da Boy-Ed
Die Opferschale
da Boy-Ed

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Schwere Nachtstunden durchlitten die beiden schwesterlich aufeinander eingestimmten Herzen zusammen. Guda lag in den Armen der trostvollen jungen Frau, die ihr mehr noch als Schwester, mehr noch als Mutter sein sollte: das Weib, das aus ahnungsvollem Verstehen heraus auch das Unerklärliche begreift.

»Steh mir bei, Karen, steh mir bei.«

»Nur du selbst kannst dir helfen.«

»Wie denn, o Gott, wie?«

»Hab' den Mut, dir zu gestehen, daß du ihn nicht genug liebst, um...«

Guda fuhr auf. Flammte.

»Ihn nicht genug lieben?... Ich will lieber sterben, als ihn lassen, ich lieb' ihn.«

Sie warf sich auf ihr Bett. Sie umklammerte mit den Armen das Kissen und legte ihr Gesicht darauf, es tief versteckend. Ihr Körper zitterte vor Leidenschaft, sie fühlte den Geliebten und seinen Kuß. Sie bebte vor Verlangen nach seiner Nähe.

Karen setzte sich auf den Bettrand und legte zärtlich ihren linken Arm um das arme Geschöpf, das zerrissen war von mächtigen Empfindungen, die einander widerstritten.

»Aber wenn du nicht von ihm lassen willst, kann es dir doch gleich sein, ob du ihm eine so kurze Zeit früher oder später folgst.«

Sie mußte den Widerstreit verbergen, der in ihren eigenen Gedanken gewesen. Sie durfte nicht verraten, wie seltsam dringend in ihr selbst der Wunsch nach Frist war.

Lange mußte sie auf eine Antwort warten. Guda schien nach und nach ein wenig gefaßter zu werden. Endlich richtete sie sich halb auf.

»Wenn ich es deutlich sagen könnte! Ich will mit ihm gehen, in die Wüste, in den Tod. Wenn ich nur an ihn denke, ist es, als käme Seligkeit über mich. Aber da ist eine Stimme in mir, sie bringt mich um, diese Stimme, mir ist immer, als fragt sie mich: kennst du ihn? Kennst du ihn? Und siehst du, Karen, da war in der letzten Zeit so viel, dies und jenes unbegreifliche Wort, ich hab' sie nicht klären können, diese schmerzenden Worte. Dinge, die mir heilig sind, ewig bleiben müssen. Verzeih'! Man kann nicht alles sagen. Ich dachte, brieflich. Aber über all meine Briefe ging er hin mit zärtlichen Depeschen. Und ich fühle... Tage können wichtig sein, irgendeiner kann es bringen, daß ich richtig sprechen darf. Wenn die Frist knapper wird, ist vielleicht doch keine Gelegenheit. Ich kann so wenig allein sein mit ihm. Und dann, dann, ah!«

Ja, dann kam der Sturm seiner Leidenschaft über sie und zerbrach ihre Rede und ihre Gedanken.

Und Karen verstand. All diese zusammenhanglosen, kurz herausgestoßenen Sätze offenbarten ihr die Qual dieses holden, gefolterten jungen Wesens. Mit dem sechsten Sinn dieses erfahrenen Weibes, das in seinen zartesten Empfindungen einst hart beleidigt worden war, erriet sie alles... Sie ahnte, daß dieser schöne, herrische Mann mit brutaler Leidenschaftlichkeit vorzeitig das Blut des Mädchens in Aufruhr gebracht, daß sie in der glühenden Untertänigkeit einer Sklavin an ihm hing. Aber daß in ihrer Seele ein Rest von Selbstbesinnung geblieben war, daß sie sich an diese verborgene Würde klammerte, die tiefes Sichverstehen in hohen Fragen ersehnte, um wahrhaft an das Glück glauben zu können.

Eine Handvoll Tage mehr Zeit konnten alles sein oder nichts.

»Liebling. Süße Guda, das ist doch einfach. Du depeschierst morgen früh, daß du willst, es bleibe beim ersten Termin.«

»Ich nicht!« Guda umklammerte sie in höchster Aufregung. »Verachte meine Feigheit. Ich nicht! Er könnte zürnen. Mildred wird auf mich einreden. Sie ist so majestätisch. Ich nicht. Nimm es auf dich! Steh mir bei. Sag, es geht nicht. Du bist doch die Hausherrin. Papa sagt allen Menschen, daß du es bist. Erfinde Vorwände, für Papa und Percy und Mildred.«

»Für Papa unter gar keinen Umständen«, erklärte die junge Frau, »er hat mich schon ein bißchen abgekanzelt, weil ich gegen diese plötzliche Änderung war.«

»Siehst du, du bist auch dagegen. Also mit Papa wirst du schon reden und ihn bestimmen können. Aber für Percy und Mildred, ach, und wenn du lügen mußt.«

»Armes Kind. So wenig Mut! Aber ich will es auf mich nehmen, ja, nur, wenn er übermorgen kommt, wirst du nicht anderen Sinnes werden?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Ach«, lächelte Katharina wehmütig, »ich hab' nicht für zehn Pfennig Zutrauen zu deiner Festigkeit, wenn Percy dich beschwört.«

In Gudas Augen schossen Tränen.

»Die bin ich dir dann ja schuldig«, sprach sie.

Und aus den Tränen ward ein jähes Aufjammern. Alle Qual schluchzte, alle Sehnsucht weinte, sie liebte in heißen Leiden, verging in notvollem Verlangen und wußte nicht, ob es sie zum Tode oder zum Leben drängte.

Die junge Frau hielt die völlig Fassungslose fest in ihren Armen.

Aber auch über ihre Wangen rannen Tränen, vielleicht Tränen des Mitgefühls, vielleicht der Erinnerung eigener Leiden, vielleicht der Rührung über einen, dessen dunkle, ernste Augen sie immer anzublicken schienen.

Am anderen Morgen hatte die junge Frau ein langes Gespräch mit ihrem Schwiegervater. Sie konnte ihm nicht alle zitternden Saiten aufdecken, nicht vor seinem Männerohr alle Töne anschlagen, die in der Nacht in offenbarendem Vertrauen zwischen ihr und Guda als schwüle und dunkle Akkorde aufklangen. Aber sie bezwang ihn doch völlig und stärkte auch sein allzu mildes Wesen, das gern die auseinanderlaufendsten Faden noch friedlich zusammenknüpfte, dahin, daß er sich fest bereiterklärte, ihr gegen die Lightstones beizustehen.

Dann verfaßte sie ein Telegramm. Und dachte: ›Papa könnte mich wieder kleinlich schelten.‹ Denn es beliebte ihr vorsätzlich nicht, Herrn Percy auf englisch zu depeschieren, weil es ihm niemals beliebte, ihr deutsch im Gespräch zu antworten. Und weiter dachte sie: ›Er nannte nicht mal Gründe. Ich erdrücke ihn mit solchen.‹ Das machte ihr beinahe Vergnügen.

Von diesem Tage an schien es wirklich, als solle das strahlende Sommeridyll nutzlose Verschwendung der Natur werden. Auf Feldern und Zweigen schwoll die üppige Reife weiter. Blaugoldener Glanz strömte aus der unbewölkten Höhe herab und wollte die Menschen zu wonniger Trägheit stimmen. Aber die Kulisse und die Handlung klafften auseinander, es ging nicht zu wie auf der Bühne, wo sich zugleich mit dem Gemüt der Helden auch die Szene verdüstert. Die heiße Ruhe der Hochsommerpracht wirkte fast wie Ironie.

Katharina, die aus dem Gleichmaß ihres klaren Wesens heraus eine geordnete Abwicklung der einmal entworfenen Pläne liebte und vielleicht einen Zug nüchterner Ordnungsliebe in sich hatte, sagte, es scheine, man sei in den Umschwungsbezirk von Mühlenflügeln geraten, worin ihr Frau van Straten nur beistimmen konnte. Man fing an, gespannt auf die Post zu warten und mit Begierde nach den Zeitungen zu greifen. Herr van Straten schrieb einen Brief, der die seit vielen Wochen feststehenden Verabredungen umwarf. Als Gast hatte er nicht nach Schloß Schönblick kommen wollen. Er mußte ja immer arbeiten, zum schweren Kummer seiner Frau, denn diese atemlose Selbstbetätigung widersprach so den vornehmen englischen Gepflogenheiten. Aber seine Proletariernatur, wie sie das still bei sich nannte, hatte nun mal das Bedürfnis. Aber der Hochzeit seines Geschäftsfreundes Percy Lightstone, der ihm auch persönlich seit so vielen Jahren gut bekannt war, wollte er doch beiwohnen. Etwa eine Woche vor dieser Festlichkeit sollten Frau van Straten und Tiny aus dem Schloß, wo dann von den herzureisenden Familienmitgliedern die Gastzimmer in Anspruch genommen wurden, nach dem Hotel Ludwigsbad übersiedeln. Dort dachte sich dann auch van Straten einzufinden, aber nur für vierundzwanzig Stunden, länger hielt er keine Ferien aus. Nun schrieb er:

