da Boy-Ed
Die Opferschale
da Boy-Ed

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Graf Leuckmer sprach davon, nach Berlin zu fahren. Seine alte Stiefschwester ließ dringlich nach ihm rufen. Nun, da ihr Abgott Bertold ihr unerreichbar war, erinnerte sie sich wieder an den schlecht von ihr behandelten Bruder. Ihm selbst eilte es, sie zu sehen. Konnte sie nicht sterben, ehe ein letztes Wort der Versöhnung zwischen ihnen gesprochen war? Das mußte er um seines eigenen empfindlichen Gemütes willen verhüten. Sein Bedürfnis nach Friedlichkeit war immer so groß gewesen, daß es ihn ja manchmal etwas feige gemacht hatte.

Aber er wünschte erst Steinmanns Ansicht über die englische Geldangelegenheit zu erfahren. Und die Antwort auf seinen Brief, den er sofort nach Herrn van Stratens Besuch geschrieben, blieb aus. So lange, daß er voll Unruhe beim Mittagstisch davon sprach. Er beschloß, an die Geschäftsstelle von Thomas Steinmanns Bataillon zu schreiben. Dort in seiner Garnisonstadt mußte man von ihm wissen. Die Auskunft kam schnell. Der Oberleutnant der Reserve Steinmann sei bei der Mobilisierung in das Halberstädter Infanterie-Regiment Nr. 27 versetzt worden und sofort mit ihm ins Feld gerückt. Ob nach Ost oder West, sagte die Auskunft nicht. Das durfte sie nicht. Auch Katharinas Brüder waren verstummt seit den ersten, leidenschaftlich hochgestimmten Postkarten von der Fahrt nach dem Westen. Man mußte Geduld haben. Das Heer rückte zu rasch vor. Die Post wickelte ihre Aufgaben noch nicht glatt ab. Vielleicht war auch Postsperre, wer konnte es wissen? So setzte Graf Leuckmer denn seine Reise nach Berlin für den anderen Morgen fest.

Er war mit Guda in dem gemeinsamen Wohnraum. Draußen auf dem weiten Platz, der einst die Vorstadt St. Georg von Hamburg geschieden, zog das Leben dahin, gerade so wie es sonst an dieser Stelle strömen mochte: die elektrischen Bahnen glitten emsig hin und wieder, die Menschenmenge bewegte sich in unberührter Gelassenheit auf den Bürgersteigen, die den Platz nach allen Richtungen überschritten. Man konnte hinübersehen auf die vielen Fäden der blanken Eisenschienen im Hohlweg zwischen den Stadtteilen. Die große Brücke, die ihn überschlug, war noch im Gesichtsfeld. Ein unablässiges Her und Hin von Fußgängern und Fuhrwerken belebte ihren Zug. Drüben, hinter scharf durch Wege in Schrägstücke geteilten Rasenflächen und vor Gebüschanlagen stand der graue Palast der Kunstgewerbeschule.

Die hellen Sommerkleider der Frauen machten das Bild noch frischer. Die Wagenschlange, die, gerade weißen Dampf aus den Kiefern ihrer Lokomotive fauchend, durch den Hohlweg davonzog, war ein Beweis ungehemmten Verkehrs. Und der Abendhimmel stand heiter und in verblassendem Blau über dem Bilde geschäftigen, unbesorgten Friedens. Graf Leuckmer stand am Fenster und sah hinaus. Daß irgendwo in der Welt Krieg sein sollte, schien wie eine schreckliche Lüge. Die Gedanken mußten sich förmlich darauf sammeln, um sich das vorzustellen.

Guda saß am anderen Fenster. Sie hatte ein Zeitungsblatt in den Händen. Es war eine Nummer der »Times«. Als sie vor einigen Minuten, von ihrem Dienst zurückkommend, eintrat, sah sie gleich das Kreuzband auf dem Tischchen am Fenster und sah auch, daß van Stratens Hand es mit ihrem Namen beschrieben. Sie zerriß den umschließenden Papierstreifen, und beim Auseinanderfalten der engbedruckten, riesengroßen englischen Zeitung sprang ihr der dicke Blaustiftstrich in die Augen, mit dem van Straten ihr kenntlich gemacht, was sie lesen solle.

Heiße Freude im Herzen, las Guda. Triumph erhob ihr Wesen. Oh, sie hatte es gewußt, daß der Geliebte für ihr Land eintreten werde. Diese Kundgebung hervorragender englischer Gelehrter gegen einen Krieg mit Deutschland hatte er veranlaßt! Das wollte, mußte sie glauben! Kamen nicht Worte darin vor, die an seine anklangen? Ganz gewiß, er stand hinter diesen gerechten, besonnenen Äußerungen:

»Wir erblicken in Deutschland ein Volk, das in Künsten und Wissenschaften führend ist, und wir haben alle von deutschen Forschern gelernt und lernen noch immer von ihnen.«

Und: »In der augenblicklichen Lage halten wir uns für berechtigt, Einspruch zu erheben gegen die Hineinziehung in den Kampf gegen ein Volk, das uns so nahe verwandt ist und mit dem wir so vieles gemeinsam haben.«

Sie wollte aufjubeln. Flammte in dem Wahn auf, daß solche Erklärung der größten englischen Geister die englische Regierung noch jetzt zwingen könne, zurückzugehen. Da wandten ihre Finger das Blatt, um nach ähnlichen Stellen darin zu suchen. Und ihr Blick fiel auf den Kopf der Zeitung. Von den strahlenden Höhen, die ihre Seele eben erklommen, sank sie zurück in graue Tiefen der Enttäuschung. Das Blatt war vom 1. August! Veraltet! Durch irgendeinen Zufall erst jetzt nach Deutschland oder in van Stratens Hände gelangt. Überholt! Nur ein wertloses Stück Papier noch. Und Percy konnte nichts, nichts damit zu tun haben. Seine Stimme klang nicht heraus aus diesen Reden. Eine Leere kam in ihr Herz, ganz verarmt und stumm war es.

Der kurze Wahn losch hin. Mit vorsichtigen Fingern, geradezu schonend, faltete sie das Blatt zusammen und legte es beiseite. Und schloß ein paar Sekunden die Lider.

Sie dachte nach. Das Denken war so mühsam, als sei sie zu matt dazu. Sie meinte eine Stimme in sich zu hören, die zur Gerechtigkeit mahnte. Wie konnte sie enttäuscht sein! Um die Zeit, da diese Erklärung erlassen ward, befand sich Percy gar nicht in London. Wie hätte er damals schon für Deutschland eintreten können?! Aber er würde es noch tun, war vielleicht schon in solchem Sinne tätig, und sie fühlte sich geschlagen, weil sie eben eine Enttäuschung durchlitt? Sie mahnte sich selbst: Gerecht bleiben, gläubig bleiben!

Da kam die junge Frau herein. Noch den Hut auf dem Kopfe. Kam nach rastloser Tagesmühe mit eigenem Zugreifen und fremden Handwerkern aus der im Werden begriffenen Wohnung. Aber ihre Züge zeigten nicht jene Frische und Ruhe, die sie schön machten für alle, die sie liebten.

»Mich zwang was«, sagte sie, »abergläubisch könnte man werden. Kam an einer Buchhandlung vorbei, da war ein Aushang, sie erbot sich, den Bezug der Verlustlisten zu vermitteln.«

»Oh, natürlich, wir müssen sie regelmäßig haben.«

»Gewiß, ja, Papa, ich hab's veranlaßt, hier sind die ersten sechs. Und Thomas, er ist schwer verwundet, er war offenbar dabei zwischen Metz und den Vogesen.«

Sie legte die Hand über die Augen und weinte auf.

»Thomas!« wiederholte der alte Herr schmerzlich. »Thomas!« Wie traf es ihn! Guda saß vor Schreck betäubt.

