Ida Boy-Ed
Um ein Weib
Ida Boy-Ed

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

Den Geburtstag des Bürgermeisters feierten Amtsrichter Dr. Fritz Haldenwang und Frau Antoinette mit einem Frühstück. Es war ein Sonntag im September. Die kleine Schar der Gäste saß im vollen Sonnenschein, der durch die Fenster der Veranda hereinkam und alle weinheißen Gesichter etwas zu rücksichtslos beleuchtete. Man hatte gut gegessen und getrunken.

Seit Bürgermeister Mandach mit imposanter Majestät und doch auch mit schmunzelndem Wohlwollen hier als Stadtvater wirkte, war in dem engeren Kreis, dem er gleich wie von selbst vorsaß, ein lebemännischer Ton aufgekommen. Wie lange der Bürgermeister sich in dem Amt behaupten würde, darauf war er selbst objektiv neugierig. Im allgemeinen war er nicht gut mit sich umgegangen. Er sagte es selbst, teils aus wirklicher Erkenntnis, teils aus einer gewissen grandiosen Art heraus, die sich lieber selbst scharf kritisiert, als daß sie die scharfe Kritik anderer abwartet.

Im Grunde genommen fiel es aber niemandem ein, ihn scharf zu beurteilen. Er trug ja seine eigene Haut zu Markte. Und selbst die alten Freunde, die wohl hier und da einige Schulden für ihn bezahlt hatten, rechneten ihm ihre Großmut nicht an, was doch gewiß bedeutsam war.

Erst hatte er ein paar Semester studiert, und von jener Zeit her stammte seine Freundschaft mit Amtsrichter Dr. Haldenwang. Sie waren beide Rhenanen und hatten in Freiburg unvergeßliche Zeiten zusammen durchbummelt. Dann, als Leutnant der Reserve, ging ihm bei einem köstlichen Manöver sein Soldatenherz auf. Es war das reinste Lustspielmanöver gewesen, im Stil des seligen Gustav von Moser. Herrliches Wetter, großartige Quartiere, bezaubernde Schloßfräuleins, Vorgesetzte von gutem Humor. Mandach kapitulierte. Aber als er ein paar Jahre die Einförmigkeit des Rekrutendrillens genossen und seine Finanzen derartig verworren wurden, daß seinen guten Freunden die Haare zu Berge standen – seine eigenen Kopfnerven waren nicht so reizbar –, nahm er seinen Abschied mit dem Titel eines Hauptmanns z.D. Wovon er dann lebte, bis ihm, dank der geradezu leidenschaftlichen Bemühungen seiner Freunde, die Bürgermeisterstelle in Wachow zufiel, war niemandem ganz klar. Aber es wagte auch niemand danach zu fragen, oder gar den Zweifel aufkommen zu lassen, als könne es mit der Lebensführung Mandachs jemals nicht gentlemanlike zugehen. Er trat immer und überall als vollkommener Ehrenmann auf, der er immer gewesen und der er immer bleiben würde, denn er haßte die schlechte Gesellschaft und jede Nachlässigkeit der Form, trotzdem sein Wesen zuweilen etwas laut und voll burschikoser Bonhomie schien.

Die Bürgermeisterwürde kleidete seiner großen, wohlbeleibten, blonden Bonvivanterscheinung vorzüglich. Mit seiner raschen Intelligenz hatte er die Geschäfte der kleinen Stadt bald übersehen und in die Hand genommen. Sofort war er der Mittelpunkt der Gesellschaft und der Favorit der öffentlichen Meinung. Sein Freund Haldenwang, der in Wachow als Amtsrichter wirkte, hatte ihn jubelnd aufgenommen, den Anbruch fröhlicherer, belebterer Zeiten im kleinen Nest vorausgesehen und mit seiner klugen Frau Antoinette besprochen, daß sie versuchen wollten, auf schickliche und unscheinbare Weise, Mandach ein bißchen in Ordnung zu halten.

Das Sektfrühstück an Mandachs Geburtstag war eine dieser Freundschaftstaten. Denn wenn Haldenwangs ihm nicht mit der Einladung zu solchem Fest zuvorgekommen wären, würde er selbst in seiner Junggesellenwohnung eine Feier veranstaltet haben, die mit seiner Bürgermeistergage in gar keinem Verhältnis gestanden hätte.

Nun beschien die unhöfliche Mittagssonne die Tafel in der Veranda und zeigte klar, daß es hier üppig zugegangen war. Es war schon abgedeckt, die Mokkatäßchen standen vor den Herrschaften, eine ganze Auswahl von Schnäpsen bildete, vermöge der Verschiedenartigkeit ihrer Flaschen und Etiketts, eine geradezu malerische Gruppe. Sie war in erreichbarer Nähe vor Mandach aufgebaut, und er verteilte und mischte die Gaben, nach den lautwerdenden Wünschen oder nach seiner umfassenden Erfahrung, teils den Geschmack der anderen erratend, teils ihn bevormundend.

Draußen stand ein Garten in blanken gelbroten Herbstfarben. Da war ein Birnbaum, dessen Blätter sahen aus, als seien sie von chromorangefarbenem Email, so glänzend, so fest, so flammend leuchteten sie im Mittagsschein. Da kokettierte eine schimmernde Pappel, eine italienische, mit großer, etwas sperriger Krone, die ließ ihre silberweißen Blätter nervös zittern und zeigte damit an, daß ein feines Lüftchen die Mittagswärme bewegte. Die Syringenbüsche heuchelten noch Sommergrün, aber es war so trügerisch wie der schöne Teint einer Schauspielerin. Kraftlos fiel ab und zu ein grünes Blatt zu Boden und gesellte sich zu all den gelben, roten, weißen Blattflecken, die schon den Gartenweg tigerten.

Über diesem bunten Garten, der eine tolle Farbensinfonie war, stand ein Himmel, der auf einem Bilde von jedem Kunstrezensenten schlecht kritisiert worden wäre. So sehr mit gleißender blauer Ölfarbe schien er spiegelglatt angestrichen.

Es war aber nicht die Farbenpracht und das warme Leuchten draußen, was sich auf den Gesichtern drinnen widerspiegelte: deren Gluten kamen von innen. Essen, Wein und Reden hatten bei allen gut eingeheizt. Mandach selbst sah man am wenigsten an. Er war eben zu erprobt und abgehärtet. Der Bezirkskommandeur, Major v. Lorenz, der seine gedrungene Erscheinung durch einen grauen Schnauzbart mit gewaltiger »Anleihe« martialischer zu machen gesucht hatte, wenn auch mit dem ihm unbewußt bleibenden Resultat der komischen Wirkung, hatte einen fast bläulichen Teint bekommen. Er ließ sich von Mandach zum fünften Male Hennessy, Angostura und Benediktiner in dem richtigen Verhältnis, das eben nur Mandach kannte, zusammengießen. Gerade begann er schon an dem Leib-, Mund- und Magenthema aller Z.-D.-Offiziere herumzusprechen, nämlich an den Fehlern, die die Heeresverwaltung macht.

Sein Adjutant, der weißblonde, magere, lange Oberleutnant Müller, der sich seit vier Jahren vorgenommen hatte, sich unter allen Umständen nächste Woche sehr reich zu verloben, machte Marya Keßler den Hof. Er wurde immer tief, wen er getrunken hatte. Nicht melancholisch, nicht gerührt, nicht vertraulich. Aber sehr tief – sehr, und kam sich dann ungeheuer bedeutend vor. Es hieß, er schaffe sich zuweilen ein Buch ernsterer Art an und lese in trüben Stunden auch darin.