»Es tut mir leid, aber kein Gedanke daran, daß ich wegen eines Festes, und seien mir so werte Menschen wie unser liebes Komteßchen Guda und Mr. Lightstone der Mittelpunkt davon, von Hamburg gehe. Meine Ansicht ist die: Es gibt Krieg! Hamburger Börse gleicher Ansicht. Nichts zu wollen. Ob bald, ob's sich schleppend entwickelt, wer kann das sagen? Wenn's zu wetterleuchten beginnt, tritt man nicht gerade einen Spaziergang an! Und ich denke so: Ihr kommt nach Haus. Die gräflich Leuckmersche Familie, der ich mich allerverbindlichst empfehle, wird es vielleicht nicht verstehen. Aber Lightstone, als politisch geschulter Geschäftsmann, begreift bestimmt, daß es in nervösen Zeitläuften für einen Mann, wie mich, nur einen Platz gibt: sein Kontor!«

Frau van Straten war sofort bereit abzureisen, obschon es sie etwas kostete! Der Baronet Bruce Lightstone und seine Frau Maud, Tochter des Lords Bredshire, wurden bald erwartet. Dieser galt als naher Freund des Königs. Sich so vornehme Leute entgehen zu lassen! Aber in der Rang- und Bewertungsliste, die im Herzen der Frau van Straten aushing, stand denn doch zu alleroberst ihr Mann! Daß er sich nicht zum Aristokraten umkrempeln lassen wollte und konnte, war ihr Kummer. Aber den trug sie, wie man die Krankheit eines teuren Menschen erträgt, man läßt sie den damit Behafteten nicht entgelten. Ihre Tochter war aber nicht zum Gehorsam, sondern zur Herrin ihrer Eltern erzogen. Tiny dachte, es wäre doch beinahe Selbstmord, abzureisen. In zehn, zwölf Tagen wurde Dr. Thomas Steinmann erwartet. Sie war durchaus verliebt in ihn. Außerdem sollten mindestens zwei von den vier »wilden Junkern von Heinzenberg« zur Hochzeit kommen. Und Tiny hatte schon oft gedacht, daß vielleicht einer von den Brüdern der Gräfin Katharina ein geeigneter Gatte für sie sein könne. Tiny war fest entschlossen zu heiraten. Sie wußte nur noch nicht wen.

Ihrer Freundin Guda gegenüber machte sie kein Hehl aus diesen Gedanken; aber im übrigen hieß es, daß sie doch bei der Hochzeit ihrer liebsten, ihrer einzigen Freundin nicht fehlen könne! Katharina stand ihr gutmütig bei, und die Frage, wo sie denn bleiben solle, wenn das Schlößchen von Gästen mit näheren Anrechten überfüllt sei, entschied Katharina dahin, daß ihre Brüder im Hotel wohnen könnten.

Mit dem gleichen Zuge, in welchem Frau van Straten über Holzkirchen nach München fahren mußte, kam Percy Lightstone aus Rosenheim an. Auf diese Weise sah er schon vom Fenster des langsam einfahrenden Zuges aus eine ganze Gruppe um die wuchtige Gestalt der Dame versammelt, die einen engen Futteralrock anhatte und einen weitgeöffneten seidenen Staubmantel. Ein ganzes Durcheinander von Begrüßungen und Verabschiedungen umgab so das Wiedersehen der Verlobten. Niemand hätte sie zwischen den anderen als solche erkennen können: Percy schüttelte seiner Braut gerade so kameradschaftlich die Hand wie Tiny. Aber das wußte man ja längst: Percy zeigte und forderte eine vollkommene Beherrschtheit des Ausdrucks.

Auch in den nächsten Tagen konnten weder Katharina noch Graf Leuckmer irgendeine Äußerung der Verstimmung bei ihm bemerken. Es schien beinahe, als habe er seine Forderung beschleunigter Heirat vergessen. Als Gudas Vater ein Wort des Bedauerns, der Erklärung äußern wollte, ging Percy so rasch darüber weg, daß man sah, er wollte diese Sache nicht berührt haben. Katharina wagte nicht, bei Guda eine Frage anzubringen. Sie sprach immer nur, wenn man zu ihr kam oder wenn ihre Seele spürte, daß die andere Seele auf ein anklopfendes Wort wartete. Aber Guda war ihr plötzlich wieder entglitten. Die leidenschaftliche Vertrautheit jener Nachtstunden war von sichtbarer Scheu abgelöst.

Soviel als es sich nur irgendwie unauffällig einrichten ließ, gewährte Katharina dem Brautpaar Einsamkeit, wußte auch Tiny mit ein paar verständigen Andeutungen von ihm fernzuhalten. Das begriff kein Mensch besser als Tiny, daß man sich unendlich viel gegenseitig noch zu beichten habe, ehe man an den Altar trat.

Die Ankunft von zweien der berühmten wilden Junker lenkte Tiny auch ganz von dem Brautpaar ab. Als die ersten Hochzeitsgäste kamen sie, und das Wiedersehen zwischen ihnen und ihrer Schwester war recht stürmisch. Sonst aber enttäuschten sie Tiny zunächst, wenigstens was ihre »Wildheit« anbetraf.

Sie waren stattlich und kraftvoll wie ihre Schwester, nicht so blond, wirkten aber doch im ganzen hell. Gesundheit leuchtete aus ihrem Wesen. Sie hießen Hillemann und Arbogast, denn das waren die Heinzenbergschen Familiennamen. Eine schlichte Fröhlichkeit sprach aus ihnen. Und wenn nicht Arbogast einen Durchzieher auf der linken Backe gehabt hätte und Hillemann einige Schmisse am Kinn und an der Stirn, würde man sie für friedlich wie die Hirten auf dem Felde gehalten haben. Aber aus den Jugenderinnerungen, die sie mit Katharina tauschten, brauste allerlei Ungestüm auf, und man sah junge Pferde ohne Sattel einhergaloppieren, sah einen lecken Nachen mit zerfetzten Segeln vor dem Sturm auf den Kleinen Belt hinausfliegen, hörte lachende Rufe durch den schon nächtlichen Wald hallen und erlebte eine lebensgefährliche Kletterpartie auf die allerobersten, schwankenden Zweige einer Pappel, in deren kahlen Reisern ein Rabennest hing. Auch tauchten am Rande dieser Geschichten ein besorgter, milde scheltender Vater auf und eine fröhlich-prangende Mutter, die kaum verbarg, daß sie am liebsten dabeigewesen wäre. Ein Ahn erstand in den stolzen Erzählungen aus der Gruft; das war Herr Hillemann Steen Heinzenborg gewesen, der niemals fuhr, sondern immer ritt. Und als er, dem Regenten Friedrich zu huldigen, der in Odense kurze Zeit Lager hielt, nach Fünen gemußt, ließ er sich in einer klobigen Fähre auf seinem gewaltigen Rappen über den Aarösund setzen, sprengte über die Insel Aarö und lenkte an ihrem östlichen Ufer sein Roß auf ein Riesenfloß, um nach Tharö hinüberzuschiffen. Beinahe wären alle ertrunken, aber am fünschen Strand gab Herr Hillemann Steen Heinzenborg seinem Rappen die Sporen und jagte gen Odense, als ob es gar nichts gewesen sei. In dem Herrenhause von Heinzenberg hing sein lebensgroßes Reiterbildnis, und er war unglaublich häßlich gewesen.

»Ach«, sagte Tiny, »das sind Traditionen! Herrlich, solche zu haben! Was sind unsere? Vaters Vater rollte Fässer mit Schiffszwieback und Salzfleisch an Bord der Überseeschiffe. Und Vaters Bruder verkaufte noch auf 'n Steinweg in Hamburg Kurzwaren von der Karre, wenn Vater ihm nicht die Mittel gegeben hätte, sich in Bremerhaven ein Geschäft zu gründen.«

»Bravo zu der Entwicklung, und bravo zu der Offenheit!« lachte Arbogast. »Das ist auch ein Zeichen von guter Rasse.«

Die Brüder waren Zwillinge, aber wegen der halben Stunde, die Arbogast an Lebensdauer mehr zählte, erkannte ihn Hillemann als den »älteren« Bruder an. Sie hatten studiert und sich vorderhand dem Staatsdienst gewidmet. Sie schienen aber keine großen Ziele zu haben und waren sicher, niemals Minister zu werden. All ihre Zukunft war: Einmal die väterliche Scholle zu bewirtschaften! Von den beiden anderen Brüdern sprachen sie als den »Kleinen«. Der eine »Kleine«, Friedrich, war Leutnant zur See und hatte gerade ein Bordkommando auf S. M. S. »Mainz«. Der andere »Kleine«, Hermann, war noch Oberprimaner und in Kiel bei einem Professor in Pension; der Aufenthalt dort waren die ärgerlichen Zwischenspiele, die Ferien erst das ganze Leben. Aber weil es den Eltern immerhin nicht ganz leicht war, vier solche Söhne bis zur unabhängigen Selbständigkeit zu bringen, büffelten sie immer kolossal, um nur flink und glatt die unvermeidliche Lernerei hinter sich zu haben.

