da Boy-Ed
Die Opferschale
da Boy-Ed

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Der Himmel fuhr fort, durch seine strahlende Sonnenfülle, die er aus gleißender, blendender Bläue herabströmen ließ, die Erde in ein Gefilde der Seligen zu verwandeln. Um die schweren, dunklen Wipfel der Laubbäume rann die heiße Luft; über die graugrüne Glätte der Kiefernnadeln strich sie als silbriger Glanz. In der Mittagsstunde wallte feierliche Stummheit durch die Natur, als schweige sie im Übermaß des Segens. Im weiten grünen Gelände des Tals lagen gleich Tuchfetzen hier und da die Felder in dem starken, dunkelgoldenen Farbenton des reifenden Weizens. Der krause Fluß am Fuße des Hanges floß weniger breit dahin, seine Oberfläche schien aus Spiegelscherben zu bestehen. Die Ferne war wie in Dunst aufgelöst, und nur in frühen Morgenstunden stand das Gebirge in all seiner stolzen Anmut deutlich drüben am Rande der Talbreite. Im Buschwerk des Parkes führten die Vögel ein huschendes, schweigsames Leben. Die Glut kochte in den Knospen so eilig die Blumen gar, daß nachmittags schon farbenprächtige Blüte war, was morgens noch in Herbe zu zögern schien. Die Obstbaumzweige hingen von Früchten schwer, deren Wangen blank aus dem stumpfen Laube glänzten.

Sich all der reichen Erfüllung in ruhevoller Dankbarkeit still zu freuen, war aber der Menschheit nicht beschieden.

Ein ungeheuerlicher Schatten wuchs am Horizont empor – der Schatten einer Gestalt, der vielleicht selbst mutvoll ins Auge sehen zu müssen die Völker im voraus erbeben ließ.

Auch die Bewohner von Schönblick sahen wohl diesen Schatten.

Aber der Puls des eigensten Lebens schlug zu stark – nur Graf Leuckmer sprach zuweilen mit Katharina voller Sorge und las ihr Stimmungsberichte vor, die Dr. Thomas Steinmann aus Berlin schrieb.

Guda aber und die van Stratenschen Damen waren zu sehr mit sich beschäftigt und wurden auch von München aus nicht in Ruhe gelassen. Denn dort saß Miß Mildred Lightstone im Hotel und langweilte sich, weil sie nicht die Bekannten getroffen hatte, die sie erhoffte. Sie schien aber durchaus für ihre gesellschaftliche Kunst, sich und anderen voll majestätischer Haltung inhaltslose Stunden aufzuerlegen, ein Publikum zu brauchen. So berief sie beinahe täglich die Damen zu sich in die Stadt. Vor allem war Frau van Straten jederzeit bereit, das Auto zu besteigen und eifrig entzückt, dem Ruf zu folgen, denn sie sah in Miß Mildred das Urbild aller englischen Vornehmheit, bewunderte ihre stolze Anmaßung und war entschlossen, sich auf das engste mit ihr zu befreunden. Tiny war das beständige Hin- und -herrasen recht. Sie wußte nicht wohin mit sich selbst, denn sie hatte sich in aller Geschwindigkeit in Dr. Thomas Steinmann verliebt und fragte jeden Tag den Grafen Leuckmer, ob sein junger Freund und Rechtsanwalt nicht noch einmal käme. »Ja«, sagte der alte Herr lächelnd, »einige Tage vor Gudas Hochzeit, wahrscheinlich Ende Juli, um den Ehekontrakt aufzusetzen und zu vollziehen.« Und Guda lag sie in den Ohren, ob sie wohl eine ungefähre Meinung darüber habe, welchen Eindruck sie auf Steinmann machte.

Guda kannte Tiny gar nicht anders als verliebt und kreuzunglücklich vor Hoffnungslosigkeit. Deshalb nahm sie es nie ernst, um so weniger, als der Zustand des Unglücklichseins das muntere und lebhafte Wesen Tinys nie im mindesten beeinträchtigte und nur zum Gebrauch hervorgeholt wurde bei abendlichen vertrauten Aussprachen. Dazu hatte Guda sich stets gern hergegeben.

Jetzt aber war ihr das triebhafte Spielen mit höchsten Empfindungen ganz und gar entgegen ihrem eigenen Zustand. Jetzt aber hätte sie sich nicht in vertrauten Aussprachen mit der Freundin eröffnen mögen.

In ihrem Blute schwoll die Sehnsucht – in ihren Gedanken waren quälende Fragen und erhoben immer wieder ihre schreckhaften Häupter. – – –

Die Fahrten nach München erschöpften sie. Aber Percy hatte ihr, ehe er nach Wien reiste, empfohlen, recht liebevoll mit Mildred zu sein. Und seine Wünsche waren das Wichtigste auf der Welt... Und es schien auch, daß die unverheiratete Schwester in der Familie der Lightstones eine beherrschende Stellung einnahm. Es bedeutete für Guda nur einen Liebesbeweis, sich schon jetzt der Tyrannei der künftigen Schwägerin zu fügen. –

Tiny sagte einmal begeistert zur Gräfin Katharina:

»Ich glaube, Guda ließe sich für ihn schinden! Ja, das ist Liehe! Und er? Depeschiert jeden Tag – großartig–solche Leidenschaft! Wie beneidenswert!« Katharina begeisterte sich nicht mit. Still sah sie vor sich hin und dachte, daß ein Liebender, der sich seelisch der Geliebten nahezubringen wünscht, im Brief doch wohl mehr sagen könne als in diesen täglichen Depeschen, die noch dazu oft verstümmelt und nicht sofort verständlich waren, denn die österreichischen wie die bayerischen Telegraphenbeamten konnten unmöglich alle firm im Englischen sein. Auch wollte eine Ahnung in ihr nicht schweigen, daß vielleicht Guda sich nach mehr sehne als nach diesen zusammengefalteten Zetteln von stumpfem, schlechtem Papier, darauf ein eiliger Blaustift die Worte hingesetzt hatte, die in Percys eigener Handschrift eine andere Sprache geführt haben würden.