War der Krieg nicht bis hierher nur ein furchtbar großes, erhebendes Schauspiel gewesen, dem man aus sicherer Ferne folgte? Mit einem Male schlug seine blutige Hand nach einem Menschen, der ihnen teuer war. Aus fiebernden Zuschauern wurden sie plötzlich Miterleidende.

Das Gefühl davon schwang mit in ihrem Schreck. Furcht lief fröstelnd durch ihre Adern. Es war wie ein Anruf des Schicksals: Merkt auf, ich bin auf dem Wege, auch zu euch!

Eine Erinnerung ging durch den Schmerz der jungen Frau. Sie trat auf Guda zu. Zürnend sprach sie:

»Und du, du hast ihn hinausgehen lassen ohne einen Segenswunsch, ohne einen Händedruck.«

»Ich? Ich?« stammelte Guda.

»Und gerade von dir ein Wort noch, noch ein lieber Blick, oh, es hätte ihm so wohl getan...« Sie bezwang sich, sie war im Begriff gewesen, ihn zu verraten... Das wollte sie seiner mannhaften Seele nicht antun.

Auch Gudas Erinnerung erwachte. Sie erlebte in sich mit vollkommener Deutlichkeit noch einmal jene Augenblicke. Wie sie vor Liebessehnsucht kaum noch die Gegenwart anderer ertrug. Wie gleichgültig ihr Thomas' Abreise in den Krieg gewesen, wie lästig die Pflicht, ihm noch Lebewohl zu sagen. Wie in ihr nur das Verlangen brannte nach den Küssen des Geliebten.

Und nun, in dieser Erinnerung, die sich mit dem Schreck über Leid und Gefahr eines teuren Mannes vermengte, nun, wo schon viel Zeit vergangen war, Ewigkeiten von Arbeitstagen, Ewigkeiten von gedankenschweren Nächten, nun durchrann ein neues Gefühl sie, wie das Heraufdämmern vernichtender Erkenntnisse. Als sei ein Unrecht an ihr geschehen. Als habe die schwüle Glut, mit der Percy sie umflammt, die er in ihr geweckt, etwas zerstört. Reine, zarte Träume hatte sie versengt. Ihr etwas fortgenommen.

Und sie versteckte ihr erglühendes Gesicht mit tief gesenktem Haupt in ihre beiden Hände.

Katharina klagte. Das sei das schwerste, daß man dem lieben, lieben Menschen nicht beistehen könne. Die Liste sagte es aus: »Granatschuß, linker Arm und Hüfte schwer verletzt.« Sie wollte gleich schreiben. Wenn er reisefähig sei oder werde, sollte er herkommen. In zwei, drei Tagen sei das neue Heim fertig. Dort war Platz für Pfleglinge, die es gut haben sollten. Sie mußte noch ihren Schwiegervater trösten, der mit Ergriffenheit aller Freundschaft dachte, die Thomas' Vater ihm bewiesen. Möchte man sie an dem Sohn vergelten können! Und er hatte auch eine selbstische Sorge. Wie sollte er sich behelfen ohne Thomas' Beistand?

Am anderen Tage fuhr er nach Berlin. Eine Reise, die in den ersten Kriegswochen mehrere Stunden länger dauerte als sonst. Katharina mit ihrem Blondkopf an der Hand brachte ihn bis an sein Abteil und verhieß ihm für seine Rückkehr nach drei Tagen eine gemütliche Häuslichkeit.

Aber er kam nicht zurück nach den drei Tagen. Er schrieb, daß seine alte Schwester unmittelbar vor ihrem Ende stehe. Die Ärzte gaben ihr noch zwei Wochen vielleicht.

»Gott mag sie sanft erlösen!« sagte Katharina. Damit ging dann ein Kapitel ihrer eigenen Ehegeschichte zu Ende. Wunderbare Fügung, daß dieser Abschluß gerade jetzt kommen wollte... In München sahen sie damals auf der Durchreise das Wallen blauweißen Tuches in durchsonnter Luft. Im scharfen Winde, der allezeit über Hamburgs Wasserstraßen und Becken fährt, hatten nun schon manches Mal die rotweißen Flaggen der Hansestadt, untermengt mit den schwarzweißroten Fahnen des Vaterlandes geweht. Und es war ein Bild von stolzer, jubelnder Schönheit, wenn von all den monumentalen Gebäuden rund um die Flut, die bis ins Herz der Stadt vorstieß, auf hohen Masten die Zeichen des Sieges in schön bewegten Linien mit den Lüften spielten.

Gerade am Tage, wo Katharina den Hotelaufenthalt abschließen konnte und mit dem Kinde und Frau Stroblmeyer nach dem fertigen Heim fuhr, war wieder ein rotweißes Farbengeleucht vor dem blauen Himmel. Und der in der Luft sich beständig verändernde Faltenwurf der Flaggen kündete den Fall von Namur und Longwy. Es war der 27. August.

Das Kind jauchzte den bunten Dingen des Stadtbildes zu. Den Flaggen hoch oben, den eiligen, menschenbesetzten Schiffchen unten auf der Alster, den vorbeimarschierenden Soldaten. Auch Frau Stroblmeyer schien nicht unbefriedigt. Man mußte ihr immer etwas den Hof machen, weil ihre Enttäuschung über Hamburg zu groß war. Sie hatte doch ganz fest erwartet, hier das Meer zu finden.

Die junge Frau aber konnte sich nicht an der Freude ihres Kindes erquicken. Es war ein Tag, der es schwer machte, fröhlichen Mut zu behaupten. Und fest und froh mußte er bleiben! Keine Sorge durfte ihn trüben. Sie konnte annehmen, daß Bertold mit vor Namur sei. Von ihren beiden ältesten Brüdern, den lachenden Siegfrieden, wußte sie, daß sie in einem Garde-Infanterie-Regiment standen, vielleicht waren sie in der Kronprinzenarmee und bei Longwy dabeigewesen. Über die »Kleinen« schrieb die Mutter einen Bericht, gerade an diesem Tage hatte Katharina ihn erhalten. Ihr Bruder Friedrich war zum Unterseebootsdienst übergetreten. Und Hermann wollte ein Notexamen machen. In wenig Wochen hoffte auch er einzutreten, der Benjamin des Hauses, der jüngste von den Junkern von Heinzenberg, deren unbändige Fülle an Kraft, Frohsinn und Mut ihre Umwelt in Atem hielt. Auch er mit seinen achtzehn Jahren... Angst, Stolz und Rührung bewegten ihr Herz...

Und gerade jetzt gönnte ihr der Zufall, wonach sie seit fast drei Wochen oft ausgesehen. Ihr Wagen war mitten auf der Lombardsbrücke, da sah sie einen Soldaten mit einem Knaben an der Hand, verstand nicht, wie sie manches Mal hatte denken können: Er ist es. Nun sie ihn wirklich erkannte, war es so freudig sicher. Sie ließ den Wagen halten.

»Herr Doktor Rüdener!«

Er wurde dunkelrot. Die Überraschung war zu jäh. Seine Gedanken suchten die Frau in jener breiten und übersonnten Natur, wo sie sich gefunden hatten. Sein Herz wußte: Ein Sichfinden war es gewesen. Er verstand ihr Schweigen. Eine Welt trennte sie. Nichts konnte die Kluft überbrücken. Rang und Reichtum konnte diese Frau wohl hinwerfen. Aber sie war verheiratet! Und er wußte nichts von ihrer Ehe. Daß sie nicht ein Bund beseligender Liebe war, hatte er gefühlt. Aber es konnte ein herzlich freundliches Bündnis sein. Das auch eine Art von Glück gab. Um des Kindes willen hielten die Gatten vielleicht fest und treu zueinander. Soviel Arten von Ehen gab es, zwischen Glück und Leere erträgliche Mitte haltend. Nein, nichts wußte er von ihrer Ehe. Aber er glaubte: dieser Ehe wegen habe sie geschwiegen.