Sie wünschten glühend den Krieg. Und sie sagten, all die Wölfe, die uns umschlichen und umbellten, müßten mal endlich gründlich was auf die Schnauze haben. Sie erzählten auch vom Besuch des englischen Geschwaders in Kiel, wo sie zu jenen Tagen gewesen waren. Und sie verschworen sich: Die Freundschaft sei infame Heuchelei und das Ganze eine so freche Spionage gewesen, dergleichen in der Welt noch nicht vorgekommen.

Tiny war bezaubert. Sie hatte noch nie so kraftvolle junge Menschen mit so entschiedenen Ansichten kennengelernt. Aber es warm eben zwei! Und sie glichen einander in Erscheinung und Wesen sehr. In welchen also sollte man sich verlieben? Gar zu wankelmütig wollte Tiny vor ihrer Selbstkritik auch nicht erscheinen. Sie beschloß, die Ankunft von Thomas Steinmann abzuwarten, um zu vergleichen.

Ohne daß man sich darüber aussprach oder sich nur klarmachen konnte, wie es kam, stand zwischen dem Brautpaar und der übrigen Gesellschaft eine unsichtbare Mauer. Jedes politische Gespräch, und es gab eigentlich nur noch solche, verstummte sofort, wenn Percy und Guda sich dem Kreise zugesellten. Percy berührte die Weltlage nie. Er schien nur Gedanken für seine Braut zu haben. Er empfing Berichte und farbige Zeichnungen und zeigte Guda diese Darstellungen ihres Heims, das er in einem vornehmen Villenort, einige Meilen von Birmingham entfernt, herrichten ließ.

Aber den Honigmond wünschte Percy mit seiner jungen Frau im historischen Lightstone House zu verbringen, das grau, uralt und von Efeu ganz umpelzt, auf den Kalkfelsen des Kanalufers lag. –

Ein wunderbar klarer Sonntagmorgen beglückte jedes naturfreudige Gemüt. Die ganze Luft roch nach Nelken. Auf dem Rasen, unter stillen Obstbaumzweigen, lagen blanke grüne Äpfel. Von ihrer zweiten Blüte ermüdet, streuten Rosen aus ihren Kronen gelbliche und rosa Blätter in die unter ihren Stämmen wuchernden Reseden. Die Lust des Daseins war so groß, daß Katharinens Brüder sich irgendwie darin austoben mußten, denn sie hatten ja manchmal Anfälle von Knabenübermut. Drüben am Horizont stand wie eine friedliche Burg der Schönheit die stolze Kuppe des Wendelsteins vor dem blassen Horizont, in den zarten Farben des Fernduftes, der die Phantasie verführt. Die Brüder bekamen plötzlich Begier auf eine vielstündige Fußtour, auf den Wendelstein wollten sie, gerade weil es Sonntag war. Zwischen Burschen und Mädeln wollten sie tollen, Schuhplattln sehen, Jodeln hören, süddeutsches Volk in feiertäglicher Ausgelassenheit beobachten oder feststellen, ob die Fröhlichkeit mit einer gewissen schweren Form sich nur gebändigt äußere. Tiny war ohne Zögern bereit mitzumarschieren, trotz heimlicher schwerer Sorge um ihr Schuhzeug, das nur aus hochhackigen, schmalen und dünnen Schuhen bestand. Aber die Brüder wollten auch ihre Älteste mithaben. Sie liebten ihre Schwester mit ritterlicher Bewunderung und hätten jeden niedergeschlagen, der es ihr gegenüber an Rücksicht etwa fehlen ließe. Auch deshalb verbarg sie das Elend ihrer Ehe auf das sorgfältigste vor den Ihren. Die Eltern hatten es schon ohnedies nicht leicht; die Brüder sollten nicht feindselig gegen den Mann gestimmt werden, der doch nun einmal ertragen sein mußte. Katharina fand es unmöglich, einen ganzen Tag von Schönblick fortzugehen. Wenn man das Brautpaar nicht auffordere, sich anzuschließen, müsse sie eben zurückbleiben. Man erwog noch hin und her, als Gudas Eintritt das Gespräch abschnitt. Sie goß sich Tee ein und erzählte, daß Percy ihr soeben habe sagen lassen, er frühstücke in seinem Zimmer, weil er viele Briefe zu schreiben habe. Gestern hatte er ja noch mehr Briefe und Depeschen bekommen als sonst. Tiny sah die wilden Junker an mit sehr sprechenden Blicken, die sagten: ›Unter diesen Umständen brauchen wir ja gar keine Rücksichten auf das Brautpaar zu nehmen.‹ Und Hillemann blickte zurück: ›Find' ich auch.‹

Gerade da kam Merkl, der die Post geholt hatte. Und was sie brachte, riß alle Anwesenden hinein in den Tumult großer Erregung. Graf Leuckmer las sogleich laut vor, was groß gedruckt zu Häupten des Zeitungsinhalts stand: Serbien hatte Österreichs Ultimatum teils ausweichend, teils ablehnend beantwortet. Der österreichische Gesandte, Freiherr v. Giesl, zeigte der serbischen Regierung den Abbruch der diplomatischen Beziehungen an und verließ abends halb sieben Belgrad. Die serbische Regierung hatte schon nachmittags drei Uhr die Mobilmachung des gesamten Heeres angeordnet.

Krieg!

Zunächst zwischen diesen beiden Staaten. Aber auch die jungen Menschen um den Tisch fühlten auf der Stelle, daß das, was am Horizont emporwuchs, nun nicht mehr ein Schatten war, sondern eine riesengroße, furchtbare Wirklichkeit. Und sie sahen schon Rußland nebst dem sklavisch von ihm abhängigen Frankreich, an Serbiens Seite über Österreich und Deutschland herfallen. In den Ausbruch leidenschaftlichen Zorns schnitt Graf Leuckmer mit einer Handbewegung eine Pause hinein. Er wünschte etwas mitzuteilen. Alle schwiegen sofort.

»Liebes Kind. Deine Hochzeitsgäste schrumpfen noch mehr zusammen: hier teilt mir der Baronet Bruce Lightstone mit, daß er für sich und seine Gattin noch nachträglich absagen muß. Dringende Angelegenheiten rufen sie von Wien nach England zurück.«

Er reichte den kurzen Brief über den Tisch, wo Hillemann ihn annahm, um ihn an Guda weiterzureichen. Sie schien die Farbe zu verändern, aber da sie mit dem Rücken gegen Fenster und Balkontür saß, konnte man es nicht genau feststellen.

Katharina fuhr aus peinvollem Nachsinnen auf. Sie war in eine Postkarte vertieft gewesen. Die lautete: »Urlaub abgeschlagen, komme also nicht zur Hochzeit. Scheint ja ernsthaft zu werden. Bin in mein Regiment zurückbeordert. Tante Jenny untröstlich. Ihr Befinden leidlich. Gruß. Bertel.«

»Dein Bruder kommt auch nicht«, sagte sie langsam zu Guda.

Das Schweigen, das zuerst nur Aufmerksamkeit auf die Worte des alten Herrn gewesen war, bekam einen anderen Charakter, es wurde das schwere Schweigen vor ungeheuren Möglichkeiten.

Und die junge Frau war voll innerer Unruhe, was drängte sich ihr auf? Was wollte sie nun wieder aus der reinen Stille dieser Tage reißen? Ihr Mann war in seine Garnison zurückberufen. So mußte sie ihm anbieten, ihm dort rasch eine Häuslichkeit herzustellen. Dies war ihr keine Frage. Sie war gesonnen, ihre Pflicht zu tun. Aber wie unterschrieb er denn diese eilige Karte? Bertel? Niemals hatte ihn irgend jemand in der Familie so genannt. Woher kam ihm das, daß er sich so unwillkürlich mit einem Kosenamen unterzeichnete, den er weder von ihren noch von den Lippen der Seinen je gehört!

Und eine qualvolle Ahnung sagte ihr, daß es wohl irgendein weibliches Wesen in seinem gegenwärtigen Dasein geben möge, das ihn so nenne, und für das er sich so zu unterschreiben gewohnt war.

Fort mit diesen Gedanken, nur fort vom eigenen kleinen Leben! Jetzt gab es größere Dinge! Vielleicht kamen unerhörte Zeiten herauf. Gefahren für das Vaterland. Aber hatte ihr denn nicht einer, an den sie viel dachte, gesagt: es gibt keinen Krieg, wir, wir werden ihn nicht dulden? –

Arbogast hatte in eine der Zeitungen geblickt, nun stieß er ein Wort der Empörung aus, damit auch die Aufmerksamkeit seiner Schwester wachrufend.

»Denkt euch, die Sozialdemokraten demonstrieren gegen den Krieg!« Und er las allerlei vor: Versammlungen in Berlin, in Hamburg, Umzüge, Zusammenrottungen, das Militär war eingeschritten, in den thüringischen Kleinstaaten, überall. »Großer Gott, welch eine Freude für unsere Feinde! Wenn wir auch offiziell noch keine haben. Sie werden glauben: wir sind innerlich zerrüttet.«

Katharina war still.