Frau Marya Keßler war auch heiß und rot, und litt, weil sie wußte, es stand ihr nicht. Sie, als wohlhabende Witwe zwischen dreißig und vierzig, von der jedermann annahm, daß sie ja doch wieder heiraten werde, fühlte sich hier ein wenig als Königin des Festes. Sie wußte, daß Haldenwangs den Gedanken liebkosten, Bürgermeister Mandach und sie sollten sich finden. Ob Mandach es auch dachte, war ihr noch unklar. Sie dachte nicht daran, wenigstens vorerst noch nicht. Der »Oberst Ollendorf«, so nannte man den Major hinter seinem Rücken, war ihr erklärter Bewunderer und steuerte ziemlich offenkundig auf die Stunde los, wo er mit einem Heiratsantrag herausrücken könnte. Nun machte ihr auch gar noch Oberleutnant Müller den Hof und sprach ebenso bedeutend als verworren mit ihr über »Geschlecht und Charakter«, ein Buch, welches auch sie gelesen und ebensowenig verstanden hatte. Aber sie schwelgten nun beide in Bewunderung und kamen sich modern vor.

Frau Marya – sie war standesamtlich als Maria eingetragen – aber auf den Visitenkarten der Witwe machte sich die Marya doch sehr apart – Frau Marya war eine gutgewachsene, fast imposante Erscheinung. Ihr dunkles Haar aber glänzte von pomadisierter Glätte und Wohlfrisiertheit. Sie hatte braune, scharfe, schnelle Augen, die von einem heißen Temperament erzählten.

Außer diesen dreien war noch der Rechtsanwalt Dr. Berthold zugegen. Es war ein Mann mit einem sehr auffallenden Kopf. Schmal, wie es war, das Untergesicht ein wenig vorgeschoben, wobei ein dunkler kleiner Schnurrbart diesen Linienübergang gewissermaßen milderte, konnte man dies Haupt unmöglich schön nennen. Die sehr klugen, fast schwarzen Augen, das seltene Lächeln machten es aber bedeutend und vornehm. Er schien immer mehr den Wunsch zu haben, zu hören, als sich selbst mitzuteilen.

Und offenbar in der Vertieftheit des Beobachtens hatte er seine Zigarrenasche auf die Unterschale seiner Tasse getan. Frau Antoinette, die blonde, fröhliche Wirtin, die neben ihm saß, schob ihm den Aschenbecher hin.

Sie und ihr Mann galten als gemütliche und verständige Leute. Sie waren sich und anderen angenehm, was immerhin auf große Harmonie schließen ließ, zwischen ihren Ansprüchen und den Erfüllungen, die ihnen das Leben bot. Sie fuhren wohl ein wenig auf Gummirädern durchs Dasein und spürten keinerlei harte Stöße von Wegesunebenheiten, reich, gesund, glücklich verheiratet und mit zwei netten Kindern gesegnet wie sie waren. Aber sie betonten alle diese Vorzüge in keiner Weise, sondern zogen daraus nur eine behagliche, unabhängige Stimmung, die auch auf andere Menschen hinüberwirkte.

Diese sieben Tischgenossen besprachen nun beim Kaffee und den Schnäpsen, warum sie nicht acht waren, wie es hätte sein sollen.

»Dieser Hendrik Hagen ist launenhaft,« stellte Major v. Lorenz fest, »solche Leute sind immer launenhaft.«

»Finden Sie?« fragte der Rechtsanwalt Berthold.

»Na,« sagte Frau Antoinette, »ich meine, es ist doch ehrlich, daß er schreibt: verzeiht, wenn ich fernbleibe, ich bin nicht für Festfreude gestimmt, als daß er hier düster zwischen uns den mißvergnügten Nobile spielte.«

»Eins versteh ich nicht,« begann der Bürgermeister Mandach mit seiner enormen Kommandeurstimme, die mit ihren dunklen Baßschallwellen jeden Raum ausfüllte, wo sie ertönte, »ich versteh nicht, warum diese beiden Männer immer zusammen bewaffnet auf der Szene bleiben.«

»Notwendigkeit, mein alter Mandach«, sagte der Amtsrichter. »Keine Abgangsmöglichkeit, weder nach rechts noch nach links. Alle Kulissen verbaut.«

»Dann soll'n se lieber auf'nander losschlagen«, entschied der Bürgermeister als Mann der Tat und kippte einen Hennessy.

»Dja – wenn's man nich noch 'mal so kommt ...« meinte Amtsrichter Haldenwang achselzuckend, mit sehr bedenklichem Gesicht. »Das wäre doch gräßlich!« rief seine Frau, »Vater und Sohn!«

»Stiefvater und Stiefsohn!« verbesserte Frau Marya Keßler mit funkelnden Augen.

»Egal, sie haben doch ein und derselben Frau so nahegestanden, der eine als Gatte, der andere als Kind«, sagte Antoinette Haldenwang; »und sie haben sie lieb gehabt!«

»Vielleicht eben darum.«

»Is ja Unsinn, kommt alles davon, wenn man's Leben schief ansieht – so durch den Winkel eines blaugefärbten Glases. Aber Hendrik Hagen fiel schon im Korps auf. 'n Zug von Pathos im Wesen. Weißt' noch, Fritz. Na, dafür ist er ja Dichter.«

»Wie ich höre, hat die Frau auch sehr dumm gehandelt,« sprach Major v. Lorenz, »wie konnte sie überhaupt den Mann heiraten! Eine v. Marschner, geborene Freiin Barnikow! Und wird die Gattin eines Schriftstellers. Das mußte ja schiefe Zustände hervorbringen.«

»Aber, erlauben Sie, Herr Major, Hendrik Hagen ist ein sehr berühmter Mann«, sagte der Oberleutnant eifrig. Die Äußerungen seines Vorgesetzten fielen ihm oft auf die Nerven. Er schätzte den Major so wie: »alter Stil, ganz Kommiß«.

»Dumm?« fragte der Rechtsanwalt Berthold mit einem feinen, leisen Lächeln, »sie handelte sehr liebevoll. Aber die Handlungen eines liebenden Frauenherzens erweisen sich in ihren Konsequenzen ja oft als schwere Torheiten.«

»Ist denn ihr Testament wirklich so verrückt gewesen? Und warum hast du denn nicht einen vernünftigen Ton mit der überspannten Seele geredet?« fragte der Bürgermeister, der natürlich auch schon Duzbruder von Berthold war, obgleich er ihn erst hier in Wachow kennengelernt hatte. »Hab ich, Mandach, hab ich – obgleich ich die Bezeichnung überspannte Seele für Nadine Hagen ablehnen muß.«

»Ach, was war sie denn sonst!« sagte der Bürgermeister voll allgemeinen Mitleids mit denen, die das Leben nicht als Pläsier aufzufassen wissen.

»Sie war eine mütterliche Seele,« sagte Berthold ernst und fest, »eine von denen, die nicht lieben können, ohne zu dienen, zu opfern, zu erziehen. Die schon als Bräute wie Mütter sind und als Mütter immer glauben, die Brautstimmung könne, könne ja nicht unwiederbringlich hin sein. Und gerade nur so eine Frau konnte einen Hagen wählen.«

»Sie paßten gar nicht zusammen«, sprach Frau Marya Keßler halblaut, und es war ein Zug von Hohn in ihrem Gesicht.

