Ida Boy-Ed
Um ein Weib
Ida Boy-Ed

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V.

Etwas Unglaubliches war geschehen! Wenn man hört, daß die 96jährige Konsistorialrätin Klinghammer gestorben war, würde man ja viel eher sagen müssen: es sei das Natürlichste von der Welt.

Aber den Wachowern war es doch wie etwas Unglaubliches!

Seit dreißig Jahren hatten alle Menschen sie jeden Tag hinter ihrem Parterrefenster sitzen sehen. Auf der weißlackierten Fensterbank standen zwei Blumentöpfe, in denen sich aber keine Gewächse befanden. Es waren blaue Porzellantöpfe mit einem weißen, goldumrandeten Medaillon darauf und im Felde dieses Medaillons befand sich je ein gemaltes Rosenbukett. Zwischen den beiden leeren himmelblauen Töpfen hatte man immer das graugelbe Vogelgesicht mit dem Falkennäschen und den runden, schwarzen Hutnadelkopfaugen bemerkt, das eine weiße Haube mit einer Tüllrüsche eng und sauber umschloß.

Watschelnde Jungens, die sie so gesehen hatten, waren zu imposant ausschreitenden Honoratioren geworden. Bräute, die das Himmelreich in der Tasche hatten, reiften zu behäbigen Großmüttern heran, die sich an gar kein Himmelreich mehr erinnerten und sehr zufrieden in verständigeren Regionen lebten. Jünglinge zogen übers Meer und kamen als à peu près-Krösusse zurück.

Immer und immer saß die alte Frau mit dem zähledernen Gesicht und den klugen, blanken Augen darin hinter ihren leeren himmelblauen Blumentöpfen, vor dem schwarzen Hintergrund der Zimmertiefe.

Jedermann hatte geglaubt, sie würde hundert werden. Daß Wachow sich um den hundertjährigen Geburtstag einer Mitbürgerin gebracht sah, erschien fast als empfindliche Beeinträchtigung. Es wäre doch immerhin eine kleine Wichtigkeit für jedermanns Gefühl gewesen, so etwas mitzuerleben.

Noch mehr Sensation aber als ihr Tod machte ihr Testament. Der Inhalt desselben wurde irgendwie herumgeflüstert. Drei Tage vor ihrem Tod hatte die alte Dame sich abends um sieben Uhr ein bißchen schwach gefühlt und sofort den Rechtsanwalt Dr. Berthold und den Notar Zufuß holen lassen. Da war das Testament gemacht worden. Berthold sprach nicht. Das wußte man. Aber Zufuß hatte so eine Art – so eine konditionelle Form, viel zu sagen, eine Form, auf die man ihn nicht festnageln konnte nachher und in der er dennoch sein Bedürfnis, als der Alleswissende zu imponieren, befriedigen konnte. Vom Notar Zufuß vielleicht stammten die Gerüchte. Aber man konnte es nicht nachweisen.

Und die Hauptperson hörte auch nichts davon, man war doch zu delikat, ihm schon zu gratulieren. Wie – wenn es doch bloß Gerede wäre ...

Die Hauptperson erfuhr es erst, als am Tage nach der Beerdigung das Testament, wie die Erblasserin es vorgeschrieben hatte, im großen Saal des Amtsgerichts öffentlich verlesen ward.

Alle Männer, die in Wachow Liebe für ihre Vaterstadt, Interesse an ihrem Erblühen hatten, fanden sich zum Zuhören ein und somit war der Saal übervoll. Die Spannung war groß. Seit dreiviertel Jahren, seit Mandach hier als Bürgermeister wirkte, hatte man ihn ja oft und oft mit seiner gewaltigen Befehlshaberstimme kommandieren hören: »Die Frau muß ihr Geld der Stadt Wachow vermachen; die Stadt kann es brauchen und die Klinghammerschen Urgroßneffen sind kinderlose Millionäre!«

Und nun – und nun? War das Gerede wahr?

Gleich nach der Verlesung des Testaments, die Punkt ein Uhr endete, begaben sich der Amtsrichter Dr. Haldenwang, Dr. Berthold und der Bürgermeister in die Haldenwangsche Wohnung. Denn Frau Antoinette hatte die Herren zur Aalsuppe eingeladen.

Der angenehme, süßsäuerliche Kräuterduft der Aalsuppe durchschwebte alle Räume der Wohnung. Seiner durchdringenden Würze konnte man durch keine Lüftung entgegenwirken und wollte es auch nicht. Sogar Mandach sagte: Aalsuppe ist das einzige Gericht, das man vorher riechen darf.

Es war noch nicht so weit. In wenig Minuten. Die Herren möchten sich gedulden, sie seien so pünktlich nicht erwartet worden, sagte Frau Antoinette.

Im großen Eßzimmer stand der gedeckte Tisch in der Mitte.

Am Fenster saß Frau Antoinette. Zwischen ihren Knien hielt sie ihr sechsjähriges Töchterlein und band in deren weißblondem Haar die blaßblaue Schleife etwas anders und kleidsamer zurecht.

Berthold, die Hände hinterm Rücken, lehnte in der Nähe an der geschlossenen, weißlackierten Tür, die ins andere Zimmer führte.

Der Bürgermeister lief mit gerungenen Händen in großer Erregung hin und her. Seine Baßstimme füllte mit dunklen, runden Schallwellen den ganzen Raum. Er rief immerfort:

»Es wäre nicht fair, nicht fair, nicht fair!«

Der Amtsrichter Dr. Haldenwang lief auch mit gerungenen Händen umher und sagte immerfort dagegen:

»Nimm doch Vernunft an. Nimm doch Vernunft an. Nimm doch Vernunft an.«

»Vernunft, mein Bester?!« sagte die enorme Baßstimme, »es handelt sich um die Ehre!«

»Man kann vor lauter Ehre als Don Quixote handeln.«

»Will ich, will ich lieber, als nicht fair handeln.«

»Ach, Quatsch...«

Das Wort fiel als Bombe in die Erregung und zersprengte sie. Es folgte die Stille, wie nach einer großen Explosion.

Das hatte Amtsrichter Dr. Fritz Haldenwang gesagt? Er, für den in jeglicher Hinsicht, in allen moralischen wie materiellen Fragen, die das Leben nur irgendwie aufwerfen konnte, sein Freund, der Bürgermeister, eine Autorität war?

Er erschrak ja selbst nicht wenig.

»Na – verzeih!« sagte er aber flink und schlug dem Freund schallend auf die breiten Schultern. Aber der lachte schon. Er wußte ja, wie's gemeint war.

»Quatsch – das sagst du woll so. Mensch, stell' dir mal vor: Erbschleicher! Nee – da mag ich nicht mit 'rumlaufen, mit so 'ner Etikette auf'n Buckel«, sprach er mit seinen sonorsten Tönen.

»Aber das ist ja eben der Unsinn. Das bist du ja gar nicht. Die Stadt hat doch dreimalhunderttausend für lauter gemeinnützige und wohltätige Stiftungen geerbt und dir hat die alte Dame, weil sie dich gern mochte, weil du ihr die letzten dreiviertel Jahre ihres Lebens manche Stunde verkürzt hast, weil sie deine Selbstlosigkeit erkannte, hunderttausend vermacht. Aller Ohren haben die schmeichelhafte Begründung gehört. Dieses Erbe abzulehnen wäre der reinste Unverstand.«

Der Bürgermeister wanderte mit seinen wuchtigen Schritten auf und ab, so daß die kleine Toni, sicher zwischen den Knien ihrer Mutter stehend, sich sehr davon unterhalten fühlte, indem sie zusah.

»Wenn die Frau nur nicht so genaue Bestimmungen dazu gesetzt hätte! Dann wär ja alles gut. Aber lehne ich ab, kommt's nicht mal Wachow zugute. Und den Millionären da in Berlin gönn ich's auch nicht. Das Schreckliche ist, ich kann ja nicht verfügen! Nicht mal verfügen kann ich. Sonst gäb ich die ganzen Hunderttausend als zinsfreies und unkündbares Darlehn der Geembeha! Aber nein, sie müssen in Konsols fest liegenbleiben, ich soll nur die Zinsen haben!«

Er blieb vor dem Doktor Berthold stehen, stach mit seinem fleischigen weißen Zeigefinger in die Luft in der direkten Richtung auf Bertholds Brust und sagte mit den grollendsten Tiefen, in die eine Menschenstimme nur irgend hinab konnte:

»Das war des Tells Geschoß!«

In Bertholds Augen war ein behagliches Leuchten und über sein schmales, sich nach unten vorbauendes Gesicht ging ein zufriedenes Lächeln. Aber er zuckte die Achseln, als sei er vollkommen unschuldig.