Sie dachte:

›Ich muß mit ihm sprechen, ich muß!‹

Aber vielleicht war er schon fort von hier, stand irgendwo inmitten dieser beängstigenden Unruhen, von denen Arbogast vorlas. Seinen Knaben hatte er ihr nicht gebracht. Aber das war wohl Bescheidenheit, Unsicherheit, vielleicht auch eine Art Trotz. Der des mühselig Kämpfenden gegen die, die in satter Ruhe zu leben scheinen. Sie konnte ihm nicht nachgehen und seinen Knaben noch einmal herbitten; nein, das konnte sie nicht, wenn er wünschte, ihrer Welt fernzubleiben. Aber ein starkes Gefühl sagte ihr doch: schweigend wäre er nicht von hier fortgegangen.

Sie nahm sich zusammen. Sie stand auf und trat an den Sessel ihres Schwiegervaters heran.

»Papa«, sagte sie, sich ein wenig zu ihm herabneigend, was ihrer Haltung einen zärtlichen Ausdruck gab, »ich werde gleich an Bertold telegraphieren und ihm anbieten, zu ihm nach Hannover zu kommen. Natürlich vor Gudas Hochzeit kann ich euch nicht verlassen. Es sind ja auch nur noch zehn Tage.«

Er griff nach ihrer Hand und küßte sie stumm. Sie sahen sich an und verstanden sich. Das Opfer, das sie bringen wollte, durfte in Gegenwart ihrer Brüder nicht als solches bezeichnet werden.

Nun aber war die Unruhe in den jungen Menschen völlig gesteigert. Hillemann sagte, er käme sich vor wie ein Akkumulator, der nicht arbeiten dürfe, oder wie ein angekurbeltes Auto, das noch stillstehen müsse. Hinaus, hinaus, wenn auch nicht weit weg, denn was konnte jede Stunde bringen! Schon war der Kaiser auf eiliger Rückfahrt aus den norwegischen Gewässern, wahrscheinlich zu eben dieser Stunde bereits in Kiel eingetroffen.

Guda lehnte die Beteiligung auch an einem begrenzten Vormittagsspaziergang befangen ab. Sie hatte, zugleich mit der Benachrichtigung, daß Percy auf seinem Zimmer frühstücke, seinen Wunsch empfangen, sie etwa halb zwölf auf der Aussichtsterrasse zu finden. Aber die Brüder mit Katharina und Tiny zogen davon. Adam zwischen seinen beiden Oheimen, seine Händchen in ihren festen Fingern. Glückselig und ein lachend dankbares Publikum für jeden Spaß, den sie mit ihm machten. Er bewunderte sie grenzenlos, und sie schienen ihm die mächtigsten und klügsten Menschen auf der Welt, noch viel mächtiger als Alois, der Gärtnerbursche. Denn Onkel Hillemann hatte ihm eine Windklapper gemacht und an das Balkongitter vor dem Speisesaal mit Bindfäden befestigt, wo sie nun ihre Flügelchen bei jedem Windhauch drehte. Und Onkel Arbogast schenkte ihm ein kleines rotes Hufeisen, das an den beiden Enden grau war, und wenn man eine Handbreit davon eine Feder von Großpapas Schreibzeug auf einen Tisch legte, kam sie von selbst an das Hufeisen heran.

Sie wanderten durch den Ort, stiegen sacht zur bescheidenen Höhe hinan, auf der grau und hellbesonnt die Kirche aus dem dicken Grün alter Lindenwipfel hervorwuchs; aus dem Munde ihres Turmfensters quoll feiertägliches Geläut heraus und wallte in schönen Schwingungen in die Luft hinein. Sie folgten der Ellmoser Straße, die auf dem weiten, welligen Höhengelände ins Feld und zu breitangelegten Dörfern führte. Erntereif und schwer gesegnet lag das Land. Auf vielen Koppeln standen die Heere der Garbenbündel, und auf anderen strich der leise Wind über die langen Haare der Gerstenähren. Friede, Friede, in göttlichem Lächeln. –

Hillemann und Arbogast kannten das andere Landschaftsgemälde, das der ernsten Stille und feinen Wehmut der schleswig-holsteinischen Küste, und an ihre heimatlichen Buchenwälder und Roggenfelder spülten fast die blauen Wogen des Meeres. Aber sie waren bezaubert. Andere Züge, aber dennoch deutsche Züge, andere Stimmung, aber ganz und gar deutsch, Heimat auch hier. – –

In sanften Mulden ruhten reiche Dörfer, blaudunkle Wälder zogen sich, gleich breiten Satteldecken, über die Rücken mäßiger Bodenerhebungen. Das Bild des Horizontes erweiterte sich majestätisch, und neben der Anmut der Wendelstein-Berge erschien das wilde Gezack der Schroffen des Kaisergebirges. Zwischen ihnen, in den Verschiebungen, die die Ferne mit Bergesgipfeln vortäuscht, stand ein silbrig schimmerndes, schneeweißes Stück Welt. Es ragte da herauf wie die Mauer vor einem Märchenland. Die Gletscher des Groß-Venedigers, im Glanze der Himmelsbläue. Nah, und unter ihr, schwebte ein Habicht, es schien, als liege er mit ausgebreiteten Flügeln unbeweglich in der Luft. Und von weit her kamen Sonntagsglockenklänge. Friede, Friede, in göttlichem Lächeln. –

»Es kann nicht sein!« rief Katharina überwältigt von diesem machtvollen Gegensatz.

»Es muß sein!« sagte Arbogast.

Und Hillemann, mit Adam als Reiter auf den Schultern und die kleinen Händchen mit seinen emporgestreckten Fäusten haltend, sprach:

»Wenn die Entwicklung rasch kommt, donnern die Kanonen noch in die Trauung Gudas hinein.«

»Oh, Gott. Und England?!« rief die junge Frau und setzte gleich selbst hinzu: »Daran darf man nicht denken!«

»Müssen Sie mit?« fragte Tiny.

»Vorneweg. Reserve erster Klasse. Leutnants im Infanterie-Regiment Nummer fünfundachtzig. Haben nie 'ne Übung versäumt. Gestellungsbefehl für zweiten Mobilmachungstag«, sagte Arbogast.

»Oh, wenn es Ernst würde, ginge ich als Rote Kreuz-Schwester mit in den Krieg!«

Mit dieser ihrer begeisterten Erklärung erntete Tiny ein schallendes Gelächter. Das kränkte sie heftig. Sie wollte wissen, weshalb man ihr nichts zutraue. Aber die beiden Junker konnten ihr nicht ins Gesicht sagen, daß sie sich in alle Verwundeten verlieben würde. Arbogast meinte: »Gnädiges Fräulein, Sie sind ein famoser Kamerad beim Spiel und in frohen Tagen, aber bei ernsten Geschichten?«

Tiny erging sich in eifriger Selbstverteidigung. Die Junker von Heinzenberg neckten sie. Das war Adam langweilig. Er strebte zur Erde und sein Onkel setzte ihn ab.

»Mutti«, schrie er, »da ist Jürgen.«

Man näherte sich der Höhe einer Bodenwelle. Ein schmaler Feldweg führte dahin, wo eine ganz primitive Art Hütte stand, die, vorn wandlos, nur der Bretterbank ein Dach gab, von der aus man den besten Blick auf das ferne weiße Stück Gletscherwelt haben konnte. Ein sehr großes Stoppelfeld in goldbronzener Farbe, bedeckt mit Reihen von der Sense niedergestrecktem Weizen, der noch nicht zu Garben zusammengerafft war, daneben eine Koppel mit Rüben, auf deren glänzende Blätter die Sonne blanke Lichter streute, umgaben den Platz. Kümmerliche Birken reckten schief gewachsenes Gezweig über das kleine Dach, ihre Blätter bebten im Licht.

Unweit dieser Hütte kniete Jürgen und pflückte gelben Löwenzahn vom Rande des Feldes, wo die Weizenähren ruhten nach erreichtem Erntesieg. Daß das Kind hier nicht allein sein konnte, war gewiß. Und gerade kam auch schon Rüdener aus dem kleinen Bretterbau hervor. Katharina fühlte eine Art Beruhigung über sich kommen, wie jemand, der das nächste Wegesziel erreicht hat. Sie machte ihre Brüder und Fräulein van Straten mit ihm bekannt, und dann sprach sie mit der größten Unbefangenheit:

»Geht nur voran, dort den Weg, ihr seht, schließlich führt er in den Wald. Dann haltet euch rechts am Rande der Wiesen, so kommt ihr wieder nach Schönblick, ohne Aibling zu berühren. Ich möchte mit Herrn Doktor Rüdener ein wenig sprechen.«

Die Brüder nahmen das ohne Verwunderung auf. Was ihre Schwester tat, hatte immer einen vernünftigen Grund. Das stand fest.