»Wer möchte das entscheiden. Ich nicht. Und wer kann wissen, wie sich diese Ehe entwickelt hätte, wenn der Sohn des ersten Gatten nicht zwischen diesen beiden Menschen gestanden hätte.«

»Wenn man eine Witwe heiratet, muß man sich vorher klarmachen, daß man nicht auf die Vergangenheit eifersüchtig sein darf«, erklärte Frau Marya. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie selbst Witwe sei. So setzte sie denn hinzu: »Kinder, ein Kind aus erster Ehe kompliziert ja freilich alles.«

Und in der Pause von einer Sekunde, die ganz unwillkürlich sich in das Gespräch schob, als Zeichen, daß jeder etwas dachte, das er nicht sagen konnte, fühlte Marya Keßler triumphierend, daß sie ihrerseits keinem Mann mit einem »Anhängsel« lästig fallen würde.

»Na, und das Testament? Man hört so vielerlei ...«, sagte Mandach. »Es ist doch seinerzeit verlesen worden beim Gericht.«

»Ich war da!« sagte Marya Keßler mit starker Betonung.

»Na, natürlich!« sprach Mandach mit so großer Unbefangenheit, daß sie doch noch röter wurde, als sie schon war.

Nun wurde das Testament der verstorbenen Frau Nadine Hagen, verwitweten v. Marschner durchgesprochen. Alle wußten, daß diese Frau ihrem Sohn erster Ehe und ihrem zweiten Gatten das Gut »Rote Heide« vermacht hatte unter der ausdrücklichen Bestimmung, daß sie es nur verkaufen dürften, wenn ein gemeinsames Leben sich nach einigen Jahren als gänzlich unmöglich herausstellen sollte. Aber die Erblasserin habe die heiße Bitte daran geknüpft, daß man sich in Liebe suchen und finden möge, schon aus Pietät gegen sie. Und daß vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahre des Sohnes ein Verkauf von »Rote Heide« unter keinen Umständen stattfinden dürfe. Es schien, sie habe den Sohn bis an die äußerste Grenze seiner Jünglingszeit unter den Einfluß und die Bevormundung des geliebten Mannes stellen wollen.

Der einzige, der alle Einzelheiten hätte bestätigen oder richtigstellen können, war Dr. Berthold, und er schwieg nach seiner vorsichtigen Gewohnheit.

Frau Antoinette Haldenwang meinte, daß die Hagensche Ehe weniger unruhig verlaufen wäre, wenn er, der Mann, sich fester in der Hand gehabt hätte.

»Ja,« sagte Frau Marya Keßler und hob ihr Haupt voll Stolz sehr hoch, »die Männer! Sie haben immer Schuld. Kann man anders, als sie verachten!«

Da streckte der Bürgermeister seine weiße, fleischige, schöngepflegte Hand gegen sie aus, die gespreizten Finger mit der rednerischen Geste der ablehnendsten Zweifel hin und her bewegend. »Die Frauen, die die Männer verachten, haben gewöhnlich einen von ihnen zu sehr geliebt«, sagte er.

Alle lachten. Auch Frau Marya zwang sich dazu. Obschon ihr Gesicht nun glühte, was gewiß nicht vom Kaffee und der im Räume herrschenden, mit allerlei starken Düften erfüllten Hitze kam.

Mandachs Äußerung erschreckte ihren Hochmut. Niemand, niemand sollte ahnen, daß sie sich seit Jahren nach dem Manne sehnte, dessen Lebensverhältnisse hier besprochen wurden. Schon als ihr eigener Gatte noch lebte, wäre sie ja wohl bereit gewesen, ihn und alles zu verlassen, um Hendrik Hagen Trost und Glück zu geben. Nur daß der beides nie bei ihr gesucht hatte ...

Daß ihre Sehnsucht sämtlichen Leuten ihres Kreises aber so bekannt war, als habe sie im Wochenblatt gestanden, ahnte sie nicht.

Indes hatte Mandach in diesem Augenblicke kaum daran gedacht. Er war auf eines seiner Themata gelenkt worden durch das Gespräch. Er erging sich gern in Aphorismen über Frauen.

»Ja, überhaupt die Weiber!« fuhr er, zufrieden mit all seinen Erfahrungen, fort, »erst erwarten sie vom Manne alles mögliche, das nicht seiner Art entspricht, und wenn ihre Erwartungen dann enttäuscht werden, schreien sie Zeter über seine Herzensroheit.«

Wenn Mandach bei seiner teuer und fröhlich erkauften Lebensweisheit ankam, war es, um der Illusion minder erfahrener Leute willen, immer an der Zeit, die Tafel aufzuheben.

Und Haldenwang gab seiner Frau den entsprechenden kleinen Wink. Es war auch halb fünf geworden und man saß seit zwölf beisammen.

Mandach sprach der Hausfrau seinen Dank und seine Anerkennung aus. Er beglückwünschte den alten Freund zu einer Gattin, die solches Menü machen, solche Köchin halten und solche Stimmung herstellen könne.

Draußen auf der Straße sagte Frau Marya Keßler:

»All das Lob, was Sie da an Antoinette adressierten, war ja Selbstberäucherung: das Menü haben Sie gemacht, die Stimmung kam von Ihnen.«

»Bleibt immer noch die Köchin, meine gnädige Frau.«

»Es war die Kochfrau Böteführ,« erklärte Marya Keßler lachend, »die alles, was sie kann, bei mir gelernt hat, denn sie war vor ihrer Heirat mit dem Lohndiener Böteführ mehrere Jahre in meinen Diensten.«

»Erwecken Sie nicht in einem alten Junggesellen Vorstellungen, die ...«, er brach ab, lachte behaglich, rieb sich die weißen Hände und sah sich nach Berthold um, der mit dem Oberleutnant Müller nachkam. Der Major v. Lorenz bat schon um Erlaubnis, die gnädige Frau nach Haus bringen zu dürfen.

»Berthold,« sagte der Bürgermeister, »gehst du mit? Ein kleiner Dauerlauf sollte uns jetzt bekommen, mein' ich.«

Berthold nickte.

Frau Marya Keßler meinte, daß sie die Herren hätte einladen wollen, bei ihr den Tee zu nehmen. Major v. Lorenz machte einige uralte Redensarten über den angebrochenen Nachmittag.

Man stand auf dem grauen, trockenen Bürgerstieg im Sonnenschein des Septembernachmittags herum. Die jungen Linden an der Kante ließen gelbe Blätter herabflattern. In der Nähe spielten Kinder mit Murmeln.

Das törichte Herumdebattieren nahm ein Ende, als einer der Murmeln sich weit verirrte und flink und rund Frau Marya gerade zwischen die Füße rollte. Das Kind, dem das dunkelgrüne Kügelchen gehörte, kam ihm nachgelaufen. Da trat Frau Marya einen Schritt zurück und hob zugleich ihren Kleiderrock sehr hoch auf. Es kam eine Fülle seidener, blaßrosa Volants von Spitzenrüschen besäumt zum Vorschein.

Die Blicke des Majors verfingen sich in diesem eleganten Gewirr von zarten Farben und Gefältel, und zugleich tauchte eine vage Vorstellung von den Kosten eines solchen Kleidungsstückes in ihm auf.

Er sagte, daß er gehorsamst um die Tasse Tee bitte, auch wenn der Herr Bürgermeister und Doktor Berthold ablehnten. In Frau Maryas Augen leuchtete es zufrieden auf; aber sie redete auch sofort dem Oberleutnant Müller zu, diesen Tee mit zu trinken; ihr schien, der Mann mache Miene, sich dem Bürgermeister anzuschließen. Und ein Tete-a-tete mit dem Major wollte sie nicht – noch nicht.

So ging man in zwei Gruppen auseinander. Frau Marya mit ihren beiden Kavalieren zog in fürstlicher Haltung die Hauptstraße von Wachow entlang und tat, als wenn sie die neugierigen Gesichter hinter den Fenstern nicht sähe. Sie fühlte sich weit erhaben über all diese Kleinstädter, die nichts zu tun hatten, als die Taten und Mienen ihrer Mitbürger mit Worten nachzuleben.

