Ida Boy-Ed
Um ein Weib
Ida Boy-Ed

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Das Schicksal hielt ein bißchen den Atem an. Es stand, auf seine Keule gestützt, am Wege und wartete, wie es seine Gewohnheit war, erst einmal, bis der Leichenzug vorüber sei.

Dann stürzte es sich auf das Haus und schlug die Tür ein. Und die war ganz morsch und leistete keinen Widerstand. –

Noch am Tage der Beerdigung der alten Frau v. Benrath fuhr Hendrik Hagen bei Doktor Berthold vor. Dieser hatte der alten Dame sehr fern gestanden und keine Veranlassung gehabt, ihr die letzte Ehre zu erweisen. Er hatte immer nur geschäftlich und immer nur in den peinlichsten Angelegenheiten mit ihr und ihrem Verwalter Ludewig zu tun gehabt.

Noch wenige Tage vor dem Tode der Herrin von Iserndorf mußte er sie im Auftrage eines Klienten unter Klageandrohung ermahnen, fällige und noch nicht bezahlte Zinsen umgehend ihm überweisen zu wollen.

So würde ihn dieser Todesfall nicht mehr und nicht minder interessiert haben wie jeder andere auch, der irgendwelche vermögensrechtliche Folgen zu haben versprach und den Anwälten der Stadt deshalb zu tun geben konnte.

Aber seine Gedanken suchten immer wieder die beiden Herren von Rote Heide... Er hatte keinen von ihnen gesehen seit dem Haldenwangschen Fest vor vier Tagen.

Das nahm nach der kurzen Störung seinen Fortgang. Man hatte die alte Dame in ein möglichst abgelegenes Zimmer gebracht, wohin Brita, als die Enkelin, Frau Antoinette Haldenwang als Wirtin und der bequeme, kurzluftige Heimgarten als Arzt ihr folgten.

Es war ein groteskes Bild gewesen: Herr Brügge mit den O-Beinen und der weißen Weste auf seiner breiten Brust zu Häupten, der Lohndiener Vogel mit dem glatten Pastorengesicht und den sehr engen Frackärmeln zu Füßen der steifen, langen Gestalt. Und beide, Herr Brügge mit seinem weichen, großen Schnurrbart und Vogel mit seinen bartlosen vollen Wangen, waren rot vor Anstrengung, als sie den bleiernen Körper forttrugen.

Alle Gäste standen verstört umher. Man wußte nicht, ob man sofort davongehen oder ob man weiteressen solle.

Überraschend schnell war aber Frau Antoinette zurückgekehrt und berichtete, daß Frau v. Benrath allerdings einen Schlaganfall gehabt habe, Heimgarten meine aber, sie könne sich sehr gut und sehr rasch davon erholen.

Sie färbte Heimgartens Ausspruch stark auf, machte aus einem blassen, unsicheren Schimmer, den der Sanitätsrat wahrscheinlich nur aus seiner gutmütigen Angewohnheit heraus aufleuchten ließ, ein kräftiges Hoffnungsgrün. Aber das verdachte ihr auch am andern Tag kein Mensch, als es bekannt wurde, daß Frau v. Benrath, ohne ihr Bewußtsein wiedererlangt zu haben, auf dem Wege nach Hause gestorben sei. Jedermann erkannte an, daß Haldenwangs nun doch einmal die großen Kosten gehabt hatten... Auch gab es solche Feste nur selten in Wachow ... Und die alte Frau stand keinem Menschen besonders nahe, war auch nicht beliebt gewesen ... Kurz und gut, es war sehr vernünftig gewesen, das Vergnügen nicht zu stören. Und nach einer halben Stunde, während welcher es noch wie ein Druck auf allen lag, wo eine unbestimmte Warnung oder gar Drohung in der Luft zu schweben schien, wurde man beinah noch vergnügter als vorher. Wie in einer Sinfonie nach dem feierlichen Satz das rauschende Presto kommt.

Es beruhigte auch alle gemütvollen Seelen, daß Fräulein Brita v. Benrath ja nicht allein so in die Nacht hinaus mußte. Da war erstens Heimgarten, der mitfuhr. Und dann die beiden Herren von Rote Heide. Hendrik Hagen war als Nachbar und der einzige Mensch, der öfters auf Iserndorf verkehrt hatte, auch der nächste dazu. Er nahm gewissermaßen der ganzen Gesellschaft die Menschlichkeitspflicht ab und auf sich. Dafür war man ihm unbewußt dankbar. Daß auch der Stiefsohn sich ihm anschloß, fanden besonders die jungen Damen überflüssig. Aber man hatte es ja den ganzen Abend hindurch bemerkt: Diese Brita kokettierte mit ihm und schien Erfolg damit zu haben.

Frau Antoinette fand am andern Morgen punkt acht Uhr beim Erwachen all ihre hilfsbereite, verständige Gutherzigkeit wieder und fuhr ohne jede Rücksicht auf ihre todmüden Glieder sofort hinaus nach Iserndorf. Sie lebte, ohne es sich klarzumachen, nach dem Jesaiaschen Wort: »Jedes zu seiner Zeit.«

Von ihr wußte Berthold auch, daß Hendrik Hagen gewissermaßen als Beschützer von Brita Benrath aufträte und die nötigen Anordnungen getroffen habe; als käme ihm und keinem andern dies zu.

Mit viel Mitleid und großer Lebendigkeit hatte Frau Antoinette auch von dem nächtlichen Zug erzählt, beklagend, daß ihr das Fest nicht möglich gemacht habe, dabei der armen Brita zur Seite zu sein. Voran die Break des Herrn Brügge. Mit einer im »Erbgroßherzog« sonst nicht bekannten Schnelligkeit war sie angespannt worden, denn es lag Herrn Brügge alles daran, die »Kranke« rasch aus dem Haus zu schaffen. Den ebenso unwahrscheinlich schnell herbeigebrachten Krankenkorb hatte man hineingeschoben, und Sanitätsrat Heimgarten nebst Frau Oldendag, der Krankenwärterin, setzten sich dazu. Die Wachstuchgardinen der Break, die bei Landpartien die Insassen vor Regen schützten, waren zugezogen und festgeknöpft worden. Heimgarten saß in seinem Pelz, der ihm jede Bewegung mühsam machte, dick und warm und stöhnte sehr laut.

Frau Oldendag, ihm gegenüber, im grau- und schwarzgestreiften Abendmantel, den jeder Wachower seit vielen Jahren kannte, hielt eine Stallaterne auf dem Schoß, die Strahlenbündel nach drei Seiten hin hinausließ. Und mit eben dieser Laterne leuchtete Heimgarten ab und zu unter das Kopfdach des Krankenkorbes. Und einmal sah man, daß der lange Körper unter der grauen Wolldecke noch länger ward. Da leuchtete Heimgarten wieder hinab und sagte: »Nichts mehr zu wollen ...« Frau Oldendag, von der Antoinette dies alles wußte, hatte gesagt, so leicht vergäße sie die Fahrt nicht. Es wäre auch schaurig gewesen, wie der Regen immer gegen das Wachstuch geprasselt habe ...

Hinterdrein – Gott, hatte Frau Oldendag gesagt, es sei schon wie so'n Vorgeschmack auf den Leichenzug gewesen – fuhren zwei Landauer, der alte kümmerliche von Iserndorf, leer und von Pölchau kutschiert, der mit seinem harten Gesicht und dem rotgelben Bartfetzen am Kinn ganz gefühllos ausgesehen habe.