»Und ich, Mutti?...« Adam hatte in seinem kleinen Herzen eine Anwandlung von Treulosigkeit. Er wollte lieber mit Onkel Hillemann gehen, ihm lag heute nichts am Spiel mit Jürgen, dem er sich hochmütig überlegen fühlte. Denn einen Onkel, der Windklappern machen konnte, hatte der doch gewiß nicht. Seine Mutter erfüllte ihm auch seinen Wunsch, und wichtig zog er mit den Erwachsenen davon.

»Wenn ich Sie nicht getroffen hätte, ich glaube, ich würde geschrieben haben.«

»Dies war mein Vorsatz. Ohne ein Wort des Dankes konnte ich nicht gehen.«

»Also Sie gehen. Ich dachte es wohl. Und wohin?«

»Nach Hamburg, zurück in meine Tätigkeit.«

Sie saßen zusammen auf der grauen, alten Bretterbank. Das Dach der Hütte gab ein wenig Schatten, und vor ihnen lag in unendlicher Weite und Fülle das mittägliche besonnte Gelände. Drüben hockte der Knabe am Stoppelfeld und lebte still in den Träumen seiner Phantasie, wie Kinder pflegen, die sich ans den Siebensachen, die ihre Hände greifen können, voll innerer Vertiefung eine Welt aufbauen.

»Ich habe die Zeitungen gelesen«, sprach sie. Er wußte gleich, was sie meinte. Und fügte hinzu:

»Es sind Rufe aus dem Volk, die der Kaiser nicht überhören darf. Wir vertrauen auch auf seinen so oft bewiesenen Willen zum Frieden.« »Was kann der noch verhindern, wenn die anderen den Willen zum Unfrieden haben!«

»Auch in den anderen Ländern werden die Sozialdemokraten gegen den Krieg demonstrieren, haben es schon zum Teil getan. Und wie die unsere, so müssen auch die übrigen Regierungen, vor allem die französische, auf uns hören, sich uns fügen.«

»Ich verstehe nichts. Mir kommt vor, wenn das sich so erfüllt, wie Sie glauben, dann leben wir ja in einem neuen Zeitalter und waren uns dessen nicht bewußt.«

Nun sprach er lange zu ihr und setzte ihr auseinander, daß der Krieg im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr das Entscheidungsmittel zwischen Völkern sein könne, die dazu auf einer zu großen Kulturhöhe ständen und zu internationalisiert seien, eine natürliche Folge des Weltverkehrs.

Sie hörte zu, zog nach Frauenart einen Eindruck in den Vordergrund, den, der am schmerzlichsten zu ihrem Gefühl sprach, und klagte:

»All das versteh ich so: Sie haben kein rechtes Vaterlandsgefühl.«

»Ich liebe Deutschland nicht weniger als Sie!« sagte er ernst. »Ich sehe seine Entwicklung und sein Glück nur auf anderen Wegen erreichbar, als es wohl die Männer tun, die Sie hören.« Ein Lächeln voll Güte und Nachsicht hellte seine Züge auf. »Sie selbst, vermute ich, haben sich nicht mit volkswirtschaftlichen und sozialen Studien befaßt.«

»Ach nein«, gab sie zu. »Ich bin eine sehr einfache Frau. An den großen Händeln der inneren Politik hab' ich nie sehr teilgenommen. Manchmal denk' ich: hab' immer Mutter sein müssen, Puppenmutter; dann meinen Brüdern, die vor Lebensenergie strotzten, war die Älteste ich, ja, und paßte schon früh auf, wenn sie tollten. Meine Mutter ist ja ebenso voll herrlichen Lebens, mehr Kamerad als Erzieherin. Gott ja, Vater zur Beruhigung mußt' ich immer 'n bißchen weise sein. Und nun ist da Adam und mein lieber Schwiegervater, den ich betreuen muß. Und meine arme Guda. Das füllt mein Herz aus, auch den Kopf, es ist nicht immer alles leicht.«

Er dachte: ›Ihren Mann erwähnt sie nicht‹

Plötzlich ging ein Glanz über ihr Gesicht, und sie hob ihr Haupt.

»Aber ich bin keine feige Frau. Und wenn es Krieg gibt, ich kann stolz sein auf meine herrlichen Brüder! Ja, alle vier. Ich kenn' doch unseren Kleinsten, der wird auch mitziehen.«

›Und wieder nannte sie nicht ihren Mann!‹ dachte er. Aber jetzt, er fühlte es, jetzt durfte er fragen.

»Ihr Gatte braucht nicht mit?«

Er fragte es so langsam, es klang soviel mit zwischen seinen Worten, darüber kam es ihr zum Bewußtsein: sie hatte sich vielleicht verraten, indem sie den beschwieg, den Liebe zuerst genannt hätte. Sie wurde rot.

»Mein Mann ist Offizier, Kavallerist, er ist bereits zu seinem Regiment zurückberufen, von dem er abkommandiert war.«

Unmöglich, mehr zu sagen. Ihr kam es vor, als habe sie schon sehr viel von sich gesprochen. Und sie schwieg.

Wie er das liebte! Wie ihn das bewegte! Eine Frau, die nicht überströmte von Mitteilungsbedürfnis.

Er wagte es, ihre Hand zu nehmen. Sie ließ sie ihm. Ein merkwürdig starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit war in ihnen.

»Es ist das schönste, das einzige Wunder meines Lebens, daß ich Ihnen begegnen durfte«, sprach er leise. »Sie – Sie – mütterliche Frau! – Nun trennt uns alles. Aber die Feier, immer an Sie zu denken, die soll mir niemand nehmen.«

Katharina wehrte sich. Was war denn das, das sie gleich einer Erschütterung schmerzlich ergreifen und fassungslos machen wollte? Sie versuchte zu lächeln.

»Nein, nichts trennt uns als ein paar hundert Meilen vielleicht; ich möchte viel von Ihnen erfahren. Wie Ihre Überzeugungen vor allem, was kommen kann, standhalten. Und von Ihrem Knaben, ob er Ihnen ein Glück wird oder eine Sorge. Schreiben Sie mir.«

»Darf ich, darf ich?« Er sagte es mit heißer Freude.

Sie erhob sich. Sie deutete mit der Hand hinaus. Ganz fern, auf dem gleich einem sich schlängelnden Faden hell zwischen grüne Wiesen hingelegten Weg erkannte man ein Häuflein von winzigen Figürchen. Das waren die Ihren. Sie mußte eilen, sie einzuholen. Das war ihr plötzlich so dringend, als sei es Flucht.

»Jürgen!« rief er, und das Kind kam gehorsam heran. »Nun sag der Frau Gräfin Dank und Lebewohl, wir reisen heute abend.«

Sie neigte sich herab und nahm den glattgeschorenen Knabenkopf zwischen ihre beiden Hände. Sie wollte einen Kuß auf seine Stirn drücken, ihm noch liebe Worte sagen. Die dunklen Augen sahen sie an. Es waren die Augen seines Vaters. Sie erzitterte, und nur ihre Hand strich flüchtig über das feine weiche Fell auf seinem Schädel. Sie wagte nicht den Kuß. Sie richtete sich auf, verwirrt, geängstigt. Ihr Blick traf den des Mannes. Sie sah in eine Flamme. Und in eine Gefahr.

Und als sie mit eilenden Füßen den hellen Faden des Wegs zwischen dem Grün der Wiesen dahinging, rang sie mit einer Furcht. Und hätte doch kaum die Furcht beim Namen nennen können.

Sie fühlte nur, als wolle etwas sie erfassen, das erst wirklich ihr Leben schwer machen mußte. War es denn nicht bisher, auf einmal sah sie es so, leicht gewesen? Weil sie es ruhigen Herzens bezwang? –

Zu dieser gleichen Stunde saß Guda noch einsam und wartend in der Stille des Parks, der sich in Sonnenfluten badete. Ihr gingen aber die Minuten nicht in bleierner Schwere dahin. Denn sie eilte mit ihren Gedanken durch viele, viele andere Minuten voll stürmischen Inhaltes. Und sie fand keinen Ruhepunkt. Nichts, daran ihr Herz sich tröstlich hängen konnte und Sorgen zu beschwichtigen vermochte. Wie war das eigentlich? Wenn sie mit dem Geliebten zwischen anderen Menschen sich befand, zeigte er eine kühle, hochmütige Wortkargheit, oder das Gespräch, wenn er lebhafter teilnahm, war eine gleichgültige Sportfrage. Wenn sie aber mit dem Geliebten allein sein konnte, zog er sie in die Flammenglut seiner Leidenschaft hinein, in der all ihr eigener Wille unterging. Welch eine rätselvolle, schaurige und doch über alles Maß hinaus starke Gewalt war diese Liebe. Das ganze andere Leben versank davor. Der Tod schien gar nichts neben dem Gedanken, daß diese Leidenschaft je erlöschen, daß sie nicht zur berauschenden Vereinigung führen könne.

Aber dennoch, immer wieder raunte diese heimliche Stimme in ihr, quälte sie. All das, was sie heute gehört, von Krieg und Gefahr für das Vaterland, gab der heimlichen Stimme stärkeren Klang. Sie rang mit sich um Kraft, um Ruhe, nur ein paar kurze Minuten wünschte sie seiner Zärtlichkeit zu widerstehen.

