den Major angesichts der köstlichen Sauce mousseline zu den gedünsteten Hamburger Seezungen mit wachsender Wehmut erfüllte, wie zärtlich Frau Marya den Bürgermeister anlachte. Dieser selbst bemerkte hiervon nichts, oder es berührte ihn als etwas Selbstverständliches. Der Major wurde nicht ganz klug daraus. Jedenfalls daß Mandach in seiner ganzen breiten, überlegenen Jovialität da und ließ es sich schmecken, als sei er zu Hause bei sich und werde vom in Gefühlen und Demut vergehenden »Fräulein Ponürlich« bedient.

Frau Marya erkundigte sich, ob man schon etwas von den Verhältnissen auf Iserndorf gehört habe. Und mit mitleidigen Seufzern gedachte sie des Tags, wo ihr der Gerichtsvollzieher Voß begegnet sei. Über den Eindruck könne sie gar nicht weg. Es habe ihr zu und zu leid getan. Das arme Fräulein v. Benrath! Und so allein wie das Mädchen sei. Fast unpassend allein. Sie, Frau Marya, sei nicht der Meinung, daß eine Frau immer eine Ehrenwache brauche. Hier deklamierte der Bürgermeister mit seinem großen Baß dazwischen:

»Schützt sie ein Wächter mehr als ihre Tugend?«

Aber, um allein auf dem Lande zu leben und Herrenbesuche zu empfangen, dazu sei Brita Benrath doch noch zu jung. Freilich, sie sei amerikanisch erzogen und an freie Sitten gewöhnt.

Die Herren hatten natürlich allerlei gehört: Der Vater, Herr Erwin v. Benrath, sei nun endlich unterwegs; Krankheit habe ihn aufgehalten; man sagte, er trüge sich mit dem Gedanken, Iserndorf wenn irgend möglich zu halten.

Frau Marya sagte mit einer Entschiedenheit, als habe sie alle Bücher dort eingesehen, daß das unmöglich sein werde; es sei zu verschuldet.

»Hagen ist eingesprungen. Er ist nun der Gläubiger, der Iserndorf sozusagen in der Tasche hat. Na – und das sagt ja woll alles«, stellte der Bürgermeister so laut fest, als seien alle Anwesenden harthörig.

»Daß Hagen die Benraths nicht zum Bankerott treibt, ist gewiß,« meinte der Major, »aber die können doch unmöglich die Gnade eines Mannes annehmen, der sein Geld mit Schriftstellerei verdient hat und noch verdient! Ich hab mal in 'nem freisinnigen Blatt von ihm 'n Gedicht gelesen! Und Benraths sind bester, alter, mecklenburgscher Adel. Fast so alt wie wir Lorenz«, schloß er mit einem dumm schmunzelnden Gesicht, befriedigt davon, daß er einmal das Alter seiner Familie hatte erwähnen können.

»Hendrik Hagen hat vorigen Winter, als er in Berlin war, beim Reichskanzler gespeist«, sprach der literarisch angehauchte Oberleutnant Müller etwas gereizt.

»Aber nicht beim Kriegsminister«, sagte Lorenz und blickte ihn bedeutend und mit Kommandeurallüren an.

»Wer kann wissen,« meinte der Bürgermeister, »ob Benrath nicht mit 'n Beutel voll Dollar ankommt.«

»Hoffen wir es,« seufzte Frau Marya, »denn ich muß unserm lieben Major recht geben.«

Es wurde nun ein junger, getrüffelter Puter aufgetragen und alle sahen die goldig-bräunlich schattierte, hochgewölbte Brust mit erwartendem Vergnügen an. Ein äußerst wohlriechender Dampf stieg von der Schüssel auf, so daß das Mädchen im gestärkten, knatternden rosa Kattunkleid, die Schüssel sorgsam vor sich hertragend, einer Priesterin nicht unähnlich schien, die rauchende Opfergaben herbeibringt.

Der Bürgermeister erbot sich, wie immer in so appetitlichen Fällen, zu tranchieren. Mit seinen weißen, fleischigen Händen handhabte er elegant Messer und Gabel, und Frau Marya sah mit viel Wohlgefallen in die weite, etwas zurückgeschobene Manschette seines blendenden Oberhemdes hinein, wo ein auffallend weißer, haarloser Männerarm ziemlich weit hinauf sichtbar ward.

»Der Wert von Iserndorf könnte auch durch die Geembeha steigen«, meinte der Oberleutnant Müller. »Es wird ja nicht bei dem Strandhotel bleiben. Ich sehe eine Kolonie voraus.«

»Käme nicht Iserndorf zugut. Bloß Rote Heide. Iserndorf liegt zu weit ab. Meine gnädigste Gönnerin – der Puter scheint ideal – Na, und Ihre angenehme Phantasie in Ehren, lieber Müller – schönere Gesichte könnte sie ja gar nicht haben –, aber erstmal sind wir ja leider Gottes immer noch bloß dichte vor. Noch nich da! Und dann: was macht Hagen sich aus dem Mehrwert von Rote Heide! Der will bloß seine idyllische Ruhe. Oder doch ein unverdorbenes Landschaftsbild. Er hat zehn Anteilscheine gezeichnet – ja – aber nur, weil er mich sonst nicht los wurde und weil ich ihn damals – in jener glorreichen Stunde, als mir der Einfall kam, gleich breit schlug. – Ich denk mir, man munkelt ja, daß er viel in Iserndorf 'reingegeben hat und im Moment wohl nicht mehr will, weil er sich doch auch die Ellbogen freihalten muß für die Auseinandersetzung mit dem Stiefsohn ... Und dabei ist mein Freund Hagen noch ruchlos genug, mir gerade ins Gesicht zu hoffen, daß er die Zehntausend nicht rauszurücken braucht. Nicht wegen der Zehntausend – Pappenstiel für ihn – nee, ihm graust vor den möglichen Störungen. Er sieht sich schon von der Badekolonie überlaufen und wittert gefühlvolle Fräuleins mit Autographensammlungen und dichtende Männlein mit Manuskripten im Gewande.«

Frau Marya schwieg dazu. Aber der Major v. Lorenz fragte:

»Ist es schon entschieden, ob der Vater oder der Sohn das Gut kauft?« »Ih, die sollen ja wieder wie die Todfeinde sein ...«, sagte Müller.

»So–o–o?« fragte der Bürgermeister langgedehnt. Es klang beinah wie ein dumpfer Trommelschlag.

Es war ihm auch bekannt. Leider. Aber dergleichen »wußte« er im Gespräch mit Fernstehenden nie.