»Jawoll,« sprach der Bürgermeister bestimmt, »du hast das der alten Frau eingegeben.«

»Wenn er's hat, tat er sehr recht«, sagte der Amtsrichter. »Nun hast du doch lebenslänglich die Zinsen. Und mir scheint, du kannst sie brauchen.«

Ob er sie brauchen konnte! Da waren vorgestern, am ersten Oktober, mit einer geradezu beleidigenden Pünktlichkeit die überraschendsten Rechnungen eingelaufen. Sachen, an die man wahrhaftig nicht mehr von fern gedacht ... Aber schließlich ... wenn man mehr hatte, brauchte man wieder mehr und zuletzt war es doch dasselbe...

»Und ich bleibe dabei: es ist nicht fair, anzunehmen. Immer wird mir's sein, als hätte ich die Gemeinde bestohlen...«

Da sagte Frau Antoinette vom Fenster her, indem sie ihr Töchterchen von sich schob und zugleich aufstand:

»Nehmen Sie nur an. Und setzen Sie sogleich ein Testament auf, worin Sie das Geld Ihrerseits der Stadt Wachow vermachen.«

Die Treffsicherheit dieses Ausspruches machte den Amtsrichter und den Bürgermeister ein paar Augenblicke mundtot. Dies schlug dann in Begeisterung um, die mit einigen Flaschen des famosen Listrac gefeiert werden mußte, den der Amtsrichter gerade erst von seinem Lübecker Weinhändler bekommen hatte.

Die Aalsuppe war glänzend geraten, der Prager Schinken, den es dazu gab, schmeichelte sich förmlich der Zunge ein.

Der Bürgermeister erwog eine Trauerbinde um den linken Unterarm, was Haldenwang nur für Offiziere mit offizieller Trauer zulässig fand, während Zivilisten bei so konventionellen Gelegenheiten den Flor um den Oberarm trügen. Der Ankauf eines neuen Zylinders erübrigte sich: der Bürgermeister hatte immer einen glänzenden im Gange, da er nie einen Amtsweg ohne solchen tat.

Und so ging die Erbschaft seinem Gemüte doch noch angenehm ein.

Er spürte zu seiner Freude schon am nächsten Tag, daß kein Wachower sie ihm mißgönnte. Er nahm auch auf der Straße ziemlich jedermann am Rockknopf und erzählte, daß er seinerseits das Geld wieder der Stadt hinterlasse. Berthold setze schon den Entwurf zu dem Testament auf.

Es war jedem einzelnen Wachower eigentlich zumute, als habe er persönlich geerbt. Ein goldenes Zeitalter schien anzubrechen. Und das Begräbnis der alten Konsistorialrätin Klinghammer war beinahe ein Freudenfest in Schwarz.

Bald danach fand die große Gesellschaft statt, die Amtsrichter Haldenwangs im Saale des »Erbgroßherzogs« gaben.

Glücklicherweise lag der alte, bemooste und grobporige Grabstein, der in unleserlichen Buchstaben die strengen Tugenden des vor fünfzig Jahren verstorbenen Konsistorialrates rühmte, schon wieder acht Tage an seinem Platz, von dem man ihn genommen, um die Gebeine der Konsistorialrätin einzubetten. Ja, acht Tage lang lag er schon wieder da und der Steinmetz war dabei, ihn nun mal zu reinigen und die milden Tugenden der Konsistorialrätin mit seinem Kliogriffel hineinzubohren.

Bereits bei jener vorzüglichen Aalsuppe hatte Frau Antoinette, die an dem Mittag von den drei Herren als völlig autoritative Persönlichkeit anerkannt und geehrt wurde, dies festgestellt: der Bürgermeister konnte acht Tage nach der Beerdigung seiner Erblasserin durchaus, ohne Anstoß zu erregen, das Fest mitmachen; man legte eben in solchen Fällen für einen Tag die Trauer ab.

Frau Antoinette war sehr gespannt gewesen, ob Hendrik Hagen zusage. Mit ihm war kein bequemes Verkehren. Wenn man auf das sicherste gehofft hatte, mit dieser glänzenden Männererscheinung anderen Eingeladenen zu imponieren, sagte er noch in der letzten Minute ab.

Aber diesmal wollte er kommen und hatte auch dem Amtsrichter bei einer zufälligen Begegnung versprochen, daß keine Absage in letzter Stunde eintreffen werde.

Nun ging Frau Antoinette im Speisesaal des »Erbgroßherzogs« hinter den Stuhlreihen der großen Hufeisentafel entlang und indem sie sich über jede Stuhllehne vorwärts bückte, legte sie die Tischkarten auf die Sektgläser.

Ihr Mann ging nebenher, immer fürsorglich achtgebend, daß er nicht in die hellblaue Seidenschleppe seiner Frau träte. Übrigens hielt er den entfalteten Plan in den Händen, auf welchem die Tafel und die Namen der Tischgenossen säuberlich gezeichnet standen. Er las laut vor, welche Karte nun zu legen sei.

Zwei Gaskronen hingen über der Tafel vom Plafond herab, aus dem Mittelpunkt dicker Stuckarabesken kommend. An jeder brannte vorerst nur träumerisch und sparsam eine Flamme, das Glas, Porzellan und Silber sowie den reichen gelben Chrysanthemumschmuck karg beleuchtend. Der Saal war erst kürzlich renoviert worden, und zwar in einem mißverstandenen Jugendstil. Da rankten sich auf grünlicher Wand fast farblose Alpenveilchen hin, deren mehrere Meter lange Stengel an verschlungene Schiffstaue erinnerten. Zwischen ihnen turnten magere Nymphen offenbar nach den Prinzipien von »Mein System«. Der Wirt war sehr stolz auf die Malerei und hatte in Zeitungsannoncen extra dem p.t. Publikum seinen »prachtvoll nach modernstem Stil renovierten Saal« zu Privatfestlichkeiten angeboten.

Ein Streckchen hinter Frau Antoinette her schritt ihr Bruder, der bei ihr zum Besuch weilende Oberleutnant Püllmann, im dunklen Waffenrock mit dem reich in Silber bestickten Kragen seines Gardepionierbataillons. Er war blond wie seine Schwester und sah wie sie zufrieden und hell in die Welt. Mit dem sogenannten »Kasinogriff« rieb und schob er während seines inspizierenden Ganges die Hände aneinander. Er las die ausgelegten Namen, um im voraus ein bißchen orientiert zu sein.

»Und welche holde Schöne soll die Ehre von mir haben?« fragte er.

»Du kriegst Fräulein Brita v. Benrath. Da mach' dich man 'ran. Die erbt mal Iserndorf«, riet Frau Antoinette.

»Ih – wo ...« sagte der Amtsrichter.

Die Frau sah überrascht ihren Mann an. »Wieso denn nicht?«

»Ich meine: erst erbt's doch ihr Vater«, sagte der Amtsrichter und nahm jene Miene an, welche seine Frau die »undurchdringliche« nannte und die sie deshalb stets sofort völlig durchschaute.

»Da stimmt was nicht!« sagte sie deshalb mit Gewißheit.

»Ach, was sollte wohl nicht stimmen«, meinte er ärgerlich.

»Is se denn hübsch?« fragte der Oberleutnant, um zur Sache zu kommen.

»Schön!« stellte Frau Antoinette ganz einfach fest.

»Amerikanerin«, sagte ihr Mann.

Sie korrigierte das.

»Kann man nicht so geradezu behaupten. Der Vater ist doch Deutscher. Und die Mutter war es auch. Daß Brita so'n bißchen was angeflogen ist von der großzügigeren Lebensweise, das ist natürlich. Besonders seit dem Tod der Mutter hat sie offenbar in einem sehr großen Haushalt gelebt und sich entsprechende Bedürfnisse angewöhnt.«

»Na,« sagte der Oberleutnant, »zu sowas gehört dann viel Geld, Millionenmitgift! Sonst kosten se mehr als se mitbringen.«

»Sehr richtig,« stimmte der Amtsrichter bei, »und von diesem Standpunkt aus rate ich dir, dich nicht in Brita v. Benrath zu verlieben.«

Jetzt erschien der Wirt, Herr Brügge. Er war im Frack mit weißer Krawatte, wie ein Gast. Er machte auch, trotz der Gastgeber, die doch Haldenwangs waren, den ganzen Abend immer nebenher die Honneurs seines Hauses, plauderte kordial mit allen, sah stets nach dem rechten und machte somit das ganze Fest mit, nur daß er nicht gerade an der Tafel seinen Platz hatte. Aber das waren die Wachower so gewöhnt. Herr Brügge war klein und breit, hatte O-Beine und einen prachtvollen blonden Schnurrbart, auch trug er immer weiße Westen, zwischen deren oberstem und zweitem Knopf er seinen Daumen zu haben pflegte, wenn er mit jemandem plauderte.