Dann das Rote Heider Fuhrwerk. Busekist auf dem Bock, und das war ein Mann, mit dem man noch ein Wort sprechen konnte, und von ihm erfuhr Frau Oldendag denn auch, was sie der Frau Amtsrichter – aber natürlich nur ihr – wiedererzählte: daß die Enkelin der alten Dame im Wagen nicht einmal geweint habe. –

Und als Antoinette Haldenwang sich wunderte, daß die Frau, die doch gar nicht apoplektisch ausgesehen, einen Schlag bekommen habe, belehrte Frau Oldendag mit ihrer ganzen wissenschaftlichen Autorität die Laienansicht. Sie erklärte: »Nerfenslag, meine beste Frau Amtsrichter, Nerfenslag ...«

Ebenso hatte Frau Oldendag erzählt, daß Herr Hagen sie abgelohnt habe, der doch in gar keiner Weise dazu verpflichtet sei, sich Kosten zu machen. Aber das Fräulein und der Verwalter und die Mamsell hätten ja wohl alle den Kopf verloren gehabt. Und als sie schüchtern Herrn Hagen, den sie von der Krankheit seiner Seligen her kenne, gefragt habe, von wem sie sich ihr Geld fordern solle, hätte er gleich in die Tasche gelangt – na und zu kurz käme bei dem Mann keiner. –

Dies alles wußte Berthold und deshalb wunderte er sich nicht, als er am Schluß seiner Nachmittagssprechstunde noch Hendrik Hagen bei sich sah.

Er war sehr bleich. Der Ausdruck seines Blickes zeigte gesteigerte Lebhaftigkeit.

»Sie müssen mir beistehen,« sagte er gleich, »und zwar auf eine etwas mittelbare Art – indem Sie mich instandsetzen, selbst zu handeln ...«

»Da bin ich aber neugierig,« meinte Berthold mit seinem freundlich-klugen Lächeln und schob den großen, grünbezogenen Lehnstuhl zurecht, in welchem er die Klienten plazierte, von denen er einen langen Vortrag erwartete. Dieser Großvaterstuhl stand hinter dem mit Papieren beladenen Diplomatentisch. Auf seinem Schreibtischsessel davor saß dann Berthold selbst, faltete mit aufgestützten Ellbogen die Hände unterm Kinn und sah sein Gegenüber fast ohne Wimpernzucken an.

In der Zimmerecke, einem breitgedrückten, vierkantigen Pilaster nicht unähnlich, stand ein weißer Kachelofen, der eine starke und sehr trockene Wärme in den Raum versandte. Auch schmeckte die Luft nach Zigarettenrauch; noch lag ein weißes, dünnes Stäbchen auf dem Rand einer Aschenschale und ein feines Rauchsäulchen stieg daran empor.

Über dem Tisch, doch so hoch, daß sie die Köpfe der Sitzenden nicht überschnitten, brannten zwei Gasflammen, und eine dritte Lampe stand zu Bertholds Linken auf der Schreibtischplatte.

In dieser splendiden Helligkeit konnte Berthold so scharf beobachten, wie er es liebte.

Aber er wußte, jetzt saß ihm ein Mann gegenüber, der auch ein Beobachter von Berufs wegen war. Und vor dem auch er keinen wechselnden Ausdruck, keine Miene verstecken konnte.

Das wußten sie voneinander und das gab ihrem Verkehr oft ungewöhnliche Offenheiten und Zuverlässigkeiten.

»Sie sollen mir alles erzählen, was Sie von den Verhältnissen der alten Frau v. Benrath wissen. Ich will erfahren, wie es mit Iserndorf steht und auch, was man hier davon denkt.«

»Da ich mir sage, daß Sie fragen, weil Sie sich vielleicht dieser Verhältnisse annehmen wollen oder sollen, muß ich Ihnen, als Ihr Rechtsbeistand, raten, Ihre Hände davonzulassen. Wenn man ›Hände‹ sagt, meint man immer ›Geld‹«, schloß er lächelnd. »Also ganz schlecht?«

»Reif zum Bankrott wird der Nachlaß wohl sein, fürchte ich.«

»Haben Sie dafür Beweise? Sie waren nicht der Anwalt der Alten. Oder ist es Gerede?«

Hagen fragte in einer leidenschaftlichen Schnelligkeit. Sein Ton war entschlossen, seltsam sachgemäß, fast schroff. Als wolle er nur schnell und um jeden Preis zur Wahrheit kommen.

»Das Gerede ist merkwürdig schwankend. Welche glauben, daß die Alte nur geizig und wunderlich war, nur keinen Überblick hatte. Es zeigt sich was Drolliges: ein immer Wahrhaftiger kann einmal eine Lüge riskieren, man wird ihm doch glauben. Die Alte log immer, zwecklos oft, triebhaft wahrscheinlich, oft, um ihrer schlechten und unklaren Geschäfte willen. Und weil sie so viel log, glaubte man ihr auch nicht, wenn sie klagte, sie könne nicht zahlen, oder ihr Ludewig betrüge sie. Diese Ansicht war besonders in Kreisen von Handwerkern und Geschäftsleuten kleineren Zuschnitts verbreitet, und es ist unglaublich, wie reichlich, wie lange man ihr Kredit gab. Ich weiß bestimmt, daß bei Maurer und Maler, bei Zimmermann und Krämer, bei Maschinenhandlung und beim Manufakturwarenhändler seit Jahr und Tag Schulden gemacht wurden. Ich habe die Langmütigkeit dieser Leute oft angestaunt. Etwas mag der Respekt vorm alteingesessenen Adel mitspielen. Auch daß sie nicht verschwendete, gab Vertrauen. Daß sie nur die notwendigen Reparaturen machen ließ, diese aber immer mit aufpochender Eile forderte, erweckte die Meinung, sie könne die großartigsten Neubauten sich leisten, tue es nicht aus Altersgeiz. Viele behaupten auch heute, wo ihr Tod alle Gespräche über sie aufs Tapet bringt, man werde, wo nicht ungeahnte Reichtümer, so doch viel Geld finden.« »Und Sie,« stellte Hagen fest, »Sie teilen diese Ansicht nicht.«

Der Rechtsanwalt sann einen Augenblick vor sich hin.

»Man erlebt die wundersamsten Dinge,« sagte er, »Handlungsweisen von einer Unbegreiflichkeit, einem Mangel an Logik, daß die psychologische Darstellungskunst auch des feinsten Dichters daran scheitern müßte, wollte er etwa dergleichen seinen Lesern glaubhaft machen. Ich habe da zum Beispiel einen sehr reichen, hochangesehenen Mann unter meinen Klienten, der nie seine Steuern bezahlt; sie müssen immer erst durch den Gerichtsvollzieher eingetrieben werden. Warum? Der Mann hat sich ausgerechnet, daß er durch die Zinsen immer noch ein paar Pfennige mehr verdient, als die Kosten der Eintreibung ausmachen. Ich könnte Ihnen Bände voll von Kuriositäten erzählen. Aber das habe ich noch nie erlebt, daß jemand aus Wunderlichkeit oder Geiz oder Mangel an Überblick seine Besitzung mit Hypotheken überlüde und mit der Zinszahlung dann fast bei jedem Termin im Rückstand bliebe. Dem Staat gegenüber, wenn er sein Geld will, pocht manche Schrullenhaftigkeit auf, privaten Schuldnern gegenüber aber nicht. Wer da versagt, versagt aus Not. Ich habe für den Kornhändler Lange, der hunderttausend Mark an dritter Stelle auf Iserndorf stehen hat, gerade vor ein paar Tagen wegen der nicht bezahlten Oktoberzinsen gemahnt und werde am fünfzehnten das gerichtliche Verfahren einleiten müssen. Eine auswärtige Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen hat mich beauftragt, Frau v. Benrath auf Zahlung einer Schuld von dreitausend Mark zu verklagen. Nun bin ich aber nicht der einzige Anwalt am Ort. Kann sein, daß Fedder auch noch dies und das contra Benrath-Iserndorf hat. Kann auch sein, daß auswärts allerlei Klagesachen gegen die Frau im Gange find. Darüber könnte ja allein der Verwalter Ludewig einen Überblick geben. Gewiß weiß ich nur noch, daß über die letzte Hypothek hinaus auf Iserndorf noch zwanzigtausend Mark stehen, die Hermann Fedder gegen eine Schuldverschreibung für fast wucherische Zinsen hergab. Ein etwas dunkles Geschäft, das der Mandatar Käselau vermittelt hat.«

Nun sah er auf und sah Hendrik Hagen gerade an.