Doktor Berthold aber und der Bürgermeister Mandach gingen zum Tor hinaus. Dies war nur eine sinnbildliche Handlung, denn es gab da, wo die Straßen Wachows sich ins freie Feld zu erstrecken begannen, keinerlei gemütlich drohende alte Mauertürme mehr, und die Neuzeit hatte mit ihrem Radiergummi alle romantisch engen Linien weggewischt. Auch der bereiteste Wille konnte keinen Stimmungszauber entdecken in diesem langweiligen Nebeneinander von zwei oder drei Straßen, die ihrerseits durch gerade oder schräg laufende Gäßchen verbunden waren. Das ganze nüchterne Gebreite von Häusern, Ställen, Speichern scharte sich in länglicher Form um den Mittelpunkt, den die Kirche hergab. Denn sie hatte ja immerhin ihren Turm. Und Türme, auch wenn sie an und für sich unbedeutende und häßliche Bauten sind, haben doch kraft ihrer größeren Höhe immer Chance: sie ragen über ihre Umgebung fort. Dies war auch das einzige Verdienst der Wachower Kirche.

Dieser gänzlich reizlose Ort, dem auch der aufopferungsvolle Verschönerungsverein auf keine Weise aufzuhelfen vermochte, lag aber in einer so anmutigen Gegend, als habe die Natur ein häßliches Wesen durch stattliche Mitgift doch begehrenswert machen wollen.

Zunächst säumten die Chaussee rechts und links noch die norddeutschen Häuschen ein, in denen Tagelöhner, Gemüsegärtner, kleine Handwerker, unbewußt ihrer reichen Lebensumstände, zwischen Blumen und Büschen hausten und es gesünder und schöner hatten, wie manche Beamtenfamilie in der Großstadt.

Mandach stellte Betrachtungen darüber an. Er ärgerte sich. Denn er sah seine eigene Waschfrau da sitzen. Und wie saß sie? Auf grünangestrichener Gartenbank, deren Sitz mit einem gepolsterten Kissen belegt war, im vollen Nachmittagssonnenschein, die Arme verschränkt, wohlig vor sich hindösend, im Rücken die rote Backsteinmauer des schmucken, eigenen, kleinen Hauses, vor sich ein Blumenbeet, darauf noch gelbe Ringelblumen und ein paar Stiefmütterchen um einen Rosenhochstamm blühten. In der anderen Bankecke saß ihr Mann, hatte die Pfeife im Mund, rekelte sich und las in einem bekannten sozialdemokratischen Hetzblatte. Ja, und dies war es, was Mandach empörte. Er dachte an die Fabrikarbeiter in Berlin oder Hamburg, fünf Treppen hoch auf dem Hof. Und er sagte: »Wenn man das hat und so sitzt, wie die Frau und der Mann, abonniert man nicht auf so 'n Blatt.« Er beschloß, dieser Frau, der er von nun an eine blöde und undankbare Gemütsart zusprechen mußte, seine Wäsche zu entziehen.

Nachdem auch diese Häuschen aufhörten, wurde es wirklich ein hübscher Weg. Rechts lagerte sich eine Wiesenlandschaft hin, von Buschgruppen und einzelnen alten Baumriesen sehr dekorativ unterbrochen. Links trat bald der Wald an die Chaussee, ein voller, tiefer, majestätischer Wald. Er gehörte schon zu »Rote Heide«. Erst stand er wie eine unübersehbare Armee hoher, dunkler Tannen da, und der Blick, der sich hineinbohrte in die Baumscharen, fand sich bald gehemmt wie durch eine Mauer von rotbraunem Holz. So dicht verschränkten sich die Stämme vor- und hintereinander unter dem schwermütigen, düstern Grün der Nadelwipfel. Dann kam ein Schlag Buchen und Eichen. Das protzte heute in goldrotem Farbengefunkel, und die mächtigen Äste breiteten sich, als seien sie sich ihrer Schönheit und ihres Wertes bewußt. Der Herbstwald prahlte und lachte und war wichtig und kreischend bunt. Auch auf dem Samtteppich der noch grünen Wiesen an der anderen Seite standen die Büsche als goldene Prunkstücke und die Eichen wie Schmuckkunstwerke aus rötlicher Bronze.

»Dies ist beinah eine Modellandschaft: der Herbst wie er sein soll«, sagte Berthold; »wie das wohltut, wenn einmal die Natur so in vollen Akkorden ihr Stückchen aufspielt.«

»Und ist doch bloß ein Herbstlied.«

»Warum den melancholischen Tonfall?«

»Ach, Berthold. Das fragst du noch? Ich sag dir, die herbste, verschlammteste Frühlingslandschaft ist den meisten Menschen lieber. Warum? Weil Verheißung drin ist. Morgen könnte ja ein Veilchen blühen. Der bloße Gedanke, daß es könnte, hat was so Berauschendes für die Seelen, daß sie sich suggerieren, der Frühling sei schön. Und ist doch bloß ein dürftiges, klammes, unreifes Pläsier«, sagte Mandach.

»Das sagst du so beziehungsvoll«, meinte Berthold mit einer Frage im Ton.

»Was heißt beziehungsvoll! Es ist die Erkenntnis eines Mannes, der alt wird.«

»Nu nu – alt?!«

»Dja, was willst du denn: ich werd' fünfundvierzig.«

Das hatte Berthold nicht gedacht. »Haldenwang und Hagen sind doch deine Altersgenossen?« fragte er.

»Hendrik Hagen – ja. Haldenwang ist wohl zwei Jahre jünger.«

»Was mich betrifft: ich ziehe den Herbst vor.«

»Dja. Berthold, du bist auch 'n feiner, kultivierter Kerl. Aber so der brutale Durchschnitt ... na und ehrlich: legst du nicht selbst mehr Gewicht drauf, wenn ein hübsches Mädel sich nach dir umguckt, als wenn eine schöne, kluge, aber schon herbstliche Frau dir das Herz schenkt? Und die Weiberchen? Ist ihnen ein hübscher Laffe, der elegant tanzt, nicht allemal begehrenswerter als unsereiner?«

»Das ist ja nun 'n Tragödienstoff, an den du da rührst«, sagte Berthold.

»Um Gotteswillen, ja – also rücken wir ab von dem Stoff. Jedes trübselige Gespräch, ja, ein bloßer pessimistischer Gedanke ist nach einem guten und ausdauernden Frühstück unbekömmlich.«

»Wollen wir einbiegen?« fragte Berthold und zeigte auf den Weg, der gerade zur Linken in die Prunkhallen des gelbrot überdachten und mit Goldgesprenkel durchwirkten Waldes hineinführte.

Mandach nickte.

»Beinah hätt ich Lust, nach ›Rote Heide‹ zu gehen; was meinst du?« »Finde, wir können nicht gut, nachdem Hagen abgesagt hat, weil er nicht gestimmt sei ...«

»Das scheint uns gerade zu verpflichten, 'mal nach ihm zu sehen.«

»Ich weiß nicht recht.«

Vorerst in gutem Gleichklang des Schrittes wanderten sie dem Weg nach, den Herbstlaub besäte. Aber es war noch nicht trocken und raschelte noch nicht um die Füße. Als weicher Teppich nahm es vielmehr jedem Tritte den dumpfen Widerhall.

Und in der festlichen Stille des Waldes klangen die redenden Männerstimmen sonor.