Er berichtete, daß in den Garderobezimmern, wozu für heute die Klubstuben des Kegelvereins »Gut Holz« eingerichtet waren, sich schon Gäste befänden.

Darauf begaben sich Haldenwangs mit ihrem Oberleutnant in den anstoßenden Raum, der durch einige Sofas und Fauteuils, die um weißgedeckte Restaurationstische standen, etwas salonähnliches hatte – wenigstens nach Herrn Brügges Meinung. Es stand dort auch eine lebensgroße »Flora«; ihr frisch übertünchtes Gips hob sich blendend aus der Gruppe grüner Blattpflanzen. Sie hatte eine verschlossene Büchse im nackten rechten Arm, hielt den Finger der Linken an die Lippen und lächelte beinahe geheimnisvoll. Ganz vorsichtig hatte Dr. Berthold, Brügges Rechtsanwalt, mal angedeutet, daß es eine Pandora sei. Aber da sagte Herr Brügge, den Namen kenne kein Mensch, auch er habe nie was von 'ner Pandora gehört, während »Flora« was populäres habe und immer passe. Sowohl bei Kaisersgeburtstag als auch beim Essen des Landwirtschaftlichen Vereins und bei allen Privatfestlichkeiten.

Die Räume füllten sich schnell. Haldenwang und Frau waren vergnügte Leute und von geselliger Natur. Das wirkte den Gästen förmlich entgegen wie angenehme Ofenwärme tut, wenn man aus der Kälte kommt, und alle fühlten sich auf der Stelle behaglich.

Frau Marya Keßler hatte sich zu diesem Fest ein neues Kleid in Berlin gekauft und war extra darum hingereist, was nicht unbekannt in Wachow bleiben konnte. Man staunte die gelbseidene, beflitterte Pracht der Robe an und schloß aus diesem Aufwand allgemein, daß die Witwe sich noch heute wieder verloben werde.

Sie hatte Haldenwangs so wiederholt, so dringend gebeten, ihr doch Hendrik Hagen als Tischgenossen zuzuerteilen, daß man ihr diesen Wunsch wohl erfüllen mußte. An ihrer anderen Seite sollte der Bürgermeister sitzen, ihr gegenüber der Bezirkskommandeur v. Lorenz. Das brachte sie, bevor sie den Saal betrat, noch rasch in Erfahrung durch eine kurze Flüsterfrage an Herrn Brügge. Sie war zufrieden. Die Aussichten waren gut. Oh – sie wollte »ihm« schon zeigen ...

Wirklich: Hendrik Hagen hielt Wort. Bei seinem und Andrees Eintritt huschte eine kurze Stille durch den Raum. Immer wirkte das Erscheinen der besonderen Persönlichkeit; es war aber auch die Neugier im Spiel, denn man erzählte sich, daß Hagen jetzt mit seinem Stiefsohn ein Herz und eine Seele sein solle. Und die Leute wollten ihnen nun gleich von den Gesichtern ablesen, ob es wohl wahr sein könne.

Wirklich: Der junge Mann wenigstens sah wie die sorglose Lebensfreude selbst aus. Auch Hendrik Hagen gab sich in einfacher Heiterkeit.

Das Programm des Festes war so gedacht: Nachdem der Tee genommen sein würde, sollte ein und eine halbe Stunde getanzt werden. Dann wollte man soupieren. Und nachher wieder tanzen, solange die Musiker noch blasen und die Füße noch schleifen mochten – je länger, desto besser. Denn Haldenwangs sahen immer einen Erfolg darin, wenn die Gäste bis zum Morgengrauen bei ihnen blieben.

Frau Marya Keßler ertrug es mit Gelassenheit, daß Hendrik Hagen sie nur sehr flüchtig begrüßte. Sie wußte ja: heute entging er ihr nicht. Und inzwischen handelte sie schon ihrem Plan gemäß: sie kokettierte und lachte bald mit dem Major v. Lorenz, bald mit dem Bürgermeister.

Der »Oberst Ollendorf« fühlte sich in die lebhafteste Unruhe versetzt, strich nervös seinen grauen Schnauzbart und trug seine kurze Gestalt noch martialischer als sonst. Das gelbe Kleid blendete ihn wieder ungemein und er dachte, schon reif zu Entschlüssen: sie muß doch viel Geld haben.

Den Bürgermeister störte es einfach, daß sie alle paar Minuten sich in die Gespräche drängte, die er bald mit diesem, bald mit jenem führte. Immer über die Geembeha, versteht sich. Es wurde allgemein beklagt, daß die Testamentsbestimmungen der Konsistorialrätin es unmöglich machten, jene dreimalhunderttausend Mark ganz oder doch teilweise in die Geembeha zu stecken. Man sah Bertholds Einfluß darin. Und da er als unerhört klug galt, schien es zu bezeugen, daß er kein Vertrauen zur Geembeha habe. Nun konnte der Bürgermeister sich nur Mühe geben, mit seiner Überredungskunst die flau werdende Begeisterung wieder anzufachen. Und er gab sich Mühe.

Jetzt sprach er auf Herrn Hermann Fedder ein, den er aus dem Gewühl herausbuchsiert und so festgestellt hatte, daß Fedder schon fast mit seinem Frackrücken den frischen Gips der Flora abwischte.

Hermann Fedder und sein Bruder, der Doktor Georg Fedder, fühlten sich unbedingt als erste Leute von Wachow, sahen auf eine Familientradition zurück und konnten es nicht ertragen, wenn sie nicht ihre Hände hatten in allem, was geschah. Dabei munkelte man, daß ihr Vermögen sehr zusammengeschrumpft sei und ihnen keineswegs mehr dieses gewaltsame Mittun und an der Spitze marschieren bei allen Dingen gestatte. Ihn hatte Doktor Berthold im Sinne gehabt, als er aussprach, daß manche sich beteiligen würden aus Eitelkeit und um ihres Kredites willen.

Herr Hermann Fedder hatte eine seltsam schlaffe Haltung, so, als fehle ihm das rechte Knochengerüst. Er bemühte sich immer, den Bauch einzuziehen, um eleganter zu erscheinen, und schob dabei die Schultern unwillkürlich immer nach vorn. Über sein fleischige Nase hin und die beiden länglichen, vollen Wangen zog sich als Sattel ein rötlicher trockner Ausschlag.

Nun stand er da und hielt den Klapphut so schlapp in der herabhängenden Rechten, daß es aussah, als wolle er ihn sachte fallen lassen.

Als der Bürgermeister eine Weile in ihn hineingesprochen hatte, entsann er – der Bürgermeister – sich wohl der Bertholdschen Andeutungen und schloß:

»Also: zustande kommt die Sache unter allen Umständen. Ich kann Ihnen morgen, wenn's Ihnen Spaß macht, in meinem Bureau die Namen und gezeichneten Summen vorlegen. Sie werden staunen. Wenn Sie fernstehen wollen – Ihre Angelegenheit, mein lieber Fedder! Es geht ja auch mal ohne die Fedders in Wachow. Vielleicht geniert es Sie auch gerade – man hat ja nicht immer sein Kapital so disponibel.«

Da fuhr wieder Frau Marya Keßler dazwischen mit allerlei scherzhaften Fragen und Reden.

Und sie nahm Aufstellung neben den Herren – denn gerade von diesem Platz aus konnte sie Hendrik Hagen sehr gut im Auge behalten.

Hoch hielt sie ihr reichfrisiertes Haupt, in dessen vielen, spiegelblanken und glatten Haarpuffen und Schlingen heute ein gelbes Rosengesteck saß. Hinter dem linken Ohr war es befestigt und hing in Knospen und Blättern an feinen, geschmeidigen Stengeln noch frei bis auf die Schultern hinab. Und ihre scharfen Blicke wachten ...

Da sah sie und sie allein etwas Auffallendes. Über das schöne Männerantlitz, das unter den dunkelgrauen Haaren so jung und so vornehm aussah, das noch eben unbefangen gelächelt hatte zu dem, was Antoinette Haldenwang herausplauderte – über dieses Gesicht flog ein Erröten ...

Die Frau sah auch, daß der Blick des Mannes an der Tür hing ...

Und da war gerade die alte Frau v. Benrath eingetreten. Mit ihr diese Brita – von der Frau Marya Keßler nicht begriff, einfach nicht begriff, wie man sie schön finden konnte.