Und nun war sie hier und rief ihn froh und unbefangen an.

So unbefangen, daß in seine Überraschung sich eine merkwürdige Empfindung mengte, als zerflösse ein Traum.

Sie trat aus dem Wagen und bückte sich sogleich zu seinem Knaben herab.

»Gerad' heute, Jürgen, gerad' heute wollte ich deinem Vater schreiben, daß ihr kommen sollt, uns besuchen. Wir haben nun ein Haus hier. Siehst du, da ist dein kleiner Freund Adam. An die gute Frau Stroblmeyer erinnerst du dich wohl noch, und wie sie dich damals so fürchterlich abgeschruppt hat.«

»Sie wohnen hier, jetzt?« fragte Rüdener. Das ließ doch Freude in ihm aufbrausen.

»Ja. Vieles ließ es so am besten scheinen. Ich erzähle Ihnen das mündlich. Sie besuchen uns bald.«

»Wann kann ich? Der Dienst ist scharf.«

»Und gehen heut doch in einer Vormittagsstunde spazieren?«

»Ich hatte am Gericht zu tun, Vormundschaftsbehörde, Sie denken wohl, in welcher Sache? So erbat ich einen Urlaubstag.«

»Und wie schmeckt der Dienst?« fragte sie heiter. Sie sah ihn an, prüfend, auf sein Soldatentun. Braun war sein Gesicht geworden, und das kleidete die kühnen Züge gut. Die dunklen Augen schienen noch beredter als sonst. Die Uniform war der einfache Soldatenrock der früheren Zeit. Noch trugen ihn die Rekruten und die Soldaten des Garnisondienstes.

»Es hat eine Überraschung gegeben«, sagte er mit seinem gutmütigen Lächeln, das so warm zu ihr sprach. »Überraschung für mich selbst, meine ich, es scheint, daß ich mich nicht ungeschickt anstelle, mein Unteroffizier hat schon durchblicken lassen, daß ich es noch zum Gefreiten bringen könne.«

»Nun, das sind die Gliedmaßen und der Wille, sie zu regieren. Aber da gibt es noch andere Dinge. Wir sprechen heute abend davon. Sie haben heute Urlaub. Und abends ist doch wohl nie Dienst? Keine Ausflucht wird angenommen. Sie essen heute abend bei uns.«

»Ja, auf Wiedersehen!« Was sollte er sonst sagen? Sein Leben war plötzlich voll Licht! Das konnte er dann in seinem Herzen mitnehmen, wenn er hinauszog in den Krieg.

Und im Wagen gab die junge Frau ihrem Knaben einen Kuß. Wie froh war mit einem Male ihr Mut. Und wie befreiend, nicht mehr auf ein paar enge Hotelzimmer angewiesen zu sein. Geräumig war das Haus und all der Möbelkram geschickt verteilt. Adam, durch den neuen Schauplatz sehr unterhalten, interessierte sich am meisten für das große Zimmer gleich rechts neben dem Hauseingang. Da standen zwölf Stühle um einen lang ausgezogenen Tisch, und an der Wand hingen sonderbare Bilder, von denen Mutti sagte, es seien Landkarten. Auch Bücher und Spiele lagen auf einem Gestell, und Mutti sagte, da sollten von morgen an jeden Tag zwölf Knaben essen und arbeiten und spielen, von zwölf Uhr mittags bis abends nach sieben. Auf der anderen Seite des Flurs war ihr eigenes Eßzimmer. Und oben in den Wohnstuben kannte er allerlei Stücke wieder; auch sein Bettchen in seinem Schlafzimmer. In der Küche hantierten weibliche Wesen, zu denen Adam sich noch etwas scheu verhielt. Der Garten besaß einen großen Sandhaufen und ein kleines Turnreck. So hatte das Kind denn wieder eine Welt um sich, darin Entdeckungen zu machen und Körper und Geist zu bewegen.

Frau van Straten kam herüber, aber ganz feierlich mit Hut und Handschuhen. Alle Leute würden jetzt so formlos, klagte sie; sie sähe nicht ein, warum es erlaubt sein könne, im Morgenkleid auf die Straße zu rennen, um an der nächsten Ecke Depeschen zu lesen.

Und gegen Mittag kam Tiny. Sehr aufgeregt. Sie hatte etwas für Guda. Einen Brief von Percy. Den ersten. Welch ein Augenblick für Guda! Es würde Ohnmachten und Weinkrämpfe geben. Und dann: Tiny selbst litt! Thomas Steinmann sei verwundet?! Darüber sei ihre Schwärmerei wieder aufgeflammt, sie fühle deutlich, der Arzt, der sie ein bißchen beeindruckt gehabt habe, sei doch nicht von fern so sympathisch wie Steinmann. Sie verwünschte die Langsamkeit der Ausbildung. Nun bekam sie sicherlich noch nicht die Erlaubnis, zu ihm zu reisen und ihn zu pflegen. Aber da kam ja Guda – Gott, wie war es unsäglich spannend.

Auch Katharina blieb nicht unberührt von diesem Briefe. Wie konnte er wirken? Welche Sprache würde der Mann wählen, um zu der Braut zu reden? Vorwürfe? Bitten? Liebe? Zorn?

Guda veränderte die Farbe. Es sah erschreckend aus. Sogar ihre Lippen wurden weiß. Sie hielt den dünnen, kleinen Brief zwischen ihren Fingern, die zitterten. Und sie fragte, ein wenig spröde klang ihre Stimme:

»Wie kam der Brief?«

»Percy hatte Gelegenheit, einem Vertrauensmann nach Rotterdam allerlei mitzugeben. Von dort kam heut früh ein anderer zuverlässiger Mensch. Geschäftsfreund von Papa«, erzählte Tiny. »Du könntest auf dem gleichen Weg antworten, läßt Papa dir sagen. Aber es muß sofort sein. Der Betreffende fährt um vier Uhr schon wieder zurück. Man hatte nur besprochen, was sich nicht schreiben ließ, es ist doch jetzt Briefkontrolle.«

Guda sah sich etwas verwirrt um. Sie hatte eben zuerst dieses Haus betreten – all die Gegenstände rundum waren so vertraut – und doch wußte sie nicht, wohin sich in Einsamkeit flüchten. Die junge Frau erriet sie.

»Komm in dein Zimmer« – und brachte sie die Treppe hinauf. –

Das dünne Blättchen – darauf seine großen, markigen, gleichmäßigen Schriftzüge – endlich, endlich Worte aus seinem Herzen – ein Ruf der Liebe. Die Augen strömten ihr über. Sie konnte erst nach Minuten lesen.

»Süße Guda, mein Liebling! Groll ist oft in meinem Herzen, daß Du mich hast zurückstoßen können an der Schwelle des Paradieses, das schon für uns geöffnet stand. Aber stärker noch ist die verzehrende Sehnsucht nach Dir. Ich war vor einigen Tagen in Lightstonhouse. Vom hohen Balkon, um dessen Sandstein dick der Efeu hängt, sah ich im silbernen Mondschein hinaus auf die schwarzen, überflimmerten Fluten des Kanals. In allen Räumen war glanzvolle Bereitschaft, die holde Herrin zu empfangen, die nicht kommt – ich ging in Dein Schlafgemach, und mir war, als sähe ich auf diesem Lager von heller Seide und köstlichen Spitzen Deine herrlichen Glieder gelöst in seliger Ruhe. Ich verbrannte vor Verlangen. Liebling, wenn Du begriffen hast, daß Deine Tat ein Verbrechen an unserer Leidenschaft war: Komm! Meine Wünsche rufen Dich! Ich käme Dir nach Holland entgegen. Dort in der englischen Gesandtschaft im Haag können wir verbunden werden. Komm! Beselige durch solchen Entschluß Deinen Percy.«

Schauer überflogen sie – wie unter seinen Küssen – als sei er hier – als würde sie wieder zur Sklavin vor der Gewalt seiner Mannpersönlichkeit, die das Weib beseligen wollte.