Er fand, daß dessen Blick mit geradezu leidenschaftlicher Spannung an ihm hing.

Er breitete seine Hände aus, als wolle er zeigen: nun seien sie leer, und schloß:

»Mehr habe ich Ihnen nicht zu erzählen.«

»Es war genug, um die trostlosesten Schlüsse zu ziehen. Und nun will ich noch etwas hören: Wie kann ich helfen?«

Auf diese Frage, um sie unbefangen vorzubringen, hatte er sich den ganzen Weg vorbereitet. Seine Stimme blieb auch fest, sein Blick frei. Aber er konnte sein rasches Blut nicht so bändigen – es stieg ihm ins Gesicht, daß ein flackerndes Rot darüber huschte. Und er fühlte es. Er hatte das ebenso rasche Verlangen, den Eindruck, den das auf den scharfen Beobachter machen mußte, zu verwischen. Er setzte hinzu:

»Das junge Mädchen dauert mich. Es wäre unritterlich, ja unmenschlich, ihr nicht beizustehen.«

Berthold lächelte sehr liebenswürdig.

»Ich würde den gleichen Wunsch haben. Es ist das natürliche Gefühl des Mannes. Allein das Gesetz läßt keinen Platz für humane Ritter. Sie haben keinerlei Mandat, zu helfen. Fräulein v. Benrath kann allen Forderungen, die heranstürmen werden, nur das eine entgegensetzen: wartet, bis der Erbe kommt.«

»Mandat! Mein Mitleid gibt mir genug Mandate. Und dafür sind Sie Advokat, mir zu sagen ...« Berthold streckte seine Hand hoch über dem Tisch gegen den Mann aus. Der war ihm zu erregt. Er wußte, daß leidenschaftliche Leute fast immer ihre Gedanken auf einen Punkt konzentrieren, der gerade für die geschäftliche Seite der Sache ganz nebensächlich ist. Deshalb wünschte er, daß Hagen sich lieber fragen ließe, anstatt selbständig zu sprechen.

»Erlauben Sie mal,« sagte er, »kommt der Vater?«

»Ich habe telegraphiert. Auf Fräulein v. Benraths Angabe an einen Mister Stevens in Boston, bei dem Benrath angestellt ist.«

»Antwort?«

»Von Stevens, daß Benrath, sobald er erreichbar sei, benachrichtigt werden solle.«

»Man ist immer erreichbar in einem kultivierten Land.«

»Brita meint, Stevens habe so geantwortet, weil ihm im Moment eine Abreise seines Angestellten aus geschäftlichen Gründen nicht passen möge.«

»Amerikanisch! Ist ein Testament da?«

»Ludewig meint nein.«

»Dann erbt also der Sohn. Er braucht die Erbschaft nicht anzutreten. Vielleicht ist er Amerikaner genug geworden, es nicht zu tun.«

»Das würde Brita zu schwer treffen. Ich weiß von ihr, daß ihr Vater zwar auskömmlich aber nicht reichlich verdient. Sie glaubt sich durch Iserndorf gesichert. Das fühl ich wohl heraus.«

»Armes Kind ... sie kann sich nur nach einer Stellung als Stütze umsehen ... wozu sie aber wahrscheinlich nicht eine einzige Fähigkeit besitzt.«

»Nun das ...« Hagen nahm sich zusammen. Er hätte es heraussagen mögen mit tiefen, inbrünstigen Worten, daß er ja da sei, er mit seiner unermeßlichen Liebe, um sie auf Händen zu tragen und vor aller Not und Dienstbarkeit zu schützen.

»Ich wiederhole meine Frage: wie kann ich helfen?«

»Ich wiederhole meine Antwort: gar nicht! Denn Sie werden doch nicht für Ihr gutes Geld die letzten Schulden übernehmen und die ausstehenden Forderungen begleichen wollen!« meinte Berthold lächelnd.

Aber in ihm war doch eine heimliche, große Neugier auf die Antwort, die kommen würde. Nicht ohne Absicht hatte er in so verneinender, abratender Form den Weg angedeutet, den Hagen gehen konnte.

»Warum soll ich es nicht wollen?« sprach Hendrik Hagen.

»Sie sanieren dadurch nichts. Iserndorf respektive der Erbe wechselt nur den Schuldner.«

»Was in diesem Fall wohl alles bedeutete ...«

»Hm – ja. Allein, wenn es dann doch zur Subhastation kommt, sähen Sie sich vielleicht in die Lage gedrängt, um Ihr Geld nicht zu verlieren, Iserndorf zu übernehmen.«

»Das wäre das Ärgste nicht.«

Berthold hatte einen Einfall.

»Vielleicht haben wir hier eine Lösung der zwischen Ihnen und Ihrem Stiefsohn schwebenden Frage,« sagte er lebhaft, »kommt es so – und es ist fast gewiß, es muß so kommen –, dann setzen Sie Andree als Pächter auf Iserndorf ein ... mein Gott ja ... wenn Sie denn durchaus den Benraths helfen wollen: kaufen Sie Iserndorf. Sie werdens etwas zu teuer bezahlen. Aber die Benraths, Vater und Tochter, sehen die Ehre ihres Namens gerettet und alles ordnet sich rasch und glatt. Dem jungen Marschner wird sein Wunsch erfüllt, bodenständig in der Gegend zu werden, die er nun einmal als seine Heimat empfindet; Sie bleiben auf Ihrem geliebten Rote Heide. Unser Freund Bürgermeister würde sagen: und jeder Friedensengel weint Freudentränen ...«

Hendrik Hagen saß stumm. Er wußte gar nicht, daß seine Finger sich nervös und andauernd mit einem blauen Aktendeckel beschäftigten, der auf dem Tisch, seinen Händen erreichbar, lag. Er öffnete ihn, er schloß ihn und strich dann fest darüber. Er starrte auf die schwarzen Buchstaben, die seinen Inhalt verkündeten. Er schlug ihn wieder auf und besah die mit Maschinenschrift bedeckten Blätter, die darin lagen.

Nein, dachte er mit einer verzweifelten Gegenwehr, nein, nie – nie –.

Er verlor es ganz aus seiner Vorstellung, daß niemand und nichts ihn zwänge – daß eine leichte Handbewegung, ein kurzes Wort Bertholds Idee ganz abwehren könne. Ihm war, als dränge man ihm eine Gefahr auf ... die drohenden, ungreifbaren, schleichenden und doch so fürchterlich fühlbaren Leiden kamen wieder heran ...

Nein, nicht diesen jungen Mann, mit dem sie gelacht hatte, an dessen Arm sie so von Lebensfreude strahlte ... nein, nicht ihn in der Nähe haben ... immer zittern müssen jeden Tag, jede Stunde, ob Zufall oder Absicht sie zusammenbringe ...

Er wollte kämpfen. Mit ihrem Herzen – sie erringen – sie sollte, sie mußte, sie würde sich ihm schenken ...

Aber mit diesem jungen Menschen um sie kämpfen – – Nein ...

Er fühlte, als würde ihn das entwürdigen – als sei das kein Gegner ... als zerre das seine große, reife, wissende Leidenschaft hinab ...

Er sah die aufkeimende Liebe des andern – ja, er sah sie ...