Sollte er um dieser willen erröten? ...

Aufpassen, dachte sie mit heißem Herzen, aufpassen!

Die alte Frau v. Benrath hatte ein schwarzseidenes Kleid von vergangener Mode an und erschien noch länger und dünner als sonst. Ihre Augen waren kaum zu erkennen, so eng hatte sie die Lider zusammengeschlossen, und wie immer, wenn sie nicht gerade fest mit dem Rücken angelehnt saß, hielt sie den sehr kleinen Kopf mit der tausendfach zerknitterten Gesichtshaut sehr vorgeneigt.

»Sie hat was von 'ner gebeugten Straßenlaterne«, sagte der Bürgermeister drastisch. Er grollte ihr, er fühlte sich von ihr als Narr behandelt, weil sie ihm dreißigtausend voll Enthusiasmus versprochen hatte, um sie noch selbigen Tags zurückzuziehen. So 'n nobler Kerl er immer sein wollte – das konnte er doch nicht ganz überwinden.

»Straßenlaterne? Nee – mehr Kängeruh«, sagte Frau Marya Keßler; »und elend! Wie aus 'm Sarg raus.«

»Ja, miserabel. Wie von Nervosität aufgerieben«, meinte der Bürgermeister.

»Aber die Enkelin sieht pompös aus«, sprach Fedder bewundernd.

»Finden Sie das?« fragte Frau Marya Keßler gedehnt und in ihr betontes »das« so viel abfällige Kritik legend, daß Fedder, der allen Leuten nach dem Munde sprach, gleich hinzusetzte:

»Nur ein bißchen auffallend.«

Freilich fiel Brita Benrath auf. Sie strahlte von Vorfreude, von Neugier, von dem Bewußtsein, ein wundervolles Kleid anzuhaben. Daß Ethel Stevens es ihr mit all den andern geschenkt hatte, als sie – Ethel – zu ihrer Aussteuer alles neu bekam, wußte hier ja kein Mensch. Und Brita hatte es nicht einmal zu modernisieren brauchen. Was eine Amerikanerin von vollkommener Eleganz den einen Winter sich angeschafft hatte, war im folgenden selbst in einer europäischen Hauptstadt noch von der neuesten Mode. In Wachow aber schien es fast extravagant.

Der Amtsrichter kam auf die Benrathschen Damen zu und begrüßte die Großmutter.

Auch Hendrik Hagen stand schon vor ihnen. Sein Künstlerauge berauschte sich an der Erscheinung des schlanken Geschöpfes mit dem schmucklosen, kupferbraunen Haar. Und wie leicht und fein diese dünnen, dünnen Stoffe und Spitzen über das blasse, bläuliche Seidenkleid hinflossen. Wie köstlich die Schultern geformt waren und wie die weiße Haut leuchtete ...

Brita wurde rot – sehr rot.

Er sah es mit Herzklopfen. Glühende Freude erfüllte ihn.

Sie sah an ihm vorbei. Vielleicht scheu ... Als wage sie nicht, seinem Blick zu begegnen.

Vielleicht weil jeder Blick hin und her sein konnte wie eine Flamme ...

Denn sie wußte ja nun von ihm ... viel ... alles ...

Sie hatte ihn gelesen.

War ihm nahegekommen – hatte in seine Seele geschaut ...

Sie wußte welcher Liebeskraft er fähig war ... Sie erbebte vor ihm ... Oh, süße Furcht des Weibes vor der Gewalt einer Leidenschaft.

Er sprach. Er wunderte sich, daß er imstande war, ganz im Zusammenhang und äußerlich beherrscht mit ihr zu sprechen.

»Wir haben uns so lange nicht gesehen.«

»Ja, es tut mir leid – ich war zufällig immer nicht zu Hause...«

»Ich hätte mich vorher anmelden sollen. Dreimal kam ich mit dem Automobil. Immer wenn das Wetter erträglich war und ich hoffen konnte, Sie würden fahren wollen. Leider nur dreimal – Sturm und Regen verboten an den anderen Tagen selbst den Versuch.«

Hier fuhr die alte Dame hastig herum. Sie hatte, mit Haldenwang sprechend, genau zugehört.

»Brita war immer todunglücklich – todunglücklich, lieber Freund, wenn sie Sie verfehlt hatte ... ich war nicht wohl in den letzten Tagen, sonst hätt' ich schon wieder einmal gewagt, auf einen Löffel Suppe zu bitten ... meine Brita wurde mir schon zu traurig, weil wir den lieben Gast entbehren mußten ... verabredet euch nur heut ... das Wetter scheint ja besser zu werden ...«

In diesem Augenblick erklangen vom Tanzsaal her lebhafte Töne in merkwürdiger Klangmischung. Ein Waldhorn blies und zwei Geigen fiedelten hinein in Walzertakte, die der Klavierspieler Schmeckebier mit robust zuhauenden Händen aus den Tasten holte. Man spürte: dieser Mann machte sich mit einer entschlossenen Munterkeit an die Arbeit.

Und in eben diesem Augenblick fuhr ein seltsamer Schreck – oder doch ein Staunen durch Hendrik Hagens Brust ...

Eine Lächerlichkeit ...

Etwas ganz Äußerliches, Albernes ... Mit keinem Gedanken hatte er sich vorher klargemacht, daß hier getanzt werden würde...

Er hatte nur immer gedacht: ich werde sie wiedersehen, endlich und ganz gewiß. Sehen im vollen Glanz ihrer jungen Schönheit.

Und nun dachte er blitzschnell: ich kann doch nicht mit ihr tanzen!?

Er war nie ein Tänzer gewesen. Immer hatte er sich ziemlich fern von allem banalen Gesellschaftstreiben gehalten. Verschlug ihn der Zufall einmal auf Bälle, sah er zu – freute sich an der Grazie, lachte über Plumpheit, bemerkte allerlei kleine Einzelbilder in dem ewigen, endlosen Wandelpanorama, das den umfassenden Titel führt »Menschen untereinander«, und fühlte sich durch die eine oder andere Beobachtung doch für das Zeitopfer entschädigt. Für einen Künstler, der sieht, gibt es keine leeren Stunden.

Erwartete Brita, daß er mit ihr tanze? Würde es sie kränken, enttäuschen, wenn er es nicht tat?

Er hatte ein starkes Empfinden davon, daß es seiner Persönlichkeit nicht anstehen würde, zu tanzen ... Hendrik Hagen, der walzt ... sein Geschmack lehnte sich dagegen auf...

Und er beantwortete all diese in blitzrascher Schnelligkeit durch seinen Kopf wirbelnden Gedanken auch schon, kaum daß sie entstanden, mit einem festen »Nein!«

Aber irgendeine undeutliche Schmerzempfindung, eine Unruhe befiehl ihn.

»Ich tanze nicht, mein gnädigstes Fräulein,« sagte er mit einem etwas erzwungenen Lächeln, »wenn Sie erlauben, will ich Ihnen andere Tänzer...«

Aber da kamen schon Andree und der Oberleutnant Püllmann, der sich von seinem Kameraden, dem Bezirksadjutanten Oberleutnant Müller vorstellen ließ. Denn Müller hatte schon einmal die Ehre gehabt. –

Und zugleich war alle Scheu, alle Befangenheit von Britas Wesen wie fortgeweht.

»Guten Tag,« sagte sie vergnügt, »guten Tag.«

Und reichte Andree schlankweg die Hand ...

Und war sehr lebhaft mit den beiden Offizieren.

Den hohen, grauhaarigen Mann an ihrer Seite schien sie nicht mehr zu sehen.

Er trat zurück.

Das war ja ganz natürlich so von ihr – ganz klug sogar...

Aber der Ton, in dem sie »guten Tag« gesagt, hallte doch in ihm nach. Wie ein starker Freudenklang war er gewesen...

Er hat dem »Tänzer« gegolten, sagte er sich; sie als Fremde mochte eine rührende kleine Mädchenangst gehabt haben, ob sie auch genug tanzen werde.

Er wußte, daß Andree und sie sich auf eine fast romantische Weise kennengelernt hatten. Andree selbst, der an jenem Abend so unerwartet spät heimkam, erzählte den Grund dieser Verspätung.

Und so unbefangen fröhlich sprach er von diesem Erlebnis, wie von jedem andern.

Alles, was geschah, schien ihm Vergnügen zu machen, weil alles zum Leben gehörte und das Leben für ihn offenbar eine lustige Angelegenheit geworden war. Hendrik erinnerte sich nicht, daß der Sohn seiner Frau früher ein so heiteres Wesen gezeigt habe. Aber damals stand ja auch so viel zwischen ihnen. Und vielleicht hatte er ihn nie so genau beobachtet. Er lernte ihn jetzt überhaupt erst kennen. Und schätzte ihn als einen jungen Menschen von harmloser Frische ein, von gesundem Verstand und angenehmen Umgangsformen.