Gudas Haltung beim Empfang der Depeschen gab freilich keinen Anlaß zu solcher Ahnung. Eine sichtbare, gespannte Unruhe war in ihrem Wesen um jene Morgenstunde, wo die Depeschen einzutreffen pflegten. Die Maske der undurchdringlichen Beherrschtheit wurde jetzt ja nicht so strenge von ihr gefordert, denn der, der solche Maske liebte und verlangte und selbst trug, war fern. Glühendes Rot flammte in ihrem Gesicht auf, wenn Merkl in der Tür des Eßzimmers erschien und sie sofort auf der silbernen kleinen Platte in seiner Hand die Depesche liegen sah. Und sie las ihre Depesche immer allein. Sie stand vom Frühstückstisch auf und trat hinaus auf den Balkon, der sich vor der ganzen Breite des Raums im ersten Stockwerk an der Front des Baues hinzog. Von dort beherrschte man mit weitschweifendem Blick die ganze Gegend – es war die Aussicht, die man vom nebenan gelegenen Arbeitszimmer des Hausherrn und von der oberen Terrasse hatte. Guda aber sah nichts von der Lieblichkeit der wundervoll reichgegliederten, vor Fruchtbarkeit strotzenden Natur, in der es keine Gärungen und keine dunklen Gewalten zu geben schien, sondern nur Sonnenfrieden. Ihr Puls jagte, ihre Lippen wurden trocken, ein qualvolles Verlangen nach dem geliebten Mann machte ihre Glieder matt. Und dann, wenn sie minutenlang auf diese mit Blaustift hingesetzten Grüße gestarrt, kam eine Empfindung über sie, die beinahe unerträglich war – eine Traurigkeit, eine Enttäuschung, die sie selbst nicht begriff – die völlig zu verhehlen ihr Bemühen war. Und lächelnd kam sie zu den Ihren zurück und teilte irgendeinen Umstand aus der Depesche mit: »Percy hat gestern mit Bruce und Maud beim Botschafter diniert.« Oder: »Percy laßt dich, Papa, und alle Gäste von Schönblick grüßen.« Karen allein hatte das Gefühl, daß dies Lächeln erzwungen sei. – – –

Mitte Juli gab Miß Mildred eine kleine Festtafel. Wer hätte ihr ihren Patriotismus verdenken dürfen. Die Art, wie er sich äußerte, war von einer gewissen ruhevollen Bestimmtheit. Sie fand es selbstverständlich, daß alle englischen Angelegenheiten den Nichtengländern durchaus wichtig und bewundernswert seien. Die Berichte über die große Flottenschau vor König Georg am 12. Juli auf der Reede von Spithead erfüllten sie mit Genugtuung. Noch niemals hatte die Welt 216 Kriegsschiffe zusammen und einem Herrscher untertan gesehen. Sie forderte, daß ihre neuen Bekannten von diesem Ereignis ganz erfüllt seien. Sie nahm auch ohne weiteres an, daß die Familie, in die Percy bald hineinheiratete, fortan ein freiwilliges Engländertum bekunden werde; dies war ihr so sicher, daß sie gar nicht erst darüber nachdachte.

Graf Leuckmer hatte das Bedürfnis seiner Kränklichkeit. Und die hieß: friedliche Stille. Deshalb war er immer zur Rücksichtnahme geneigt, weil Widerstand Mühe bedeutet hätte. Er sah ein, um vor den Einladungen von Percys Schwester Ruhe zu haben, müsse er einer solchen doch einmal folgen. Und warum nicht heute? Heimlich bestimmte ihn der Umstand, daß das Auto seit der gestrigen Fahrt beschädigt war; man konnte also das ihm verhaßte Gefährt nicht benutzen. Aber er wurde durchschaut und mußte sich von den Damen am Frühstückstisch necken lassen. Katharina sagte, sie werde die ganze Gesellschaft zum Bahnhof geleiten.

Nachher stand Guda vor ihr und bedrängte sie:

»Warum willst du nicht mit? Sag' es mir offen!«

In ihren Augen war leidenschaftliche Unruhe.

»Muß es denn ein besonderer Grund sein? Ich mag Adam nicht für so viele Stunden verlassen. Frau Stroblmeyer ist famos – für Waschen und Ankleiden und genaue Ordnung – aber was soll sie mit seinen tausend Fragen machen und all den Siebensachen, die in seinem Köpfchen rumoren?«

»Du weißt recht gut: sie ließe ihm kein Haar krümmen – und sie zöge mit ihm den ganzen Tag hinter Alois her, und er wäre großartig unterhalten. Sag' deinen wahren Grund!«

Aber das war ja nun Katharinas Art nicht, noch unklar in ihr Kämpfendes mit Worten schon hinzustellen, daß andere daran herumtasten konnten. – Sie wich wieder aus. Aber sie wußte es nun deutlicher noch: Lachende Glückssicherheiten konnten nicht in Gudas Brust wohnen.

Und Guda ließ auch von ihr ab. Sie wußte: Was ihre Schwägerin nicht sagen wollte, brachte kein Flehen aus ihr heraus. Sie, die die harte Enttäuschung ihrer Ehe so völlig in sich verarbeitet hatte, daß ihre heitere Gelassenheit nicht einmal mehr Schein war – sie blieb immer Herrin der Lage.

›Ach‹, dachte sie, ›wer ihr kühles Blut hätte – –‹

So zogen denn die blonde Frau und ihr nicht minder hellköpfiger Junge mit zum Bahnhof. Es ging den Weg hinab bis zum Ausgang des Parkes, wo neben der Pforte das Gärtnerhaus und der Kraftwagenschuppen standen. Man schritt noch ein Weilchen am Fuße des Abhanges hin, überquerte die große Landstraße, die mitten durch den Ort lief, und nahm die Richtung durch den großen Kurpark. Durch seine kühlen Schatten und unter uralten Silberpappeln und starken Eschen hin rann braun und blank wie Rauchtopas der Glonn, ein eiliges Nebenflüßchen des Mangfall, mit dessen hellerem Wasser er sich am Ausgang der Anlagen zusammentat.