»Wegen des Gutes?« fragte Frau Marya und sah den Bürgermeister durchbohrend an. Der zuckte nur die mächtigen Schultern.

»Warum denn sonst? Man hört, jeder wolle es haben. Der eine verschwört sich, nur dort dichterisch schaffen zu können. Der andere meint, er könne bloß da seinen Kohl bauen. Und Kompagnons wollen sie partout nicht bleiben. Ich meine aber, hier müßte der junge Marschner zurückstehen. Hagens Interessen gehen vor. So ein Mann bedeutet mit seinem Schaffen ein Kulturelement«, schloß der Oberleutnant.

Sein Major warf ihm einen Blick zu, der so gut wie ein blauer Brief gewesen wäre, wenn Lorenz nur die allermindesten Beziehungen zum Militärkabinett gehabt hätte.

Er begnügte sich, das Wort »Kulturelement« mit wegwerfenden Ausdruck zu wiederholen. Ja, solchen Anschauungen konnte man heutzutage im Offizierkorps begegnen! Aber war es ein Wunder – bei dem Vordringen des bürgerlichen Elements? Lorenz nahm sich vor, morgen mit Müller unter vier Augen »väterlich« zu sprechen, als »älterer Kamerad« ... als Vorgesetzter ... als Patriot ... kurz: ihm in seine Anschauungen mal von allen Seiten hineinzuleuchten.

»Wo die Moneten sind, ist die Macht,« stellte der Bürgermeister fest, der in seinem Herzen auch der Parteigänger seines Jugendfreundes Hagen war, »und Hendrik Hagen wird woll obsiegen und auf Rote Heide bleiben. Wenn nicht eben Neu-Wachow ihn vertreibt. Aber, so unendlich leid mir's war, wenn unsere Geembeha ihn verjagte ... das Wohl der Gemeinde, ihre Blüte, geht vor. In solchen Dingen gibt es keine Rücksichten auf die Person. Da gilt bloß die Sache.«

»Was würden Sie sagen, lieber Freund, wenn ich meine Beteiligung erhöhte? Von dreißigtausend auf achtzigtausend?«

»Daß Sie ein Engel sind! Eine Wohltäterin der Gegend! Daß damit Neu-Wachow gesichert ist! Daß wir Sie deswegen auf der Stelle mit einem Glase Sekt feiern müssen, das uns, wie ich aus den Gläsern sehe, sowieso zugedacht war.«

Nun nahm die Stimmung einen Aufschwung vom bloß Harmonischen zum Übermütigen.

»Ja,« dachte die Frau und stieß auf ihr Wohl mit ihren Gästen an, »wer die Moneten hat, hat die Macht.«

Sie haßte »ihn«.

Und wenn eine glatte Einteilung zwischen himmlischer und irdischer Liebe möglich ist, so war in der Verliebtheit der Frau auch nicht eine Spur von Himmlischkeit gewesen. Und ihre ungestillte Begier hatte sich, wie immer die nur sinnliche Liebe tut, in kräftigen handelsbereiten Haß verkehrt.

Sie genoß den Ärger, den er haben würde, wenn er hörte, daß ihr Entschluß nun die Geembeha, die ihm sein Idyll verleiden mußte, gesichert.

Und außerdem war sie auch überzeugt, daß ihr Geld sich trefflich verzinsen werde. Ja, in ganz begeisterten Augenblicken sprach Mandach von 20 Prozent und Amortisation.

In der Sektstimmung ging man nun daran, einen Namen zu finden für dies Hotel, welches schon, ehe der Grundstein gelegt war, des Bürgermeisters Stolz und Glück bildete.

Miramare, Seeblick, Strandheim, Sommerhaus, Dünenhotel, Bellevue, Bellavista ...

Man schrieb auf – verwarf – ließ Klanggruppen aufmarschieren – horchte Vokalen nach ... Und endlich fand man, daß es doch am besten sei, einfach zu sagen »Strandhaus Neu-Wachow«. Es prägte sich dann den Menschen, die die Annoncen lasen, auch gleich der Ortsname Wachow, als der dazu gehörigen Eisenbahnstation, ein.

Als man sich an diesem Abend trennte, kam Major v. Lorenz wirklich nicht dazu, seinen Erklärungsbrief Frau Marya noch in die Hand zu spielen. Teils hatte er ja die ganzen Stunden, so schön und gemütlich sie sonst wieder gewesen waren, unter dem Eindruck gestanden, daß sie doch den Bürgermeister offenkundig bevorzuge oder gar schon heimlich mit ihm einig sei. Teils kam es, weil er im letzten Moment, erheitert vom Sekt wie man war, nicht daran dachte. Als der Brief ihm dann auf der Straße wieder einfiel, fiel ihm auch zugleich wieder ein, daß er neben einem Rivalen einherstapfte. Ein großer Kummer, Wehmut, die sich bis zur Rührung über alles unaufhörliche Pech seines Lebens steigerte, befiel ihn, und da es ihm ohnehin immer unbequem war, mit seinen kurzen Beinen martialisch Schritt neben dem imposanten Gang des Bürgermeisters zu halten, trennte er sich von ihm an der nächsten Straßenecke.

Der Bürgermeister schob seinen Arm in den des Oberleutnants. Sie wohnten nebeneinander, und da besonders Müller eine höchst angenehme Bettschwere fühlte, wollten sie direkt nach Hause gehen.

»Der arme Major.«

»Wieso?« fragte Mandach.

»Na, ich hab' ihn doch stark im Verdacht, daß er sich definitiv an Frau Keßler 'ranschlängeln will. Und da muß er doch heute Lunte gerochen haben.«

»Was hat er gerochen?«

»Na, das mußte ja 'n Blinder sehen, daß unsere schöne Frau Wirtin sich mit Ihnen besser versteht, als mit der gesamten anderen nichtbürgermeisterlichen Männerwelt«, neckte Müller und preßte Mandachs Arm vielsagend an sich.

Aber der Bürgermeister stand ein bißchen still, und mit einem ungespielten Erstaunen sagte er:

»Ach nee? ...«

»Sie war doch äußerst holdselig mit Ihnen.«

»Mit mir!« Er hatte wirklich nichts Besonderes gemerkt. Im ganzen erinnerte er sich wohl, daß Haldenwangs mal gesagt hatten, Frau Marya sei 'ne Frau für ihn. Aber in all den Geschäften der letzten Wochen hatte er es total vergessen.