Er erinnerte sich, daß er bei jener Erzählung mit einer warmen, heimlichen Freude zugehört hatte. Wie jemand, der ein köstliches Wissen hat und es nur noch nicht verraten will ... Wie gut, daß Andree und »sie« sich so ohne Zwang, durch freundlich waltenden Zufall kennengelernt und offenbar einander »sehr nett« gefunden hatten. Es däuchte Hendrik Hagen, als ob bei jener Erzählung das Wort »sehr nett« gefallen sei...

Und es gibt Worte, ganz abgeschlissene, ganz gewöhnliche Worte, die einen Vorfall färben können; im voraus alle seine Folgen zu beleuchten vermögen ...

Zwei Menschen, die sich »sehr nett« finden, werden sich auch in aller Pläsierlichkeit beim Tanz zusammen vertragen ...

Es entzückte den Mann geradezu, daß Andres von Brita gesagt hatte, sie sei »sehr nett.«

Immerfort wiederholte er sich das. Mit einem merkwürdigen, geistesarmen Vergnügen klammerte er sich an dieses Urteil.

Wie köstliche Musik hallte es in seinen Ohren nach.

Es erfüllte ihn so ganz, daß er mit einem Lächeln voll Wohlgefallen dem Paar nachsah, das anderen Paaren in den Tanzsaal folgte.

Sie waren gleich groß, ganz gleich – man hätte, ja wohl von seiner Scheitelhöhe zu der ihren ein Lineal legen können, es wäre wagerecht geblieben.

Das gab ihnen für das beobachtende Auge des Mannes etwas Geschwisterliches ...

Wie wenn es eine Vorbedeutung wäre ... Vor seiner Seele erstanden Zukunftsbilder – undeutlich noch, wie eine Ferne, die im durchsonnten Frühnebel sich mehr ahnen als erkennen läßt. Aber gerade das, daß sie sich unter durchleuchtetem Schleier noch verbirgt, gibt ihr starke, seltsame Kräfte – eine freudige, spannungsvolle Ungeduld wirkt aus ihr hinüber zu dem, der ihr entgegenstrebt ...

Hendrik Hagen schloß einen Moment die Augen. Nur um zu genießen, was durch ihn hindämmerte.

Nur um sich von diesen lauten und eifrigen Menschen zu scheiden, die sich ins Vergnügen hineinsteigerten ...

»Spielst du mit Lorenz und Georg Fedder Whist?« fragte der Amtsrichter, indem er den in seine Träume Versunkenen am Arm packte, denn er hatte es eilig. Er rannte zwischen seinen Gästen hin und her, um alle nach ihren Wünschen unterzubringen.

»Nein, danke. Ich sehe beim Tanzen zu.«

Der Amtsrichter stürzte weiter, mit seinen vier Kartenkönigen in der Hand, um nun einen davon dem Doktor Georg Fedder anzubieten. Der besprach sich gerade sehr eifrig und geheim mit seinem Bruder Hermann. Die Fedders taten nichts ohne einander und Georg war die Intelligenz in diesem Verband der Interessen. Jetzt hatten sie sich gerade klargemacht, daß sie ganz in die zweite Reihe gedrängt werden würden, wenn sie sich nicht an »Neu-Wachow G.m.b.H.« beteiligten. Georg hatte auch gewußt, wie Geld flüssig zu machen sei, wobei zugleich beide Brüder doch die Hoffnung hegten, daß die Geschichte noch scheitern würde. Sie haßten Berthold und gönnten ihm nicht, daß er, wie wahrscheinlich, im Aufsichtsrat später der führende Geist werden würde, denn Berthold, der fremd Zugezogene, hatte schon seit vielen Jahren den eingesessenen Georg Fedder mit Praxis überholt.

Georg Fedder nahm eine Karte, und der Amtsrichter eilte weiter. Hendrik Hagen stand einsam. Er empfand es nicht. Vielleicht traute sich keiner recht an ihn heran. Man hatte so wenig Interessen mit ihm gemeinsam, eigentlich gar keine. Die älteren Herren fanden sich zu Skat- und Whistpartien zusammen, besprachen Geschäfte – mehr noch und eifriger als etwa Politik – oder Lokalfragen, oder die Geembeha.

Um die weißgedeckten Tische saßen die älteren Damen und ertrugen höflich lächelnd und plaudernd ihr Los, das sie nach kleinbürgerlicher deutscher Sitte eigentlich vom Vergnügen ausschloß.

Hendrik Hagen überflog das alles mit einem Blick und hatte einen Moment das Gefühl, als sei er auf einen Schützenfestball verschlagen. Sein Geschmack als Künstler, sein Bedürfnis nach vornehmen Lebensformen lehnte sich gegen dies alles auf. Eine leise hochmütige Ungeduld machte ihn nervös.

Wie alle diese Menschen strahlten im Behagen an ihrer eigenen Plattheit – wie sicher sie sich fühlten in ihren engen, nachlässigen Manieren ... Oder wie feierlich steif sie wurden, wenn sie versuchten, einen anderen Ton anzuschlagen.«

Und doch waren es alles Menschen von guter Erziehung, aus angesehenen Familien.

Wie kam das? Woran lag das? Die Kleinstadt war es nicht. Auch nicht dieser Wirtshausraum.

Hendrik hatte das Ähnliche beobachtet in Gesellschaften der Hauptstädte Deutschlands – er hatte gesehen, daß in prachtvollen, künstlerisch geschmückten Räumen derselbe Ton der Unfreiheit oder der Nachlässigkeit erklang. Er wußte auch, woran es lag. Oft dachte er: wir sind wie Leute, die, zu Vermögen gekommen, sich nun zunächst erst mal schöne Kleider und feine Sachen anschaffen. Unsere Möbel, unsere Tafeln, unsere Röcke fangen an aristokratisch zu werden ... aber eben nur sie ...

Und seine empfindliche Seele sehnte sich nach Schönheiten, Vornehmheiten, Freiheiten...

Eine Geselligkeit ersehnte er, in fürstlichen Formen. Aber erfüllt mit einem freien, geistigen Gehalt. Mit einem Lächeln so funkelnd wie Brillanten.

Er liebte es, sich zwischen wissenden, klugen, wortgewandten Menschen zu bewegen, die den Mut hatten, über alles zu sprechen, weil sie durch vollkommenste Erfahrung wieder eben so unbefangen geworden waren, wie Kinderseelen ohne jede Erfahrung.

Er liebte schöne Frauen und elegante Männererscheinungen in Kleidern, die dem Auge Wohltat wurden ...

Und er sah Menschen im »Staat« ...

In dieser Umwelt gab es nur einen Anblick, sie erträglich zu machen...

Brita.

Er trat in die Tür zum Tanzsaal. Da überraschte ihn zunächst ein Schauspiel ... Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß der Bürgermeister ein leidenschaftlicher Tänzer sei, trotz der fünfundvierzig Jahre und trotz der Körperfülle. Denn wenn diese auch ziemlich gleichmäßig auf die ganze Gestalt verteilt war, auf zweihundertzwanzig bis -dreißig Pfund war der Bürgermeister immerhin zu schätzen. Rot war sein Gesicht unter dem blonden Haar und er legte sich ein wenig hintenüber. Aber trotzdem: er tanzte elegant, sehr leicht und mit sicherer Führung. Man sah Frau Antoinetten das Vergnügen an, mit ihm zu walzen.

Und nun sah er auch die Eine, um deretwillen er diese Stunden ertrug:

Sie tanzte noch oder schon wieder mit Andree. Es war sehr reizvoll, ihnen zuzusehen. Die Harmonie in ihren Bewegungen war überraschend. Es konnte scheinen, als hätten sie von ihren frühesten Kindertagen an nichts getan, als sich zusammen eingetanzt. Und ordentlich ernst und eifrig sahen sie dabei aus. Als würde ihre Ehre Schaden leiden, wenn sie diese Aufgabe nicht glänzend lösten.

Hendrik Hagen sah ihnen zu ...

Und wiederum beobachteten ihn ein paar Damen, die mit Teetassen oder Fächern in den Händen um einen der Tische saßen und mit Raubtierhunger nach Gesprächsstoffen ausspähten.