»Erzähl mir doch, was du ohne Indiskretion kannst, von den Schicksalen Hagens. Das alles war so lang vor meiner Zeit und jedermann nimmt es, als sei's frisch, sei die Begebenheit von heute.«

»Ist es auch. Du weißt doch: es gibt Lebensläufe, in die das Schicksal so 'was hineinwebt, wie 'n fortlaufenden schwarzen Faden.«

»Liegt meist nicht am Schicksal, liegt am, resp. im Menschen«, stellte Mandach fest.

»Kann wohl sein. Ich bin nicht indiskret, wenn ich erzähle, was ich weiß. Wenn Hagen selbst sich noch nicht zu dir aussprach, hat es nur an der zufälligen Gelegenheit gefehlt.«

»Wie war die Frau? Im Intimen mein' ich.«

»Ich sagt' es schon: eine mütterliche Seele. Und zu wahr und zu eindringlich in der Liebe. Keine rechte Gefühlsökonomie,« sagte Berthold, »und solche Frauen haben es schwer.«

»Sie machen es aber auch denen schwer, die sie lieben, das kannst du glauben«, versicherte der Bürgermeister eifrig; »aber nu 'mal los. Du kannst ja erzählen. Reden und Vortragen ist dein Metier. Privatim übst du's so rar, daß ich nun 'was Ungewöhnliches erwarte.«

Berthold lächelte.

»Erwarte nichts. Es gilt hier weder eine Unschuld vor dem Richter zu beweisen, noch die Psychologie eines Totschlags klarzulegen. Epik liegt mir nicht. Du kanntest Nadine Hagen?«

»Mensch – ich bin auf der Hochzeit gewesen! Da war diese Nadine ja schon dreiunddreißig und ihr Bengel ja wohl fünfzehn. Schön war die Frau! Donnerwetter. Man konnte ihn wohl verstehen. Und hingegeben war sie an ihn! Das sah man! Warum hätt' sie's auch sonst tun sollen. Der Junge gefiel mir nicht übel. Ein hübscher Bursche von fünfzehn damals. Man merkte auch nichts von Konflikten den Tag. Das will aber nichts sagen. An so 'n Tag ist Hochflut. Auch von Vorsätzen und Glauben an allerhand Möglichkeiten. Gott, wenn ich denke, das ist nun zehn Jahre her. Und tot und hin, schon seit vier Jahren ... War sie denn so zart? Das sah man ihr nicht an auf der Hochzeit.«

»Zart? Ich weiß nicht. Seelisch aufgerieben hatte sie sich. Alle Kräfte verbraucht in den täglichen Leiden eines überfeinen Herzens. Da ist dann kein Widerstand, wenn 'was Körperliches kommt. Es war ja bloß 'ne Lungenentzündung. Und sie wendete sich schon zum Guten. Aber für eine Rekonvaleszenz und ein echtes starkes Aufblühen reichte Mut und Wille nicht aus. Kann sein, daß sie manchmal gedacht hat, es sei am besten, sie gehe. Tod ist 'was Starkes. Er überredet oft besser als das Leben. Ich weiß, daß Nadine dachte: Die Trauer um mich wird die vereinen, die sich aus Eifersucht auf mich nicht finden konnten. Na und in dieser fixen Idee, die ja auch in ihrem Testament zum Ausdruck kam, ist sie dann so sachte hingelöscht.«

Der Bürgermeister schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Frauen lieben immer zuviel oder zuwenig,« sagte er, »das ist das ganze Geheimnis aller Eheleiden und aller Herzensgeschichten mit bösem Ausgang.«

»Du fängst an zu laufen«, mahnte Berthold. Denn der Bürgermeister in der temperamentvollen Energie seines Wesens vergaß sich immer beim Spazierengehen und verfiel rasch in ein immer schnelleres Tempo.

Und nun erzählte Berthold, unwillkürlich sehr langsam gehend und oft stehen bleibend.

»Ich kam, einige Wochen nachdem Hagens geheiratet hatten, als Rechtsanwalt hierher. Ich war jung, Anfänger und suchte, wie man in solcher Lebensepoche tut, vor allen Dingen gesellschaftliche Beziehungen anzuknüpfen. Ich machte auf den umliegenden Gütern Besuche und natürlich auch auf Rote Heide. Man sah dort in den ersten beiden Jahren viel Gäste bei sich. Auch ich wurde sehr freundlich aufgenommen. Beiden Gatten muß ich gutes Zutrauen eingeflößt haben, denn bei der ersten Gelegenheit wurde ich ihr Rechtsbeistand. Es handelte sich damals um einen Prozeß mit der Stadt Wachow und um die Ablösung einer alten Gerechtsame. Die Sache ging gut für Hagens aus, und vielleicht um dieses glücklichen Debüts willen, vielleicht weil wir uns mehr und mehr in Freundlichkeit fanden, bin ich ihr Sachwalter geblieben bis auf den heutigen Tag.«

»Dann versteh' ich aber nicht, wenn du so standest, daß du der Frau nicht sagtest, ihr Testament sei Unsinn«, sagte der Bürgermeister.

»Nimmt man einer Sterbenden die Hoffnung, die ihr den Tod süß macht?« fragte Berthold ernst. »Kinder, Kinder, was für Sachen!« klagte der andere. Es gab eben zuviel Torheit in der Welt und es war ein unnötiges Bemühen, sie vernünftig machen zu wollen. Er für seinen Teil sah bloß noch zu. Das kostete schließlich noch am wenigsten Nervenkraft.

»Den ersten beiden Jahren, die für oberflächliche Beobachter wohl ausgesehen haben können, als sei ein Glanz von Glück auf ihnen gelegen, folgten dann stille Zeiten. Es hieß, Hendrik Hagen schaffe nach längerer Pause wieder an einem größeren Werk und bedürfe der Sammlung. Das Ehepaar reiste auch. Dann reiste er allein, blieb aber nie lange fort. Oder sie ging in ein Bad, vollendete aber nie die Kur. Ich sah es wohl: sie flohen sich, weil die Spannung zwischen ihnen unerträglich war. Aber fern voneinander ward ihnen die Sehnsucht noch unerträglicher. Die Frau zumal wollte offenbar lieber in seiner Nähe leiden als fern von ihm in öder Ruhe hinleben.«

»Frauenart!« schaltete Mandach bestätigend ein. »Und nun endlich kam jene schwere Erkrankung. Ich wurde gerufen, weil Nadine Hagen ihr Testament machen wolle. Es war ein scharfer Winternachmittag als ich mit dem Notar Zufuß hinausfuhr. Um den Schlitten pfiff der Nordost und das nadelspitze Schneetreiben stach uns die Gesichtshaut, bis sie stramm war. Unsere Pelzmützen waren wie mit Salz bestreut. Es sah aus, als ob sogar der Wald fröre, so kahl standen die Stämme hier an diesem selben Weg. Als wir in Rote Heide ankamen, hieß es warten, denn die Frau habe gerade einen großen Schwächeanfall. Man setzte den Notar Zufuß und mich vor einen mit gastlicher Üppigkeit hergerichteten Vespertisch. Zufuß, der hier nur sein Geschäft hatte, genoß die Erwärmung mit allen Nuancen und fand Behagen an Ofen, Tee, Kognak, Gänseleberbrötchen. Gott, jede Kleinigkeit von dem Nachmittag ist mir unvergeßlich! Ich hatte aber zuviel Unruhe und Teilnahme in mir und lief auf und ab in dem Eßzimmer, von dessen braungetäfeltem Plafond die Lampe herabhing und so friedlich auf den schmausenden Zufuß herabschien, als schliche im Haus keine Tragik herum.«

»Weiter«, befahl der Bürgermeister, denn die Pause, die Berthold jetzt machte, war ihm zu lang. Er war immer für das unaufhaltsame Vorwärtsschreiten der Ereignisse, im Leben wie in der Erzählung.