»Ein prachtvoller Park – kaum eines von den ganz großen Modebädern hat dergleichen«, sagte Frau van Straten. Und Katharina, die neben ihr ging, antwortete:

»Und ist doch voll melancholischer Erinnerungen und Lehren – hier weinte eine königliche Mutter, die ihr Kind Glück im Ausland suchen sah.– – Hier nahm die Königin Therese einst Abschied von ihrem Sohne Otto, der nach Griechenland zog, König zu werden – und Bitterkeiten zu finden – –«

»Na – Ausland ist nicht immer Unglück!« wehrte Frau van Straten ab, »da gucken Sie meinen Mann und mich an, liebe Gräfin – und jetzt unsere Guda – die hat's Glück sozusagen verbrieft und versiegelt in der Tasche – –«

Hatte Guda gehört? Das war nicht Karens Absicht gewesen. Sie sah sich ein wenig um: bleich und schweigend ging Guda am Arm ihres Vaters. Vielleicht war die laute Stimme der Frau doch bis zu ihr gekommen – und sie wußte nicht, daß die Worte durch eine historische Erinnerung ausgelöst worden waren. – – Sie konnte denken, die Schwägerin habe Zweifel über ihr, Gudas, eigenes künftiges Los geäußert. – – Der Gedanke legte sich als Druck auf das Gemüt der jungen Frau. Aber nein – im Grunde war es doch unmöglich, daß Guda ihr taktlose Erörterungen zutraue. – –

Als sie vom Bahnhof zurückging, ihren Knaben an der Hand, versank sie ganz ins Grübeln. Seltsam, daß man nicht die erste, helle Freude über Gudas Verlöbnis in sich aufrechterhalten konnte – sie suchte mit beflissener Mühe nach tadelnswerten oder abstoßenden Zügen an Percy. – Umsonst, man hatte wirklich gar keine feststellen können.

Der kleine Adam blieb immer ein Weilchen bescheiden still, wenn er spürte, Mutti möge nicht sprechen. Aber er befristete diese Schweigsamkeit, und wenn sie nach seinem Zeitmaß sehr, sehr lange gedauert hatte, platzte er mit dem heraus, was ihm gerade dringlich war.

»Mutti, laß uns doch mal in solchem Schiff fahren«, bat er.

Sie gingen gerade über eine der kleinen hölzernen Brücken, die über die Glonn führten, und näherten sich dem Irlacher Teich, der, eine künstliche Schöpfung, als freundlich blanker Wasserspiegel im dicken Rahmen von Busch und Baum dalag. Zwei Schwäne zogen voll stolzer Gemessenheit auf ihm herum, und es gab auch ein paar kleine bunte Nachen, auf denen man dies Wasserfleckchen überkreuzen konnte. Für Adam war es beinahe ein Meer, und zwischen so einem blau-rot bemalten Schiffchen und einem Ozeandampfer war ihm kein bewußter Unterschied. Seine Mutter hörte gleich.

»Wir wollen mal sehen: wenn der Mann da ist, der die Kähne vermietet.«

An der Hand seiner Mutter vollführte Adam sogleich einige kräftige Füllensprünge vor Freude und riß sie förmlich zu schnellerer Gangart mit, auf dem Wege, der unterm schattenvollen Dickicht um den Teich führte.

Plötzlich errötete die junge Frau; ihr war gerade, als schösse ihr das Blut heiß bis in die Augen hinein. Und mit dem ersten Blick schon sah sie, daß auch das Gesicht des Mannes sich dunkler färbte, der dort auf der Bank am Wege saß. Sein Sohn, neben ihm, hielt ein Buch auf den Knien.

›Unbegreiflich. Aus was für Gründen wird man denn so sinnlos rot‹, dachte Katharina ärgerlich. Sie verstand diese ihre Aufwallung nicht im geringsten und war völlig überrascht davon. Aber bis sie sprechen mußte, hatte sie das auch schon wieder überwunden.

Sie reichte ihm, der sich erhoben hatte und sein Buch, den Zeigefinger zwischen den Seiten, in der Linken hielt, freundlich die Hand.

»Nun, wie geht es? Was, Jürgen? Ein Lesebuch hast du?«

»Er muß doch übers Jahr zur Schule, da dachte ich, daß Vorarbeit nicht schaden könne.«

»Ich plage meinen nicht. Das fängt noch früh genug an, denke ich mir. Und es gibt auch so neue fabelhaft gescheite Methoden zum Lesen- und Schreibenlernen, glaub' ich. Davon habe ich keine Ahnung.«

»Mutti, ich soll doch auf 'm Wasser fahren!« mahnte Adam. »Und darf Jürgen mit?«

»Natürlich. Wenn sein Herr Vater es erlaubt! Siehst du, Jürgen macht schon vergnügte Augen, also los. Da steht ja der Mann, er kann euch fahren. Wir schauen vom sicheren Ufer zu. Aber still gesessen, ihr Jungen, nicht geschaukelt, damit's nicht wieder ein unfreiwilliges Bad gibt. Schließlich kann man auch in einer Teeschüssel ertrinken, wenn es das Unglück will.«

Als die Einschiffung vonstatten gegangen war und die Knaben mit großer Sammlung und Wichtigkeit auf den Sitzbrettern sich still hielten, während der alte Mann langsam ruderte, setzte Katharina sich förmlich behaglich zu Dr. Rüdener auf die Bank. Zuweilen tauchte ein Kurgast auf und verlor sich wieder an der nächsten Wegesbiegung. Sonst lag die angenehme Vormittagseinsamkeit über den weit sich hindehnenden Anlagen.

»Sie brauchen die Kur?« fragte sie.