»Ich weiß nicht,« sagte Frau Doktor Georg Fedder, nachdem sie Hagen durch ihren goldgefaßten Kneifer beobachtet hatte und ihr rosigblondes Mopsgesicht nun der Nachbarin zuwandte, »ich weiß nicht – er ist doch fast Altersgenosse von meinem Mann. Aber er wirkt viel jünger.«

»Macht die Gestalt!« sprach die Baronin Meinshagen, die straff mit mageren Schultern dasaß und deren Mann auch nicht voll war, »schlanke Menschen wirken immer jünger.«

Sie wußten nicht, daß die Jugendlichkeit in Hendrik Hagens Erscheinung von seinen Augen kam.

Sie sahen es nicht, daß er die jungen, ganz jungen Augen des Dichters oder des Liebenden hatte. Was wußten sie davon ...

»Wie muß ihn das langweilen,« flüsterte die Doktorin Fedder, »so zuzugucken ... Gott, und er lächelt sogar ...«

Ja, er lächelte. In einer ersten Aufwallung, voll Unbefangenheit noch, freute Hendrik Hagen sich an den so wichtig, so in die Aufgabe vertieften, tanzenden jungen Menschen...

Er sah Brita – vor allem sie ... ihr Tänzer war nur eine Nebenperson!...

Das feine, dünne Kleid schmiegte sich beim Tanz so eng um die schöne, junge Gestalt – es flatterte in so zarten, weichen Falten – der Oberkörper mit den weißen, herrlichen Schultern bewegte sich so maßvoll – und doch – es war etwas Drängendes, Hingebendes in dieser Bewegung,..

Wenn er sie so halten dürfte!

Und ihm war, als würde ihm der eigene Körper schwer von dem Verlangen, das ihn durchrann ...

Zugleich aber erwachte in ihm ein merkwürdiges Gefühl ... ganz beklemmend ... so wie eine plötzliche Atemlosigkeit war es nur ... kein deutlicher Gedanke ... Gedanken sind ja wie stumme Worte... nein, Worte waren es noch nicht... nur ein Druck, der beengte... wie Kurzluftigkeit beengt ...

Mit ein paar Bombenakkorden schloß nun der Walzer.

Die Paare schwirrten und rannten durcheinander.

Frau Marya Keßler am Arm des Oberleutnants Müller, der umsichtsvoll erst einmal seine Pflicht gegen die gastfreie Dame erfüllt hatte, kam hochatmend heran.. Sie stellte sich neben Hendrik Hagen auf. Er bemerkte es nicht. Er sah nach Brita aus – vor Begierde brennend, wenigstens in den Pausen mit ihr zusammen zu sein.

Aber Brita wurde gerade von ihrer Großmutter festgehalten. Und was für ein gequältes Gesicht sie machte, als sie nun zuhörte und antwortete...

Ja, Brita dachte: es ist schrecklich! Denn die Großmama zischelte ihr zu:

»Warum warst du vorhin so unfreundlich gegen Hagen?«

»War ich nicht.«

»Doch. Fast stumm.«

»Gott, was soll ich noch viel sagen? Wenn du ihm immer so viel...«

»Vorlügst!« hatte sie sagen wollen. Und erschrak doch darüber.

»Es ist meines Vaters Mutter«, dachte sie mit einem guten Vorsatz.

Und außerdem dauerte die Großmama sie. Die alte Frau schlief fast gar nicht mehr. Brita freilich merkte es nicht, aber sie hatte gerade noch heute gehört, daß Mamsell zu Herrn Ludewig sagte, Großmama sei die halbe Nacht umhergewandert, worauf Herr Ludewig fast roh antwortete, das sei ja kein Wunder.

Immer hatte Großmama Kopfweh und ihre Knie froren so sehr.

Deshalb wollte Brita verträglich sein. Sie hatte auch eine Entschuldigung zur Hand, die sie nicht zu erfinden brauchte.

»Ach,« sagte sie, »ich war nur verlegen. Ich fürchtete, er würde mich nach seinen Büchern fragen und wie sie mir gefallen hätten. Und ich bin ja noch gar nicht zum Lesen gekommen.«

»Ich weiß nicht, was ich von dir denken soll,« sagte Frau v. Benrath heftig, doch leise, »du wirst es morgen nachholen. Und kommt er heut drauf, gestehst du es unter keinen Umständen. Es würde ihn kränken, er nähme es für eine Abweisung.«

»Lügen tu' ich nicht«, sagte Brita trotzig.

»Lügen – ach was!«

Und dann:

»Es ist meine Pflicht, seine Absichten und Hoffnungen zu nähren,« flüsterte die alte Dame, während sie zugleich tat, als biege sie an dem Ausschnitt von Britas Kleid eine Schleife zurecht. »Ach, er hat ja gar keine!« sagte Brita wegwerfend. Es kam ihr so bequem vor, wenigstens in diesem Augenblick, nicht an seine Liebe zu denken, zu glauben.

»Das wäre entsetzlich! Du mußt reich heiraten.«

Jetzt schlidderte der Oberleutnant Püllmann heran.

»Zur Quadrille, gnädiges Fräulein – zur Quadrille.«

»Aber ein nettes vis-à-vis!« befahl Brita gleich.

»Herr v. Marschner mit dem einen Fräulein Fedder...«

»Famos!« sagte Brita.

Frau v. Benrath, lang, vorgeneigt und mit halb geschlossenen Augen kehrte in den Salon zurück.

Dort stand unterdessen, auch hart unter der gipsenen »Flora«, Andree Marschner und unterhielt sich mit Berthold.

»Wir gehen noch immer um die Frage herum.«

»Das kann aber doch nicht dauern,« sagte Doktor Berthold, »wie kann man Unklarheiten ertragen.«

»Ich sonst auch nicht. Aber seh'n Sie mal, lieber Herr Doktor: zum erstenmal seit zehn, elf Jahren bin ich in guter Laune und herzlicher Art mit ihm zusammen. Ich mein' beinah: es war nicht so unklug, man lernte sich noch immer ein bißchen besser und näher kennen. Dabei kann ja das Vertrauen nur wachsen. Und wenn wir dann endlich auf die schwere Sache zurückkommen müssen, wird man sie liebevoller, offner bereden können.«

Berthold lächelte dem jungen, von Herzlichkeit und Wichtigkeit leuchtenden Gesicht zu. Ein famoser Junge, dachte er wohlgefällig, und das Knabenhafte steht ihm gut.

»Als Sie damals bei mir waren – wir mußten das Gespräch ja leider abbrechen, weil die alte Konsistorialrätin mich rufen ließ – da sagten Sie doch: Sie wollten noch am gleichen Abend mit Ihrem Stiefvater die Frage weiter besprechen.« »Wollt ich auch erst. Aber dann, auf der Rückfahrt – ich hatte damals ja noch den Umweg über Iserndorf zu machen und viel Zeit, mir die Geschichte durch den Kopf gehen zu lassen, dann kamen mir mit einemmal die besseren Gedanken. Ich find sie wenigstens besser, 'n bißchen Egoismus kann ja dabei sein. Ich fühl mich himmlisch wohl, so wieder in der Heimat. Ich hatte ja gar nicht mehr gewußt, wie schön es hier ist. Das will ich erst genießen.«

Er sagte es so voll Begeisterung, daß vor Berthold unwillkürlich das Bild erschien, wie es die Natur gestern und heute gerade geboten: brausende Stürme fegten schwarzgraues Regengewölk einher, so schwer von Feuchtigkeit war es, daß es sich in aller Schnelligkeit immer entlud und prasselnde Güsse auf die verschlammende Erde niedersausen ließ. Der kahle Wald zitterte und bebte im Sturm, wie ein Wesen, das man entkleidet hat. Auf der Landstraße waren die Wagenfurchen zu Wasserstreifen geworden. So früh, so brutal hatte sich der Herbst auf die Landschaft gestürzt...

Aber wenn Andree das so schön fand, daß er sich diese Freuden nicht einmal von einer so wichtigen Angelegenheit stören lassen mochte...

»Und dann denke ich auch,« fuhr Andree fort, »daß sich manchmal von heut auf morgen viel ereignen kann ... Wer weiß, durch welche äußeren Umstände er noch zur Erkenntnis kommen wird, daß es am natürlichsten ist: mir bleibt Rote Heide. Er soll ja sein Heimatrecht behalten! Wie würd' ich ihn vom Grab meiner Mutter vertreiben! Ich liebe ihn jetzt, weil er sie so liebt ... bis über den Tod ... Gott, ich find es wunderbar ... aber ich versteh es !... o ja, ich versteh es ...«

Seine Augen leuchteten.