Oder vielleicht auch – erniedrigen?!

Welch ein Gedanke! Wie konnte das durch ihre Seele huschen? Sie entsetzte sich davor – faßte sich – ward mit einem Schlage wunderbar ruhig. –

Da war ja ihr kleiner alter Schreibtisch – alles lag bereit zum Schreiben. Umsicht und Fürsorglichkeit hatten hier gewaltet – Guda fühlte es dunkel wie in einer Nebenempfindung – die aber doch etwas Tröstliches hatte.

Und mit fester Hand schrieb sie hin, was auf diesen Brief zu sagen war.

»Lieber Percy, lieber! Mein, meine Tat war kein Verbrechen an unserer Liebe. Sie war eine Notwendigkeit. Alles, was sich seitdem begab, bezeugt es. Du schreibst nichts vom Kriege. Und dennoch ist er es, der zwischen uns steht. Aber ich will von ihm sprechen. Wenigstens dies. Mein Vater und Karen verbergen mir oft Zeitungen. Ich bin im Dienst des Roten Kreuzes beschäftigt. Aber in freien Stunden will ich immer lesen, wie unsere Siege weiter wachsen. Und dann fehlen manchmal Blätter. Und ich habe es begriffen: sie wollen mir verhehlen, welche Flut von Verleumdungen und Lüge aus Deinem Lande heraus und dort erzeugt, über uns ergossen und in der ganzen Welt verbreitet wird. Ich höre aber die Frauen und Mädchen, zwischen denen ich arbeite – zahlreiche sind es, aus allen Ständen, wir mögen keine Rangunterschiede mehr betonen – wir sind alle eines Gefühls. Sie haben harte Worte des Zornes über diese Lügen. Sie zittern vor Empörung über die Schmähungen auf unser Heer, das aus unseren Vätern, Söhnen, Brüdern besteht. Sie weinen vor Haß, wenn sie vorlesen, wie die englische Presse von unserem edlen Kaiser spricht. – Ich weiß, alles empört auch Dich. Denn Du kennst das Vaterland Deiner Guda – vielleicht liebst Du es in mir. Ich bin ein deutsches Mädchen. Du hast es auch in der Stunde unserer Trennung gesagt: Du hast uns begriffen. Steh' auf! Wirf Dich gegen diese Flut. Du bist ein weithin angesehener Mann in England. Man wird auf Dich hören, wenn Du Deinem Volke die Wahrheit über meines sagst. Jedes laute Wort, was Du in der Öffentlichkeit drüben sagst oder schreibst, wird als Ruf der Liebe zu mir dringen. Es wird beseligen

Deine Guda.«

Sie war sehr still und bleich, als sie ihren Brief der Freundin gab. Und Tiny wurde sehr gerührt. Beherrschung ergriff sie, die Leichtbewegliche, immer sehr stark. Als habe sie eine Ahnung davon, daß die Leiden der Gefaßten in die Tiefe gehen. – – –

Schweigend aßen dann die beiden schwesterlichen Frauen zusammen ihr erstes Mahl in diesem Heim, das ihr Obdach und ihre Werkstatt während des Krieges sein sollte. Katharina machte keinen Versuch, in Gudas schwere Grübeleien mit zerstreuenden Gesprächen einzudringen. Sie war immer der Ansicht, daß man Achtung vor Erlebnissen haben und sie ausklingen lassen solle. Guda dankte ihr dafür, als sie wieder ihrem Dienst nachging, mit einem schweigenden Kuß. Sie umarmten sich und sahen sich tief in die Augen.

Später kam dann die Post. Sie war noch beim Hotel eingelaufen und wurde von dort durch einen Boten gebracht. Freudig nahm Katharina sie an – Feldpostkarten lagen obenauf. Grüße von Arbogast und Hillemann. Von französischem Boden! Sie hatten oft nichts zu essen. Was schadete es? Auf den Feldern wuchsen Rüben und Kartoffeln, manchmal konnte man sie sogar kochen. Die Schokolade in der Tasche mußte sparsam verwaltet werden. Und wo blieben die Nachrichten von zu Hause? Wo die Zeitungen? Die Post und die Gulaschkanonen fanden das Heer noch nicht. Und Frau Schwesterlein, die Mütterliche, Sorgende, sollte schicken – schicken. –

Ach, man lief ja täglich an die Schalter und fragte, ob man Pakete schicken dürfe – aber es war noch unmöglich. –

Den Brief aus Berlin ließ Katharina bis zuletzt liegen. Wie nebensächlich waren die Nachrichten von der sterbenden alten Frau. Ein unnützes Leben losch hin. Man durfte es gar nicht messen an dem wichtigen, starken Dasein junger Helden, die das Vaterland schützten. Aber auch dieser Brief wollte gelesen sein. Und die junge Frau erfuhr doch aus ihm, was neue Unruhe brachte. Guda sollte sofort nach Berlin kommen, ihrem Vater beizustehen. Wahrscheinlich sei Tante Jenny schon erlöst, wenn diese Zeilen in Hamburg einträfen. Sie habe sich voll Liebe und Reue gezeigt – habe noch die Absicht geäußert, ihrem Testament ein Kodizill anzufügen. Das adelige Fräuleinstift sollte ganz ausgeschlossen und Adam zum Nacherben seines Vaters eingesetzt werden. Er, der Bruder, mochte nicht drängen und nicht andeuten, daß Eile not täte. Wie konnte er! Und gerade als endlich nach dem Notar geschickt war, verlor die Sterbende ihr Bewußtsein.

Die junge Frau teilte die Rührung ihres Schwiegervaters gerade nicht; sie war von nüchternem Verstand und sah in einer solchen allerletzten Reue nur ein Zeichen von Todesangst. Aber es war ihrem Gefühl doch eine Art Beruhigung, daß, wenn nun Adam dereinst mal seinen Vater beerbe, es nicht gegen den Wunsch einer Toten sein würde. Ihr fiel es sehr auf, daß der alte Herr nicht nach ihr, sondern nach Guda rief. Sie dachte gleich: ›Da sind Dinge, die mir verborgen gehalten werden sollen.‹

Schulden – Eheirrungen – Unregelmäßigkeiten Bertolds?! Noch aus der Zeit seines Lebens, die mit dem Kriegsausbruch abgeschlossen sein sollte? Nicht mehr zurückdenken! Sich fest und gläubig an seine guten Vorsätze halten!

Sie verständigte sich telephonisch mit Guda, die Urlaub nehmen, heute abend sich auf die Reise rüsten und morgen früh abreisen mußte.

Das war ein Tag gewesen! Ein Wirbel von Dingen. Welch Geschenk, daß er mit schönen Stunden abschließen durfte. Um sieben Uhr erwartete sie Rüdener.

Als er ihr gegenüberstand, war ihr ganzes Wesen wie von Freude durchleuchtet. Er fühlte es wohl. Es nahm ihm die innerliche Freiheit – beglückte ihn – war zugleich Angst. Wenn sie aus ihrer Unbefangenheit erwachte? Sie würde scheu vor ihm zurückweichen – als sei in seiner Nähe verbotenes Land. Und das Licht, das so wundervoll sein hartes Leben umgoldete, losch aus. –

Sie erzählte – war lebhafter, als er sie sonst wohl gesehen. Aber von sich sprach sie auch jetzt nicht. Als habe sie gar keine eigenen Erlebnisse und kein Eigenleben. –

Er erfuhr, daß Graf Leuckmer in Berlin sei und warum. Daß es ihren Brüdern im Felde gut gehe. Daß Guda noch eine Viertelstunde auf sich warten lassen müsse, sie packte ihre Sachen, man hatte neue Leute, die einem noch nicht solche Mühe abnehmen konnten.