Nun lachte er auf und die Schallwellen des dröhnenden Lachens rollten zwischen den stummen, schlafenden Häusern die einsame Straße entlang.

»Müller, Freund, Mensch – wenn Sie wüßten, wie pudelwohl ich mich in meiner Junggesellenhaut fühl'.«

Sie gingen vier Schritt weiter.

»Aber Sie legen doch sehr viel Wert auf die materielle Seite des Daseins und Frau Keßler lebt vorzüglich.«

Der Bürgermeister stand wieder still.

»Ich gebe zu: man ißt da glänzend. Die Saucen waren ersten Ranges. Sie waren mit Innigkeit gekocht. Aber das ist ja die Köchin. Und so 'ne Köchin heiratet mal oder erzürnt sich mal und kündigt. Dann sitzt man da mit der Frau.«

Wenn Frau Keßler mit der Köchin wechseln muß, hat sie mir erzählt, läßt sie die neue Küchenfee vorher ein Vierteljahr bei Frau Brügge noch letzte Feinheiten lernen.« Der Bürgermeister machte seine gewohnte abwehrende Handbewegung, indem er die wagerecht weit ausgestreckten gespreizten Finger in der Luft schüttelte.

»Auch Frau Brügge ist ein sterblicher Mensch. Nee, nee, mein Lieber. Wir machen es der jungfräulichen Königin nach. Liebe – ja! Ehe – nein! übrigens: sind Sie dienstlich beauftragt, meine Absichten zur Kenntnis des Bezirkskommandos zu bringen? Sollen Sie ausbaldowern, wie es um meine zarten Gefühle für Frau Marya bestellt ist?«

Müller bog sich vor Lachen über diesen Einfall.

Der Alte und ihn ins Vertrauen ziehen! Sich bloß so was vorzustellen! Ihn, den simplen Oberleutnant Müller! Der Alte! Der sich für einen besseren Strategen als Moltke und für einen feineren Diplomaten als Bismarck hielt.

»Na,« sagte der Bürgermeister, »da ich nicht so bedeutend bin, will ich Ihnen mein Vertrauen schenken: die Frau ist nicht ohne – aber ich kann keine Pomade riechen! Gute Nacht.« –

In seiner Wohnung machte er dann noch große Beleuchtung, setzte sich hin und schrieb sofort an den Architekten Trieloff, daß er samt seinem Plan und dem Kostenanschlag sich auf die Bahn setzen und herkommen solle. Ferner schrieb er an sämtliche Persönlichkeiten, die sich durch vorläufige Zeichnungen verpflichtet hatten, und lud sie zu einer Versammlung am Dienstag im Rathaussaal ein, wer verhindert sei, möge sich durch Doktor Berthold erklären oder vertreten lassen. So saß er, frisch, als sei es zehn Uhr morgens nach köstlicher Nachtruhe, bis gegen vier in der Frühe, und der Nachtwächter Bobs, der einmal vorbeikam, sah die hellen Fenster mit Ehrfurcht an. –

So war die Geembeha zustande gekommen und den Tag, an dem die Erdarbeiten begannen – sie bestanden bei den ungemein günstigen Bodenverhältnissen ganz einfach darin, daß der Baugrund für die Kellerräume nach den Maßen des Planes ausgegraben wurde – den Tag fuhr und wanderte »ganz Wachow« hinaus.

Es war ein ganz unwahrscheinlicher Tag, wenn man daran dachte, daß es Ende Oktober sei. Der Herbst tat, als habe er niemals mit düsteren, regenschweren Stürmen diese Erde mißhandelt, vielmehr immer auf sie herabgelächelt wie ein sehr erfahrener Mann, der weiß, daß man mit friedlicher Gelassenheit am weitesten im Leben kommt.

Sonnenschein erwärmte die windstille Luft und machte im Walde aus dem Bodenbelag von rostbraunen, durchnäßten Blättern einen kupferfarbenen Teppich in reich getönten Nuancen. Den cremefarbenen Strand sprenkelte er mit lauter flimmernden Pünktchen, als seien anstatt Kiesatome Brillantsplitter in den Sand gemengt. Und das Meerwasser durchleuchtete er, daß es aussah, als läge da eine ungeheure blaue Glasplatte, über die hin ein bißchen schaumiges Eiweiß gallertartig sich bewegte.

Die Hoffnungen und die Sonne belebten die norddeutschen Menschen mit einer spärlichen, zögernden Beweglichkeit. Und die Stimmung unter den am Strand Umherstehenden war beinah fröhlich.

Viele machten den ganz kurzen Umweg am Rote Heider Herrenhaus vorbei. Manche nahmen sich die Freiheit, durch dessen Vorgarten oder über den Wirtschaftshof hinterm Haus zu gehen.

Da der Sinn der Leute für Architektur plötzlich wachgeworden war und jedermann von »Stil« sprach, es überdies bekannt war, daß das Strandhotel in ähnlicher Bauart wie das Herrenhaus Rote Heide aufgeführt werden würde, standen die Menschen ungeniert still, sahen an der Front empor, besprachen den Eindruck, den sie machte, und benahmen sich, als sei es ihr einfachstes Recht, hier mit breitem Bürgersinn laute und autoritative Reden zu führen.

Daß hinter jenen Fenstern ein Mann saß, der der Ruhe bedurfte, fiel ihnen nicht von fern ein.

Nachdem der Bürgermeister mit dem Architekten Trieloff den ersten Spatenstichen zugesehen und für die Grundsteinlegung eine Art Feierlichkeit besprochen, schlug ihm sein Freundesgewissen. Und er ging von dem Terrain Neu-Wachow in östlicher Richtung auf Rote Heide zu.

Da war erst das kleine Dorf zu durchschreiten, das aus einem Dutzend von Tagelöhnerhäusern und kleinen Bauernstellen bestand, die sich um eine Kapelle scharten, darin Pastor Maurer aus Breitenhagen alle vierzehn Tage Sonntags nachmittags predigte. Sie war eigentlich nur ein magazinartiges Backsteingebäude, das auf seinem Spitzgiebel ein verrostetes Eisenkreuz zeigte und an seinen Längswänden gotische Fenster mit trüben, bleigefaßten, unendlich vielgeteilten Scheiben hatte.

Dann kam der Park, der nicht sehr groß war und in den hinein sich rückwärts und seitlich vom Herrenhaus gleich einer Halbinsel die Wirtschaftsgebäude und Höfe hineinschoben, deren Mittelpunkt das alte Herrschaftshaus bildete, das nun vom Pächter bewohnt wurde.