»Hagen selbst ersparte mir das tote Warten. Er ließ mich bitten hinaufzukommen. Ich fand ihn in einem Raum, den ich sie manchmal »unser Zimmer« hatte nennen hören, womit es von ihrem und seinem und den Gesellschaftsräumen zärtlich unterschieden werden sollte. Er lag neben ihrem Schlafzimmer, und es mußte den Eindruck machen, als ob hier zwei sehr erfahrene, sehr ästhetische, sehr verliebte Menschen alles herbeigetragen hatten, ihrem innigen Beisammensein einen rechten Rahmen zu geben. Es war so ganz, was man ein »Nest« nennt, ein Dichter und eine liebende Frau hatten es geschaffen, Kunst und Luxus ihnen dazu die Mittel gegeben. Und schließlich mag dieser Raum wohl mehr Tränen, beschwörende Gespräche und dumpfes Hinbrüten gesehen haben, als lachende Küsse. An jenem Abend, in der raffiniert abgestimmten Beleuchtung, die den Raum warm füllte, berührte es mich nun sehr eigen, Hagen gerade da zu finden. Du weißt, er ist eine ungewöhnliche Erscheinung, in Wahrheit auch für Männergeschmack ein stattlicher Mann. Und all diese gleißenden, goldgestickten Stoffe, diese breiten Ruhelager, der ganze phantastische, reiche Prunk des Raumes hatte mir plötzlich etwas Krankes. Hagen drückte mir die Hand. Es war etwas hilflos Verlegenes an ihm. Wie bei einem Menschen, der seiner selbst nicht sicher ist, ob er die von ihm erwarteten Mienen zeigt, ob sie genau so, wie er sie zeigen kann, schicklich sind. Ich habe das oft bei den Familienmitgliedern von Sterbenden beobachtet. Es ist gerade, als ob wir nicht bei unserer Erziehung darauf hingewiesen sind: so und so habt ihr aufzutreten, wenn ihr dem Tod begegnet.«

»Nicht allgemein werden«, ermahnte Mandach, der schon wieder anfing, im Eifer des Zuhörens und Nachempfindens, in ein rasches Marschtempo zu fallen.

Berthold packte ihn einfach am Arm, um ihn zu zügeln, und fuhr fort:

»Hagen sagte mir, seine Frau habe eine Ohnmacht gehabt, der Sanitätsrat Heimgarten sei noch drinnen. Aber wir wollten nun hineingehen, sehen wie es stehe, und ich möge anordnen, was am Bett der Frau herzurichten sei, Tische, Lichter und so weiter, um nach Vorschrift das Diktat ihres Willens entgegenzunehmen. Er sprach es auch aus, daß er diesen Akt für unnötig halte und hoffe, sie werde leben. Daß er überhaupt dagegen sei, die Testamentsidee als eine quälende empfinde und von mir erwarte, ich werde sie der Frau ausreden. Ich sagte ihm, daß ich dazu kein Recht habe; denn wenn er so denke, habe er verhindern müssen, daß ich überhaupt berufen worden sei. Es habe sich nicht verhindern lassen, ihr Wunsch danach sei zu erregt gewesen, Heimgarten habe befohlen, zu willfahren. Dies alles waren Reden, wie sie in solchen Lagen oft gesagt werden. In den Angehörigen mischt sich meist so wunderlich in den Schmerz und die hohe nervöse Aufregung die Spannung auf das, was der Sterbende denn eigentlich als letzten Willen kundgeben wird.«

»Wieder 'ne Sentenz«, bemerkte der Bürgermeister kritisch. Denn da er selbst gern welche sprach, liebte er es von anderen nicht. Berthold lächelte in sich hinein. »Also wir traten in das Krankenzimmer. Es war nicht sehr dunkel. Die Leidende liebte das Licht. Sie lag steil gestreckt und lang auf ihren weißen Kissen. Das dunkle Haar bauschte sich um ihre schmale, weiße Stirn. Die dünnen Hände waren auf den blauen Seidendecken wie zwei Gipsabgüsse, so weiß und schwer und starr. Sie sah alt aus, scharf waren die Züge geworden, und der Mann an ihrem Bett, der sich über sie beugte, schien dagegen die stolze, blühende Kraft. Irgendwo im Hintergrund flüsterte der alte Heimgarten mit einer Gestalt, die, mager und knochig, mit einem schwarzen Gewand, einer weißen Schürze und einer weißen Haube ausstaffiert war und feierlich wirkte, wie Stille und Dulden und Sterben. Der schöne, blühende Mann hing mit seiner ganzen Seele an der hinschwindenden Frau. Das sah man. Ich sah den zärtlichen, angstvollen, beschwörenden Blick, den er auf diese geschlossenen Lider heftete. Es war, als wolle er all sein gesundes Leben in sie hinüberwirken lassen. Er liebte sie unaussprechlich. Ich verstand nun seine unfrei verlegene Haltung und seine etwas konventionellen Reden von vorhin. Er fürchtete sich davor, unmännliche Angst zu zeigen, zu jammern – das machte ihn steif und unnatürlich. Die Gewalt seines Blickes traf ihre hindämmernde Seele. Die Lider zuckten. Sie hoben sich. Das ganze Wesen des Mannes war heiße Liebeswerbung. Er lechzte nach dem Blick, dem Wort, das ihm den Inhalt ihrer Gedanken, die doch die Gedanken einer Sterbenden waren, offenbare. Ihre Lippen bewegten sich. Und sie brachten ein Wort hervor – einen Namen ... sie flüsterten ›Andree‹ und das mühsame Auge ging suchend umher.«

Berthold machte wieder eine Pause, von der beklemmenden Erinnerung bedrängt. Und auch sein Wandergefährte schwieg. Sie standen beide still. »In diesen Augenblick, in diesen furchtbaren Augenblick drängte sich noch einmal die ganze Tragik ihres Lebens zusammen. Dem Manne flackerte ein rasches, heißes Rot über das Gesicht. Er, der zärtlich, wartend, lauschend über die Schwache geneigt gestanden, erhob sich mit schroffer Gebärde. Jede Miene an ihm, jede Linie war Bitterkeit. Stell' dir das vor: seine ganze Seele hatte in heißer Begierde gezittert, noch einen, vielleicht den letzten Liebesblick, das letzte süße Wort zu empfangen. Und ihm schlägt ein anderer Name ins Gesicht – der des Sohnes. – Vielleicht der des Sohnes! Wenn es nicht der des ersten Gatten war, ... denn der junge Andree ist nach seinem Vater genannt ...«

Ein helles Pferdewiehern klang noch von fern, aber doch deutlich erkennbar auf und rollte in runden, glucksenden Schallwellen zwischen den Stämmen hin.

Der Bürgermeister horchte flüchtig auf.

»Und dann?« fragte er, »dann ...«

»Mir kam es so vor, als habe die Frau das Wort, das ihr Mund vielleicht unbewußt sprach, erst recht begriffen, als ihr eigenes Ohr es vernahm. Über das kalkweiße Gesicht huschte eine beängstigende Röte. Die Lider öffneten sich weit. Der Blick war ganz Angst. Und ihrer Angst trotzte die Schwache noch ein zärtliches Lächeln ab und sie sagte ›mein Hendrik‹. Es war furchtbar anzusehen: zu kraftlos schon zum Leben, fand sie doch noch so viel Kraft, ihren Herzenskampf fortzufechten – und in den Waffen richtete sie sich auch noch einmal auf, gab ihren letzten Willen kund und so, mit ihnen ganz und gar umpanzert, ist sie auch hingegangen. Ich glaube, ihr letztes klares Denken war, Mann und Sohn mit der sorgsam abgemessenen Gebärde gleicher Liebe die Hände hinzustrecken.«

»Hör' mal, da kommt was,« sagte der Bürgermeister, denn zum zweitenmal und näher klang das Prusten eines Pferdes, »darf man denn im Rote Heider Wald spazieren fahren?«

»Eigentlich nicht. Vielleicht ist er's selbst«, meinte Berthold.