»Gräfin Leuckmer? Sie ist hier?« fragte er. »Mir ist – man sagte in Aibling – sollte sie nicht ins feindliche Ausland heiraten?«

»O ja – sollte, wollte. – Das ist wohl ein bitterer Kampf gewesen – sie liebt voll Leidenschaft, beinah erschreckend – und lehnte doch im letzten Augenblick ab, jetzt ihr Vaterland zu verlassen – jetzt gerade zu unseren Feinden zu gehen.«

In seinen Augen blitzte starke Anteilnahme auf.

»Das war eine Tat!« sprach er voll Bewunderung. »Schopenhauer hat Kluges und Tiefes davon gewußt, was eine solche Selbstüberwindung bedeutet. Sie ist die größte, die ein Mensch sich abringen kann. Eine Braut entsagt schwerer als eine Frau – Verzicht vor dem ersehnten Besitz. – Das ist Widerstreit gegen die gebietende Natur. Ihre Bezwingung ist es.« Er hielt plötzlich inne, schien weitere Worte zurückzubehalten und fuhr dann mit einem Klang von Staunen und Andacht in der Stimme fort:

»Aus welchen Urgründen kommt ein Gefühl herauf, das stärker noch ist als selbst die Geschlechtsliebe?! Abgewandelt, erweitert, wissend lebt in ihm der Instinkt, der schon zu primitivsten Zeiten die Menschen sich an ihren Herd flüchten ließ. – ›Heilig ist mein Herd‹, singt Hunding – wir nennen es Vaterlandsliebe!«

Sie sah ihn an, bewegten Herzens und mit feuchtem Blick.

»Und um dieser Liebe willen haben auch Sie auf die Fahne geschworen.«

»Und erlebe einen Zustand, den meine Kritik nie für möglich gehalten hätte. Man kann nicht immer begeistert sein – nicht wahr? Die Kehle würde heiser, wenn der Mund von früh bis spät ›Deutschland über alles‹ sänge. Und dennoch – während man zur Maschine wird und sich drillen läßt und oft kaum denkt – immerfort ist eine Unterströmung da – ein Bewußtsein, kaum mehr gedankenvoll bewußt – ich sag' das mit Absicht so – es scheint Widerspruch in sich, ungedachtes Bewußtsein. Aber man ist immer von etwas wie getragen– davon, daß es um unseres Volkes Zukunft geht, um den Fortbestand unseres Vaterlandes, um die deutsche Kultur. In einem wunderbaren Doppelzustand ist man. Alles, was man will und glaubt, steht unverändert – fast unverändert da – aber es ist zurückgestellt – wartet auf künftige Tage. Und man will eigentlich nichts als niederschlagen, was uns angefallen hat. Das ist ungemein einfach. So sehr voll Einfalt, daß es eine Erhabenheit wird – dennoch wachsen einem, indem man ganz nur Empfindung scheint, fortwährend neue Einsichten zu. Man begreift, daß vieles, was man bestritt, sein gewaltiges Recht hat. Vor allem Heer und Landwirtschaft. Oh –« schloß er, und ein leidenschaftlicher Wunsch durchglühte seine Worte, »wie sollte es mich reich machen, mitarbeiten zu dürfen an der neuen Gestaltung des Vaterlandes – wo nun alle einander vertrauen.«

»Das werden Sie! Das müssen Sie!« rief sie hingerissen. Ein seltsam wehmütiges Lächeln ging um seine Lippen. »Wunderlich – mir ist, als stehe die Zukunft tot und stumm vor mir – gleich einem verschlossenen eisernen Tor ist sie – kein Blick, kein Ruf dringt hindurch. – Vielleicht ist mir bestimmt zu fallen...«

»Nein«, sprach sie – »nein!« – – –

Und der Jammer des Krieges faßte sie an und bebte durch ihre Nerven mit tausend Ängsten.

Da wurde die Tür aufgerissen – Guda kam herein – verstört – mit fliegendem Atem – eine Depesche in der Hand. »Für dich«, stammelte sie, »für dich!«

»Meine Brüder?« schrie die junge Frau auf. – Sie stürzte sich förmlich auf Guda, entriß ihr die Depesche – las – stand versteinert – ihren Fingern entglitt das Papier – es sank geräuschlos zu Boden. Es schien, als horche sie in die Ferne hinaus – ihre Augen schlossen sich – sie hob das Haupt, daß es sich in den Nacken bog. Es war die Gebärde eines stummen, harten Kampfes. So stand sie schweigend ein paar Herzschläge lang. Und dann schritt sie hinaus – nachtwandlerisch.

Guda brach in Tränen aus.

»Bertold ist gefallen.«

Sie sank in einen Stuhl und schluchzte und wußte ungefähr, daß ein fremder Mann im gleichen Raum sei.

Der fremde Mann aber fand den rechten Augenblick, leise zu gehen. Und er nahm in seinem von schwerem Ernst erfüllten Herzen die Frage mit:

»Zerbricht oder befreit sie dieser Tod?« Sie konnte nicht schlafen. Es wäre ihr auch gewesen, als würde Schlaf sie um das Nacherleben eines großen, des bisher wichtigsten Teiles ihres Daseins bestehlen. Es tat wohl, in der Stille der Nacht zu wachen, denn dieses dunkle Schweigen ringsum hatte die Feierlichkeit eines Tempelraumes und gab schonungslos ihrer Seele Sammlung.

Als die erste Erschütterung überwunden war, die der Tod eines nahen, nächsten Menschen auslöst – diese Erschütterung, in der unbewußt Furcht vor der Unsicherheit des eigenen Daseins mitschwingt –, dachte sie klar und milde über ihren Mann nach. Sie wußte: sie hatte nichts verloren! Denn vor scharfer Prüfung hielt der Glaube nicht stand, daß er später ein anderer geworden wäre, seinem Vorsatz gemäß. Das Leichte, Lustige, Flotte zog ihn zu stark an, war seiner Art gemäß die einzig mögliche Lebensluft für ihn. Später, wenn erst die grauenvollen Bilder des Krieges nach und nach in ihm verblaßten, wenn der schwere Ernst und Schmerzensdruck wieder vom Volke wich, dann würde unbesorgt und munter Bertolds eigentliche Natur sich wieder herausgewagt haben, er hätte den Ernst abgelegt wie andere ein schwarzes Kleid am Ende eines Trauerjahres...

Aber ihr Herz war doch voll Dankbarkeit, daß aus seinen letzten Worten Einsicht und guter Wille herausklangen. Das machte es ihr leicht, später zu ihrem Knaben liebevoll von seinem Vater zu sprechen und vor seinem Kinde sein Bild so zu errichten, wie es nach seinen Vorsätzen hätte werden können!

Sie dachte auch an die Zeit, die sie und ihn zusammengeführt hatte; es war ein Truggeschäft der Natur gewesen, wie es die Geheimnisvolle so oft anzettelt, ganz junges Blut war zwischen Frühlingswundern eines köstlichen Maien in Aufwallung gekommen, eine Siebzehnjährige und ein Vierundzwanzigjähriger hatten ein paar Monde geglaubt, in Liebe füreinander bestimmt zu sein. Das Erwachen focht den Mann in keiner Hinsicht an. Er nahm es nicht tragisch und fand das Dasein weiterhin sehr unterhaltend und wurde in seinem forschen Lebenstempo ausgiebig unterstützt von der alten törichten, in ihn verliebten Frau.

Sie aber, die junge Frau, fand einen Trost, einen Ausgleich im Besitz ihres Knaben. Das holde Kind machte es ihr leicht, Schmerz und Zorn niederzuringen. Der Gedanke an dies ihr Glück erhob sie auch in dieser Nacht, ward zum Fürsprecher für den Gefallenen. Er, der Schwache, Leichte, hatte einen starken, schweren Tod gefunden.

Und so, als eines Helden, wollte sie seiner immer voll Herzlichkeit denken. Auf sein Grab nur Lorbeeren legen, nicht den Dornenkranz von vergangenen Bitterkeiten.