In mancher Stimmung, gerade in den letzten Tagen, wo Brita sich mit jeder Frage, jedem Blick, jeder Klage an ihn selbst, nur an ihn gewendet, sah er dieser aufkeimenden Liebe mit großmütiger Rührung zu ...

Wer sollte Brita nicht lieben! Es war so begreiflich, daß der junge Andree sich von ihren Zaubern begeistert fühlte ...

Aber das mußte enden ... Andree mußte fort. Die Lage mußte geklärt werden ... wenigstens zwischen ihnen, den Männern ... der jüngere Mann durfte mit Brita nicht mehr zusammenkommen ...

Und nun wollte Berthold ihn zu einer fast wahnwitzigen Handlungsweise nötigen? Er sollte sich diesen jungen Mann zum Zeugen seines Glücks hinsetzen – bis aus dem Zeugen vielleicht ein Zerstörer würde.

Der Rechtsanwalt wartete schweigend. Er sah über das Gesicht des andern den Ausdruck hoher Erregung hinziehen – sah seine Stirn sich falten, als ertrüge er schwere Qualen –, die Nasenflügel bebten dem blassen Mann ...

Und endlich fuhr er aus seiner langen, langen Versunkenheit auf...

Er hatte eine dumpfe Empfindung davon, daß er lange so gesessen haben mochte.

Ihm war, als habe er sich verdächtig gemacht.

Niemand sollte ihn erraten – niemand.

Er hatte ein fast krankhaftes Verlangen, sich zu verbergen ...

Eine merkwürdige, schwere Stummheit lag auf seiner Leidenschaft ... als schreite sie in einem Panzer einher, verberge ihr flammendes Gesicht hinter eisernem, verschlossenem Helm ... Ja, kämpfen wollte er, ehern gewappnet war er – aber niemand sollte den Streiter erkennen, bevor der Sieg sein war ...

Er stand auf, warf den Aktendeckel hin, bemühte sich fest und frei zu sprechen ... »Verzeihen Sie mein langes Schweigen. Ihre Anregungen wollen erwogen sein. Ich denke nicht, daß es Andree behagen würde, als Pächter auf Iserndorf zu sitzen. Lassen wir keinerlei Möglichkeit dazu aufkommen. Unter keinen Umständen. Sprechen Sie bitte mit dem Verwalter Ludewig. Der Mann hat doch jetzt kein Interesse mehr daran, vor Ihnen die Verhältnisse zu verschleiern, wenn er hört, daß Sie für mich diese Feddersche Schuldverschreibung, vielleicht außerdem die letzte Hypothek aufkaufen und die laufenden Schulden übernehmen sollen. Sie werden die Güte haben, mir nach der Unterredung mit diesem Mann detaillierte Angaben und Zahlen vorzulegen.

Wir werden dann sehen ... Die Hauptsache ist, daß alles sehr rasch geordnet wird, daß Fräulein von Benrath vor jeder peinlichen Erfahrung bewahrt bleibt. Ich werde mich später mit Herrn v. Benrath schon verständigen, und ich hoffe, daß ich ihm ein willkommenerer Gläubiger bin als all diese Handwerker, Lieferanten und Herr Hermann Fedder.«

Berthold verbeugte sich zustimmend und viel förmlicher, als ihre freundschaftlichen Beziehungen es natürlich erscheinen ließen.

Das kam, er war doch ein wenig benommen von der Großartigkeit der Anordnungen und von dem, was sie verrieten ...

Er wußte: Hendrik Hagen hielt, wie fast alle großen Künstler tun, auf bürgerliche Ordnung in seinen Finanzen. Er hatte keine phantastischen Begriffe, weder vom eigenen Geld noch dem anderer. Seine Bedürfnisse waren die des vornehmen und sehr ästhetischen Menschen, und diesen Bedürfnissen gemäß gestaltete er seine alltäglichen Lebensformen. Eine unsinnige Verschwendung hatte man niemals und auf keinem Gebiet bei ihm gesehen. Wie hätte der Mann nicht erraten sollen, aus welchen Gefühlen diese großmütigen Entschlüsse emporwuchsen ... Aber er wünschte es dem andern zu ersparen, sich durchschaut zu sehen ...

Und dieser andere, weil er bedacht war, sich unbefangen zu zeigen, wurde auch steif und feierlich.

So schieden sie, fast wie zwei Männer, zwischen denen es eine erkaltende Verstimmung gegeben hat, die mit großer Höflichkeit zugedeckt werden soll. Und doch waren sie innerlich sehr stark und sehr herzlich miteinander beschäftigt.

Denn Berthold sah es: die Liebesleidenschaft dieses Mannes stieg nicht in ruhig brennender Flamme zu unbewölktem Himmel empor.

Er war in Sorgen um ihn, er bemitleidete ihn – ob er nun das Glück errang oder nicht errang.

Und er fühlte, einen Mann, der liebt, soll man beneiden können ...

Hendrik Hagens Automobil sauste in den grauen, nassen Herbstabend hinein. Das Bild der Landschaft war von schwerer Traurigkeit. Mit schwarzer Tusche und tiefbrauner Sepia schien es auf eine zinnerne Platte gemalt, und es sah aus, als habe eine böswillige Hand nachmals einen Riesennapf voll Wasser darüber ausgegossen. Nun tropften die düstern Farbentöne ineinander und die Linien verschwammen.

Der Mann, den solche lastende Nässe in der Luft und auf der mißhandelten Erde sonst peinlich leiden ließ, als sei es eine seiner eigenen Seele angetane Häßlichkeit, bemerkte heute kaum die Not der Natur.

Er dachte mit guten und erleichterten Empfindungen an Berthold zurück, wie man eben an einen klugen Helfer denkt. Die Gewißheit, daß nun zu Britas Wohlfahrt gehandelt werden würde, gewährte ihm genau soviel Befriedigung, wie dem Eiligen das Gefühl, daß seine Pferde laufen, was sie können. Das Ziel ist noch weit, aber einerlei: man ist doch unterwegs.

Jede neue Liebe gibt dem Manne ein wenig Narrheit, ein wenig Torheit aus seinen unreifen Tagen zurück.

Und wie ein junger Tor, der stolz ist und darauf brennt, Ritterlichkeit zeigen zu können, war der Mann den Verhältnissen fast dankbar.

Wären sie nicht so verworren, so bedrohlich – wie hätte er Gelegenheit finden können, Brita zu schützen?

Er dachte nicht, daß er sich ihre Liebe erkaufen wolle. Er dachte nicht, daß die Dankbarkeit sie bezwingen solle.

Er genoß nur ein ganz einfaches, aber sehr starkes Gefühl der Erhobenheit.

Man konnte nicht mehr einen Drachen töten, um die Geliebte zu befreien. Man konnte nicht mehr mit der Lanze Gegner in den Sand werfen, der Geliebten zu Ehren.

Das Bedürfnis, dreinzuschlagen für sie – diese merkwürdig primitive Begier, Pulsschlag in Faustschlag umzusetzen –, die mußte wohl dem Manne aller Zeiten eingeboren sein ... Es war dasselbe, was er empfand, ganz dasselbe...

Nur die Waffen waren so viel häßlicher, prosaischer ...

Aber dagegen lehnten sich seine Gedanken plötzlich auf.

Ja, die Waffen hießen: Geld.

Aber es war sein Geld! Heißer Stolz überkam ihn. Sein Geld! Nicht in gewissenlosen Berechnungen, schlauem Wagemut erworben, nicht bequem übernommen aus vollen Truhen reicher Erblasser –

Der Erfolg, der seine Kunst gekrönt, hatte es ihm gegeben – mit seiner Nervenkraft, mit seinem Herzblut hatte er es erarbeitet ... mit den geheimen Leiden, mit der Ruhelosigkeit, der Angst, den Zweifeln, der zitternden Not des Schaffenden war es bezahlt ...