Berthold, dem niemand angesehen haben würde, was er dachte, sprach langsam:

»Ich glaube, es ist nicht allein das Andenken an Ihre Mutter ... Er glaubt nirgendwo bessere Sammlung zum Schaffen zu haben ... Ich habe Ihnen vorgestellt, daß Ihnen das, gerade das auch Rücksichten ...«

»Nein – hören Sie mal,« sagte Andree lebhaft, »da irren Sie nun. Ich weiß es bestimmt, es ist wegen Mama. Das mit der 'Sammlung zum Schaffen' ist bloß Einbildung nicht von Ihnen, aber von ihm, wenn er's so gesagt hat. Es gibt allerwärts Tinte und Papier. Aber lassen wir das heut. Oh – die Musik fängt an ... Noch flink eine Frage: ist die alte Frau v. Benrath sehr wohlhabend?«

Berthold war nicht ihr Rechtsbeistand. Sie und ihr Ludewig, den Berthold für einen dunklen Ehrenmann hielt, wendeten sich immer an einen gewissen Mandatar Käselau, den Bruder von »Fräulein Ponürlich«, der von Gefühlen überströmenden Haushälterin des Bürgermeisters Minchen Käselau: dieser Mandatar hatte keinen glänzenden Ruf.

Berthold durfte also ruhig sagen, was er dachte, um so mehr, als er zu einem Klienten sprach, dessen Interessen er seit vielen Jahren wahrzunehmen gehabt.

Und Berthold sah etwas ganz Einfaches: einen jungen Mann, der im Begriff stand, sich in ein schönes Mädchen zu verlieben und nebenher ganz praktisch gleich erwog, daß die Partie in jeder Hinsicht passen werde; vielleicht dachte er schon, daß Rote Heide und Iserndorf in eine, in seine Hand kommen könnten.

Aber zugleich sah Berthold auch noch ein Bild: einen fürstlichen, grauhaarigen Mann, der unter rotem Herbstlaub durch den Wald ritt, hinter einem Wagen, darin ein Mädchen saß mit weißem Gesicht und kühngebogenem blauen Hut auf kupferfarbenem Haar ...

Leise und sehr langsam, als könne jedes seiner Worte mal vor Gericht kommen, sprach er:

»Ich fürchte, Iserndorf sitzt bis an die Bodenfenster voll Hypotheken ... wenn's nicht gar bis an den Schornsteinrand ist ... Wer weiß, wie alles aussieht, wenn die Alte mal die Augen schließt ...«

Er hätte viel mehr sagen können, z.B., daß er im Auftrage eines Hypothekengläubigers, unter Klageandrohung, die am ersten Oktober fällig gewesenen und nicht bezahlten Zinsen hatte fordern müssen und daß sie trotzdem noch nicht gezahlt worden waren. Aber das wäre indiskret gewesen.

»Oh«, sagte Andree...

Mit einem kurzen Bedauern. Aber seine junge Männlichkeit mußte aus der ungünstigen Auskunft irgendeinen Gewinn ziehen ... Seine Augen strahlten. Er sah aus, wie jemand, der einen beruhigenden, beglückenden Gedanken hat ... der sich als Tröster, als Retter fühlt ...

Er wollte noch etwas sagen oder fragen.

Aber da kam Püllmann und rief verzweifelt:

»Wo bleiben Sie denn!«

Mit dem Akzent eines Mannes, der einfach alles bedroht sieht. Und Andree mußte eilen, um sich Fräulein Georgine Fedder zu holen, weil die Quadrille wartete.

Wieder stand Hendrik Hagen und sah nun zu, wie die Quadrille sich abwickelte. Aber anders sah er ...

Die Musik mißhandelte sein Ohr. Es wurde grotesk, mit welcher präzisen Genauigkeit all diese Menschen ihre Schritte, Verbeugungen, Handreichungen ausführten. Es war eine Farce, wie sie dabei einander zulachten.

Es war eine Ungeheuerlichkeit, daß sie, die Eine, ihr Wesen verwandelte in diesem kindischen Tun ... Das war nicht mehr die Brita, die ein wenig die Allüren der verwöhnten Weltdame zeigte, die mit schwer lastenden Traurigkeiten und Verstimmungen kämpfte, die es zu tapferen Aufrichtigkeiten zu drängen schien – nicht das Geschöpf, das sich selbst noch ein Rätsel, sich nach jemandem sehnte, der sie befreite – von eigenen Unklarheiten befreite und denen ihrer engen Umwelt.

Sie war voll Fröhlichkeit ganz und gar dem Augenblick hingegeben ...

Und welchem wichtigen Augenblick ...

Oder fügte sie sich einem Zwang – dem törichten, gesellschaftlichen Zwang, der auch die Feinsten, Erlesensten zum Gewöhnlichen herabzwingt?

Hatte er nicht selbst schon heute verbindlich zu den Überflüssigkeiten der Rede, zu den Albernheiten des Tuns gelächelt?

Würde sie nicht fühlen, daß seine Blicke an ihr hingen?

Oder war sie klug, schamhaft, stolz... wollte nicht, daß diese Platten in das Süße, Hohe hineinsehen sollten, das sich zwischen ihnen entspann ...

Waren ihr vielleicht, während sie so lächelnd im Rhythmus gleitend schritt, die Rhythmen seiner Verse im Ohr? ...

Nun war auch dieser Tanz aus.

Und da geschah es, daß im Gewühl der jungen Menschen Andree und »sie« an seinem Arm an dem Mann vorbei kamen, der wartend, zusehend gestanden hatte.

Sein lächelnder Blick begegnete sich mit dem Blick des jungen Mannes.

Brita sah schön und fröhlich und unbefangen aus.

Sie hatte eine köstliche Stimmung wiedergefunden, eine, die sie für immer verloren geglaubt. So einfach und freundlich schien das Leben wieder, wie es einst neben ihrer Mutter gewesen. Sie atmete förmlich auf, wie nach den Anstrengungen einer Rolle. Im Hause der Stevens hatte sie sich immer betont, aus allen Ecken und Winkeln ihres Wesens ein bißchen Hochmut, ein bißchen Blasiertheit, ein bißchen Vornehmheit zusammengeholt, nur damit all diese reichen Menschen sähen, sie wäre auch was! Und im Hause der Großmutter, wo es keine festen Worte und keine sicheren Linien gab, hatte sie unbewußt die erkünstelte Großartigkeit festgehalten.

Nun, an Andrees Arm ging man einher, als sei das alles nie gewesen.

Das Paar blieb wie unwillkürlich vor Hendrik Hagen einen Moment stehen.

Und da sagte Andree aus seinem überströmenden Vergnügen am Leben heraus, während Brita zustimmend lächelte:

»Wie unterhältst du dich? Für dich ist es gewiß ein bißchen langweilig, nicht? Aber wir amüsieren uns – nicht wahr, gnädiges Fräulein? Du glaubst nicht, Papa – himmlisch.«!

Und sie zogen weiter....

Papa!

Vor ihren Ohren ...

Mit Absicht? Oder nur so hingetragen! von einem allgemeinen Wohlwollen mit der ganzen Menschheit, von der glückseligen Stimmung aus, in der er sich offenbar befand?

Gab ihm der neue liebevolle Verkehrston, der zwischen ihnen herrschte, endlich dies Wort ein?

Kam es ihm unwillkürlich? Vielleicht unbewußt auf die Lippen?

Hagen erinnerte sich plötzlich all der Kämpfe von einst! Ein leidendes, heißes Frauenherz hatte sie gefochten und war vor dem Knabentrotz unterlegen, der dies Wort verweigert hatte. Er selbst hatte sie geführt um jener Frau willen und auch in eigner Begier, endlich diesen jungen, haßerfüllten Widerstand zu brechen. Umsonst.

Wenn je einmal, bei seltenen und erzwungenen Gelegenheiten, der Knabe oder Jüngling den Namen »Vater« über die Lippen gebracht, war es eine Unwahrheit gewesen...

Und nun dieses frische, zutrauliche »Papa« – wie aus uralter Gewöhnung heraus ...

Und nun dieses lächerliche, kränkende, herabsetzende »Papa« – wie eine Verhöhnung aller holden Träume – nun, da er es nicht mehr forderte, sich dagegen auflehnte, diesen jungen Menschen nicht als »Sohn«, sondern als Freund empfinden wollte ...

Und vor ihren Ohren!

Als schleudere man ihm eine Beleidigung ins Gesicht, die: Du bist alt! Er war nicht alt – nein, nein, nein ...