Was für eine unbegreifliche Zeit war dies! Die Persönlichkeit ausgelöscht. Anrechte, Forderungen des einzelnen durften nicht mehr selbstisch aufpochen. Nur das winzige Teilchen war man eines übergewaltigen Ganzen. Seiner heiligen Unzerstörbarkeit galt es zu leben oder mit ihm unterzugehen.

Und dennoch ging der Alltag weiter. Ganz dicht neben der ungeheuerlichsten Erregung, die je durch die Menschheit bebte, standen bei jedem einzelnen in der Heimat die gewohnten Erscheinungen des bürgerlichen Daseins. Während die Nerven vor Hochspannung zu zerreißen drohten, mußte man die Kraft haben, die wirtschaftliche Ordnung stark zu erhalten. Dies Durcheinander der Dinge wollte betäuben – alle Harmonie des Lebens aufheben. Immerfort – unaufhörlich mußte man der Wichtigkeit auch der geringsten Tagesarbeit eingebend bleiben – sich immer sagen: Alles sind Schuppen – und aneinandergefügt, werden sie der Panzer, der unser Land undurchdringlich umhüllt. Und wenn es unerhörter Anstrengung gelungen war, sich zu den Aufgaben zu sammeln – fiel vielleicht ein neues Unglück herein. Umdroht war man – dem Unberechenbaren anheimgegeben und sollte doch leben wie im Frieden – Zwiespalt zwischen Tat und Möglichkeiten – stetig handeln, während über einem das Schicksal mit dunklem Flügelschlag rauschte. – Das höchste Pathos stand unmittelbar neben der einfachsten fraulichen Beschäftigung.

Und ganz wunderlich, jeder Erkenntnis, ja, dem einfachsten Verstand auf das tollste widersprechend war es, daß man es als unbegreiflich empfand, wenn der Sensenschwung des Todes ganz wie sonst aus den Reihen der Greise, Frauen, Männer, Kinder die niederstreckte, die er für seine Ernte auserkoren. Viele Menschen und auch die junge Frau, die jetzt in der Nacht mit einem gefallenen Helden gütig und wehmütig abrechnete, hatten das seltsame Gefühl, als müsse das Sterben der stillen Unbewaffneten nun eine Pause machen – als habe der Tod auf den Schlachtfeldern zu ungeheure Arbeit, um sich noch um die anderen zu bekümmern, die die Friedhöfe der Städte und Dörfer versorgten. – Aber er blieb am Werk – auch hinter den Heeren und zwischen den Schlachten.

Welche Fügung eigentlich, daß die alte Frau und ihr Liebling – er, ohne dessen Lachen und Leichtsinn ihr Leben gar keinen Reiz gehabt haben würde –, daß sie um die gleiche Zeit starben.

Und da plötzlich zuckte ein Gedanke durch den Kopf der einsam Wachenden. Sie richtete sich auf, drehte das Licht an, nahm die Depesche, die auf dem Schränkchen neben dem Bett lag, zum unendlichsten Male vor.

»Schmerzlich bewegt teile mit, daß Oberleutnant Graf Leuckmer Heldentod für Vaterland fand. Auf Patrouillenritt Gegend Namur gefallen.

Oberst v. Bärwaldtstein.«

Die Adresse lautete: »Gräfliche Familie Leuckmer.« Und sie war an das Hotel gerichtet, wo man bis gestern morgen gewohnt hatte. Vielleicht fand man sie in Bertolds Tasche. Sie war am Siebenundzwanzigsten, also gestern früh aufgegeben – fast um dieselbe Zeit, als der Brief aus Berlin in Hamburg ankam, in dem Graf Leuckmer aussprach: »Wenn Ihr diesen Brief erhaltet, ist Tante Jenny Wohl schon erlöst.«

Die junge Frau wurde ganz verwirrt. – Wer war nun früher gestorben – die alte Dame oder Bertold – die Erblasserin oder der Erbe? Welche sorgenvolle Frage stieg da aus der Versenkung empor – höhnte sie an – dies unselige Testament, das seit den letzten drei Jahren soviel in der Familie besprochene, das noch in letzter Stunde geändert werden sollte – zu spät war der gnädige Vorsatz gefaßt worden, zu spät – das Testament bestand zu Recht.

Sie suchte sich zu beruhigen. Die näheren Angaben würden kommen. – Welche groteske Fügung wäre das, wenn nun Schwierigkeiten, Unklarheiten entständen?

Förmlich betäubende Vorstellungen kamen ihr: Wenn man bedachte, durch welche Unmenge von Fäden die Millionen von Soldaten mit der Heimat verbunden waren – wie der Bestand aller Verhältnisse durcheinander geriet – auch der des Rechtes. – Gerüttelt und geschüttelt wurde die bürgerliche Welt wie ein Gefäß voll Sandkörner – tausend, aber tausend Händel und Mühen würden sich ergeben.

Sie und ihre Angelegenheiten waren eben nur ein Sandkörnchen in der Menge.

Aber man lebte ja in Deutschland! Die heilige Ordnung mit den sicheren Händen würde walten – alles schlichten.

Doch umkreisten, dem Verstande zum Trotz, ihre Gedanken immer wieder diese Frage. Für ihren Knaben mußte sie ihr von der größten Bedeutung sein. Ihr eigenes Erbteil von ihren Eltern war ihr vorweg ausgezahlt worden und hatte ihr Aussteuergut dargestellt, auf welches hin sie und Bertold heiraten konnten. Er hatte es vertan. Von seiner Erbschaft nach Tante Jennys Tod wollte er es ihr ersetzen; sie forderte es auch, – um Adams willen. Sie wollte nicht unverdient in Armut versinken oder auf Familienunterstützung angewiesen sein! Dagegen lehnte sich ihr Stolz auf. Und Adam sollte einmal seinen Weg nach Wahl, nicht nach Brot machen. Wenigstens ihr eingebrachtes Geld wollte sie zurück. Das war ihr Recht! Überdies bedeutete ihr ihr kleines Vermögen einen Gegenstand der Dankbarkeit und des Respektes: Ihre tüchtigen, anspruchslosen Eltern hatten es nicht ohne Mühe flüssig gemacht. Die ahnten nicht einmal, daß es verloren sei. Das hätte ihnen Schmerz bereitet. Aber auch darüber hinaus: Wie herrlich mußte es sein, jetzt viel Geld zu haben! Kriegsanleihen würden vom Volke geopfert werden – mit stattlichen Summen dem Vaterlande zu dienen – wie beglückend. – Und all die Not, die man stillen, all die Waisen, die man erziehen, all die armen Eltern, denen man helfen konnte!

Und so hoffte die junge Frau denn mit einer Inbrunst, die sie noch niemals für Geld empfunden hatte, daß das Vermögen zu segensvoller Verwendung in ihre sonst leer bleibenden Hände käme und nicht in die übervollen Geldschränke jener adeligen Fräuleins, wo es dem Testament nach nur das Stiftsvermögen unantastbar vermehren sollte. Jetzt – totes Geld?! Ein Unrecht am Vaterlande! Und sie beschloß, ohne Sentimentalität um dies Vermögen zu kämpfen – falls es nötig werden sollte. Um ihres Kindes Zukunft und um der großen, fordernden Gegenwart willen. –

Sie stand schon früh an Gudas Bett und weckte sie für die Reise nach Berlin. Guda hatte angeboten, hierzubleiben. Aber die junge Frau wußte: Der Vater in Berlin konnte nicht allein ernsten Pflichten standhalten, um so weniger, wenn sein Gemüt nun noch durch den Tod des Sohnes beschwert ward. So reiste Guda ab. Still und matt von den Erregungen des gestrigen Tages. Und gleich der Schwägerin voll Gedanken über die Erbschaftsfrage.