Der Bürgermeister betrat den Hauseingang in dem turmartigen Anbau. Er ließ sich melden und wurde sofort angenommen. Daß man ihn überhaupt meldete, bedrückte ihn als schlechtes Zeichen ein wenig. Denn es war die vormittägliche Arbeitszeit, in welcher Hagen sich sonst nie stören ließ.

Laut wie immer, in einem drolligen Gemisch von Betrübtheit und glänzender Laune trat er in Hagens Arbeitszimmer.

Hendrik Hagen war offenbar in einer Wanderung durchs Zimmer hin und her begriffen gewesen. Denn er stand so wie einer, der gerade seinen Schritt anhält, und sah dem Bürgermeister fragend, verstimmt entgegen.

»Gott, mein alter Junge – ich versteh' die erzürnte Königsmiene! Du hast ein Recht, sie aufzusetzen. Aber denk' doch bloß nicht, daß der Plebs dir alle Tage durch deinen Vorgarten defiliert. Neugier nutzt sich so fabelhaft rasch ab. Ich rat dir zu einem Plakat: Verbotener Eingang, wer es dennoch tut, zahlt 'n Taler. Na, du kennst ja den Schnack. Ich mach dir hiermit einen Kondolenzbesuch. Nimm es bitte zu Protokoll. Er ist aber auch zugleich ein Gratulationsbesuch. Denn ich seh' voraus, daß Rote Heide sich im Wert verdoppelt. Du bist ja ein belesener Mann. Laß dich an das Dichterwort mahnen:

»Denk an das Ganze, denk nicht an dein Teil,
Es blüht von selbst, hat erst das Ganze Heil.«

»Ich denke an ein anderes,« sagte Hendrik Hagen, »es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. Aus Tell, wie du weißt.«

»Glaub' mir doch: die Wachower werden es bald satt haben, den weiten Weg herauszulaufen, um das Strandhotel wachsen zu sehen.«

»So? Ich höre aber von Berthold, daß ein Automobilomnibus den Verkehr zwischen dem Strandhotel und der Stadt vermitteln soll«, sprach Hagen.

»Er ist bereits bestellt! Rasche Verbindung mit der Bahnstation, mit der Post muß sein. Klar – was? Und dann: Ich denke doch, Sommerabends wird die Lebewelt von Wachow gern hinausfahren, um auf der Terrasse vom Strandhotel zu soupieren. Du hast wohl gehört: Brügge wird Pächter. Damit ist alles gesagt.« »Und die Leute werden, mangels anderer Sehenswürdigkeiten, eine Promenade durch meinen Park und Garten als zu dem Vergnügungsprogramm von Neu-Wachow gehörend ansehen.«

»Ein großer Mann gehört nicht sich, er gehört seinem Volk. Es wird sich freilich an deinem Anblick laben wollen ... Du klingelst?«

»Nicht nach dem Hausknecht, wie dein Gewissen zu befürchten scheint und wozu ich nach deiner letzten Äußerung immerhin einiges Recht hätte. – Bringen Sie eine Flasche Portwein und einige belegte Brötchen«, befahl er dem Diener Bruhn, der mit seinem glatten Kopf und seinem gleichgültigen Gesicht, das so sonderbar der militärisch gehorsamen Haltung widersprach, sehr rasch in der Tür erschien.

»Dies ist das erste vernünftige Wort, was ich heute von dir höre«, sagte der Bürgermeister und ließ sich breit in Hagens Schreibtischstuhl nieder.

Hagen lehnte sich in seiner Nähe an die Schreibtischkante. Seine Stimmung schien sich etwas aufzuhellen. Wenigstens lächelte er.

»Dein Zitat da vorhin – wo stammt das her? Hättest du gesagt: denk an Goethes Worte, so wüßt' ich ja, daß es eine von deinen berühmten Improvisationen war, die du mit ›Goethe‹ etikettierst.«

»Also doch erkannt! Und ich dachte, ›Dichterwort‹ sei so allgemein und unkontrollierbar, daß es dich verblüffen würde. Gib zu, daß ich dir vis-á-vis Vater Goethe noch nie was unterschoben hab'. Du siehst, ich bin nicht allen Schamgefühls bar. Sonst – na, bei dem Autoritätsdusel, an dem der halbgebildete Deutsche doch nu mal krankt, sonst stärkt man immer seine Position durch ein Zitat. Man hat nicht immer das passende zur Hand. Man reimt sich eins. Bei Prosa sag' ich ›Bismarck‹, bei Reimen ›Goethe‹. Ich schwöre dir zu: noch nie hat mich einer gefragt und ertappt. Kommt auch vielleicht daher, weil die tiefen Aussprüche, die ich tue, den Leuten immer so vorkommen müssen, als hätten sie sie schon mal wo gehört.«

Hagen mußte lachen.

»Na, siehst du woll ... da ist ja deine gute Laune wieder. Als ich reinkam, dacht' ich, ich sollte vergiftet werden.«

»Nun, du bist doch der Anstifter dieser unerträglichen Störung. Ich habe mich seit Jahren zu sehr daran gewöhnt, bei vollkommener Einsamkeit zu arbeiten; das bloße Bewußtsein davon, daß sie jeden Augenblick gefährdet werden kann, daß dort drüben am Strand jetzt menschliche Gestalten auftauchen können, ist ein starkes Hemmnis für mich – verleidet mir meinen Schreibtisch.«

Der Bürgermeister stand auf und nahm den Freund beim Rockknopf.

»Hör mal du,« sagte er eindringlich, »daß mir's leid tut, weißt du von selbst. Aber wenn's denn schon so ist: es erleichtert vielleicht die Lösung des Streites zwischen dir und dem jungen Marschner. Laß ihm Rote Heide. Mensch – wenn ich du wäre! Ich hätte längst 'ne Villa am Gardasee und eine Wohnung in Paris. Der Übergang stört dich vielleicht – das kann ich nicht beurteilen – aber erst mal da eingelebt, muß das doch herrlich sein. Und du hast deinen Frieden und deine Freiheit und lädst mich alle Jahre für vierzehn Tage ein, aber nicht an den Gardasee, sondern nach Paris.«

Auf diese letzte Wendung zwang Hagen sich ein Lächeln ab, doch antwortete er nicht.

»Steh'n wir so, daß ich was Offenes fragen darf?«

»Aber selbstverständlich.«

»Ist es wahr, daß ihr wieder wie Todfeinde seid?« »Wer sagt das?«

»Die Welt.«

Hagen machte eine angewiderte Gebärde.