Er hatte nicht zum erstenmal eine Empfindung von Ehrfurcht vor diesem, seinem Gelde. Vielleicht war diese Empfindung den Gefühlen verwandt, mit denen in alten Zeiten der Sänger sich die goldene Kette um den Hals hing, die Fürstengunst ihm geschenkt ...

Nur, daß jene Gnadenketten aus dem Empfänger im letzten und tiefsten Sinne doch einen Sklaven machten ...

Er aber, er war ein freier Mann ...

Und alles, was er in ehrlichem Künstlermühen sich erworben, seinen Namen und sein Vermögen, konnte er nun der Geliebten zu Füßen legen.

Sein ganzer Lebensweg bis hierher schien nachträglich ein anderes Ziel zu bekommen – oder vielmehr: er erkannte erst jetzt, worauf er zugegangen war, ohne es zu ahnen ...

All sein Dasein war nur Vorbildung gewesen, um sein Herz zu reifen für diese Liebe.

Alle Bitterkeiten vergangener Leidenschaften verwandelten ihr Gesicht, mit dem sie ihn aus seinen Erinnerungen heraus angeschaut. Sie hatten keine höhnische Grimasse mehr. Weise sahen sie aus, wie kluge Lehrer, die tiefe Gründe haben, so zu sprechen. Sie hatten ihn nur lehren wollen, die neue Liebe zart vor Schmerzen zu bewahren.

All sein Wissen von der Menschenseele war ihm nur angeboren und durch seinen Beruf nur so meisterlich und tief ausgebildet worden, damit er diese eine junge, unfertige Seele mit verstehender Geduld leiten könne.

Nur deshalb war es ihm vergönnt gewesen, seinen Namen durch alle Länder an Menschenohren vorbei und an vielen Stätten in Menschenherzen hineinzutragen, damit er der Geliebten ein stolzes Geschenk in ihm machen könne.

Und mit der dämonischen Undankbarkeit, mit der neue Liebe ein Herz vergiften kann, schien ihm sogar alles Glück mit der Toten, das ihn einst berauscht, alle Leiden, die er voll heißer Not um ihretwillen getragen, nur wie eine Vorschule ...

Vor wenig Tagen noch hatte er mit frommer Andacht an ihrem Grabe gestanden. Das reine, wehmütige Gedenken an sie war wie der seine Nebelduft gewesen, durch den die Strahlen der aufgehenden Sonne wirken und der die neue Morgenfrühe nicht trübt, der sie nur verschönt...

Seitdem aber waren seine Empfindungen erkrankt ... an der Furcht ... sie fieberten ... sie hatten alle Selbstsüchte ihrer Krankheit ...

Ihr Tod allein schützte die Frau vielleicht davor, daß die Liebe zu ihr in des Mannes Erinnerung noch tiefer sank ... vielleicht von einer Vorschule zu einem Irrtum –

Denn in der Besessenheit einer neuen Liebe gönnt ein Mann der lebenden Geliebten von vorgestern vielleicht nicht einmal das Gedächtnis daran, daß sie von ihm geliebt worden ist...

Zu all den andern Frauen, die er einmal mit Wort und Blick angeschwärmt, hätte er gehen mögen – ihnen sagen: das war alles Irrtum – unbewußtes Studium. – Jeden zärtlichen Gedanken, den er einst gehabt, hätte er zurücknehmen mögen ... er wünschte die Frauen demütigen zu dürfen, die einmal in dem Wahn gelebt, ihm Herrin zu sein.

Alles, alles nur für die neue, die letzte, die wahre Königin...

Alles ihr ... das Leben, das Schaffen ... jeder Tag und jeder Traum der Nacht ... Er kam in sein Haus zurück. Und im Augenblick, wo er es betrat, befiel ihn eine andere Nervosität.

War Andree da? Welche Qual, mit ihm zusammen am Tisch zu sitzen.

War er nicht da? Welche Qual, zu denken, daß er bei Brita sein könne.

Er fragte gleich sehr hastig nach. Ja, der junge Herr sei anwesend.

Sie sahen sich bei Tisch. Sie boten zusammen ein kleines Genrebildchen des Behagens in der Umwelt reichlicher Lebenszustände, wie sie bei der Abendmahlzeit saßen und das stetige Licht, das über der kleinen Tafel schwebte, hell und freundlich weiße und blanke und gläserne Dinge beglänzte und rings im Zimmer allerlei schwere und dunkle Gegenstände sanft und zurückhaltend noch gerade so viel beleuchtete, daß erkennbare eichenbraune Formen von dunkelroten Wänden herauskamen.

Andree war sehr erregt. Auf seine rasche, ein wenig an der Oberfläche hinbrausende Art. Und er war es über Angelegenheiten, über die der ältere Mann nicht sprechen wollte! Was half es ihm. Er konnte nicht abwehren, ohne sich zu verraten. Und in die zitternde Furcht vor diesem Gespräch mischte sich zugleich eine Gier, zu hören ...

Andree war auf Iserndorf gewesen. Aber er hatte Brita nicht zu sehen bekommen. Sie sei leidend, hatte Mamsell gesagt. Da war Andree in die Verwalterstube gegangen. Er hatte versucht, diesen Ludewig auszuforschen. Ludewig habe gesagt, über die Angelegenheiten von Iserndorf sei er nur dem neuen Herrn und Erben Auskunft schuldig.

»Was konnte er denn anders antworten«, sagte Hendrik Hagen und dachte trotzdem voll Zuversicht an Bertholds Mission. »Gewiß, gewiß. Aber weißt du, Papa – ich stellte ihm vor, daß wir, du und ich, doch im Moment fast die einzigen Menschen seien, die Fräulein Brita habe, und daß später, wenn Britas Vater käme, dieser es nur billigen würde, daß er, Ludewig, sich vertrauensvoll zu uns gestellt. Und ich wollte ja auch nur wissen, was an all dem Gerede sei, das in der Gegend jetzt über Iserndorf läuft.«

»Papa« – dachte Hendrik Hagen, »er bleibt dabei – es ist ihm natürlich geworden – im Augenblick, wo es mir unnatürlich ward – weil er liebt, liebt er alle Menschen – auch mich...«

Andree kam nun in seinem Bericht zur Hauptsache, die er voll Eifer und Wichtigkeit vortrug.

Der andere Mann knüllte langsam mit der Faust seine Serviette zusammen ... und die geballte Hand, mit der er das Mundtuch gepackt hielt, ließ er schwer auf dem Tisch ruhen ...

Er fühlte, wie Andree ihn erwartungsvoll ansah, vielleicht um Schreck oder Mitleid in seinem Blick zu finden. Aber er hielt den Blick versteckt unter gesenkten Lidern. Er hörte.

»Also denke dir: ich kriegte den Ludewig so weit, daß er mir andeutete, wenn Herr v. Benrath aus Amerika nicht einen ziemlich prallen Beutel voll Geld mitbringe, gäbe es wohl einen Zusammenbruch, wie die Gegend ihn seit vielen Jahren nicht erlebt habe.