»Ich hatte eine kleine rheumatische Erkrankung durchzumachen. Da meine Gesundheit mein Kapital ist, mußte ich auf gründlichste Auskurierung denken. Ein Freund in München, mit dem ich mich notwendig zu besprechen hatte, riet mir zu den Aiblinger Moorbädern. So kam ich her, es war mir lieb, fern von zu Haus meinen Jungen bei mir zu haben.«

»Dies zu Haus muß wohl in Norddeutschland stehen, sagt mein Ohr.«

»In Hamburg. Es ist aber kein Haus, sondern war bisher ein möbliertes Zimmer. Jetzt werde ich's wohl wagen müssen, eine kleine Wohnung zu nehmen und so etwas wie einen eigenen Hausstand zu gründen, eine alte Verwandte von mir, die dabei zugleich Unterschlupf findet, will ihn mir führen.«

›Ich habe es voraus gefühlt‹, dachte sie, ›er hat ein mühsames Leben.‹ Und vielleicht hatte er auch eine Geschichte. ›Wenn ich sie wüßte!‹ wünschte Katharina.

Seine Mitteilungen ließen es nicht mehr gewagt erscheinen, zu fragen:

»Demnach hatten Sie Ihren Knaben bisher nicht bei sich? Nun verstehe ich auch Ihre neuliche Äußerung, daß Sie Ihr Kind erst kennenlernen müßten.«

»Es wäre zu unbescheiden, wenn ich Ihnen von mir sprechen wollte«, sagte er zögernd. Und wieder kam, wie an jenem Tage, der Wunsch, ja, der Zwang über ihn, ehrlich, wie mit einer innig Vertrauten, zu ihr zu reden. Die verkörperte Harmonie schien sie ihm, froh, schön, sorglos. »Ich könnte nur von den Dunkelheiten und Kämpfen des Lebens aussagen, wie weit weg ist das von Ihnen, die in so glücklichen Umständen steht!«

Sie sah ihn an. Gerade und frei drang der Blick ihrer blauen Augen auf ihn ein.

»Ganz unmöglich«, sagte sie bestimmt, »haben Sie die kindliche Vorstellung, daß man gegen Kämpfe und Leiden versichert ist, wenn man in einem Schlosse wohnt und einen klangvollen Titel führt.«

»O nein, so nicht!« antwortete er ein wenig verwirrt, weil doch vielleicht auch im Untergrunde seines Gemütes wie in dem aller Enterbten unbewußt diese Vorstellung mitspielte. – »Nein. Ihre Persönlichkeit, Frau Gräfin, wirkt wie lauter Helligkeit.«

Ohne ihren festen Blick von ihm zu lassen, lächelte sie ein wenig. Da sah er oder erriet kraft der unerklärlichen Vertrautheit, die zwischen ihnen emporwuchs gleich einer Wunderblume, da sah er, daß es ein Lächeln der Entsagung war.

›Sie hat schon gelitten‹, dachte er, ›wie ist es möglich, dieses herrliche Geschöpf leiden zu machen!‹ »Mutti!« schrie vom Wasser herüber der kleine Adam und winkte mit der Hand. Jürgen machte ihm, schüchtern zwar, diese Geste nach. Im Ausschnitt, zwischen zwei Büschen, die die Spitzen ihrer unteren Zweige anmutig ins Wasser tauchten, zog gerade der bunte Nachen vorbei.

»Wie geht es denn mit dem Kennenlernen?« fragte sie.

»Nicht gut. Mir scheint, ich habe nicht die Fähigkeit, vielleicht, weil ich selbst nie Kind war. Sie aber, Sie sind Kind mit dem Kinde, das fühlt' ich gleich.«

»Hab' auch wundervolle Erinnerungen in mir an eine ganze Jugend auf dem Lande, das mag wohl zum rechten Ton helfen. Ich will Ihnen was sagen: schicken Sie doch Jürgen manchmal zu uns. Für einen Mann ist es auch zu erschöpfend, den ganzen Tag ein Kind zu beschäftigen.«

»Nein, danke. Nein, das muß ich ablehnen.« Mit welcher Hast und Entschlossenheit er das sagte.

»Warum?«

»Zwei Welten«, sprach er kurz.

»Für Kinder gibt es nur eine: die der Unbefangenheit.«

Da schwieg er lange. ›Wieviel Gesundheit ist in ihr‹ dachte er, ›und gewiß weder Vorurteile noch Hochmut!‹

»Bleiben Sie noch lange hier?« begann sie wieder mit ihren Fragen, die ihn quälten und die doch ein heißes Glücksgefühl in ihm entzündeten. Sie nahm Teil an ihm. Er mußte es begreifen.

»Das hängt von der Weltlage ab. Wenn sie sich zu kriegerischen Entwicklungen zuspitzen will...«

»Mein Gott, ein Krieg, Serbien und Österreich, mein Schwiegervater meint auch, dabei bliebe es nicht, der lange erwartete Allvölkerkrieg entbrennt, es wäre entsetzlich.« »Es kommt nicht zum Kriege«, versicherte er. »Wir wollen ihn nicht...«

»Wir?«

»Die Internationale. Vor allem aber: die deutschen Sozialdemokraten. Warten Sie noch einige Tage. Sie werden die Proteste erleben, keine Regierung der Welt kann noch Krieg führen gegen den Willen der Sozialdemokraten.«

»Verzeihen Sie, das verwirrt mich, davon versteh' ich nichts, kann es nicht glauben. Ist es nicht vielleicht Theorie?«

»Darüber werden die nächsten Wochen Sie belehren. Und, vielleicht, auch mich«, fügte er sehr langsam hinzu.