Voraus machte der Weg eine Biegung. Gleich einem Tunnel von runder Wölbung zwischen den grauen Stämmen und den dichten Mauern des goldrot belaubten Unterholzes bohrte er sich in den Wald und wandte sich nach rechts. Und dort erschienen nun zwei nickende braune Pferdeköpfe und Pferdebeine mit schweren dunklen Hufen daran, die mit widerwilliger Langsamkeit Schritt um Schritt den Boden stampften.

Die beiden Männer traten zurück, denn der Weg war gerade wie abgemessen für die Breite eines Wagens. Sie nahmen zwischen zwei Hainbuchenbüschen Aufstellung, deren Gezweig ihnen über das Gesicht wischte und an den Kopf stieß, was der Bürgermeister aber nicht ohne Gegenwehr hinnahm. Darüber sah er nicht gleich, daß dem Wagen ein Reiter folgte, daß der Wagen ein veritabler, wenn auch etwas schwerfälliger Landauer war und daß zwei Damen darin saßen.

Berthold erkannte gleich den Wagen sowohl als auch die ältere Dame dann. Das junge Geschöpf neben dieser wußte er aber nicht hinzubringen.

»Es ist die alte Frau von Benrath«, sagte er leise – denn er dachte im Moment nicht daran, daß der Bürgermeister sie schon kannte.

Daß der Reiter Hendrik Hagen war, brauchte er seinem Freunde Mandach natürlich nicht zu erzählen.

Der Bürgermeister war plötzlich ganz Auge. Er sah nicht die alte Dame, die, sehr groß und sehr mager, wichtig und vornehm in ihrer Wagenecke saß. Sie hatte ein merkwürdig kleines Köpfchen auf langem Hals, der unterm Kinn von welken Falten kraus war wie der einer Puterhenne. Aus dem nervösen kleinen Gesicht, dessen zarte Züge von allerfeinsten Runzeln wie plissiert waren, plierten halbgeschlossene Augen; man konnte nicht gleich erkennen, ob das Kurzsichtigkeit war oder komische Vornehmheit oder vielleicht eine Kopfwehangewohnheit. Die alte Dame trug einen Kapotthut. Es war ein kleiner, schwankender Aufbau von Reiherstutzen, Pailletten an einem Drahtbüschel und saß als humoristische Krönung auf der langen, dünnen Gestalt mit dem kleinen Kopf.

Nein, das alles sah der Bürgermeister nicht. Er gönnte auch Hendrik Hagen keinen Blick. Der saß in seiner imposanten Wohlgestalt, die immer noch fast jugendliche Schlankheit bewahrte, sehr gut zu Pferde. Und das knappe graue Beinkleid, der gutsitzende Rock verbargen nichts von den vorteilhaften Linien seiner Erscheinung. Hendrik Hagen war dunkelblond gewesen, in seinen Spitzbart und in sein Haar hatten sich aber schon so viel Silberfäden gemischt, daß ein äußerst kleidsames Grau entstanden war, dunkelsilbrigschimmernd wie Chinchillafell. Das lebhafte Auge in dem männlich regelmäßigen Gesicht beschäftigte gleich jeden, der seinem Blick begegnete. Es verriet ein immer bewegliches Innenleben.

Nein, der Bürgermeister sah sich keine Männer an; fremde Männer interessierten ihn nicht, und bei denen, die er kannte, war es ihm egal, ob sie sich gerade vorteilhaft oder weniger günstig präsentierten.

Er hatte aber einen sicheren und raschen Blick für Frauen – in aller Objektivität versteht sich, denn er konkurrierte nicht mehr, nie und unter keinen Umständen.

Und da saß neben der steilen alten Dame ein prachtvolles Wesen. Mandach taxierte diese junge Dame auf achtzehn Jahre. Konnte auch zwanzig sein. »Sie hat den feinen, weißen, schimmernden Hautton, wie man ihn wohl bei den Amerikanerinnen findet und der von Gesundheit und vollkommener Körperpflege viel verrät«, dachte er.

Die rostbraunen Haare fielen auf. Alles fiel auf. Die blauen Augen unter den dunklen, schön gebogenen Brauen, die gerade Nase, der rote, wunderschön gezeichnete Mund.

»Eine Schönheit, eine veritable Schönheit,« dachte der Bürgermeister, »wie kommt der Glanz in unsere Hütten, respektive auf unsere Kuhweiden?«

Nun war der Wagen gerade vor ihnen. Berthold und der Bürgermeister grüßten die ihnen wohlbekannte alte Dame. Und jetzt sah auch Hagen die Freunde.

Warum er errötete – er, der fünfundvierzigjährige Hendrik Hagen, ein Mann, der gewohnt war, der Öffentlichkeit sein Innerstes preiszugeben und der demnach gegen alles Erröten abgehärtet sein sollte –, das mochten die Götter wissen.

Bürgermeister Mandach dachte aber immerhin:

»Ei – ei.«

Hendrik Hagen hielt sein Pferd an, das die langsame Gangart hinter dem Wagen schon voll nervösen Unwillens ertragen und nun rebellierte und der festen Faust seines Reiters zu schaffen machte.

»Auf dem Wege zu mir?« fragte er.

»Auf deinem Wege, aber nicht auf dem Wege zu dir«, scherzte der Bürgermeister; »wir verlaufen die Freuden meines Geburtstags.«

»Gratuliere noch! Aber geht doch nach Rote Heide. Ich bitte Sie, Herr Doktor. Feiern wir bei mir ein wenig nach. Ich hole euch noch bequem wieder ein. Ich geleite nur Frau v. Benrath und das gnädige Fräulein bis an die Grenze von Iserndorf und galoppiere zurück. Abgemacht?«

»Abgemacht!« sagte der Bürgermeister, »grad' spür' ich den Nachdurst. Es war alles vorzüglich bei Fritz. Schade, daß du fehltest – aber davon nachher ...«

Hagen nickte und grüßte und ritt dem Wagen nach, der indes langsam und ein wenig wiegend weitergerollt war. Man sah über die Lederfalten des herabgeschlagenen Wagendachs von hinten noch das kleine getürmte Kapotthütchen mit den zitternden, ragenden Zierraten und tiefer neben ihm einen großen, kühnen, dunkelblauen Hut, den blasse Blumen unter und über seinem breiten, vielfach gebogenen Rand zierten.

Nun traten die Formen des Reiters und seines Tieres zwischen das Bild und die Blicke der nachschauenden Männer.

»Was sagst du?« fragte der Bürgermeister den Advokaten.

»Nichts«, antwortete Doktor Berthold gleichmütig.

»Du bist ein Mensch ohne Vorgefühle«, sagte der Bürgermeister unwillig.

»Was soll ich wohl für Vorgefühle haben, wenn ich sehe, daß Hendrik Hagen seine Gutsnachbarin eine Wegsstrecke geleitet.«

»Er errötete!« sagte Mandach stark.

»So–o.« Berthold zuckte nur die Achseln.

Mandach nahm ihn am Arm.