»Ich kümmere mich nicht um sie, sie soll sich nicht um mich kümmern.«

»Tut sie aber. Kümmert sich um Herrn Hinz' Tun und Herrn Kunz' Lassen. Und um so 'ne Menschen, wie du und deine Geistesverwandten, kümmert sie sich extra. Sie meint, weil sie euer Werk kaufen oder für Entree sehen kann und in ihrer glückseligen Dummheit verreißen oder verhimmeln darf, kriegt sie's extra zu – wie Bonbon beim Krämer –, daß sie auch euer privates Leben unaufhörlich beachten und bekritteln kann. Das brauch' ich dir doch nicht erst zu sagen!«

»Aber du störst meine Einsamkeiten, da du es mir wieder zum Bewußtsein bringst«, rief Hagen mit einem so leidvollen Ausdruck, daß der andere erschrak. »Ja, ich weiß es – aber dagegen wehr' ich mich – wehr' mich mit der feigen Vogel Straußpolitik – sie ist die einzig mögliche gegen die Unverschämtheit der Welt.«

»Das wollt' ich ja nu nich: dich nervös machen,« sagte der Bürgermeister von Herzen, wobei seine Stimme sich zum dumpfen Trauerbaß wandelte, »sei nur nicht bös mit mir.«

Hagen nahm sich zusammen.

Sie schwiegen ein paar Minuten. Der Diener brachte Wein und den Imbiß. Dann, als Mandach sagte, »ich bin so frei« und sich einschenkte, hob Hendrik Hagen an:

»Laß uns nicht weiter von dem Thema sprechen. Ja, es ist wahr, zwischen Andree und mir ist eine abermalige Kälte entstanden. Wegen Rote Heide. Das sagt sich so glatt. Es ist aber nicht so glatt lösbar. Du bist doch ein erfahrener Mensch. Muß ich dir sagen, daß nichts allein steht, daß alles verknüpft ist mit irgendwelchen Nebenerscheinungen? Durch eure gräßliche Geembeha ist mir in der Tat der Besitz von Rote Heide weniger wichtig geworden. Ich kann mich aber in diesem Augenblick noch nicht entscheiden. Die Sache muß noch in der Schwebe bleiben. Vielleicht nur noch kurze Zeit. Dies sage ich dir im strengsten Vertrauen.«

»Damit du meine Fragen los wirst. Aber immerhin: Ehrenwort!«

Der Bürgermeister sann nicht über die Andeutungen nach. Er hatte aus Teilnahme, nicht aus Indiskretion gefragt und fühlte: da waren Grenzen, über die das Vertrauen des Freundes nicht hinaus wollte. Gut. Respekt vor den Angelegenheiten anderer. Bloß keine plumpe Neugier.

Und von diesen anständigen Gedanken geleitet, wechselte er das Gespräch und berührte ahnungslos die geheimsten Zusammenhänge ...

»Sag' mal,« fragte er, indem er sich ein Brötchen mit Chesterkäse vom Teller nahm und zwischen den Fingern in Mundhöhe festhielt, »ich hör' von Berthold, daß Herr v. Benrath aus Amerika kommt und hofft Iserndorf zu halten. Wird er nur können, wenn er 'n gutes Stück Geld mitbringt.«

»Das wird man abwarten müssen«, sagte Hendrik Hagen.

Er mußte ja antworten – irgend etwas –, der andere sollte nicht ahnen, woran er rührte. Denn so stand für Hendrik Hagens Gefühl die Sache: mußte er Iserndorf übernehmen oder Brita und ihrem Vater beistehen, daß sie es halten könnten, so mußte er auch auf Rote Heide der alleinige Herr bleiben ... damit für den jungen Rivalen kein Platz in ihrer Nähe sei ... »Siehst du das Fräulein woll mal?«

»Ich sehe sie zuweilen.«

»Haldenwangs haben ihr Gastfreundschaft angeboten, damit sie nicht so allein auf Iserndorf säße, bis ihr Vater kommen kann. Sie hat's abgelehnt.«

»Davon hörte ich,« sprach Hagen etwas gemessen, »ich verstand es. Fräulein v. Benrath kennt Antoinette Haldenwang schließlich doch nur oberflächlich. Es wäre rasch für beide Teile sehr zwangvoll geworden.«

»Ich finde auch nichts dabei«, sagte er, mit der Bemerkung unwillkürlich verratend, daß andere was dabei fänden. Und fuhr fort:

»Du weißt wohl schon, wie dankbar man dir für dein Einspringen ist. Besonders auf den Gütern. Baron Meinsberg sagte mir: Herr Hagen hat uns allen einen Dienst geleistet; es ist uns das traurige Schauspiel erspart geblieben, ein altes Rittergut mit all seinen doch ursprünglich dem Erbadel zugedachten Rechten in Konkurs und in Gott weiß was für Hände kommen zu sehen – womit er zunächst die von Hermann Fedder meinte –, denn der hat wohl so kalkuliert: »werden mir meine 20 000 ausgezahlt: bon. Nicht, nun dann bring' ich Iserndorf zur Subhastation und laß es mir zuschlagen.« Für sage und schreibe zwanzigtausend Em! Wär' grotesk gewesen – was? Ganz Feddersch! Er soll schon 'n Hintermann gehabt haben, der ihm Iserndorf mit einer hübschen Avance wieder abgekauft hätte ... einen reichen Kerl von üblem Ruf, der durch das mecklenburgsche Rittergut in die Ritter- und Landschaft kommen und Kirchenpatron und somit ›angesehen‹ werden wollte, weshalb es ihm nicht darauf ankam, Iserndorf über den Wert zu bezahlen.«

Und nun biß er endlich in das Chesterbrötchen.

Hendrik Hagen fragte: »So bekannt ist es geworden? ...«

»Na natürlich. Wie – das kann wieder kein Mensch sagen. Berthold war undurchdringlich. Vielleicht hat der Ludewig gemunkelt. Oder Voß hat kombiniert. Oder Frau Keßler, die dich und Berthold und Voß fast zusammen traf. Alle Welt weiß, daß es dein Geld ist, was Berthold rollen läßt. Aber Mensch – darüber nun blaß vor Ärger zu werden ist doch kein Grund – das ehrt dich doch. Ich sagt's doch schon: man ist dir dankbar. Adel und Bürgerschaft p. p. So'n Konkurs ist für die ganze Gegend immer was Scheußliches. Na und das hübsche Kind da – Brita Benrath – die beweihräuchert dich wohl nun, wie bloß weibliche Dankbarkeit 'n deus ex machina beweihräuchern kann? Es ist unglaublich, mit was für Inbrunst und Enthusiasmus sich so die Weiber in Dankbarkeit 'reinlegen können.«

Hendrik Hagen nahm die Portweinflasche und goß dem Freunde noch mal ein.