»Also Sie sind Politiker? Vielleicht Reichstagsabgeordneter?«

»Ich hoffe es bei der nächsten Gelegenheit zu werden. Ich betätige mich journalistisch und in der Parteiorganisation. Arbeite aber auch auf unpolitischem Gebiet, wissenschaftlich.« Er lächelte zum erstenmal. Das gab seinen kühnen, scharfen Zügen einen ganz unvermuteten Ausdruck von Güte, durch die Falten, die sich dann auf den Wangen bildeten. »Nun wissen Sie genau, wen Sie vor sich haben.«

Er dachte, daß doch einige weibliche Neugier in ihr gewesen sein möchte, auf das Woher und Wohin seiner Lebensstraße. Aber Katharina hatte eine merkwürdige Gleichgültigkeit in sich gegen äußerliche Linien.

Wieder schifften die kleinen Weltumsegler vorbei, die von ihrer Fahrt auf dem bißchen Wasser die gleiche Hochspannung ihres Wesens erfuhren, als sei es der Atlantik, den sie überquerten.

»Dürfen wir noch?« rief Adam.

»Nur zu«, winkte seine Mutter zurück. Diese Stunde war ihr geschenkt, sie war den Kindern dankbar, wenn sie noch verlängert wurde. Ihr Herz klopfte, sie fühlte: ich kann nicht anders! Sie mußte, ja, sie mußte Eingang suchen in sein Gefühlsleben. Die Enttäuschungen, durch die sie gegangen war, hatten sie so gereift, so milde gemacht. Vielleicht konnte sie diesem Mann wohltun, seiner Seele helfen, wenn sie bitter war von Leiden. Sie möchte ihm sagen dürfen: man muß nicht bitter sein.

»Was ist es mit Ihrem Knaben?« fragte sie leise.

Er sah sie an mit seinen dunklen, strengen Augen. Und sie streckte ihm die Hand hin. Der Blick war wie eine Frage gewesen. Ihr Händedruck sollte sie ihm beantworten. Er fühlte die weiße, schöne Hand zwischen seinen sie umschließenden Fingern. Er preßte sie heftig. Es war, als hätten sie in schweigendem Verstehen einen Freundschaftsbund voll ernster Gelöbnisse geschlossen.

Er sann noch einen Augenblick vor sich hin. Dann stützte er den rechten Ellbogen auf die Rücklehne der Bank und stemmte die Faust gegen die Schläfe, während seine Linke das Buch mit hoher Kante auf seinem Knie hielt. So ganz zu ihr hingewendet, begann er zu sprechen. Kurz und einfach, unermeßliche Leiden mit den knappsten Worten aufzählend. Und gerade das machte alles grausam für das Herz, das ihm zuhörte.

»Ich bin ein Kind gewesen, das den Namen seines Vaters im Standesamtsregister nicht gefunden hätte. Solange meine Mutter einen Dienst hatte, bezahlte sie Kostgeld für mich. Sie liebte mich aber mit Fanatismus, und um mich bei sich zu haben, wusch sie, trug Zeitungen aus, flickte ledigen Arbeitern die Kleidung. Ich weiß noch: im Winter, wenn die engen Fensterscheiben ganz stumpf wie Filz waren von weißen Arabesken, hinter denen man aber doch die schwarze Nacht erriet, wachte ich davon auf, daß Mutter schon eine Lampe anzündete, um zu nähen, ehe sie auf Tagelohn ausging. Mutter arbeitete immer; mehr als ein Hund vor einem schweren Ziehwagen war sie angestrengt! Aber sie hatte auch ein Glück. Daß ich so rasch und unersättlich lernte. Über mein Zeugnis lächelte sie, für dies Lächeln habe ich ohne Rast gelernt. Um meiner Begabung willen nahm sie ihren harten Stolz in beide Hände und kasteite sich mit einem Gang. Ich glaube, der harte Stolz erwachte in ihr, als sie ihr Schicksal begriff. Ich glaube, sie ging zu der Mutter jenes Leichtfertigen, der nicht im Standesamtsregister hatte eingetragen sein wollen. Es müssen nur ein paar hundert Mark gewesen sein, mit denen sie zurückkam. Aber sie reichten, mit Angst und Geiz verwaltet, ein paar Jahre das Gymnasium für mich zu bezahlen und inzwischen selbst einen kleinen Fonds zu sparen. Von Sekunda an verdiente ich schon mit, gab Nachhilfestunden. Teilnehmende Lehrer wirkten mir ein kleines Stipendium aus, mit dem ich die Universität beziehen und mich bei rastloser Nebenarbeit, mit Stunden geben, Übersetzen, Korrektur lesen, leidlich behaupten konnte. Gerade als ich dahin abgehen sollte, starb Mutter. Sie war aufgebraucht. Ich sah ihr Lächeln nie mehr.«

»Arme, liebe, arme Mutter!« sagte sie leise.

»Schwer war dies: unser Alltagsschicksal barg sich nicht unauffällig zwischen tausend anderen Notvollen und Unregelmäßigen in einer großen Stadt. Nein, in einer geschwätzigen Enge lebten wir, in einem holsteinischen Städtchen, wo jeder den anderen kannte. Und Kinder gab es, die mir ein grausames Wort nachriefen, das häßliche Erwachsene ihnen auf die Lippen gelegt, und Kameraden gab es auf dem Gymnasium, die mir Hochmut zeigten und mich von ihrer Gemeinsamkeit ausschlossen. Davon, ich weiß es, davon hat Mutter am meisten gelitten.«

Er machte eine kurze Pause. Nicht das Schwerste, aber das Schwierigste war ja noch zu sagen. Aber er fühlte, er sprach zu einer edlen Frau.