Da sah sie ihn heraufkommen und flog ihm schon entgegen und in seine Arme. Er küßte sie, aber er schien doch zerstreut. Wie ihr das half. Sie schritten eng nebeneinander auf und ab. Er hielt den rechten Arm um ihren Gürtel, und sie umfaßte seine Hand.

»Ich muß mich sehr entschuldigen, daß ich an einem Sonntagmorgen schrieb. Aber die Welt ist ein wenig in Unordnung.«

»O ich weiß. Papa und die Junker von Heinzenberg, wie waren sie alle aufgeregt. Wenn es wirklich Krieg gäbe. Wenn sie über uns herfielen, diese Russen und Franzosen. Sag, glaubst du auch, daß es Krieg gibt?«

»Es wird schließlich doch keinen geben«, beruhigte er sie. »Deutschland kann das gar nicht wagen. Es ist innerlich zerrüttet durch Parteihader und Partikularismus. Die Bayern hassen Preußen, Preußen verachtet die Bayern. Elsaß-Lothringen schlüge sich sofort zu Frankreich. Hannover risse sich los, Dänen und Polen würden sich gegen die Deutschen bewaffnen. Die Sozialdemokraten haben die Zuverlässigkeit der Armee untergraben und demonstrieren schon gegen den Krieg. So unfähig die deutschen Diplomaten und Staatsmänner auch sind: vor der Lage haben sie doch wohl Einsicht und werden den Kaiser, der kriegswütig ist, im letzten Augenblick zu der Nachgiebigkeit zwingen, die dem armen kleinen Deutschland ziemt. Es könnte auch gar keinen Krieg bezahlen, der Reichstag würde und könnte nie die Mittel dazu bewilligen. Und es steht ganz allein. Österreich, mein Gott, welch ein Land, in sich zerfallen und ohnmächtig!«

Guda riß sich heftig los.

»Was sagst du da!« rief sie erregt. »Ich glaube, daß das alles falsch ist. Und immer kommt's mir vor, endlich muß ich es dich fragen: du verachtest Deutschland?!« Er fing sie sich gewissermaßen wieder ein und zwang sie lächelnd in seinen um sie gebogenen Arm.

»Aber nein, sicher nicht. Ich liebe Wagners Werke sehr, und ich habe Stirner gelesen, und ich kenne auch etwas Goethe und weiß von deutschen Philosophen, und Mildred singt manchmal deutsche Lieder. Süßes Reh, das ist ja aber alles gleichgültig. Die Hauptsache ist: wir lieben uns. Und bald, bald bist du mein. Zorn über diese deine Schwägerin, Gräfin Karen, daß du's nicht schon seit vorgestern bist. Was hatte sie für kleine Gründe: ihr Gatte, dein einziger Bruder, könne nicht früher, Tante Jenny sei sterbend, deine Aussteuer werde erst am dritten August abgeliefert, lauter Nebensachen.«

Geringschätzung sprach ans seinem Ton. Und Guda hatte das Gefühl, daß sie anständig handeln und ihre Schwägerin in Schutz nehmen müsse.

»Mir selbst war es auch lieber so«, gestand sie tapfer. »Mich drückte es, daß ich dich noch viel fragen müßte wegen deiner Stellung zu meinem Vaterland. Und es regte mich sehr auf, daß du auf meine Briefe nie eingingst und immer nur zärtlich depeschiertest. Daß du mich lieb hast, oh, ich weiß es, bin selig im festen Glauben daran. Aber man muß sich doch verstehen. Ich bin – jawohl – meinst du etwa, daß ich mein Land weniger liebe als du deines?«

»Aber Liebling, nein, du hast gehört: ich schätze es wohl in dem, was sein eigentlicher Charakter ist. Leider streckt es seine Hände nach Dingen aus, die ihm nicht zukommen, die durchaus unser Anspruch und erworbenes Recht sind. Aber glaub mir doch: das sind Sachen, von denen du nichts verstehst.«

Guda dachte: ›Das ist eine schöne Antwort. Deutsche Kunst liebt er und deutsche Literatur; hieß das nicht: die deutsche Seele lieben? Und kam es nicht allein darauf an? Oder waren da noch andere Dinge?‹ Durch ihr Gedächtnis schwirrten allerlei Gespräche, die sie ihren Vater und Thomas Steinmann wohl hatte führen hören. Sprachen nicht auch sie voll Zorn oder Sorge von Dänen, Polen, Welfen und Sozialdemokraten? Konnte sie sich anmaßen, die allergeringste Urteilsfähigkeit zu haben? Er liebte die deutsche Seele! Das war genug.

Und er glaubte nicht an den Krieg. Er konnte es bestimmt beurteilen, war in Wien gewesen, hatte Staatsmänner gesprochen.

»Tausendmal Gottlob!« sagte sie mit Inbrunst. »Man müßte auch verzweifeln, wenn es wahr würde! Wie sollte Deutschland gegen Ost und West zugleich Krieg führen! Es wäre zuviel! Und wenn wir besiegt würden. Wer möchte dann noch leben! Wir Niedersachsen und Friesen haben ein altes Wort: leber dodt als Sclav.«

Er nahm ihr Gesicht zärtlich und lächelnd hoch, indem er unter ihr Kinn griff.

»Heldische Anwandlungen?« fragte er. »Kleine Walküre?«

Aber Guda wollte nicht wie ein holdes, törichtes Kind behandelt sein, in diesen Sorgen nicht, sie waren von so furchtbarem Ernst, es schien, als machten sie alt und reif.

Sie dachte einige Augenblick nach, prüfte seine Erklärungen, wünschte noch viel zu sagen. Vor allen Dingen dies eine, daß sie in ihrem Herzen immer deutsch bleiben wolle. Aber wozu feierlich noch aussprechen, was sich doch von selbst verstand.

Eines mußte sie noch wissen. Es war ihr zu sehr aufgefallen, daß er ganz schweigend darüber wegging.

»Weshalb wünschtest du eigentlich, daß wir schon am vierundzwanzigsten heiraten sollten?« fragte sie plötzlich. »Ich wußte schon, daß Bruce bald nach London zurück müsse.«

»Hättest du doch den Grund angegeben. Er würde uns bestimmt haben«, versicherte sie rücksichtsvoll.

Er machte eine Geste, unbestimmt, ausdeutbar, als läge nicht soviel an des Bruders Gegenwart, oder als seien noch vielerlei andere Gründe vorhanden gewesen.

»Es war Höflichkeitssache, mich zu fügen«, sprach er ruhig.

Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Wesen. Er preßte Guda an sich.

»Sieh mich an!«

Sein Blick, der glühend und durchbohrend aus seinen hellen Augen kam, gleich einer Stichflamme, schien bis in ihr Innerstes dringen zu wollen.

»Und deiner war ich ja sicher. Deiner bin ich sicher, komme was da wolle. Sag, gehörst du mir?«

»Ja«, flüsterte sie hingegeben, »ja...« Aber das zweite Ja erstickte schon in seinem Kuß.

Welche Stunden, um Kränze zu binden. Was hohe Lust und breit sich ausdehnende Feierstimmung bringen sollte, schien wie verbotenes Handeln. Die Nerven zitterten, die Gedanken waren überanstrengt von Spannungen. Und man sollte über den wohl zu ordnenden Inhalt eines Festtags nachsinnen.

Katharina fand dies alles so unerträglich, daß sie es auf eigene Verantwortlichkeit wagte, Percy Lightstone einen Aufschub der Vermählung bis zur Klärung der Lage vorzuschlagen.

»Nicht eine Stunde«, sagte er kühl. Und er setzte hinzu, daß man nun sähe, eine Hochzeit schon am vierundzwanzigsten würde sich in freier Laune vollzogen haben.

Sie hatte das Gefühl: er hat gewußt, daß es sich zuspitzt, er weiß überhaupt mehr als wir.

Der kleine Kreis von Hochzeitsgästen, der noch zu erwarten gewesen war, verflüchtigte sich. Jede Post brachte Absagen. Die Junker von Heinzenberg wären auch am liebsten durchgebrannt. Sie ließen sich nur von der Liebe zur Schwester noch hier halten. Aber sie waren mehr in München als draußen in Schönblick, und Tiny, für die die aufgeregten Zustände einen Freibrief zu bedeuten schienen, schloß sich allen ihren Fahrten an. Percy Lightstone hatte abermals Schönblick verlassen; er sagte, daß er in Frankfurt am Main mit dem dortigen englischen Generalkonsul zu sprechen habe.

Die junge Frau konnte dem Verdacht nicht wehren, daß ihm die Stimmung hier zu unbequem sei. Ihre Brüder brannten in Kriegslust, Begeisterung für den Kaiser, Zorn auf die Feinde in Ost und West. Auch Tinys Wesen gab nur noch starke Akzente aus. Und Guda? Es war ersichtlich: an diesen gewaltigen Sorgen, diesen gigantischen Fragen, die alle Herzen erzittern ließen, zerbrach die »Hypnose«, die Percy auf die Haltung seiner Braut sonst ausübte. So beherrscht, kühl und schweigsam ihr Wesen vor den anderen geworden war, das Gespräch über den Krieg riß ihr die Maske ab. Nur daß sie, allem entgegen, leidenschaftlich die Hoffnung vertrat, daß in letzter Stunde die Dinge eine Wendung zum Frieden nähmen.