Stark zitterte dabei seine Hand. Aber sein Gesicht lachte. Ja, er lachte laut.

»Trink doch«, sagte er. Und ging dann eilig im Zimmer hin und her.

»Mensch, du hast so was Nervöses, daß du andere mit nervös machst.«

»Ich? Keine Spur.« Er stand in Fensternähe still.

»Sieh mal,« sagte er, »wie breit und richterlich draußen der Schlächtermeister Minden neben seiner Frau steht. Sein dicker, brauner Düffelpaletot ist nicht zugeknöpft und weit zurückgeschlagen. Die lederfarbene Weste mit dem gelben Schlänglein, der goldenen Uhrkette quer darüber wirkt so zahlungsfähig. Die unaussprechlich vielen Posamenten auf dem neuen Wintermantel der dicken Frau erwecken eine Ideenverbindung mit Sparkassenbüchern, vielem Kaffeekuchen und nie gestörtem Appetit. Bemerkst du, wie Minden mit der Spitze seines Stockes in der Luft herumdeutet? Ohne Zweifel erklärt er seiner Frau, die etwas dumm und sehr andächtig zuhört, die Fassade meines Hauses. Und da, soviel ich weiß, meine Wirtschafterin bei Minden kauft, bin ich sicher: Herr Minden ist mit der Fassade einverstanden.«

»Die Möglichkeit zu dieser entzückenden Beobachtung verdankst du einzig mir,« sagte der Bürgermeister, »und diese Feststellung gewährt mir einen glänzenden Abgang. Lebewohl.«

»Du gehst schon?«

Hagen fürchtete sein Bleiben. Noch mehr aber sein Gehen.

»Muß. Überbürdet, mein alter Junge. Mehr als je. Und du kommst heut abend 'rein zum Festessen anläßlich des Arbeitsbeginns auf Neu-Wachow?«

»Schon ein Festessen? Nein, ich kann nicht.«

Der Bürgermeister machte eine entschuldigende Geste.

»Festessen ist die natürlichste Konsequenz. Na, also, wenn du heut nicht kannst, dann bei dem großen Diner am Tag der Grundsteinlegung.«

»Auch nicht.«

»Wer sich der Einsamkeit ergibt, ist bald allein – dies ist aber nun wirklich von Goethe. Also leb' wohl.«

Nun war Hendrik Hagen wieder allein. Und die für ihn furchtbaren Worte, die der Freund ahnungslos über ihre Gewalt so hingesprochen, sie hallten nach – wuchsen, gewannen an Beredsamkeit, höhnten grausam, je mehr ihnen der Mann nachgrübelte.

Also seine Tat stand auf dem Markte und alle männlichen und weiblichen Weiber, diese ganze zungeneifrige, widrige Menge, die man »die Welt« nennt, redete daran herum – besah sie, forschte ihren Gründen nach...

Alle hohen Seligkeiten, die ihm die letzten Herbstwochen zum Frühling voll Glanz und süßer Unruhe gemacht, sanken in sich zusammen.

Er hatte in der Wonne des Wartens dahingelebt – in dem Gefühl, sein Wort könne es enden, wann sein Herz wolle. Er hatte die Zartheiten des Zögerns genossen – in dem seligen Wahn, die Geliebte werde es ihm danken. Ihr Gemüt sollte sich von den peinlichen Erschütterungen erst erholen.

Auch forderte ihre Einsamkeit Rücksichten. – Es erschien würdiger, um sie zu werben, wenn ihr Vater erst neben ihr stände ...

Vielleicht war auch ein wenig uneingestandene Furcht in diesem Warten gewesen ... Vielleicht klangen die häßlichen Worte jener Frau in ihm nach ...

Und nun begriff er: durch seine Rettertat hatte er sich Hemmnisse geschaffen.

Die Welt würde sagen: Das war ein durchsichtiger Handel.

Er fühlte, er mußte weiter warten. Um Britas willen, um seiner selbst willen. Der Adel ihres künftigen Bündnisses sollte von niemandem angezweifelt werden ...

Er war ein Mann, der einem Weibe viel zu geben hatte. Das durfte er sich voll Stolz sagen. Diese blöde Welt, die nicht die unaussprechlichen Empfindlichkeiten und Tiefen und Kräfte seines erfahrenen Herzens erkennen konnte, sie sollte nicht wähnen, ein Weib habe es hingenommen als ihr Eigentum ohne heilige Liebe ...

Und Brita – das stolze, holde, redliche Geschöpf, – nein, von ihr sollte niemand denken, sie handle rechnend – oder sie handle aus Dankbarkeit ... Die entsetzliche Angst kam ihm, wallte siedend in ihm auf – verbannte ihm jeden frohen Glauben, jede berauschende Hoffnung, daß es doch nur Dankbarkeit sei, die ihn aus ihren Augen anblicke.

Wie hatte der robuste, aber so kluge, klare Mann doch von dieser ihrer Dankbarkeit gesprochen? Als von einer Inbrunst, einem Enthusiasmus, der weiblicher Art gegeben sei ...

Den Lohn hatte er ja nicht gewollt, den nicht ...

Doch aber Lohn ... Den elementar einfachen und doch den allerhöchsten, an den jeder Mann uneingestanden denkt, wenn er für die Geliebte dreinschlägt, wenn er für sie handelt, im beglückenden, kraftvollen Mannesstolz, durch Taten um Liebe werben zu dürfen ...

Wann fühlt denn ein Mann erhebender die Männlichkeit seiner Liebe, als wenn er sie nicht nur mit Worten ausdrücken darf.

Und je tiefer er sich hineinlebte in die Furcht, daß Brita nur Dankbarkeit, nicht Liebe für ihn empfinden könnte, je mehr war er gequält.

Seine Herzensnot steigerte sich zu unerträglichen Leiden.

Er konnte, er wollte sie nicht ertragen. Sie raubten ihm den Verstand. Das Gift mußte seine Schaffenskraft lähmen. Seinen Mannesstolz zerbrechen. Das fühlte er.