Er sagt auch, die alte Frau sei an der Sorge eingegangen. Sie habe es kommen sehen, daß ihr Gebäude von Unwahrheiten nun umfallen werde. Es sei ihre große Kunst gewesen, durch sparsame Lebensgewohnheiten Vertrauen zu erwecken. Was sagst du? Was sagst du?«

»Daß Herr v. Benrath diesen prallen Beutel voll Geld nicht mitbringen kann, weil er ihn nicht hat«, sprach Hagen. »Glaubst du? Ich mochte Brita nie so fragen nach ihres Vaters Verhältnissen.«

»Sie hat mir einmal davon gesprochen.«

»Du scheinst nicht ‹b›sehr‹/b› überrascht von meiner Mitteilung, Papa?«

»Mir ist die traurige Lage von Iserndorf, in den Umrissen wenigstens, schon ziemlich bekannt.«

»O mein Gott,« sagte Andree, »das ist ja furchtbar – das kann man ja gar nicht ausdenken ... Wenn man da eingreifen könnte ... wer so gewissermaßen den Pferden in die Zügel fallen dürfte ... wenn's auch egal ist, ob Brita Geld hat oder nicht, man möchte ihr das ersparen... es wird ihr ja eine schreckliche Demütigung sein ... sie ist so stolz... und sie ahnt nichts. Sie hat keinen Schimmer, sag ich dir ... sie meint, ihre Großmama sei nur wunderlich und geizig gewesen ... ach ja, wenn man ihr das ersparen könnte...«

Er versank in Nachdenken und starrte in den Brotkorb, der neben seinem Gedeck stand und in dem die vom strohblond bis zum bronzebraun schattierten Semmeln warmfarbig schimmerten.

Der andere Mann, der noch die Faust schwer auf der zusammengeknüllten Serviette hielt, wartete. Er war überzeugt, daß dieser junge rasche Kopf allerlei Pläne bedenke. Wie er Brita erretten könne ... mit großen Rettertaten... aus Himmel und Hölle Hilfstruppen heranholen ... alles hingeben für sie – auch den letzten eigenen Heller ... Ja, all diese Ritter- und Schützergedanken, die ihm selbst das Herz heiß machten ...

Er wartete und ihm ward die Stirn dabei feucht.

Er fühlte, er würde irgend etwas unerhört Falsches tun ... vielleicht dem andern ins Gesicht rufen: Das Vorrecht, zu helfen, ist mein – denn ich liebe sie ... wer bist du, daß du wagst, sie auch zu lieben ...

Eine peinigende Furcht vor der Torheit, die er gleich begehen könne, müsse, quälte ihn.

Er beobachtete sich, er kontrollierte sich und fühlte doch ... er könne sich nicht halten ...

Da hob Andree das Haupt und sah ihn treuherzig an. Die offene Liebenswürdigkeit seines Ausdrucks war ein bißchen von Bedauern, fast von Kummer gedämpft. Aber doch nicht so sehr, daß nicht die unzerstörbare Zuversicht, die er immer und in allen Fragen hatte, noch deutlich erkennbar gewesen wäre.

Er seufzte. Abschließend – das war zu hören. Es gibt Seufzer, die wie Punkte sind.

»Ja,« sprach er, »man wird eben die Ankunft des Herrn v. Benrath abwarten müssen. Ich bin ja auch in keiner Weise in der Lage, da Geld hineinzugehen. Wie sollte ich erstens die Form finden, in der sich das jetzt, auf der Stelle, machen ließe. Und hauptsächlich: ich darf meine für die Übernahme von Rote Heide ja ohnehin knappe Kapitalkraft nicht schwächen. Und die Sache ist doch wichtiger als ein etwaiger Zusammenbruch auf Iserndorf.«

Die feindselige Spannung, in welcher der ältere Mann gewartet hatte, löste sich ...

Erstaunen, ein grenzenloses Erstaunen, etwas gefärbt von Hohn, von Mitleid, von Triumph, erfüllte ihn ...

Hoch aufgerichtet saß er und aus seinen Augen sprühte die Überlegenheit ...

Andree dachte nicht an Opfer. Andree rechnete, bürgerlich, vernünftig ... So wohltemperiert war die Liebe dieses jungen Mannes ... So rasch war seine Empörung, seine Angst, vor der praktischen Erwägung verflammt ...

»Ja,« schloß der weise und beinah hausväterlich, »das ist wichtiger ... man muß an die Zukunft denken ... sich nicht von rührseligen Aufwallungen bestimmen lassen ...«

»Ich denke aber doch darüber nach,« sprach Hendrik Hagen, indem er stark und laut jedes Wort betonte, »wie man Fräulein v. Benrath peinliche Stunden ersparen könnte. Ich habe bereits mit Berthold gesprochen. Die Lage ist sehr trübe und wird sich vielleicht nicht vor Brita verhehlen lassen, ehe ihr Vater kommt. Ich habe mich bereit erklärt, einzuspringen, auf die Gefahr hin, Iserndorf später übernehmen zu müssen.«

Andree sprang so hastig auf, daß sein Stuhl hinter ihm umfiel.

»Papa,« schrie er, »Papa!«

In der glückseligen Begeisterung, die ihn jäh erfaßt hatte, konnte er gar nichts anderes hervorbringen.

Am liebsten wäre er ihm ja um den Hals gefallen. Aber Hendrik Hagen saß so steif und unbeweglich da ... Und Andree fühlte sich durch dies unbestimmbare Etwas in des anderen Mannes Wesen wieder plötzlich eingeschüchtert ... wie es manchmal geschah ... Dann war ihm, als könne man mit diesem nicht so kurzer Hand umspringen wie mit anderen Menschen ... als gäbe es Entfernungen, die Respekt forderten ... vor denen man scheu inne zu halten habe ...

Und deshalb stand Andree mit seiner Begeisterung ein wenig verzagt neben dem Mann und streichelte ihm nur den Rockstoff auf der Schulter und sagte:

»Das ist großartig von dir, Papa. Großartig ... fein ... famos ... Ja, du ... ach Gott, und wenn du wüßtest ...«

Die Begierde, sein junges Hoffen und Lieben herauszujubeln, stieg ihm bis in den Hals hinauf ...

Das spürte der andere. Die helle Glückseligkeit, die im Herzen des jungen Mannes brannte, durchleuchtete ihn förmlich – wirkte um sich, wie jedes Licht –, glänzte den andern an.

»Nur kein Geständnis ... nur kein Vertrauen«, dachte der verzweifelt. Er fühlte: Das Wissen war zu ertragen, das Wort nicht ... es würde all seiner eigenen Liebesnot die Keuschheit rauben ...

Seine eisige Haltung, durch die er alles abzuwehren wußte, zwang den jungen Menschen, niederzukämpfen, was so gewaltsam empor und heraus wollte. Aber die Freudigkeit war so groß. Die Zukunftsbilder zogen zu schön und bunt und freundlich vor Andrees Auge vorüber. Fast ohne daß er's eigentlich wollte, plauderte sein Mund davon.

Lebhaft ging er im Zimmer hin und her. Bald verschwamm seine Gestalt mit der unklar und sanft beleuchteten Zimmertiefe fast zu eins, bald durcheilte sie energisch und in all ihrer frischen Beweglichkeit die helle Lichtzone in der Tischnähe.

»Es wäre nicht das Schlimmste, wenn du Iserndorf kauftest. Es ist abgewirtschaftet – gewiß – ja! Der Ludewig ist ein Schuft. Ich glaub's allemal, wenn man's auch vor andern Leuten solange nicht aussprechen darf, bis es erwiesen ist. Er und Mamsell wollen heiraten und übernehmen am ersten Februar eine eigene Pachtung irgendwo in Westpreußen. Das sei schon mit der seligen Gnädigen so abgesprochen gewesen, daß sie am ersten Januar beide gehen wollten. Na, daß sie dazu in der Lage sind, das ist doch symptomatisch? Nicht? Er hat Iserndorf ausgesogen. Aber bei verständiger Wirtschaft bekämst du es in ein paar Jahren wieder hoch. Du müßtest dir einen tüchtigen Inspektor nehmen. Ich würde ihn wohl kontrollieren. Denk nicht, Papa, daß ich arrogant bin – aber in meinem Beruf kann ich was – das sag ich ruhig. – Gott, es kann ja reizend werden! Du baust das Herrenhaus Iserndorf aus – so kannst du nicht da hinein – mit deinem Geschmack – – nun, du wirst schon ein bezauberndes Künstlerheim daraus machen – die landschaftliche Lage ist charmant – und dann: die beiden Güter in unserm Besitz – wie imposant – viel Grundbesitz in der Familie find ich das Feudalste, was es gibt.« Und mit naivem Lachen schloß er, »und wenn du mal hundert Jahr alt bist, vermachst du meinen Kindern Iserndorf. Ach, es kann ja entzückend werden – Du als verehrter Familienvater da – und wir hier auf Rote Heide, und besuchen dich oft ...«

»Wir?« fragte der Mann.