›Wie nötig mag ihrem Herzen diese Hoffnung sein‹, dachte Katharina.

Am ersten August vormittags sollte Steinmann bei seinem Klienten und väterlichen Freunde, dem Grafen Leuckmer, wieder eintreffen. Die Junker baten, ihn mit dem Auto in München, wo er mit dem Nachtzuge von Berlin anlangte, vom Bahnhof abholen zu dürfen. Eisenbahn wurde ihrem Temperament schon zu langsam. Auto ersetzte ein wenig das Kraftgefühl der eigenen Bewegung. Schon um fünf Uhr früh hörte man das dumpfe Schüttern des davonfahrenden Autos, in dem selbstverständlich das unternehmende Fräulein van Straten mit saß.

Katharina wachte davon auf. Sie begriff das junge Volk, dem die Pulse vor Erwartung flogen. Auch durch ihr ganz und gar frauenhaftes Wesen ging jetzt manchmal ein Wünschen: Wär' ich ein Mann!

Sie erhob sich und stieß die Fenster auf. Die kräutrige, herbe Morgenluft umströmte sie. Es war, als atme man Kraft ein.

Dann saß sie auf ihrem Bettrand und las noch einmal den Brief, den sie gestern abend von ihrem Manne erhalten hatte. Wie wohl tat der Brief – zum erstenmal! Wie weh tat der Brief – zum unendlichsten Mal!

»Meine liebe Karen!« Also endlich ließ er von der grotesk gewordenen Anrede »Pusselchen«. »Meine liebe Karen! Du hast mir telegraphisch angeboten, zu mir zu kommen und mir rasch eine Häuslichkeit herzustellen. Dieser Beweis von Pflichttreue hat mich beschämt. Ich danke Dir sehr. Aber ich lehne Dein Herkommen ab. Es hatte auch gar keinen Sinn und Zweck mehr. Selbst wenn Du auf der Stelle abreistest. Schwerlich fändest Du mich noch in der Garnison. Du und der Kleine, Ihr bleibt nun am besten mit Vater zusammen. Wir machen uns marschfertig, liegen in Alarmbereitschaft. Der Krieg steht vor der Tür, sein Ausbruch kann nur noch Stunden auf sich warten lassen. Man spricht von einem Ultimatum an Rußland. Es wird nicht im friedlichen Sinne beantwortet werden, wenn überhaupt. Und so steht denn der ungeheuerlichste Kampf bevor, den je ein Volk ausgefochten. Man raunt auch davon, daß England gegen uns, auf der Seite der Feinde, zu finden sein wird. Nun, wie Gott will!

Liebe Karen, unsere Ehe hat Dir nicht viel Glück gebracht. Ich müßte in diesem Augenblick allzu reuig an meine Brust schlagen, wenn Adam nicht wäre. Aber ich weiß, der liebe kleine Kerl macht Dein Glück aus. Und er, sein Dasein, mag bei Dir für mich bitten! Wenn ich heil zurückkomme, will ich versuchen, ein anderer zu werden. Das packt einen doch mächtig, der Gedanke: Tod oder Sieg – oder durch den einen den anderen erringen! Wenn ich nicht heil, sondern zerschossen und verstümmelt heimkomme: Nimm mich in Gnaden auf, und lasse mich nicht entgelten... Aber nein, den Satz schreib' ich nicht aus. Ich kenne Dich und Dein Gemüt. Und das eine schwör' ich Dir zu: Als Gatte bin ich tadelnswert, als Sohn leichtfertig, als Vater oberflächlich gewesen, aber als meines Kriegsherrn Offizier werde ich meinen Mann stehen und mein Leben einsetzen, tapfer und freudig, für Kaiser, Volk und Vaterland. So sollst Du, ob ich falle oder lebe, doch hoffentlich noch stolz sein können auf

Deinen Bertel.«

In alle Rührung, die dieser Brief auslöste, fiel wie ein Gifttropfen die unselige Unterschrift. Aber sie zwang sich, daran vorüberzukommen. Und gerade diese Morgenstunde war ihr recht, um eine würdige, herzliche Antwort zu finden. Sie saß am offenen Fenster und schrieb, während ihr über Stirn und Augen die köstliche Frische strich.

»Lieber Bertold! So mußt Du nun in den Krieg reiten. Und wir können Dir nicht unsere innigsten Wünsche noch selbst sagen. Gott beschütze Dich und geleite Dich heil zu Frau und Kind zurück. Gläubig und gern nehme ich Dein Gelöbnis an. Und nach dem Krieg wollen wir versuchen, uns zueinander zurückzufinden. Über alles, was gewesen ist – über alles! – will ich hinweggehen. Es ist vergeben! Diese große Zeit, die anbricht, soll uns ihrer würdig sehen. Gott schütze unser heiliges Vaterland.

Deine Karen.«

Sie weinte. Ihre Tränen taten ihr wohl. Ihre Seele war erhoben, losgelöst von allen Bitternissen, die bisher ihr Frauenlos gewesen waren.

Sie ging dann zwischen ihren reichlichen Tagesaufgaben hin und her, gesammelt, ganz die Gedanken auf sie gerichtet. Und dennoch wie in Weihen.

Etwa um zehn Uhr wünschte man sie von München aus zu sprechen. Miß Mildred. Und es war ein erstaunlicher Vortrag, den die am Telephon hielt. Ihre Freunde hatten ihr aus den deutschen Morgenzeitungen Depeschen übersetzt. Der Prinz Oskar habe sich mit der Gräfin von Bassewitz durch Kriegstrauung verbinden lassen. Sie brachte dieses schwere und vielleicht unübersetzbare Wort auf deutsch vor und mußte es dreimal sagen, ehe Katharina es verstehen konnte. Nun wollte Miß Mildred, daß Percy, den sie für diesen Abend in München erwartete oder durch Depesche dahin rufen wollte – was etwas unklar blieb –, mit Guda auch Kriegstrauung haben solle. Und gleich morgen. Es wurde so unangenehm mit der Politik. Man sollte besser alles beeilen. Für Miß Mildred war, was ein Prinz tat, und noch dazu einer, der ein Urenkel der Königin Viktoria, also vom englischen Königshaus abstammte, immer nachahmenswert.

Es schien kaum möglich, ihr klar zu machen, daß für den deutschen Offizier, Major Prinz Oskar, die Sachlage eine völlig andere sei, als für den Ausländer Mr. Percy Lightstone. Voll Ungeduld sagte Miß Mildred dann endlich: »Ob man es nun so nennt oder anders, jedenfalls müßte man die Trauung schneller bestimmen.«

»Nicht eine Stunde!« sprach Katharina ebenso kühl, wie ihr Percy geantwortet hatte.

Noch erwog sie, ob sie dies Gespräch Guda mitteilen solle – noch dachte sie, ob sie nicht zu eigenmächtig gehandelt habe, da brach die Begeisterung herein – als brausender Strom, getragen von starken, jungen Herzen, kam sie in die Stille des Hauses. Die Brüder Heinzenberg stürmten daher, mit ihnen Tiny und in der gleichen hohen Erregung auch Thomas Steinmann. Auf ihren Lippen waren die ergreifenden Worte, die der Kaiser gestern abend vom Balkon des Schlosses gesprochen, sie lasen sie vor. Sie jubelten es nach: »Den Gegnern aber werden wir zeigen, was es heißt, Deutschland zu reizen!« Und Thomas war Zeuge gewesen, hatte mit einem verzehrenden Gefühl von Stolz und Zorn in der Menge gestanden, die nur aus Brüdern und Schwestern zu bestehen schien. Ein Herzschlag in Tausenden. Eine heilige Flamme in allen. In jedem Auge der gleiche heiße Glanz des Mutes. In jeder Brust die gleiche Hingabe, Und alle emporgewandt mit Blicken und Seelen zu dem einen Mann, der da oben stand, im grauen Rock, schlicht, nur ein Soldat. Der Kaiser, der Herr, der Vater aller. Mit heißen Worten erzählte Thomas und brachte ihnen, die ihm ergriffen zuhörten, die große Stunde nah, wunderbar nah, daß sie sie nacherleben konnten.

Guda saß leichenblaß und erstarrt. Er sah es.

Und ihn, der sie liebte, griff mitten in seinem Feuer jäh der Schmerz tiefsten Mitgefühls an. Aber wer konnte ihr helfen? Niemand und nichts. Große Weltgeschicke brausten daher und zerbrachen den Glanz ihrer Liebesfeier. Denn das war es doch wohl, was sie so blaß und stumm machte? Die helle Mädchenfreude war ihr gestört, mit Musik, Kränzen und Tänzen den wichtigsten Tag ihres Lebens zu begehen. Oder war es nicht das?... Zitterte sie in anderen, tieferen Empfindungen? Trug sie an einem Zwiespalt? War es ihr vielleicht ein Schmerz, ihr Vaterland zu verlassen in seiner notvollsten Stunde?