»Sie begreifen, daß alles mich zwang, sehr früh sehr ernste Dinge zu begrübeln. Ich gelobte mir eines: niemals die Ehre eines Mädchens zu gefährden und keinem Weibe zu gehören als meinem eigenen Weibe, wenn ich mir je eines sollte erringen können. Gelöbnisse der Unreife, Schwüre eines, der sich und die Natur nicht kannte. Einmal kommt doch die Stunde, wo die elementare Gewalt des stürmischen jungen Blutes triumphiert. In der Ärmlichkeit drängt auch alles den Mann so gefahrvoll nah und verführerisch zum Weibe. Und eines Tages fand ich mich in ein Verhältnis verstrickt, vor dem ich rasch erschrak. Aber es war kein Zögern in mir. Ich wollte meine Pflicht erfüllen. Durch meine Schuld sollte kein Kind das Los erfahren, das meines gewesen ist. Auf der Stelle wollte ich heiraten. Aber jenes Wesen wollte gar keine Ehe. Am wenigsten mit einem Mann, der fast hungerte, um seinen Doktor zu machen, weil der Grad sicheres Unterpfand besseren späteren Vorwärtskommens bedeutete. Sie wollte das Abenteuer und die Freiheit. Und kaum zwei Monate nach Jürgens Geburt ging sie mit einem Kapitän auf seinem Frachtdampfer nach Wladiwostok – in Russisch-Ostasien ist gutes Fortkommen für Wesen wie sie... Ich konnte Jürgen bei gutherzigen kleinen Leuten unterbringen, auf dem Lande; es kam zunächst ja nur auf körperliches Gedeihen an. Aber nun ist es Zeit, daß ihm sein Recht werde. Ich will ihn mit meinem Namen als meinen Sohn anerkennen, ehe er in die Schule kommt. Ein natürliches Verlangen war es wohl, daß ich mich vor diesem Abschnitt einmal recht mit ihm beschäftigen wollte. Gutes Zutrauen, scheint mir, darf ich zu seiner Veranlagung haben. Aber es ist immer noch eine Art Scheuheit da, mehr Furcht als Liebe... Nun wissen Sie, was es mit meinem Knaben ist.«

Katharina atmete auf, als sei sie es, die so lange und in niedergehaltener Erregung gesprochen habe.

»Ja. Und ich sehe, daß er wohl ein wenig mehr Kinderfröhlichkeit braucht, als er neben seinem ernsten Vater finden kann. Und deshalb wiederhole ich: schicken Sie ihn manchmal zu uns.«

Er drückte ihr die Hand mit einer leidenschaftlichen Bewegung. Sie wußte nicht, war es eine Zusage. Aber sie fühlte: heiße Dankbarkeit flammte in seinen Augen und sprach aus dem Druck der Hand – ein gedankenschweres Schweigen legte sich über beide.

Bis der helle Ruf von Knabenstimmen sie zum Bootshause rief und zwei ganz glückselig aufgeregte kleine Jungen auf sie einsprachen mit der bestimmten Erklärung, Matrosen werden zu wollen.

Als Rüdener dann heimging, kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein: Sie hatte von sich nichts mitgeteilt, gar nichts. Aber er fühlte erhoben und beglückt: man erfährt viel, vielleicht das Tiefste von einem Menschen, aus der Art, wie man in unbegrenzter Offenheit zu ihm sprechen darf.

Die junge Frau verlebte einen guten Tag mit ihrem Kinde. Ihr war immer, als müsse sie seinen blonden Kopf zwischen ihre Hände nehmen, ihn küssen und ihm erzählen, daß ihr Leben viel reicher geworden sei... Hatte sie denn nicht einen Freund? Oder war das zu viel gesagt? Und wie ließ sich solche Freundschaft weiterführen? Es schien kaum möglich. Aber wenn es denn auch nur ein kurzes Begegnen und ein traumhaftes Erleben gewesen sein sollte. Wieviel hatte es ihr gegeben... Und sie mußte immer wieder an diese arme Mutter denken, die die Lampe anzündete, wenn die kleinen Fensterscheiben verfilzt waren von Eismustern, hinter denen man die schwarze Nacht erriet. Und sie sann über den Madonnenkult der Katholiken und über die sieben Schwerter im Herzen der jungfräulichen Mater dolorosa, und die schmerzvoll-mitleidige, tiefe Poesie... Und plötzlich standen Tränen in ihren Augen.

Ihre Ungestörtheit war ein Geschenk vom Zufall. Er gönnte sie ihr bis zum Abend. Dann kamen die Gäste der Miß Mildred Lightstone aus München zurück. Graf Leuckmer so sichtlich abgespannt, daß sie ihn bis in sein Zimmer geleitete und besorgt vorschlug, er möge sein Nachtessen für sich allein nehmen.

»Ja, Kind, schick mir Merkl mit irgend etwas Leichtem. Ich bin ganz leistungsfähig, wenn ich innerhalb meiner Tagesordnung was soll, außerhalb ihrer kann ich nichts.«

»Papa, so geht es allen Nervösen«, tröstete sie.

»Übrigens hast du dir was erspart. Miß Mildred sprach Politik. Sie entwickelte die Ansicht, daß Erzherzog Franz Ferdinand eine störende Persönlichkeit gewesen sei. Und fand Österreichs Entrüstung anmaßend. Und den Widerhall, den die schreckliche Mordtat in Deutschland gefunden habe, einen Beweis von der kindlich-törichten politischen Unreife bei uns. Ich war Gast. Ich bin Gudas Vater, wie konnte ich ein schroffes Wortgefecht wagen! Höflichen Versuch zu Entgegnungen schnitt sie herrisch ab.«

Die blauen Augen der jungen Frau blitzten. »Und was sagte Guda?«

»Nichts. War sozusagen unbeweglich.«

»Ach, Papa, mir ist es ja manchmal, als ob unsere Guda wie hypnotisiert ist von den Lightstones.«

Diese Bemerkung schien ihm peinlich. Er ging darüber hin und fuhr fort:

»Der Vortrag schien selbst der guten Frau van Straten gegen den Strich. Sie saß wie begossen. Fräulein van Straten ist ja manchmal recht keck. Sie äußerte halblaut: ›So etwas kann nur 'ne Engländerin sagen‹, und biß flink in einen Pfirsich.«

Katharina lächelte dazu.