Er wollte es nicht fragen. Nein, er wollte nicht .. Aber es war zu stark ... er mußte ... Da blieb Andree stehen, irgendwo hinten in der Zimmertiefe, wo im warmen Halbdunkel alle eichenbraunen Formen vor der roten Wand nur noch schwach heraustraten.

Er lachte. Verlegen und doch voll heißer Freude.

»Wir ... ja, nicht? Wie das klingt? So verheiratet ... und hab noch nicht mal 'ne Braut. Aber wer weiß ... Und ich sagte dir's schon am ersten Tag: ich will heiraten und auf Rote Heide mal so'n staatsbürgerlich angesehener Patriarch werden ...«

Die Worte verklangen in Lachen – verlegen und doch voll heißer Freude ...

Da erhob sich auch Hagen –

Er konnte nicht mehr gegen sich selber an. Er haßte in diesem Augenblick den jungen Menschen: seine Frische, sein gerades, gesundes Empfinden, seine Jünglingsanmut, seine Hoffnungen – alles, alles – vielleicht in ihm auch die Frau, die er einst geliebt –, ja, er haßte ihn ...

Seine ganze Seele war von grausam zerstörerischen Gelüsten erfüllt ... Der andere sollte nicht in so heißer Freude lachen, während er selbst so litt, so über alles Maß litt von Furcht ... von den Ungewißheiten, die neben seiner Liebe herschlichen ...

»Du irrst dich. Wenn ich auch Iserndorf kaufen sollte ... ich bleibe hier. Ich denke nicht daran, dir Rote Heide abzutreten...«

Nun war es gesagt – dies eine! hinter dem sich das andere so sicher verstecken ließ ...

Mit klaren, herrischen Blicken sah er zu dem jungen Menschen hinüber.

Der stand verstummt, wie vor den Kopf geschlagen.

»Papa,« versuchte er endlich leise, »Papa ...«

Er war wütend über sich selbst. In der Schwelgerei des Zukunftsgenusses hatte er sich hinreißen lassen, von Rote Heide als seinem alleinigen Besitz zu sprechen, vielleicht auch verführt durch den Wahn, daß Hagen sich nach Iserndorf zurückziehen könne oder wolle .. Zu früh, dachte er nun wie geschlagen, zu früh war das! Er hatte es doch hinausschieben wollen, bis ... Ja, nun gestand er es sich: bis er um Brita geworben. Er bildete sich ein, der Mann, der so tief und treu liebte, würde Sympathie für die Liebe anderer treuer Herzen haben. Vielleicht hätte er dann, in der Rührung über das Glück und als Totenopfer für die geliebte Frau, ihrem Sohn ohne Kampf und Streit das Gut gelassen. Zu früh, zu früh ... Aber in den Zorn gegen sich selbst mischte sich auch schnell aufsteigender Zorn gegen die selbstsüchtige Streitbarkeit des andern ...

Seine Mutter hatte der ihm genommen ... seine besten Knabenjahre waren ihm durch diesen Mann verdorben ... die Hälfte seines Erbes verlor er an ihn ... nun sollte er sich auch noch die Heimat durch ihn rauben lassen?

‹b›Nein, nein, nein ...‹/b› »Das kann nicht dein letztes Wort sein,« sprach er heftig, »es wäre zu ungerecht.«

»Warum ungerecht? Meine besten Schaffensstunden habe ich hier gehabt.«

»Es gibt überall Tinte und Papier.«

Die Torheit dieses Wortes traf den Dichter wie ein Schlag. Seine Augen brannten vor Zorn.

»Was weißt du davon!« sagte er fast verächtlich. »Was weißt du – wie heilig mir darum diese Scholle geworden ist.«

»Darum! Darum? Es ist also nicht das Grab meiner Mutter ...«

»Nein.«

Sie standen sich nahe gegenüber – ein paar Herzschläge lang stumm – das Übermaß der Empörung, die sie gegeneinander empfanden, bändigte sie förmlich – sie war zu mächtig, sie konnten sie nicht rasch genug als handliche Waffe verwerten.

Dies kalte, harte »Nein« hatte den einen getroffen wie die unerhörteste Verletzung eines Heiligtums ...

Und den andern sättigte es, daß er es herausgeschleudert hatte – wie ein heimliches und doch triumphierendes Geständnis ...

All die kleinen freundlichen Ranken von guten Empfindungen, die in der letzten Zeit emporgeschossen waren und sich von einem zum andern schlangen – sie welkten in diesem einzigen Augenblick wieder hin.

»Wenn es denn nicht das Grab meiner Mutter ist, das dir diesen Besitz wertvoll macht,« sprach Andree laut und böse, »so fällt für mich jeder Grund, jede Pietät fort. Mein Beruf ist mir so wichtig, wie dir der deine. Und ich habe auch den Wunsch, ihn gerade hier auszuüben.«

Hagen sah voll feindseligen Hochmuts auf ihn herab. »Die Sache ist von elementarer Einfachheit, mein Lieber: ich würde dir Verkaufsbedingungen stellen, die du nicht erfüllen könntest. Ich hingegen kann dich noch gleich, auf der Stelle ganz ausbezahlen – ein Scheck ... eine Unterschrift ...«

»So – auch wenn du Geld in Iserndorf steckst?« fragte Andree auftrumpfend.

Hagen biß sich auf die Lippen. Er erschrak. Es war ersichtlich ...

Sein Gesicht färbte sich rot – fast beängstigend.

In rasender Schnelligkeit huschten allerlei Berechnungen und Erwägungen durch seinen Kopf.

Noch war es unübersehbar, wie hoch die Opfer werden konnten, die er bringen mußte, um der Geliebten Demütigungen zu ersparen. Wie, wenn sie so groß wurden, daß er seine finanzielle Freiheit verlor? Der feindliche Stiefsohn war nur mit dem Machtmittel der sofortigen, vollen Auszahlung zu besiegen und zu – entfernen. Und fort mußte er, fort ...

Es ging ja gar nicht mehr um Rote Heide – und um die seligen Stunden ungestörten Schaffens ...

Es ging um selige Stunden ungestörten Liebesglücks ...

Fort mußte Andree – fort. Er durfte weder als Pächter auf Iserndorf noch als Eigentümer von Rote Heide an der Grenze des Paradieses wohnen ...

Es war besser, alles brach zusammen um Brita. Der Hafen wartete ja schon ihrer – seine Arme brauchten sich nur zu öffnen – er durfte nur sagen: komm, hier bist du geborgen ...

Aber das, genau das war es wahrscheinlich, was der junge Mann vorhin gedacht, als er so vernünftig und hausväterlich, so bürgerlich und so nüchtern sprach ...

Dagegen kehrte sich sein ganzes Wesen ... Die Vernunft schien Plattheit, nur weil der andere Mann so empfand – das Kluge wurde Härte, weil der andere klug gedacht.

Und Brita sollte weinen? Leiden?

Unmeßbar rasch war dies alles gesehen, gefühlt ....

Und doch spürte Andree das Zögern der Antwort, und noch ehe sie kam, rief er triumphierend:

»Siehst du – du kannst es nicht.«

Da sagte Hagen mit etwas gemachter Großartigkeit:

»Es wird sich finden. Auch wenn ich Geld in Iserndorf stecke, bleibe ich dir finanziell überlegen.«

»Eine traurige Überlegenheit!! Wenn die dein ganzes Recht ist«, rief Andree heftig.