Er verachtete plötzlich das Urteil der Welt, dem seine Gedanken eben noch richterliche Gewalt zugestanden hatten. Mochte sie denn sagen, Brita verkaufe sich. Mochte sie ihn immer als den Toren verspotten, der, nach den bösen Reden jener Frau, zufrieden damit war, die hübschen Kleider seiner Gattin bezahlen zu dürfen. Wenn er nur, er, heimlich in seinem Herzen das Königsbewußtsein haben konnte: ich bin geliebt.

Er wollte sie gleich fragen. Noch in dieser Stunde das glückselige Wissen aus ihren Blicken, ihren Küssen schöpfen ...

Er verließ das Haus. Die weiche Luft, die ihm entgegenkam, überraschte ihn, tat ihm unendlich wohl. Es war, als ob der Herbsttag von einem stillen, sicheren, warmen Glück erfüllt sei. Er hatte das gebändigte Temperament, wie es Oktobertage im Süden haben können ... alle Schönheit ist maßvoll geworden, sie beunruhigt nicht mehr, sie tröstet und erbaut nur noch ...

Er nahm die Mütze ab, um sich den linden Atem um die Stirn streichen zu lassen.

Als er den Wirtschaftshof betrat, sah er den Chauffeur stehen. Vor ihm, mit dem Rücken gegen die graurote Scheunenwand gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt, stand die weißblonde, große und volle Trina, das Meiereimädchen. Ihr krauses, helles Haar war von Sonnenschein umleuchtet und schien fast gelbsilbern. Sie lachte auf den etwas kleineren Barch herab, der ihr jetzt unters Kinn griff, was ihm dann einen mehr zärtlichen als strafenden Klaps auf die Hand eintrug.

Der Mann spürte die Verlegenheit dieser beiden anempfindend voraus, und er vermochte es nie über sich, jemand peinlich zu überraschen, weil ihn selbst dabei eine Art Scham befiel. So wandte er den beiden jungen Menschen, die sich verliebt und scherzend von der Sonne umwärmen ließen, den Rücken und rief laut nach des Pächters Schäferhund, der drüben an der Stallmauer lag mit vorgestreckten Pfoten, auf die er die Schnauze gelegt hatte und sich schlummernd das Fell bescheinen ließ.

Ja, jeder Kreatur war heute wohl...

Als er dann, mit dem rasch auffahrenden und herangaloppierenden Hund scherzend, sich Barch näherte, war von der kraushaarigen, junonischen Trina nichts mehr zu sehen. »Wir wollen sofort fahren. Nach Iserndorf«, sagte Hagen.

Der Chauffeur, ein feines Kerlchen mit sehr intelligentem, etwas blassem Gesicht, das ein blonder, spitzgedrehter Schnurrbart zierte, sah seinen Herrn diensteifrig an.

»Wenn Herr Hagen das gnädige Fräulein aus Iserndorf besuchen wollen,« sagte er umsichtig, »so treffen der Herr niemand an.«

Er fand, es sei seine selbstverständliche Pflicht, seinen Herrn von einer unnützen Fahrt abzuhalten.

»Woher wissen Sie das?« fragte Hagen überrascht.

»Ich habe vorhin zufällig das gnädige Fräulein vorbeifahren sehen auf dem kleinen Iserndorfer Jagdwagen mit der alten Schimmelstute. Das gnädige Fräulein fuhren selbst und waren allein.«

»Wohin ...«

»Auch wohl nach Neu-Wachow.«

»Ich danke Ihnen. Also lassen wir's.«

Er sah: der Mann meldete es ganz verständig und harmlos.

Er ging mit raschen Schritten durch den Park, dorfwärts, strandwärts.

Wenn Brita dort war, vielleicht auch von der Neugier erfaßt, die wie eine harmlose Krankheit die ganze Gegend ergriffen hatte, vielleicht von Langeweile getrieben, oder der Sehnsucht, den schönen Tag zu genießen – dann sah er sie vielleicht noch. Der einzige Fahrweg nach dem Terrain Neu-Wachow ging vorläufig und noch auf lange hinaus über Rote Heide.

Er hastete durch den Park. An feuchten, überschatteten Wegstellen trat sein Fuß lautlos auf den durchweichten Blätterteppich; auf freien und sonnigen Strecken raschelte das getrocknete Herbstlaub aufstiebend um seine eiligen Schritte.

Und plötzlich überkam es ihn, als ob in diesem seinem Vorwärtsstürmen etwas unaussprechlich Trauriges und Demütigendes sei.

Als zeige es sich darin mit erschütternder Deutlichkeit, wie sich sein Wesen und sein Leben verändert habe ...

Er hatte seine Freiheit verloren ...

Einst, wenn er geliebt hatte, so war es ein fürstliches Gefühl gewesen – durchglüht von dem Bewußtsein, daß er beglücke, indem er sich verschenke.

Ein Geben! Kein Betteln!

Er stand einen Augenblick still, sich mit ausgestreckter, flacher Hand gegen die zerrissene, narbenvolle Rinde eines kahlen Akazienbaumes am Wege stützend.

Sein Herz klopfte so schwer, als sei es krank. Seine Knie wurden unsicher ...

So stand er und atmete hart.

Und fühlte, daß er zum Bettler geworden sei. Und daß er noch selig sein würde, wenn sie sich ihm gäbe – auch ohne Liebe ... Ja, er wollte lieber der Tor sein, zufrieden vor ihr knien zu dürfen, als sie gar nicht besitzen ...

Er schloß die Augen. Vielleicht um der Gewalt und der Unwürdigkeit seiner verzehrenden Sehnsucht nicht so grausam klar ins Gesicht zu sehen ...

Sein Stolz klammerte sich an Hoffnungen, richtete sich daran langsam wieder empor:

Wenn sie nur erst ihm gehörte! Dann mußte sie ihn lieben lernen.

Sein Haar war grau – vorzeitig – sein Auge jung – jung die volle, große Flamme seines Liebens – und seine gereifte Kraft und sein tiefes Erkennen würde sie lehren, wie man Liebe recht genießt und recht behütet ... Er hatte ein Wissen von der Liebe, ihren Seligkeiten und ihren Gefahren, das dem Herzen jenes Jünglings sich noch nicht erschlossen haben konnte ...

Oh, wenn ein Weib wüßte ... hätte es zu wählen zwischen erster und letzter Liebe – es gäbe sich mit Jauchzen der letzten eines Mannes – denn damit gäbe es sich der vollkommensten Liebe zu eigen ...

Er ging weiter. In brennender Erregung bereit, sein Innerstes hinzuströmen in Worten von beschwörender Werberkraft.