Mit schweren Schritten, von plötzlicher Ermattung befallen, ging er fort – schritt gedankenlos durch die Räume und kam in das Spielzimmer. Dort setzte er sich in einer stumpfen, wartenden Duldergelassenheit als Zuschauer an den Tisch, wo ein unfriedfertiger und debattenreicher Whist den Doktor Fedder mit Baron Meinshagen und dem Amtsrichter vereinte. Die hagere Don Quixote-Gestalt des Barons neigte sich mit steifgehaltenem Oberkörper oft über den Tisch vor, wenn er, jedoch ohne die allergeringste Gestikulation, die Richtigkeit eines Ausspiels noch nachträglich mit scharfen Stakkatoworten beweisen wollte. Doktor Fedder hielt sich mit allen zehn Fingern an der Spieltischkante, legte sich gegen die Stuhllehne zurück, lachte mit breiten, roten Lippen zwischen einem grauen Bart unter seiner Stumpfnase und schrie: »Wie kann man – wie kann man!« Der Amtsrichter sah dann nervös himmelan. Welcher Himmel hier ein weißgetünchter Plafond war. von dem eine Gaslampe mit grünem Kontorschirm herunterhing. Dieser Schirm war aber an der einen Seite von der Hitze des Gasglühlichtes schon ganz angebräunt. –

Er sah alles und nahm es in sein Hirn auf – das photographierte gleichsam die Szene, um sie als kleines Bildchen eines Tages bei irgendeiner Arbeit zu verwenden.

Und zugleich dachte er immerfort:

»Hat sie dies ›Papa‹ bemerkt ... hat es Eindruck auf sie gemacht? Einen lächerlichen? ...«

Vor Nervosität ward ihm die Stirn feucht.

So schlich die Zeit. Endlich ging man zu Tisch.

Er sah, zwischen Frau Marya Keßler und der alten Frau v. Benrath sitzend, nach Brita aus ...

Da drüben ... wie eine Prinzeß zwischen Provinzehrenjungfrauen ... Neben ihr Püllmann ... das war gut so, sehr gut. Püllmann war ein angenehmer Mensch ... Aber nun bog Herr v. Lorenz, dessen Gestalt bisher Britas Nachbar zur Rechten verdeckte, sich ein wenig zur Seite. Und Hendrik Hagen sah, daß Andree neben Brita saß ...

Sie ließ Püllmann sitzen und er Fräulein Fedder. Sie lachten zusammen ...

Neben ihm die gehässige Frau, durch die Kraft ihrer eifersüchtigen und hoffnungslosen Begier nach dem Manne, fühlte, daß sein Wesen schwer war von geheimen, angstvollen Furchtsamkeit.

Ihr ungestalter Trieb zu ihm gab ihr Feinheiten des Erratenes ...

Aber sie machte sie der gröberen Art ihres Wesens dienstbar.

»Ihr Stiefsohn ist ein reizender Mensch geworden«, sagte sie.

»Ja, ich freue mich an ihm.«

»Auch daran, daß er schon so intim mit der Benrath ist?« »Intim? Sie sehen sich heut zum zweitenmal.«

»Ach was? Und Frau Doktor Fedder hat sie vorgestern, als sie mit ihrem Mann das Terrain für Neu-Wachow besah, am Strand zusammen gesehen – da haben sie gepütschert und gelacht.«

»Gepütschert?« fragte sein Mund.

»Na, das nennt man doch so: flache Steine flach werfen, daß sie zwei-, dreimal das Wasser berühren, ehe sie sinken.«

Das hörten seine Ohren aber nicht.

Ein flaues, fades Gefühl überkam ihn. Wie eine Leere, die Schwindel erzeugte, war das, mitten hinter seiner Stirn.

Vor seinen Augen war alles grau und unsicher – eine große Wolke wallte auf ihn zu. Und jäh blitzte in ihrem Kern etwas auf ... wie der ganze, zusammengepreßte Inhalt eines Lebens ... ein Vorgang, wie er ihn sonst mit seligem Schrecken in sich erfuhr, wenn er nach bedrängendem Hinsinnen, das ihn ängstigte und ruhelos machte, plötzlich ein neues Werk vor sich sah ... in blitzschnellem Erfassen ... in der Ganzheit aller Konflikte ... so, als sei es schon vollendet, stehe plastisch da, im gleichen Moment, wo sein Geist die Idee gebar.

Nur, daß jetzt der Kern dieser grauen, furchtbaren Unsicherheit, die wie eine Wolke gegen ihn heranzog, das Entsetzen war...

Mit einer ungeheuren Anstrengung seiner ganzen Manneskraft bezwang er sich.

Denn er fühlte die grausame Neugier, die ihn beforschte ... Er wollte sie täuschen ...

Er lachte auf:

»Sieh mal an – solch junges Volk ...«

Und dann horchte er auf den harten raschen Schlag des eigenen Herzens – zugleich spürte er eine vollkommene Erschlaffung seines ganzen Wesens, wie nach einer Schöpferanstrengung.

Er hatte das Gefühl, als würde dieser elende Zustand nie enden – als sei er hier angekettet, um ihn auszuhalten – ewig...

Da fuhr er zusammen ... Ein seltsamer, widriger Laut schreckte ihn ... Und er sah, wie die tafelnden und ihrem flachen Wohlgefallen hingegebenen Menschen emporfuhren ...

Neben ihm saß die alte Frau v. Benrath. Und ihr Herr war Hermann Fedder.

Wortreich, wie immer, sprach sie zu ihm. Schmeichlerisch, denn seltsam stand neben ihrem Hochmut das Verlangen, allen Menschen Liebkosendes zu sagen. Und bei diesem kamen noch Gründe hinzu ...

Sie sprachen auch, wie alle Menschen hier an diesem Abend, über die »Geembeha«. Und Frau v. Benrath sagte, daß sie sich unter allen Umständen beteiligen würde, aber ihr fehle das Vertrauen, weil Hermann Fedder nicht an der Spitze stehe ...

Und Hermann Fedder verbreitete sich über die geringen Aussichten, die nach seiner Meinung das Unternehmen habe. Aber trotzdem – seine Stellung fordere es – man bringe der Vaterstadt Opfer.

So redeten sie und wußten voneinander, daß alles schöne Redensarten seien. Denn Frau v. Benrath hatte als letztes Geld zwanzigtausend Mark von Hermann Fedder auf Iserndorf, und zwar nicht als Hypothek, was ja ins Grundbuch hätte eingetragen werden müssen. Und das wäre beiden zu öffentlich gewesen. Denn Herr Hermann Fedder bekam zehn Prozent, und die sehr knifflich abgefaßte Schuldverschreibung hatte den Mandatar Käselau zum Autor ...

Und endlich, so mitten zwischen einigen kritischen Bemerkungen über die Gänseleber in Madeiraaspik, sagte Hermann Fedder, daß es ihm leid täte, allein er wolle und möge im Moment anderes Kapital nicht disponibel machen ... und kurz: er werde wohl am fünfzehnten Oktober die zwanzigtausend Mark zum fünfzehnten Januar kündigen müssen ... wobei er annähme, daß es seiner verehrten Gönnerin nicht die mindesten Schwierigkeiten ...

Sie lächelte mit ganz zugekniffenen Augen. Trotzdem ein rasender Nervenschmerz ihr vom Genick her über den Schädel zuckte, so daß sie unwillkürlich den Kopf ein wenig duckte.

Nein, nicht die allermindesten Schwierigkeiten entstanden aus dieser Kündigung. Im Gegenteil, sie war ihr sehr lieb. Sie hatte schon zu ihrem treuen und bewährten Ludewig gesagt, daß sie die in momentaner Verlegenheit aufgenommene Anleihe gern wieder abstieße.

Das war Herrn Hermann Fedder also denn sehr lieb. Und er schenkte ihr Rotwein ein, weil sie so sehr fror. Es kam von den ewigen Kopfschmerzen. Sie wollte auch deswegen im Januar mit Brita nach Italien. Die Kosten konnten ja keine Rolle spielen ...

Und sie redete und redete ... und ein ganz feines Singen und Klingen war in ihrem Kopf. Es wurde immer stärker ... Und so weit weg von ihrem Körper waren ihre Arme und Beine ... wie Eisklumpen waren sie, die nicht zu ihr gehörten ...

Und sie sprach und sprach ... fast zärtlich ... wie durchtränkt von Wohlwollen für alle Menschen ...

Und auf einmal stockte ihre hinrieselnde Stimme und der offene Mund blieb stehen ... ein gurgelnder Laut kam...

Die Augen, die immer halb zugekniffenen, stierten groß ... Sie fiel platt und plump, wie ein Holzscheit vornüber...

Und alle fuhren empor und schrien auf ...

Denn sie hatten die Faust des Todes gesehen, die einen von ihnen beim Genick nahm.


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