Für die Gefallenen, die in fremder Erde schlummerten, war es die frommste Ehrung, tätig zu sein! Nicht Tränen – Arbeit hieß das Opfer, das man ihrem ernsten Gedenken zur Weihe in die Schale legen mußte, die das verhüllte Schicksal den Frauen vorantrug. Ohne Zögern nahm die junge Frau die ihre auf. Und am Mittag, als zwölf fremde, verschüchterte Knaben mit einem Ausweis erschienen, der sie als die erkorenen Pfleglinge der Gräfin Katharina Leuckmer bestätigte, fanden sie eine gütige, lächelnde Frau, zu der sie schon in der ersten Viertelstunde Zutrauen faßten. Sie verstand sich auf den Ton, der in Kinderherzen widerhallt. Schon die Feststellung aller Namen dieser kleinen Schar wußte sie zu einem erheiternden Vorgang zu machen. Und als das kräftige Essen auf den Tellern dampfte, sahen sich die Kinder allein und konnten ohne Verlegenheit schmausen. Nachher im Garten durfte Adam ihrem Spiel zuschauen, wobei ihn Frau Stroblmeyer vorerst noch nicht von der Hand ließ; denn sie konnte es nicht begreifen, daß diese Knaben aus dem Volke so ohne weiteres mit ihrem Grafenkind in Berührung kommen durften.

Während die junge Frau ihre »Kriegskinder« beobachtete und herauszufinden trachtete, von welcher Art wohl der eine oder andere von ihnen sein könne, dachte sie auch an den kleinen Jürgen, nun seines Vaters anerkannter Sohn – Jürgen Rüdener. Was würde aus dem Kinde werden, wenn der Vater ins Feld zog? In diese Schar der Armen, Bedürftigen konnte sie ihn nicht einreihen! Man war ein Volk von Brüdern – Standesunterschiede schienen hinweggelöscht – das ja – aber Zartheit nicht – Gefühle nicht, die stark sprechen und für die man doch keine Worte finden kann. Sie hatte den Freund offen fragen wollen, wie er sich die Lage des Kindes denke. Aber das eben begonnene Zusammensein zerriß die ernste Nachricht ...

Guda hatte ihr berichtet, mit welchem Takt Dr. Rüdener es verstanden habe, sich zurückzuziehen.

Und Katharina wußte: Er würde auch die rechten Worte finden, zu ihr zu sprechen, obgleich er nichts von ihrer Ehe wußte ...

Aus Berlin kamen am späteren Nachmittag Depeschen. Worte der Liebe und der Ergriffenheit von Bertolds Vater. Auch die genaue Feststellung, daß Tante Jenny am 26. August, nachmittags drei Uhr zwanzig Minuten, verschieden sei. Und die Mitteilung, daß der Aufenthalt in Berlin sich wohl noch nach der Beisetzung um mehrere Tage verlängern werde.

Wunderlich! Was hatten sie dort so lange zu tun? Die Verstorbene führte schon seit Jahren keinen eigenen Hausstand mehr, hatte gleich vielen alten Einsamen ihr Behagen in den Hotels großer Städte und Kurorte gesucht und war nun seit Monaten im Sanatorium gewesen. Also aufzulösen gab es nichts. Und die Formalitäten rechtlicher Art konnte doch der Anwalt erledigen, der Thomas' Geschäfte übernommen hatte.

Bei diesen Erwägungen fiel ihr ein, daß ihrer selbst auch noch allerlei Schwierigkeiten warteten. Adam mußte nun einen Vormund haben. Aber vielleicht durfte sie selbst sich zur Vormünderin bestellen lassen? Wo war man denn eigentlich zuständig? Sie, das Kind der Scholle, die seit Jahrhunderten der gleichen Familie gehörte, fand die Heimatlosigkeit der Leuckmers unerträglich. Ihren armen Schwiegervater hatten Geldsorgen vom letzten Landbesitz der Familie vertrieben und zu kümmerlicher Verborgenheit in der Weltstadt gedrängt. Sie selbst war als Gattin eines Offiziers in ihrer kurzen Ehe in zwei verschiedenen Garnisonen gewesen. Fortan hieß es, schon aus Rücksicht auf Adams späteren Bildungsgang, einen festen Wohnsitz sich einrichten. Und für Sommertage würden ja sie und ihr Kind immer willkommene Gäste auf Schloß Schönblick sein.

Solange der Krieg dauerte, mußte man sich in vorläufigen Einrichtungen zufrieden fühlen.

Ihre Voraussicht, daß ihr Freund ein wohltuendes Wort finden würde, erfüllte sich. Er hatte es geschrieben, ehe er die Wahrheit über ihre Ehe wußte – jene Art von Wahrheit, die von ein paar äußerlichen Linien zutreffend etwas auszusagen vermag. Am Abend nach dem Dienst trug er selbst seine Zeilen in die Klopstockstraße, um sie in den Briefkastenspalt der Haustür zu werfen. – Er fühlte wohl, es war knabenhaft. – Aber er dachte: »Nur einen Blick über ihre Fenster – auf die Mauern, hinter denen sie atmet.« Er hatte geschrieben:

»Hochverehrte Frau Gräfin, sehr ernste Erschütterungen bringen nun Ihr Gemüt aus dem Gleichgewicht. Mit tiefster Teilnahme denke ich daran. Aber ich weiß, daß Ihr Wesen, ganz der mütterlichen Fürsorge für andere zugewendet, rasch seine edle Ruhe wiederfinden wird in der Fülle der Aufgaben, die Sie sich stellten.

Sie sind in diesem Augenblick allein hier und sind hier vielleicht ganz fremd. Wenn Sie meiner bedürfen sollten, stehe ich, soweit der militärische Dienst es zuläßt, zu Ihrer Verfügung. Ungerufen zu kommen erlaube ich mir nicht. Aber meine Gedanken suchen Sie mit dem Wunsch, daß in Ihrer Seele Frieden sei.

Ihr Ottbert Rüdener.«

Als er gedankenvoll seinem Ziele zuschritt, empfand er die Abenddämmerung gleich einer Wohltat. Das Leben war jetzt so laut und rasch. Wenn die Stille des sinkenden Tags vom perlgrau sich färbenden Himmel herniederströmte wie Segen, besänftigten sich die Nerven ...

Plötzlich störte ihn in der wenig belebten Straße Anrede und Aufenthalt. Er beachtete nicht die junge Dame, die ihm entgegenkam. Aber als sie zwei Schritte vor ihm war, merkte er aus einer Handbewegung, daß sie ihn begrüßen wolle oder von ihm gegrüßt zu sein wünschte. Sie kam ihm zugleich auch bekannt vor. Und indem er die Finger zur Mütze führte, wußte er schon: In Aibling hatte er diese Dame gesehen, allein oder mit Gräfin Guda Leuckmer und zwei blonden, lebhaften jungen Männern, die Gräfin Katharina ihm dann als ihre Brüder nannte – an jenem prangenden Sonnentag, als sie Abschied voneinander nahmen. Damals war auch diese junge Dame dabei gewesen. Ihren Namen hatte er nicht behalten.

Tiny wußte aber ganz genau, wer er sei. Für einen Mann mit so schönen, wunderbar sprechenden Augen hatte sie ein scharfes Gedächtnis. Sie war sehr aufgeregt über den Tod des Grafen Bertold Leuckmer und vom Bedürfnis erfüllt, sich auszusprechen gegen jeden, der nur irgend davon hören wollte. Es war der erste Fall in ihrem näheren Kreise. Und sie steigerte sich in eine Art von Mitbetroffenheit hinein – wie viele Frauen in der ersten Zeit des Krieges, wenn sie auch nur lose Beziehungen zu einem der Gefallenen hatten. Es war ein Sichherzudrängen zum Leide, mit einer Unterströmung von Eitelkeit...