Er kam durch das Dorf. Es lag einsam. Die Mittagszeit hielt die Leute in den Häusern. Hinter einem grüngestrichenen Gatter bellte ein schmutzigbrauner verärgerter Rattler unaufhörlich gegen ihn an, als er dicht an der Reihe der aufrechten Holzstäbe hinschritt. Auf der niederen Mauer aus Granitfindlingen, die sich um die Kapelle und den sie umgebenden winzigen Kirchhof zog, lag eine Katze, sonnte sich und blinzelte ihn weltweise und gleichgültig an.

Dann zeigte sich der Strand.

Hendrik Hagen stand wieder still, um das Gelände mit aufmerksamen Blicken zu beforschen. Er stand hinter einem Bauernhaus, das dick und warm unter besonntem Strohdach Mittagspause hielt und förmlich von einem Geruch nach Stroh, Dung und Vieh umdünstet war. Ein uralter Holunderbusch, verkrümmt und kahl, duckte sich beinah schräg hinter der Mauer hin, als habe er unaufhörlich vom Nordost Ohrfeigen bekommen und sich deshalb nie ordentlich aufrichten können. Busch und Wand froren im Schatten, denn wo die Sonne nicht hinwirken konnte, triumphierte eben doch der Herbst ...

Hendrik Hagen drängte sich fast in das schwärzlich kahle Gezweig des Busches. Da sprang eine abgewetzte, uralte Wurzel aus dem Boden und die benutzte er, gleichsam als sei sie eine Stufe, die erhöhten Standpunkt ermöglichte.

Zu winzigen Tälern und Hügeln zerklüftet lag der gelbweiße, feinsandige Strand. Und dort ragten Stangen und eine Fahne flatterte anmutig und blaugelb als leuchtender Fleck in der klaren Luft.

Hagen sah eine langgestreckte Holzbaracke, ihr Dach von schwarzer Pappe gleißte wie Eisen im Sonnenschein. Ein Schornsteinrohr stach daraus empor und ihm entwirbelte ein flinker, emsiger Rauch. Es war die Arbeiterbaracke und die Leute mochten jetzt darin bei ihrem Mittagsbrot sein.

Der Strand war vollkommen menschenleer. Auch die durch die Stangen und die Fahne weithin kenntliche Arbeitsstätte.

Nirgendwo, auch am Rande des Dorfes nicht, sah man den altersmüden, kleinen Jagdwagen von Iserndorf.

War Brita schon wieder fort? Hatte Barch ihre Rückkehr übersehen, weil er so vertieft in Trinas blanke Augen und ihr vergnügtes Grübchen gewesen? Oder hatte Brita den Wagen beim Krüger Krampau eingestellt? Ob er dort nachfragen sollte? Aber wenn sie das getan hatte, dann mußte sie doch irgend, irgendwo zu sehen sein. Nichts rührte sich strandauf, strandab.

Nur das geschäftige freundliche Räuchlein aus dem Rohr hatte es eilig.

Und auf der blauen Glasplatte des Meeres schob sich unaufhörlich, wie schaumiges Eiweiß, eine leise Bewegung strandwärts.

Eine schmerzliche Enttäuschung senkte sich mit ihrem alles niederdrückenden Bleigewicht in die erregte Seele des Mannes.

Fast ohne zu denken, nur im stumpfen Gefühl, um eine große Stunde betrogen zu sein, der er voll heißer Leidenschaft entgegengestürmt war, stand er noch ...

Da durchfuhr ihn ein unsinniger Schreck ...

Über der Linie einer der Sandwellen, die das Strandgelände wie mit gestreckten, niedrigen Hügeln durchzogen und zwischen sich Schluchten schufen, in denen der Wind schlief und die Sonne brütete ... über solcher Linie erhob sich ein Kopf – ein Oberkörper, etwa bis zu den Ellenbogen – –

Der Andrees ...

Nun neigte sich der Kopf und die Schultern bewegten sich – man erriet die Bewegung – sie war die eines Menschen, der einem andern, tiefsitzenden Menschen die Hände hinreicht ...

Und dann ward ein Haupt sichtbar – eines mit kupferbraunem Haar – wie die Sonne es umgoldete! – – eines mit einem kühn gebogenen, schwarzen Hut darauf...

Ihre Gestalt erhob sich und ragte auch bis zur halben Brusthöhe aus diesem kleinen Sandtal auf.

Nun gaben diese beiden Oberkörper ein seltsames Schauspiel. Da man die hinschreitenden Gestalten nicht sah, schien es, als schöben sich zwei farbige Büsten, von unsichtbaren Kräften bewegt, dort entlang.

Sie kamen näher. Ihre Gesichter wurden erkennbar. Das geweitete Auge des Mannes, dessen Blicke mit übermenschlicher Schärfe die Luft durchmaßen, glaubte den Ausdruck zu sehen ...

Lachend waren sie einander zugewandt. Nur lachend?

Nicht zärtlich – nicht glückselig?

Nun wollte Brita emporsteigen. Sie rutschte ab.

Helles Lachen ward in silbernen Schallwellen durch den Sonnenschein herangetragen. Andree half ihr. Er legte seine beiden Hände an ihre Taille und schob nach ...

Er wagte es, sie zu berühren ...

Er folgte ihr – von der sandigen Höhe liefen sie mit drei Schritten hinab. Nun waren sie auf dem planen Gelände, das sich bis zum Dorf sacht emporbreitete.

Was hatten sie getan in jener weichen, weißen Sandmulde, darin die Winde schliefen und die Sonne brütete und in die der blaue Himmel hineingesehen und keines Menschen Auge...

Hatten sie sich geküßt? Von Liebe geflüstert? ...

Dem Mann, der lauerte und sah, ward es rot vor Augen.

Und er sah nichts mehr. Nicht, daß die beiden jungen Menschen nun sehr langsam, in großer Versenktheit und ernst geworden heranschritten. Nicht, daß Andree einmal Britas Hand nahm und sie heftig drückte. Auch nicht, daß sie sie ihm mit heißem Gesicht entzog ...

In einer geringen Entfernung schritten sie vorüber, doch so, daß sie ihn nur hätten sehen können, wenn sie damit beschäftigt gewesen wären, den Kopf hin und her reckend, ängstlich zu spähen ... Aber sie waren nur mit sich beschäftigt ...

Nein, er sah nichts mehr als die rote Wolke, die auf ihn zukam – wie sonst gleich schwankenden Nebelgebilden ein neues Werk – und er spürte den Kern – der blitzte auf, wie eine furchtbare Gewißheit.

Und er fühlte: ich werde ihn töten ...


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