Nebenan im Eßzimmer machte es dann der jungen Frau den Eindruck, als ob auch die drei Damen sehr abgespannt seien. Frau van Straten war freilich an anderen Abenden manchmal ebenfalls etwas erschöpft von ihrer Rolle einer vornehmen Engländerin. Tiny sagte: zweihundertsechzehn Kriegsschiffe feiern sei strapaziös; wenn man wenigstens den einen oder anderen scharmanten Offizier davon zur Stelle gehabt hätte, würde sie bereit gewesen sein, mehr Interesse für die Flottenrevue aufzubringen. Guda erinnerte sich etwas mühsam, nur um durch Schweigen nicht aufzufallen: »Warst du nicht voriges Jahr in den Kapitän Wilberforce verliebt?« – »Ach nein«, sagte Tiny plötzlich ganz umdüstert, »das war vor zwei Jahren. Vorigen Sommer war es doch der junge Leutnant von Falckenhaus. Ja, wenn man all den Jammer bedenkt, möchte man Selbstmord begehen, wozu euer romantischer Weiher da oben geradezu einlädt.«

»Ich rate Ihnen dringend ab. Das Wasser ist sehr schmutzig, und außerdem reichte es dem kleinen Jürgen Rüdener nur bis an die Schultern«, meinte Katharina trocken.

Aber Tiny seufzte mit ganz außerordentlichem Nachdruck.

In die sich hinschleppende Unterhaltung, die gerade durch den Versuch, sie munter zu beleben, so mühselig ward, kam eine jähe Unterbrechung. Merkl trat ein. Aber er brachte nicht die Zitronenlimonade, um die Tiny gebeten hatte, sondern ein Telegramm.

Guda war heute früh, vor der Abfahrt nach München, noch in den Besitz der gewohnten Depesche gekommen. Alle anderen Depeschen waren ihr gleichgültig. Sie dachte flüchtig: vielleicht ist Tante Jenny tot. Ganz dasselbe dachte Katharina.

Denn die Gedanken der jungen Frau umkreisten manchmal das Sterbelager der gehässigen alten Verwandten, die mitschuldig am Schiffbruch ihrer Ehe war; deren Vermögen aber eines Tages Adams Zukunft sichern konnte, denn trotz Radium und aller Hoffnungen der Kranken: ihr vergötterter Neffe hatte gerade gestern noch an seinen Vater eine Karte geschrieben und mitgeteilt, daß es nicht gut stehe und verheißen zu depeschieren, wenn die Arzte eine schlimme Wendung für bevorstehend hielten.

»Die Depesche ist an Herrn Grafen«, sagte Merkl und stand vor der jungen Frau, die alle als Hausherrin anzusehen gewohnt waren. »Ich wußte nicht, ob ich sie hineinbringen darf. Als ich vorhin die Schleimsuppe brachte, lehnte Herr Graf sehr bleich, mit geschlossenen Augen im Stuhl, da dacht' ich, eine Depesche, vor der Nacht – –«

»Sehr umsichtig, Merkl«, lobte sie. »Ich will selbst sehen...« Sie ging hinaus.

»Sag mal, Guda, bist du nie eifersüchtig, daß deine Schwägerin dir ganz deinen Platz wegnimmt?« fragte Tiny. Jede Absicht zu hetzen lag ihr fern; sie war nur zu lebhaft: alles was ihr durch den Kopf fuhr, mußte heraus.

»Keine Spur. Nur erleichtert und beruhigt. Karen ist die Ruhe und Sicherheit selbst. Das tut Papa wohl und erspart mir jeden Konflikt. Wie könnt' ich sonst ins Ausland heiraten! Ihn ganz allein lassen, wo er immer ein wenig der Fürsorge bedarf. Beinah ist es ja wie 'ne Fügung, daß Karen durch ihre verpatzte Ehe Zeit hat für Papa...«

»Wenn ich Gräfin Karen wär', ich ließ mich scheiden!«

»Ach, Kind, es scheidet sich nicht so leicht«, belehrte Frau van Straten.

Tiny setzte mit Ausführlichkeit auseinander, daß sie sich sofort scheiden ließe, wenn ihr künftiger Gatte sich dies oder das, oder so was und dergleichen herausnehmen sollte.

Die Depesche in der Hand verborgen, trat Katharina bei ihrem Schwiegervater ein. Milde verhüllt, beleuchtete die elektrische Lampe, die über dem Tisch hing, das feine Gesicht und die merkwürdig zarten Hände, Hände, denen man es ansah, daß sie niemals imstande gewesen sein konnten, das Leben fest anzupacken. Aber von der Mattigkeit, die Merkl beobachtet hatte, war nichts mehr zu spüren. Der gute Teller voll Schleimsuppe, das Glas starken Burgunders, das Scheibchen Grahambrot und vor allem die Einsamkeit hatten ihm aufgeholfen. Katharina fühlte demnach kein Recht in sich, ihm die Depesche bis zum anderen Morgen vorzuenthalten. Hier gab es ja, abgesehen von Percys Gewohnheit, Guda anzutelegraphieren, keinen Betrieb, in dem Telegramme etwas Alltägliches waren. Wer durch den Draht zu diesem Hause sprach, hatte eilige Wichtigkeiten mitzuteilen.

»Verzeih', Papa, daß ich dich doch noch störe. Aber das kam eben.«

Auch Graf Leuckmer sagte sofort:

»Tante Jenny? Sollte es...«

Er sprach nicht aus. Es bewegte ihn doch. Diese ältere Stiefschwester aus seines Vaters erster und reicher Ehe hatte ihm nicht viel Liebe bewiesen. Aber sie war das letzte Wesen aus einer älteren Generation. Die letzte Brücke zu seinen Jugenderinnerungen. Die Melancholie der Alterseinsamkeit wird immer deutlicher, wenn die von hinnen scheiden, die uns jung kannten – – fühlte er.

Auch litt seine Seele wieder unter diesem Zwiespalt, in den es vornehme Naturen bringen muß, wenn der Tod eines Verwandten ihnen großen Vorteil bedeutet.

Katharina sah sein Zögern, und sie dachte sich wohl, daß er nach Mut suchen mußte, um der erwarteten Todesnachricht gefaßt ins Gesicht zu sehen.