»Komm,« ermahnte er, »laß uns ausschreiten. Sonst holt Hagen uns noch ein, ehe du mir die Geschichte fertig erzählt hast. Ich sag' dir, sie geht mir an die Nieren. Donnerwetter, was müssen sich die Menschen gequält haben!«

»Die Geschichte war ja fertig erzählt«, meinte Berthold. »Du hast nichts von dem Sohne gesagt. Wo war der Sohn denn?«

»Er hielt sich zu jener Zeit an einer landwirtschaftlichen Hochschule auf – weiß nicht mehr, Berlin, Hannover oder wo's noch war. Man hatte ihn berufen, weil das Ende seiner Mutter bevorzustehen schien. Er war noch nicht da, er wurde stündlich erwartet.«

»Na, aber dann ... was war denn natürlicher, als daß die erwachende Frau nach ihm rief. Eine Mutter! Gott, wenn ich an meine alte Mutter denke! Ich war auch ihr letzter Gedanke ...« Und dem starken, großen Manne klang ein bißchen Weichheit durch die enorme Stimme.

»Hast du schon mal gesehen, daß einem Eifersüchtigen etwas natürlich erscheint, was nur von fern in das Gebiet seiner fixen Idee hineinspielt?« fragte Berthold. »Und ich sagte dir ja: er bildete sich ein, die Frau habe vielleicht an ihren ersten Gatten gedacht. Er stöhnte das nachher heraus vor mir. Es waren ja nicht die Stunden, in denen er vor mir noch hätte 'was verstecken mögen. Das war's ja überhaupt: er hing der Vorstellung nach, daß die Frau in dem Sohn immer noch den ersten Mann mitliebe. Der junge Andree gleicht seinem Vater in ungewöhnlicher Weise. Er ist einfach eine Wiederholung. Äußerlich. Ich habe Herrn v. Marschner nicht gekannt. Das Äußerliche bezeugen aber die Bilder.«

Nun erlosch der Goldglanz, der durch den prahlerisch bunten Wald hingespielt hatte, und auf einmal war die ganze vergnügliche Farbenorgie nichts mehr wie ein welker Totenschmuck auf dem Sarge des Sommers. Die feierliche Glücksstille, in die die Schönheit getaucht gewesen war, verwandelte sich zu einem ernsten, fast drohenden Schweigen.

In der Tiefe, zwischen den Stämmen und dem braunfahlen Buschwerk entstanden seltsame lila Nebel, fein und dünn, als Vorboten der langen, kraftlosen Dämmerung des Nordens.

»Die Tage und die Menschen bei uns werden langsam alt«, sagte Berthold gedankenvoll.

»Soll man das grausam oder milde finden?« fragte der Bürgermeister und beantwortete es gleich selbst.

»Kommt wohl auf Umstände an. Wenn einem noch ein bißchen Nachglanz zuteil wird, mag man's milde empfinden. Wenn nicht, fühlt man wohl zu sehr mit frischem Herzen den Tod der Jugend. Weiß der Deubel, Doktor – seit heut früh, seit mir Fräulein Ponürlich den Kuchen neben die bekränzte Tasse gesetzt hat, komme ich aus den Betrachtungen nich 'raus. Pharus am Meere des Lebens.«

Seine Haushälterin, die auch alle gröberen Arbeiten des kleinen Junggesellenheims besorgte und ganz Hingebung für den Bürgermeister war, hieß eigentlich ungemein kleinbürgerlich Minchen Käselau. Aber sie nannte alles, was zierlich, sauber, niedlich war, mit süßer Betonung »ponürlich« und hatte deshalb schon in der ersten Woche ihrer Wirksamkeit den Beinamen von ihrem Herrn bekommen, den sie mit seligem Lächeln, gleich einer zärtlichen Schmeichelei, anhörte.

»Man hat so seine Tage«, gab der Doktor zu.

»Ich ende noch damit, daß ich Aphorismen herausgebe.«

»Na, es würden schon lesbare und nachdenkbare dabei sein.«

»Sind auch teuer erkauft... Aber da hätten wir ja das Château ...«

Im Abendglanz breitete sich nun, da sie aus dem Walde traten, eine ruhevolle und stolze Landschaft vor ihnen aus.

Es war Flachland, und der weite, weite Himmel, der sich über dieses hinspannte, schimmerte in verblassenden Farben, die noch einen letzten Ton von Blau bewahrten, aber wie mit einem metallischen, zarten Grau durchwebt waren – eine unbestimmbare Färbung von schwebender Leichtigkeit. Und hart über dem Horizont, in einer Lücke zwischen Parkbäumen, schwamm ein ungeheures Etwas, formlos, fließend und doch noch erkennbar als das gewaltige Rund der Sonne, das gerade auseinandergehen zu wollen schien. Die Bäume, die diesen Blick auf den schwimmenden Glutball freigaben, rahmten das Stück Himmel mit schwarzen Silhouetten ein. So stand, wie mit einer Schere ausgeschnitten, das Bild des Parkes da. Und wo seine bizarre Zackenlinie, die zu hohen alten Gipfeln stieg und zu niederen Gebüschstreifen sank, wo sie abschloß, erhob sich ein Bau von guten, ruhigen Formen.

Er paßte in das Flachland. Es war ein Herrenhaus mit Giebeln und Erkern, weiß, mit schimmernd rotbraunem Ziegeldach, warm und zutraulich.

Dieser Park, der als schwarzer Ausschnitt nun vor dem Horizont stand, und dieses friedlich vornehme Haus sahen mit ihrer Front gen Osten. Und da schob sich das Meer hinein in die Küste, in einer breiten, sanft geschwungenen, leisen Bucht. Nur ein von kleinen Dünen durchbuckelter Strand, nur ein Streifen Gelände, mit karger Rasennarbe fast bedeckt, trennte die Einfriedigung des Parks und des vor dem Haus sich hinziehenden Gartens von der blauschwarzen Flut.

Über sie hinweg schweifte der Blick ins Grenzenlose.

»Ja,« sagte der Bürgermeister neidlos aber doch ein wenig melancholisch, »wer solchen Besitz sein eigen nennt...«

»Und wer ihn mit jemandem teilen muß, den er vielleicht haßt...« setzte Berthold hinzu.

»Haß ... veritabler Haß zwischen ihnen?« »Ich weiß nicht. Es ist wohl sehr verworren. Vielleicht wissen sie es selbst nicht.«

Sie hörten den dumpfen Ton herangaloppierender Hufschläge aus der Erde widerhallen und wandten sich voll Erwartung.

Da war auch schon Hendrik Hagen. Er sprang ab, nahm sein Pferd am Zügel und ging mit den beiden Männern, die sich nun links dem Herrenhaus zuwandten, langsam weiter.

»Niemals ist mir ein Mensch willkommener gewesen als Sie heut, Berthold. Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu sprechen.«

»Stör' ich?«

»Du sollst mitreden. In manchen Dingen bist du klüger als Berthold und ich«, sagte Hendrik Hagen.

»Klüger? In der Theorie. In Praxis geht der alte törichte Adam ja doch immer mit einem durch. Na – aber Theorie, das ist ja justament das, was man immer für andere Leute parat hat.«

»Was Besonderes?« fragte Berthold eigentlich zerstreut aus seinen Gedanken heraus. Denn er war ganz vertieft in die Vorstellung, daß dieses Heim, das dalag wie ein stolzer Sitz beschaulichen Friedens, seit einem Jahrzehnt der Schauplatz quälendster Seelenkämpfe gewesen war.

»Mein Stiefsohn kommt zurück«, sagte Hendrik Hagen.

Und nun schwiegen sie alle drei. Denn dies Wort war gewesen, wie eine schwere, bleierne Hand, die sich auf die Lippen legt.


 << zurück weiter >>