Er schritt zur Tür, faßte den Klopfer und bereit, fortzugehen, sprach er noch zurück:

»Vielleicht findet das Gericht, daß mir ein besseres zusteht ...«

Und damit ging er hinaus und schlug die Tür zu ... Und wie sie so hart und laut ins Schloß fiel, war es ihm wie ein Nachhall und eine Bekräftigung des bösen und feindseligen Wortes – das Wert hat zwischen Männern wie eine Kriegserklärung zwischen Völkern ...

Hendrik Hagen stand und sah auf die Tür, die so heftig ins Schloß gezogen worden war.

»Gericht!« dachte er, »Gericht!«

Bei dem Mißlaut dieses Wortes hatte er eine nervöse, widrige Empfindung – wie von einer plumpen Störung ...

Ihm war, als werde ihm Erniedrigung, Entweihung angedroht ...

Leidenschaften, die vor Gericht geschleppt werden – sind das noch Leidenschaften? dachte er. Sind es nicht vielmehr groteske Nachspiele ... Haß, der sich in Gehässigkeit abgewandelt hat ... Haß mordet vielleicht. Gehässigkeit geht zum Richter.

Aber er fühlte auch schon: Dem jungen Mann war es eben nur ein wohlfeiles Zorneswort gewesen ... das allgemeine, klärende, schlichtende Vorstellungen umschloß. Dieser dachte noch nicht in die Tiefen hinein und sah noch nicht die letzten und wahren Gesichter aller Erscheinungen ...

Und gerade das, was Andree als äußerste Feindseligkeit herausgeschleudert, entwaffnete rasch den reifen Mann.

Es zeigte ihm so deutlich die Jugend des andern. Seine Unfertigkeit – seinen Knabentrotz, den noch immer nicht besiegten.

Es gab ihm ein Gefühl lächelnder Überlegenheit zurück. Er besann sich, fragte sich: hatte Andree schon jemals irgendein bedeutendes oder nur bemerkenswertes Wort gesprochen, das von selbständigen Gedanken schwer war? Jemals irgendeine Handlung begangen, die nach der guten oder bösen Seite sein Wesen auffallend gemacht?

Und mußte man nicht, um von Brita geliebt zu werden, durch Wort oder Tat oder beides hoch aus der Menge ragen?

Immer strahlender ward sein Ausdruck. Der rasche Streit mit dem jungen Menschen ward ihm ein Zwischenspiel – fast ein befreiendes – –, denn nun war das eine wenigstens gesagt! Andree konnte nicht mehr glauben, daß er, der Mann in der Vollkraft seiner Jahre und seines Schaffens, noch immer in unfruchtbarer Trauer an jenem Grabe weine ...

Eine Wahrheit war also ausgesprochen – ja, das war gut ...

Und all die äußerlichen Fragen, dieser ganze Zank um den Besitz – das alles löste sich, ward beendet, wenn erst die ganze Wahrheit gesagt werden konnte .... Andree selbst würde nicht mehr bleiben wollen, wenn er die von ihm Angeschwärmte als Gattin seines Stiefvaters sehen sollte ...

Hendrik Hagen dachte sich hinein in das junge Herz ... und ein warmes, gutes Dichtermitleid wallte in ihm auf. Ja, dies junge Herz würde ein wenig leiden – so wie man in jenen Jahren leidet: eben nur ein wenig! Ob es auch erst scheint, als sei es tödliche Verzweiflung ... wie rasch ebben ihre Hochfluten ab – ach, wie erstaunlich rasch. Andree würde zwei Tage an Selbstmord denken – vielleicht. Und nach acht Tagen an eine andere ... Und wie sie dem Manne für seinen Werdegang notwendig sind, diese prachtvollen, heißen, rasch verlodernden Gluten.

Aber Liebe sind sie nicht – nein, sie haben nur das große Gebaren von ihr – nur ihre Mienen ... nicht ihr Wesen...

Der Mann dachte zurück ... er flog mit seinen Gedanken noch einmal durch all die Sturmgänge seines Herzens ...

Ihre Geschichte konnte, wer wissend war, in seinen Werken nachlesen. Jeder Liebeswahn hatte sich ihm gewandelt und war ein Gedicht, eine Novelle geworden, schimmerte wie irisierendes Licht durch die Konflikte seiner Romane ...

Und auf einmal befiel ihn ein Staunen ... seine Liebe zu Brita war stumm ... sie ging neben seinem Künstlertum her ... durchdrang es nicht ... war wie eine Welt für sich in seinem Innern ... Mächtiger, größer als sein Schöpferdrang war sie ... so groß, daß er nichts von ihr aussagen konnte ... daß seine Kunst sogar vor ihrer Helligkeit zurückbebte und vor ihr schwieg ...

Und doch beflügelte die neue Liebe seine Schaffensfreudigkeit.

Alle Erscheinungen des Lebens drängten sich noch näher an ihn heran als sonst. Er konnte sich ihres Reichtums kaum erwehren. Und in jeder, jeder schien wie ein goldener Kern die Verheißung eines neuen Werkes zu liegen.

Niemals hatte er in so beschwingter Stimmung durch seine Feder sprechen können.

Er konnte durch diese neue Liebe sprechen, aber er konnte nicht von ihr sprechen ...

Was war das? Von allem, allem hatte er sprechen können – alles Leben, das eigene und das andere war ihm nur Material gewesen ...

Und die bloße Vorstellung, daß er Britas Erscheinung und Wesen schildern könne, verursachte ihm ein brennendes Gefühl seltsamster Angst ... so, als denke er an frevelhafte Unkeuschheiten ... so, als würde er damit zum Verderber der eigenen Liebe ...

Vielleicht sprach sein Künstlerinstinkt, der spürte: was ihm Kunst geworden war, hatte aufgehört, sein Eigenleben zu sein ...

Und die Geliebte sollte sein eigen werden und bleiben – in ihm, in seiner Brust nur sollte diese Liebe leben, nicht in seinen Büchern ...

Und in diesen Selbstbeobachtungen, die sich ihm so jäh aufdrängten, begriff er erst ganz:

Er liebte, wie er noch nie geliebt. Und dies war seine letzte Liebe – nach ihr kam der Tod ...

Eine rasende Erregung kam über ihn ...

Und das unbezähmbare Verlangen, sie in Einsamkeit zu verstecken. Das Licht war ein Zeuge, die Wände eine Gesellschaft, das Haus eine laute Welt...

Hinaus – hinaus ...

Brausender Sturm preßte sich gegen ihn, als er ins Freie kam. Wie gegen den Druck eines riesigen, flachen, unsichtbaren Gegenstandes mußte er sich stemmen. Und schwer von Feuchtigkeit war die Luft. Eine harte, unbarmherzige Schwärze erfüllte sie, die jeden Schritt unsicher und jedes Auge ohnmächtig machte. Und durch diese drückende Dunkelheit tobte ein Heulen und Rauschen ohne Ende.

Vorgeneigten Hauptes kämpfte er sich hinein in diese brausende, schwarze, unerbittliche Finsternis. Bis er empfand, daß unter seinen Füßen der weiche Sand ausglitt und bis er hörte, daß das Donnern der strandwärtsrollenden Wogen ihm näher und stärker erklang, als das Dahinfahren des Sturmes durch die Luft.

Wie wohl tat ihm dieser brutale, lichtlose Kampf der Nacht ...

Ihm war, als gäbe es gar keine Sonne auf der Welt, außer dem einen Gedanken: ich sehe morgen die Geliebte ...

Und um dieser Gewißheit willen ließ sich ein Leben tragen – und sei's selbst hart und laut und drohend, wie diese Nacht.


 << zurück weiter >>