Nun öffnete er mit pedantischer Vorsicht die kleine blauweiße Verschlußmarke, legte das Blatt auseinander, als sei es kein Papier, sondern ein Stück Stoff, das er auf der Tischplatte vor sich glätten mußte. Und er stutzte so heftig, daß die junge Frau wohl sah: die erwartete Anzeige vom herannahenden Ende oder dem Tode seiner alten Schwester war das gewiß nicht.

Sie stand am Tisch, an dem er ihr gegenüber auf dem hochlehnigen Sofa im behaglichen Lichtschein der ziemlich tief herabgezogenen Lampe saß. So war ihr Oberkörper und vor allem ihr Kopf im Schatten. Dämmernd im Halbdunkel lag auch das ganze übrige Zimmer, und in der Birne in dem Beleuchtungskörper auf dem Schreibtisch schlief der elektrische Funke tot und stumm.

Sie wartete. Wie lange besann sich denn ihr Schwiegervater? Hieß das, daß sie gehen solle ohne zu fragen?...

Aber nun, sie groß anschauend, deren Züge er doch nicht genau durchforschen konnte, nun gab er ihr das Blatt. Und indem sie es in den Lichtkreis hielt, las sie:

»Bitte Hochzeit auf Vierundzwanzigsten vorbereiten. Komme übermorgen nach dort. Respektvoll Percy Lightstone.«

Sie fühlte, daß ihr das Gesicht heiß wurde. Aber sie blieb beherrscht. Mit Entschlossenheit sprach sie:

»Davon kann keine Rede sein. Erst hat man, ohne dich und mich zu fragen, von Guda will ich nichts sagen, sie hat nur seinen Willen – ganz einfach den fünften August bestimmt. Gut, ja, einmal muß es doch sein. Und es hieß von vornherein: nach vier Monaten, förmlich lächerlich versteift waren sie darauf. Und jetzt wird umkommandiert – als hätten wir schlechtweg zu gehorchen.«

»Karen, kleinlich? Du?« fragte er mahnend, mißbilligend.

»Kleinlich? Kleinlich?« wiederholte sie. »Warum soll ich nicht einmal kleinlich sein. Ich bin nicht vollkommen.«

Und sie fühlte ganz genau, daß diese ihre Empfindlichkeit über rücksichtslos und herrisch veränderte Bestimmungen nur eine Begleiterscheinung sei von viel wichtigeren Dingen. Von angstvollen, uneingestandenen Beklemmungen. Von der schweren Furcht vor unwiderruflichen Entscheidungen. Ihr Herz hatte doch mit den Tagen gerechnet, ganz unbegründet, töricht, sinnlos sogar, gewiß, gewiß. Aber quält nicht die Angst am peinigendsten, die man nicht vernünftig erklären kann? Im Grunde war es doch einerlei, ob Guda mit dem Manne ihrer Liebe zehn Tage früher oder später von dannen ging.

»Ich denke«, sprach Graf Leuckmer mit einer würdigen Festigkeit, die er selten aufbrachte, »daß es bei dieser Frage weder auf dich, noch auf mich, noch auf unfertige Vorbereitungen, noch auf Höflichkeitsrücksichten zwischen zwei Familien ankommt, sondern es kommt ganz allein auf Guda an.«

Katharina mußte mit sich kämpfen, geradezu ein Aufschluchzen, daß sie übermannen wollte, niederzwingen. ›Guda‹, dachte sie, ›ach die arme, rasend verliebte Guda, die ist nur noch wie ein bebendes Blatt im heißen Winde. Sie wird vor verzehrender Glückseligkeit jauchzen. Vielleicht zählte ihre Sehnsucht ohnehin die Tage.‹

»Soll ich Guda rufen?« fragte sie mit ganz matter Stimme.

»Ich bitte, ja.«

Sie ging zur Tür. Guda war ja nebenan mit diesen Gästen, deren Anwesenheit in diesem Augenblick so peinlich störte.

»Bitte, Guda!«

Aber auch die van Stratenschen Damen erhoben sich auf den Ruf hin. Die Depesche, und die junge Gräfin so lange drinnen bei ihrem Schwiegervater, nun rief man nach Guda. Also offenbar irgendeine wichtige Familiensache. Und rasch und taktvoll baten sie, sich schon zurückziehen zu dürfen.

Guda ging zögernd. Es wollte irgend etwas an sie herankommen, wie das Vorgefühl von einer Gefahr. Papa ließ sie rufen, also ging der Inhalt der Depesche sie an. Jäh zuckte der entsetzliche Gedanke auf, Percy könne verunglückt sein. Sie stand vor ihrem Vater am Tisch, da, wo vorhin Katharina gestanden hatte, in Schatten getaucht.

»Was ist geschehen?« fragte sie.

»Nichts. Aber Percy wünscht, daß ihr am vierundzwanzigsten heiratet.«

»Am – am – das ist in zehn Tagen?«

»Entscheide du, mein Kind. Karen und ich fügen uns deinen Wünschen.«

»Warum?«

»Einen Grund gibt Percy nicht an. Da, lies selbst.«

Sie starrte in die Depesche hinein.

»Am – am vierundzwanzigsten«, wiederholte sie stammelnd.

Sie sah sich um. Nach Halt? Nach Hilfe? Keine Farbe, gar keine, war mehr in ihrem Gesicht.

Sie wollte sprechen. Der Versuch mißlang. Ihre Füße trugen sie nicht mehr, sie setzte sich auf den nächsten Stuhl. Da saß sie, mit geschlossenen Augen, stumm, viele Sekunden lang.

Ihr Vater und die junge Frau wagten kaum zu atmen.

Wo blieb das glückselige Aufjauchzen, der Jubel?

Was war das?

Als sie lange, lange auf ihren rasenden Herzschlag gehorcht hatte, stand sie mühsam auf.

Leise, mit ziemlich fester Stimme sagte sie: »Ich will mich morgen entscheiden.«


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