Seine daherstürzende Schilderung stockte. Er wandte sich ab und begegnete unerwartet dem Auge der Gräfin Katharina. Wie ihn ihr aufmerksamer und ernster Blick berührte! Er fühlte sich verraten, aber es beschämte ihn nicht. Von diesem edlen Frauenherzen verstanden zu sein, es tat fast wohl. Er dachte: ›Sie vielleicht, sie kann ihr helfen! Sie allein weiß vielleicht, was in Guda vorgeht.‹ Er konnte es kaum ausdenken: vier Tage noch, und sie gehörte einem anderen Mann und einem anderen Lande.

Die Welt stand in Zuckungen, aber dies eine Schicksal blieb in seiner vorbestimmten Bahn, aus der nicht einmal mehr der Krieg es reißen konnte. Denn was hatte die Liebesheirat Gudas mit Rußland, Frankreich und Serbien zu tun – nichts. –

Wie unerträglich wurden die nächsten Stunden. Es kostete den alten wie den jungen Mann harte Mühe, sich mit Zahlen und Bestimmungen zu befassen. Sie saßen in Graf Leuckmers Arbeitszimmer und sahen Gudas Heiratskontrakt durch, ein Dokument, daß von Percy Lightstone gewünscht und nach seinen Entwürfen ausgefertigt worden war. Er sagte, als er von der Wünschbarkeit eines derartigen Papiers sprach, daß es erstens in der Lightstone-Familie immer Sitte gewesen sei, einen Heiratskontrakt zu vollziehen, und daß es sich zweitens in diesem Falle besonders empfehle, weil Guda Ausländerin sei. Er legte Wert darauf, daß ihre finanzielle Stellung auf das klarste und großzügigste festgelegt sei. Und so war denn jede Möglichkeit durchdacht: die Zinszahlung von Gudas, bereits in den Lightstoneschen Unternehmungen arbeitenden Vermögen, an den Nutznießer, den Vater; die Vermehrung dieses Vermögens zu Gudas alleinigem Nutzen; die allmähliche Rückzahlung des Kapitals, für den Fall, daß Percy vor ihr sterbe und die Ehe kinderlos bleibe; die von Lightstonescher Seite dann zu zahlende Rente an die Witwe. Es sprach aus allem die stolze Fürsorge, die zu beruhigen wünschte, ehe überhaupt je eine Beunruhigung entstehen könne.

Am Abend vor der Trauung, also am vierten August, sollten Guda und Percy den Kontrakt unterschreiben, und Graf Leuckmer und Thomas Steinmann, dieser als Ersatz für den ausbleibenden Herrn van Straten, die Gegenzeichnung vollziehen.

Graf Leuckmer hatte auch noch eine besondere Bitte an den vertrauten Freund und Berater des Hauses. Der Baronet Bruce Lightstone blieb aus. Herr van Straten kam nicht. Es lag auf der Hand, daß Thomas an Stelle dieser Herren nun als Trauzeuge eintreten müsse, und zwar für Guda, während Graf Leuckmer selbst der Zeuge seines Schwiegersohnes sein wollte.

Über das offene, männliche Gesicht des jungen Mannes ging dunkles Rot. Zuviel! Auch noch die Geliebte, Verlorene an den Altar geleiten. – –

Er sagte, sich kaum zur Unbefangenheit zwingend, daß er schwerlich am fünften August noch hier sein werde, denn wenn die Entscheidung sich zum Kriegerischen wende, habe er sich am sechsten Mobilmachungstage bei seinem Regiment zu melden und vorher noch in seinem Büro so viel zu ordnen, daß er um vierten August abends unbedingt abreisen müsse.

›Mögen sie sich den Zeugen von der Straße auflesen‹, dachte er bitter vor Schmerz. Nein, er wollte sie nicht im Kranze sehen, den sie für einen anderen tragen würde.

Und die Entscheidung war schon gefallen und flog auf bebenden Drahten um den ganzen Erdball und zuckte als elektrischer Funke in jedes deutsche Haus und Herz.

Sie saßen auf der Aussichtsterrasse und warteten auf den Sonnenuntergang. Noch lag mit starken, langen Schatten der abnehmende Tag auf den grünen Wiesen des weiten Tales. Und es schien, als schwebe über ihm mit lautlosem Flügelschlag der Friede.

Niemand mochte sprechen. Es war recht schweigsam im Kreise geworden, seit die beschwichtigende Frau Stroblmeyer Adam hinabgeführt hatte zum frühen Zubettbringen. Er regte sich mit Fragen und Phantasien auf; das Wort »Krieg!« klang auch an sein Kinderohr, und Alois und Merkl erzählten ihm, sie gingen gleich mit. Merkl hatte erst vor einem halben Jahr seine Militärzeit beendet gehabt und mußte sich sofort stellen, und Alois wollte sich freiwillig melden. Adam war außer sich und verlangte von Mutti, daß sie den Franzosen verbiete, seinen Freund Alois totzuschießen. Und seine beiden Oheime und Onkel Thomas – wie er Doktor Steinmann nannte – plagte er mit so viel Fragen, daß man heute ganz erleichtert war, den kleinen, unruhigen Mann los zu werden.

Auch wirkte aus der Abendfeier der Natur etwas auf ihr Gemüt hinüber, das sie zur Andacht zwang und zu demütiger Stille vor dem erschütternden Gegensatz zwischen der Ruhe dieser Stunde und dem Schrecklichen, das die nächste bringen konnte.

Da kam Merkl herauf – ein anderer als sonst – seine beherrschte Dienerhaltung war von ihm abgefallen, sein Gesicht war heiß und seine Augen voll Glanz.

»Krieg!« sagte er, »Mobilmachung – hier–.« Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, mit großen Buchstaben war es bedruckt. Hillemann riß es ihm schon aus der Hand. Sie standen gleich um ihn, nahmen mit brennenden Blicken ihm die Laute vom Munde. Rußland hatte die an es gerichtete Note nicht beantwortet. Der Kaiser ordnete die Mobilmachung für das gesamte deutsche Heer an. Und von hohem Balkon herab hatte er Worte gesprochen – andere als gestern – noch stärker, Worte, die in die Zukunft hineinhallten. Gleich den Posaunen von Jerichow. Und Mauern umwerfend wie sie. Daß Ausblicke frei wurden, die jedes Herz hoch schlagen ließen. »Jede Partei hört auf. Wir sind nur noch deutsche Brüder.« Die Welfen senkten ihre gelbweiße Fahne vor der schwarzweißroten. Die Sozialdemokraten erklärten, daß auch sie das Vaterland verteidigen würden, das vielleicht den letzten Mann brauche, seinen Bestand zu retten.

Die Gewalt dieser Verkündigungen fiel auf sie herab wie Offenbarungen eines heiligen Geistes.

Die Zwillingsbrüder umschlossen sich in eiserner Umarmung, sich dem Vaterlande, und wenn es sein mußte, dem Tode angelobend. Das zerbrechliche Wesen des alten Herrn erlag fast der Wucht des Augenblickes; er legte die Linke über sein Gesicht, um seine Tränen zu verbergen. Sein junger Freund umfaßte fest seine Rechte, als wolle er sagen: Wir Jungen schützen unser deutsches Land – vertraut auf uns. Und Tiny brach an der Schulter der blonden Frau in leidenschaftliches Weinen aus. Katharina war es, als sei die ganze Luft erfüllt von rauschenden Klängen. Kaum brauste der erste Ruf durch das Land, und sogleich begaben sich herrliche Wunder. Mit welch reichem Erleben ward sie selbst begnadet. In ihres Gatten Herzen erwachte Würde. Und der Freund? Er mußte fühlen und handeln wie seine Genossen. Auch er würde sprechen: Alles für das Vaterland. Und sie sah die dunklen Augen vor sich, ein neues Licht hatte sich in ihnen entzündet.

Und auch über ihr Gesicht rannen Tränen der Ergriffenheit.

Einsam stand Guda, ohne Absicht ausgeschieden von diesem gemeinsamen Aufflammen, dieser Erschütterung, die zwang, sich an den Händen zu halten, um die Gleichheit des Pulsschlags stärker zu empfinden. Sie gehorchten unbewußt dem allereinfachsten menschlichen Verlangen, sich in hoher Not aneinander anzuklammern.

Und plötzlich floh Guda. Ein Jammer wallte in ihrem Herzen auf, wie sie noch nie empfunden, von einer Qual, daß sie hätte schreien mögen. Und um nicht vor diesen, die sie schon verstießen, laut zu weinen, floh sie davon.

Thomas sah es wohl. Er schloß sekundenlang die Augen, als wolle er seinem aufzuckenden Schmerz nicht ins Gesicht sehen, aber er hatte kein Recht, ihr zu folgen und tröstend zu ihr zu sprechen. Auch Katharina bemerkte sogleich diese Flucht. Sie schob das fassungslos schluchzende Mädchen von sich und ging der armen Guda nach.


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