»Guten Abend – Herr Doktor Rüdener? Nicht wahr? Ich erkannte Sie sofort. Trotzdem die Uniform ja fabelhaft verändert. Wundervoll – daß auch Sie – Kriegsfreiwilliger?«

»Ja. Schlichter Musketier.«

»Sie kennen mich doch auch?« Aber sie sah ihm an, daß es nicht der Fall sei. »Ich bin doch Tiny van Giraten – beste Freundin von Komteß Guda Leuckmer. – Was sagen Sie denn – Bertold Leuckmer gefallen? Wissen Sie es schon? Sie sind doch mit Gräfin Karen gut bekannt geworden seit der Geschichte mit Ihrem Jungen.«

»Ja. Ich weiß es«, antwortete er kurz.

»Er war ein entzückender Mensch«, schwärmte Tiny. »Er besuchte Guda mehrmals bei uns, kam dann auch, wenn er zum Hamburger Derby hier war, allein zu uns. Entzückend! Aber wissen Sie – ein leichtsinniger Mensch – bös könnt' man ihm ja nicht sein. – Er stak ewig in Schulden – hat seiner Frau und seiner alten Tante viel Geld gekostet. Und auch sonst... Dolle Geschichten. – Weshalb Gräfin Karen sich nicht hat scheiden lassen, versteh' ich nicht. Gründe hatte sie in Fülle. Schon im ersten halben Jahr ihrer Ehe soll sie eingesehen haben, daß sie betrogen war. – Und nun ist er tot. Das geht einem doch nahe. – Wenn so jemand, den man gut kannte, wie weggelöscht ist. Und wer weiß – nach'm Krieg wär' er vielleicht solid geworden.«

Wie ihm dies Gespräch peinlich war! Und trotzdem horchte sein Herz den Worten nach – die ihm von tragischen Leiden der herrlichen Frau viel sagten.

Nun wußte er es: Dieser Tod hatte sie befreit. Aber dieses Wissen tat dennoch nicht gut. Eine innige und reine Trauer mußte wohltätiger für eine Frau wie sie sein als solch zwiespältiges Zurückschauen.

Es war ihm ganz unmöglich, auf die Mitteilungen des offenherzigen Mädchens einzugehen. Unmöglich, sich mit ihr über die Ehe der Einen, Einzigen auszusprechen, Fragen zu stellen.

Er antwortete mit einer allgemeinen Bemerkung.

»Manchen Dramen wird der Krieg den Schlußakt schreiben, aber hunderttausend neue wieder schaffen.«

»Ja«, sagte Tiny, und ihre Augen wurden feucht, »ich fang' an hineinzusehen in solche Dramen – bin seit gestern im praktischen Kursus – bald werden Sie mich in der Tracht der Roten-Kreuzschwestern erleben – oh – ich bin so stolz – der Arzt hat mich gelobt – denken Sie – meine Hand sei sehr leicht! Ich bin glückselig.«

Ihr darüber etwas Herzliches zu sagen war natürlich. Dann trennten sie sich, als seien sie seit langem gute Bekannte. Er staunte das an. Das war sonst nicht seine Art gewesen. Er kannte sich als abgeschlossen von den Menschen, die ihn im Tagesverkehr streiften. Jetzt brauchte nur eine Gefühlsseite berührt zu werden, und ein bewegtes Vertrauen zitterte hin und her. Seltsame Überraschungen erlebte man an sich. Einige Augenblicke später schob er den Brief unter die schmale Messingklappe des Briefkastens in ihrer Haustür.

Er wußte nun, die Worte, die er ahnungsvoll gewählt, waren die rechten gewesen.

Die junge Frau saß und schrieb an den Oberst von Bärwaldtstein und bat um möglichst genaue Angaben. Ob das Ende ihres Mannes rasch und leicht gewesen und ob man später sein Grab würde finden können. Sie bat auch um ganz genaue Angaben der Todesstunde, deren Zeitpunkt für ihren Knaben und seine Erbrechte von Wichtigkeit werden könne.

Da brachte man ihr den Brief des Freundes.

Voll Ruhe nahm sie ihn entgegen. Sie sah ja gleich, von wem er kam. Der Inhalt war ihr wie etwas Erwartetes. Daß er verstehen würde, zu ihr zu sprechen, hatte sie gewußt. Und ihre Gedanken sagten ihm: Ja, es ist Frieden in meiner Seele. Obgleich sie niemals von sich und ihrer Ehe zu ihm gesprochen hatte, war ihr, als müsse sich durch irgendeine geheimnisvolle Übertragung das Wissen davon ihm mitgeteilt haben. Sie wollte ihn auch zu sich berufen, bald vielleicht, sie wußte noch nicht. Und dachte wieder: »Auf den Händedruck und das gesprochene Wort kommt es nicht an. Der Trost und Reichtum, sich in seelischer Gemeinschaft mit einem Freunde zu wissen, ist alles.«

Die Rückkunft der Ihrigen aus Berlin zögerte sich noch tagelang hin. Aber sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, durch welche Umstände Guda und ihr Vater dort zurückgehalten werden mochten. Die Stunden wirbelten nur so an ihr vorüber.

Sie mußte ihren Eltern mitteilen, daß Bertold gefallen sei – er, von dem Mutter und Vater dachten, er sei ein liebevoller Gatte voll Pflichttreue gewesen. Sie mußte Trostbriefe ertragen, die unwillkürlich wie bitterste Ironie wirkten. Sie las, daß Mutter und Vater ihre wirtschaftliche Lage berechneten: Außer der Kriegspension als Oberleutnantswitwe hatte sie die Zinsen ihres im voraus empfangenen Heinzenbergschen Erbteils. Das war bescheiden – aber wie die Eltern ihre Tochter kannten, würde es ausreichen, auch wenn das Vermögen von Tante Jenny nun Adam noch entgehen sollte. Sie selbst konnten jetzt nicht kommen, ihre Tochter zu umarmen. Es mangelte an Arbeitskräften, der Hafer war noch nicht herein, die Kartoffelernte würde sich anschließen, die Feldbestellung war das wichtigste. Vater selbst griff mit zu auf den Feldern, wie die Mutter im Haus, damit robuste Magdarme für den Acker frei würden. Jetzt hieß es: Ernten und säen. Und nicht: Weichmütig sein in Trauer.

Ja, das waren ihre Eltern! Und daß sie so zu ihr sprechen konnten, zeigte ihr: sie dachten, die Tochter sei von ihrem Schlag. Das machte sie stolz und sicher. Kein Wort der Angst um ihre vier Söhne hatte in den Briefen gestanden. Sie waren in Gottes Hand. Wie es dem Vaterlande nottat, würde er verfahren. Ja, das waren ihre Eltern!

Durch die zwölf »Kriegskinder« kamen Aufgaben in solcher Fülle, daß die junge Frau wohl sah, ganz allein ließe sich das nicht bezwingen. Sie suchte eine junge Kriegerwitwe, die vielleicht Kindergärtnerin oder Volksschullehrerin gewesen sei und sich nun Geld zu verdienen wünschte. Eine solche Kraft konnte das Rote Kreuz ihr gleich nachweisen. Und nach zwei Tagen, nachdem sie die Notwendigkeit solcher Hilfe erkannt hatte, kam ein zartes, verweintes Menschenkind bei ihr an. Frau Marta Flügel. Ihr junges Glück war zerbrochen, ihr Mann in Löwen von feigen Franktireurs erschossen. Da hieß es: Aufrichten und die Fähigkeit zu tapferem Ertragen wecken. Die Hilfe lud also neue Aufgaben auf. Aber Katharina hoffte, daß es der armen Frau Marta nach und nach verständlich werden würde, wie völlig Dienen erhob! Denn schon im ersten Gespräch klang so etwas mit von bitterlicher Enttäuschung: Durch die Ehe hatte sie die Sorgen für ihr Brot dem Mann übertragen; nun sollte sie wieder wie vorher Verdienst suchen; was der Staat gab, konnte nur die Notdurft decken.


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